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Von einem Ausflug des Seniorenvereins „Aktive Nordfriesen“ kehren nicht alle Rentner wohlbehalten heim. Eine Spaziergängerin entdeckt Heinrich Matzen tot im Hamburger Volkspark. Zunächst deutet alles auf einen Raubmord hin, doch als auch seine Witwe tot in ihrem Haus am Dagebüller Deich aufgefunden wird, verstärken sich weitere Verdachtsmomente. Kommissar Thamsen und seine Freunde Tom und Haie ermitteln gemeinsam mit dem Hamburger Kollegen Peer Nielsen und stoßen dabei auf alte Geheimnisse …
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Seitenzahl: 293
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Sandra Dünschede
Friesenlüge
Ein Nordfriesland-Krimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Essaka – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4332-9
Für Inga,
mit der mich nicht nur meine nordfriesische Heimat, sondern auch der Hang zum Morbiden verbindet.
»Ick heff mol in Hamburg een Veermaster sehn, to my hooday, to my hooday.«
Der fröhliche Gesang drang bis ans Oberdeck des kleinen Ausflugsschiffes und übertönte beinahe die Ansagen aus dem Bordlautsprecher: »Rechts, meine Damen und Herren, sehen Sie den legendären Fischmarkt mit der berühmten Fischauktionshalle.«
Es war ein strahlend blauer Sommertag. Die Sonne brannte geradezu von einem wolkenlosen Himmel und nur eine leichte Brise machte die Hitze erträglich.
Erika Matzen stand an der Reling, beugte sich weit vor und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
»Na min Deern, bist aber auch nicht seefest, wat?« Der schmale Mann mit Schippermütze trat neben sie und tätschelte ihre Schulter. »Dabei sind wir noch nicht mal auf dem offenen Meer.«
Erika Matzen trat einen Schritt zurück. Die ganze Situation war ihr mehr als unangenehm, und das Grinsen in dem Gesicht des Mannes, das ihr entgegensprang, als sie den Kopf zur Seite hob, machte es nicht besser. So etwas war ihr noch nie passiert. Schließlich stammte sie aus einer Seefahrerfamilie; war quasi auf dem Wasser groß geworden. Aber dies war eben nicht das Meer, wie der Mann richtig bemerkt hatte. Dies war die Elbe und sie fuhren durch den Hamburger Hafen.
Früh am Morgen hatten sich Erika und ihr Mann Heinrich mit der Seniorengruppe ›Aktive Nordfriesen‹ in Niebüll am ZOB getroffen und waren nach Hamburg gefahren. Schon öfter hatten sie mit anderen Rentnern aus der Umgebung Ausflüge zusammen gemacht. Die Fahrt in die Hansestadt war bereits die dritte Tour in diesem Jahr, der sie sich angeschlossen hatten, und die Hafenrundfahrt der erste Programmpunkt des Trips. Doch so wie sich Erika momentan fühlte, glaubte sie nicht daran, den Rest des Tages zu überstehen. Wieder rebellierte ihr Magen und sie versuchte, durch tiefes Ein- und Ausatmen den Brechreiz zu unterdrücken.
»Hier, nimm man ’nen Schluck.« Der schlanke Mann reichte ihr einen silbernen Flachmann und nickte ihr aufmunternd zu. Erikas Hand zitterte wie bei einem Alkoholiker auf Entzug, als sie die Flasche langsam zum Mund führte. »Nu man nich so schüchtern.« Sie kniff die Augen zusammen und nahm einen großen Schluck. Die brennende Flüssigkeit lief ihren Hals hinab und entfachte ein Feuer in ihrer Magengegend. Kurz überkam sie ein neuer Brechreiz und sie lehnte sich wieder über die Reling. Dann aber spürte sie plötzlich, wie ein Knoten in ihrem Bauch platzte, und schlagartig ging es ihr besser. Sie atmete auf. »Danke.« Erika reichte dem Mann den Flachmann zurück. Der nickte. »Und nun genießt du mal schön den herrlichen Hamburger Hafen.« Wieder tätschelte er ihre Schulter, doch diesmal war es ihr nicht unangenehm. »Soll ick jemanden Bescheid geben, dat du hier oben büst?«
Erika dachte kurz an Heinrich, der ihre Abwesenheit sicherlich noch nicht einmal bemerkt hatte. Er hatte bereits im Bus den ersten Schnaps getrunken und hielt sich nun gewiss auch nicht zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Aber danke noch mal.« Sie schaute dem Mann hinterher, während er die Treppe zum Unterdeck hinunterkletterte. Das Letzte, was sie von ihm sah, war seine dunkelblaue Schippermütze, doch als auch die aus ihrem Blickfeld verschwunden war, wandte sie sich endlich der Szenerie der Elbe zu.
Das Schiff hatte mittlerweile gedreht und fuhr nun stromaufwärts, um in den Containerhafen Waltershof abzubiegen. Tausende von bunten Containern reihten sich an den Kaianlagen aneinander.
Davor lagen etliche Schiffe, die be- oder entladen wurden. So genau konnte Erika das nicht erkennen. Ihr Ausflugsboot wirkte winzig im Vergleich zu den riesigen Pötten, beinahe wie eine Nussschale. Woher die Schiffe wohl kamen? Die meisten Flaggen, unter denen die Schiffe fuhren, kannte Erika nicht. Und meist sagte dies heutzutage ohnehin nichts mehr darüber aus, denn selbst viele deutsche Frachter fuhren unter ausländischer Flagge. Weil es billiger war, wie Erika der Ansage aus dem Lautsprecher entnahm.
Wenig später verließen sie den Containerhafen und fuhren auf dem Hauptstrom Richtung Speicherstadt. Erika liebte dieses Hamburger Viertel, das sich den Flair längst vergangener Zeiten bewahrt hatte, aber leider wendete das Schiff kurz darauf, um Kurs auf die Landungsbrücken zu nehmen, wo die Fahrt schließlich endete.
Langsam ging sie die Treppe vom Oberdeck hinunter und reihte sich in die Schlange der anderen Fahrgäste ein, um von Bord zu steigen. Anscheinend hatte sie keiner vermisst, jedenfalls sprach niemand sie an. Laut schnatternd bewegte sich die Gruppe zum Vorplatz der Landungsbrücken, auf dem ihr Bus parkte.
»Hat jeder seinen Sitznachbarn wieder neben sich?«, drang die Stimme des Busfahrers aus dem Lautsprecher, als sie eingestiegen waren und alle Platz genommen hatten. Zustimmendes Gemurmel machte sich breit und Erika erschrak, als ihr klar wurde, dass vor dem Bus niemand mehr stand.
»Nein«, rief sie und sprang auf. »Heinrich ist nicht da!«
»Herr Ketelsen, Ihre Hilfsbereitschaft in allen Ehren, aber Sie können den Kleinen nicht immer mit zur Arbeit bringen.«
Haie blickte auf Niklas, der zu seinen Füßen mit ein paar Bauklötzen spielte, dann auf den Direktor der Risumer Grundschule, an der er seit vielen Jahren als Hausmeister tätig war. »Ja, aber er stört doch keinen.«
Herr Mohn seufzte. Er musste zugeben, dass der Junge wirklich sehr lieb war und in der Tat niemanden störte. Ganz im Gegenteil. Die Angestellten verwöhnten ihn nach Strich und Faden, steckten ihm Süßigkeiten zu, scherzten mit ihm. Die Schüler, vor allem die Mädchen, spielten in den Pausen mit dem Kleinen, und auch Haies Arbeit litt in keinster Weise unter der Anwesenheit von Niklas. Der Schulhof war wie eh und je sauber gefegt und die Böden im Schulgebäude glänzten. Trotzdem konnte er dem Hausmeister das nicht ewig durchgehen lassen. Nachher kamen die anderen Mitarbeiter auch noch auf die Idee, ihre Kinder mit zur Arbeit zu bringen. Und wo sollte das hinführen? »Es geht trotzdem nicht. Ihr Freund muss sich endlich um eine andere Lösung kümmern.«
Haie nickte traurig, obwohl er wusste, dass Niklas über kurz oder lang eine anständige Betreuung brauchte. Doch er war so froh gewesen, als Tom es endlich geschafft hatte, sich aufzuraffen und wieder einen Job anzunehmen. Da war die Frage, wer sich um den Kleinen kümmern sollte, erst einmal nebensächlich gewesen.
Die letzten eineinhalb Jahre waren für Tom und auch für Haie nicht einfach. Und es kam ihm wie gestern vor, als ein Anruf ihr aller Leben zerstörte.
Dabei hatte der Abend im Dezember 2003 so nett begonnen. Sie hatten mit dem befreundeten Kommissar Dirk Thamsen zusammen gesessen und mit ihm den Abschluss eines Falls gefeiert. Vor Niklas Geburt waren sie dazu meist in die griechische Taverne nach Niebüll gefahren, in der sie alle Stammgäste waren. Doch mit einem Baby musste man umdisponieren, und daher hatten sie bei Tom und Marlene gefeiert und das Essen bestellt. Die Männer hatten ordentlich auf den Ermittlungserfolg angestoßen und Marlene, die wegen des Stillens keinen Alkohol hatte trinken dürfen, war die Einzige gewesen, die nach Niebüll fahren konnte, um die Bestellung abzuholen.
»Es hat eine Explosion beim Griechen gegeben«, hatte man Dirk Thamsen per Telefon informiert. »Mit einer Toten.« Sie hatten sofort gewusst, dass es Marlene war, die bei dem Anschlag ums Leben gekommen war. Und waren ausnahmslos alle in ein tiefes dunkles Loch gefallen. Der Tod der Ehefrau und Freundin hatte den drei Männern den Boden unter den Füßen weggerissen.
Thamsen und Haie war es leichter gefallen, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Dirk Thamsen hatte sich wie wild in die Ermittlungen gestürzt und Haie hatten seine Pflichten als Patenonkel Tag für Tag überstehen lassen. Aber Tom hatte Marlenes Tod beinahe um den Verstand gebracht. Er hatte sich im Schlafzimmer verschanzt und niemanden an sich herangelassen. Die ersten Tage hatte Haie ihn gelassen. Er war viel zu beschäftigt gewesen, mit Niklas und sich selbst. Nach und nach hatte er es dann aber mit der Angst zu tun bekommen. Tom war nicht mehr ansprechbar gewesen. Er hatte auf dem Bett gelegen und gegen die Decke gestarrt. Alles um ihn herum schien nicht zu existieren – auch Niklas nicht. Irgendwann hatte Haie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als Tom in eine Klinik einweisen zu lassen. Mehrere Wochen wurde er dort behandelt, ein Suizidversuch abgewehrt, und erst nach drei Monaten hatte man ihn unter bestimmten Auflagen entlassen. Haie hatte seine Wohnung in Maasbüll gekündigt und wohnte seitdem bei Tom und Niklas. Nur sehr langsam war es mit Tom bergauf gegangen und oft hatte es Rückschläge gegeben. Daher war Haie überglücklich gewesen, als Tom sich um den Auftrag in Dagebüll bemühte – und er hatte dem Freund versprochen, sich um Niklas zu kümmern.
Doch der Kleine war noch nicht trocken und daher wollte der örtliche Kindergarten ihn nicht nehmen. Haie hatte zwar versucht, die Notlage zu erklären, doch die Leiterin der Tagesstätte hatte sich nicht erweichen lassen. »Er ist zu klein. Wir nehmen erst Kinder ab drei«, hatte sie die Absage begründet und ihm vorgeschlagen, er solle doch seine Exfrau fragen.
Elke hätte Niklas wahrscheinlich auch liebend gerne genommen, aber Haie wollte ihr nicht wieder zu viel Raum in seinem Leben geben. Eine Tagesmutter zu finden war nicht so leicht, zumal Tom momentan das Geld fehlte. Er war selbstständig und hatte über ein Jahr nicht mehr gearbeitet.
»Ich werde mich um eine Lösung kümmern, versprochen. Wenn ich ihn bis dahin …?« Der Direktor nickte. Er kannte die Umstände und im Grunde genommen hatte er den kleinen Jungen in sein Herz geschlossen.
»Ja, aber … Wir können doch nicht ohne Heinrich fahren«, entfuhr es Erika Matzen schrill. Der Busfahrer zuckte mit den Schultern. Auf sein Hupen hin war kein Nachzügler über den Vorplatz geeilt und wie sich zwischenzeitlich herausstellte, hatte den Rentner seit Stunden keiner mehr gesehen. »Ist er überhaupt mit auf’s Schiff?«
»Aber wo soll er denn sonst hingegangen sein?« Erika war ratlos. Sie hatte nicht darauf geachtet, ob ihr Mann an den Landungsbrücken auf das Boot gestiegen war, da sie sich angeregt mit Irmgard Lentzen über den anstehenden Musical-Besuch unterhalten hatte.
»Ich ruf’ ihn jetzt mal an«, beschloss sie und bat Uwe Mommsen, sein Handy benutzen zu dürfen. Ihr eigenes Mobiltelefon hatte Heinrich bei sich. Mit zittriger Hand tippte sie die eigene Nummer ein und lauschte angespannt dem Rufton. Doch auch nach dem 20. Klingeln wurde am anderen Ende nicht abgehoben. »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte Erika, während es in ihrem Kopf nur so rauschte. Wo steckte Heinrich denn bloß?
»Ich schlage vor, dass wir die Fahrt fortsetzen«, meldete sich Erna Hansen, die Vorsitzende des Seniorenvereins zu Wort. »Heinrich kennt ja unser Programm. Er wird sich sicher irgendwo zu den vereinbarten Zeiten anfinden.« Erika nickte, obwohl sie nicht recht daran glaubte. Was, wenn Heinrich nicht auftauchte?
Diese Frage beschäftigte sie den ganzen Tag. Vergessen waren die Schönheiten Hamburgs, die sie zwar sah, aber überhaupt nicht wahrnahm. Der Michel, die Binnenalster, das Rathaus – alles Bilder, die nicht in ihr Bewusstsein drangen, da die Sorge um Heinrich für nichts anderes Platz ließ. Sorge, zu der sich zunehmend Ärger über die anderen Mitreisenden gesellte. Denn auch wenn sie ihre Umgebung kaum wahrnahm, das Getuschel hinter sich hörte sie sehr wohl.
»Wenn der sich man nicht auf die Reeperbahn abgesetzt hat, hi, hi, hi.« – »Herbertstraße, ho, ho, ho!« War ja typisch. Die Meiers und Ingwersens hatten mal wieder nichts anderes zu tun, als sich das Maul über andere zu zerreißen. Oder hatten sie recht? Hatte Heinrich sich absichtlich davongestohlen und war …? Er war die letzten Tage ohnehin so seltsam gewesen. Noch heute Morgen hatte sie ihn kaum ansprechen dürfen. Erika schluckte. Nein, sagte sie sich, so etwas macht mein Heinrich nicht. Es muss etwas passiert sein. Im Minutentakt wählte sie daher die eigene Nummer auf dem geliehenen Handy. Doch zwischenzeitlich schien das Telefon sogar abgeschaltet, denn statt eines Freitons meldete sich nun immer gleich die Mailbox. »Das gibt es doch gar nicht«, flüsterte Erika vor sich hin. Der Bus stoppte vor der Neuen Flora und die Gruppe stieg aus. Sie zögerte und überlegte, ob sie Heinrich suchen sollte, anstatt ins Musical zu gehen. Aber wo sollte sie anfangen?
»Immer noch keine Nachricht von Ihrem Mann?« Der Busfahrer schien der Einzige, der die Situation einigermaßen ernst nahm.
»Nee.«
»Na, gehen Sie man«, forderte er Erika Matzen auf. »Ich bin hier, falls er kommt.« Ungern verließ sie den Bus. Sie würde von dem Musical sowieso nicht viel mitbekommen. Dabei hatte sie sich so darauf gefreut.
Als die ersten Töne der Musik erklangen, entspannte sie sich jedoch wider Erwarten. Für einen kurzen Moment war die Sorge um Heinrich vergessen, da der Bühnenzauber sie in eine ganz andere Welt entführte. Erika fühlte sich leicht, beinahe, als ob sie schwebte. Doch kaum fiel der Vorhang, plumpste sie quasi auf den Boden der Tatsachen und der einsetzende Applaus holte sie vollends in die Realität zurück. Sie rannte förmlich aus dem Gebäude.
Ehe sie den Bus erreichte, sah sie, dass nur der Fahrer darin saß, und der schüttelte auch gleich den Kopf, als sie heranstürmte.
»Tut mir leid, aber er ist nicht gekommen.«
Und nun? Erikas Atem setzte aus, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete. Sie würden ohne Heinrich nach Hause fahren.
»Aber wir müssen zur Polizei. Das müssen wir doch melden«, kreischte sie durch den Bus. Die anderen Mitreisenden blickten Erika größtenteils verständnislos an. Sie waren müde von dem langen Tag und wollten nach Hause.
»Außerdem ist er keine 24 Stunden weg. Da unternehmen die eh nichts«, erklärte Rudolf Lange, der einst selbst bei der Polizei gearbeitet hatte und sich auskannte.
»Ja, aber …« Erika war sprachlos. Konnten sie denn gar nichts machen?
»Du kannst ja hierbleiben«, schlug Erna Hansen vor, doch der Gedanke, allein in Hamburg zu bleiben, erschrak Erika noch mehr. Sie kannte niemanden in der Stadt. Wo konnte sie hin? Wie sollte sie Heinrich finden? Sie schüttelte den Kopf, woraufhin der Busfahrer die Türen schloss und losfuhr.
»Michel meldet leblose Person im Volkspark, unterhalb des Pavillon Nähe Schnackenburgallee«, hallte die Stimme des Wachhabenden, der den Funkspruch der Einsatzzentrale empfangen hatte, durch die Sprechanlage des Polizeikommissariats in Bahrenfeld. Von einer Sekunde auf die andere brach Hektik in dem Gebäude aus. Türen schlugen, eilige Schritte waren zu hören, Stimmengewirr erfüllte das Treppenhaus. Jeder verfügbare Polizist rannte zu den Einsatzfahrzeugen, die kurz darauf mit Blaulicht und Martinshorn den Hof in Richtung Volkspark verließen.
Polizeihauptkommissar Franke war mit seinem Kollegen als Erster am Fundort und traf beinahe zeitgleich mit dem von der Einsatzzentrale angeforderten Notarztwagen ein.
Am Wegesrand stand eine junge Frau, anscheinend eine Hundeausführerin. Um sie herum kläfften wild sechs Hunde, doch diesen Höllenlärm schien die Frau gar nicht wahrzunehmen. Stumm und mit starrem Blick wies sie mit ausgestrecktem Arm ins Unterholz.
Franke bückte sich und gab dem Notarzt ein Zeichen, ihm zu folgen. Geduckt schlugen die beiden sich durch das Geäst, das um diese Jahreszeit beinahe undurchdringlich war. Die Sonne hatte kaum eine Chance durch das dichte Blätterwerk über ihnen zu dringen, dementsprechend schummerig war es im Gehölz. Dennoch sahen sie den reglosen Körper schnell, wahrscheinlich weil sie danach gesucht hatten.
Der Kommissar ließ dem Mediziner den Vortritt. Zunächst war es wichtig festzustellen, ob die Person noch lebte. Menschenleben ging immer vor Tatortsicherung. Doch nach wenigen Augenblicken schüttelte der Arzt den Kopf.
»Am besten, Sie rufen gleich jemanden von der Mordkommission und die Spurensicherung«, empfahl er, als er sich zu Franke umblickte. »Bei der Kopfverletzung«, er wies auf eine Wunde am Hinterkopf des Toten, »bin ich mir nämlich nicht sicher, ob die nur von einem Sturz herrührt.«
Peer Nielsen hatte das Polizeipräsidium an diesem Nachmittag früh verlassen, um sich mit seinem besten Freund Sören in Eimsbüttel zu treffen. Er hatte ohnehin Rufbereitschaft und konnte nicht wirklich Feierabend machen, aber bei dem schönen Wetter ließ sich die Wartezeit bis zu einem eventuellen Einsatz auch gut in einem Biergarten überbrücken; auch wenn man sich nur eine große Apfelschorle genehmigen konnte. Ohnehin hatte er Sören in der letzten Zeit sehr vernachlässigt. Bis zu seiner Beförderung hatte er geackert wie ein Pferd, und danach war es erst richtig losgegangen. Die Aufgaben als Leiter einer Mordbereitschaft waren umfangreicher, als er gedacht hatte. Daher waren mittlerweile fast zwei Monate vergangen, seit Sören und Peer zusammen gesessen hatten.
»Schön, dass es geklappt hat«, freute sich der Freund deshalb, als sie auf ihr Wiedersehen anstießen. »Und gratuliere noch mal zur Beförderung.«
Sie hatten jeweils einen großen Schluck getrunken und Peer wollte gerade über seine ersten Tage als Chef berichten, da klingelte sein Handy. Entschuldigend zuckte er mit den Schultern und nahm das Gespräch an.
»Wo?« Er runzelte die Stirn, während er der Stimme am anderen Ende lauschte. »Und?« Die Furchen in seinem Gesicht wurden tiefer. »Ja, ja, ich komme.« Er legte auf. »Mist.«
Sören blickte ihn enttäuscht an. »Einsatz?«
»Hm. Leichenfund im Volkspark. Sorry, aber ich muss los.« Er stand auf, zog aus seiner Hosentasche einen Zehn-Euro-Schein, den er auf den Tisch legte, und klopfte Sören auf die Schulter. »Bist eingeladen.«
Wenig später stieg Peer Nielsen aus seinem Dienstwagen und blickte sich suchend um. Hatte der Kollege nicht gesagt, man würde am Parkplatz beim Kiosk in der Max-Schmeling-Straße auf ihn warten? Weit und breit sah er jedoch nur Jogger, Mütter mit Kinderwagen und Horden von Hundebesitzern, aber keinen Polizeibeamten.
»Verdammt«, fluchte Peer Nielsen und zog sein Handy aus der Hosentasche. »Ja, ich bin’s noch mal. Wo ist denn nun die Leiche?« Eine vorbeigehende Frau mit Pinscher drehte sich entsetzt nach ihm um, während er auf die Antwort seines Kollegen wartete. »Praktikant? Hier? Nee.« Plötzlich trat ein rothaariger Hänfling zwischen zwei Bäumen hervor.
»Kommissar Nielsen?«, rief er mit piepsiger Stimme. Peer legte ohne Verabschiedung auf.
»Haben Sie sich absichtlich versteckt?« Die Gesichtsfarbe des Praktikanten passte sich der seiner Haare an.
»N…, nein.«
»Egal, wo ist die Leiche?« Der junge Mann drehte sich um und schlug wortlos einen Waldweg ein. Es war ein Stück zu laufen, ehe sie die Wiese und den Pavillon sahen, und Peer fragte sich, ob das Opfer am Fundort umgebracht worden war. Ansonsten musste es eine ganz schöne Plackerei gewesen sein, die Leiche durch den halben Volkspark zu schleppen, um sie hier abzulegen. Reifenspuren konnte er jedenfalls keine ausmachen. Plötzlich blieb der Rothaarige stehen und wies mit ausgestrecktem Arm auf den Pavillon, um den herum rot-weißes Absperrband flatterte. Sonst war allerdings nichts zu sehen. Peer Nielsen bückte sich unter dem Band hindurch und stand plötzlich an einem Abhang. Unterhalb von ihm sah er die Kollegen von der Spurensicherung durch das Gehölz kreuchen.
»Was machen Sie denn da oben?«, rief ihm Franke zu, der mit seinen Kollegen den Tatort sicherte und über den Eindringling verärgert war.
»Nielsen, Mordkommission«, rief Peer dem Polizisten zu, während er vorsichtig die Böschung hinabkletterte.
»Und wieso stapfen Sie dann einmal durchs Gelände? Hier gibt es einen ganz regulären Weg.«
»Ihr Praktikant«, erklärte Nielsen und wies in Richtung Pavillon, aber von dem Rothaarigen war nichts zu sehen.
»Ach der«, winkte Franke ab. »Ist wirklich zu nichts zu gebrauchen. Egal, gut, dass Sie da sind. Wir haben hier einen Leichenfund und der Notarzt schließt eine Fremdeinwirkung nicht aus.«
»Wer hat den Toten gefunden?« Franke drehte sich um und zeigte auf die Frau mit den vielen Hunden, die auf dem Weg stand. Peer Nielsen nickte. Mit der Hundebesitzerin würde er sich später unterhalten, zuerst wollte er mal einen Blick auf die Leiche werfen.
»Was habt ihr?« Der Beamte der Spurensicherung, der neben dem Toten kniete, stand auf und drehte sich um. Sein Blick verriet, dass diese Frage viel zu früh kam.
»Außer, dass wir es hier mit einer männlichen Leiche zwischen 60 und 70 Jahre alt zu tun haben, kann ich noch nicht viel sagen.«
Das sehe ich selbst, fuhr es Peer Nielsen durch den Kopf. Er rollte mit den Augen. »Könnte ein Raubmord gewesen sein. Sieht nach einer Schlagverletzung aus.« Er wies auf die Wunde am Kopf des Opfers.
»Ich bin nicht der Gerichtsmediziner. Das wird eine Obduktion zeigen.« Der Leichenwagen, der das Opfer in das Rechtsmedizinische Institut bringen sollte, stand bereit.
Er sah ein, dass es besser war, auf die Ergebnisse der Sektion zu warten, und ging daher zu der Hundebesitzerin. Sofort stürmten die Hunde auf ihn zu und sprangen wild kläffend um ihn herum.
»Und Sie haben den Toten gefunden?«, versuchte er sich mit lauter Stimme gegen das Gebell durchzusetzen.
»Nein, Kasper hat die Leiche entdeckt.« Sie zeigte auf den Schäferhund, der an seinen Schuhen schnüffelte.
»Und ist Ihnen etwas aufgefallen?« Die Frau kniff die Augen zusammen. Sie verstand ganz offensichtlich nicht, was er meinte. »Andere Personen, lag irgendeine mögliche Tatwaffe oder Geldbörse herum?«
»Nee.«
Der Kommissar schaute sich um. Der Tote lag ein gutes Stück vom Weg entfernt. Der Täter musste sein Opfer dorthin geschleift haben, oder – Peer Nielsens Blick wanderte die Böschung hinauf – er hatte ihn von oben hinabgestoßen.
Dirk Thamsen war wie gewöhnlich einer der Ersten auf der Dienststelle. Seit er vor einigen Jahren die Leitung der Niebüller Polizei übernommen hatte, war er immer gegen sieben Uhr im Büro, außer er war krank oder hatte Urlaub. Ersteres war aber seit Jahren nicht mehr vorgekommen und letzteres stand erst in drei Wochen an. Dann begannen nämlich endlich die Sommerferien und er hatte für sich, seine Freundin Dörte und die Kinder eine Reise nach Amerika gebucht. Anne und Timo wussten noch nichts von ihrem Glück. Er hatte ihnen erzählt, sie würden in ein Ferienhäuschen nach Dänemark fahren und dafür auch schon vernichtende Kommentare geerntet. »Das ist doch was für Familien mit Babys.« »Wie langweilig, da ist es doch genau wie hier.« »Null Aktion.«
Thamsen jedoch rieb sich innerlich die Hände, während er schweigend das Gemaule der Kinder ertrug. Das würde eine Überraschung sein. Er freute sich schon sehr, zumal er lange auf die Reise gespart hatte. Außerdem würde es wahrscheinlich der letzte große gemeinsame Urlaub sein, denn Timo war mittlerweile beinahe erwachsen und wäre dieses Jahr lieber mit seinen Freunden als mit seinem alten Herrn in die Ferien gefahren. Thamsen war auf Timos Gesicht gespannt, wenn sie anstatt Richtung Dänemark zum Hamburger Flughafen fuhren.
Er holte sich wie gewöhnlich eine Tasse Kaffee aus der Gemeinschaftsküche und machte sich dann daran, seine Mails durchzugehen. Viel war seit gestern Abend nicht passiert, lediglich ein paar Nachrichten aus dem Presseticker der Polizei sowie eine Anfrage einer Krimiautorin, ob sie einmal die Dienststelle besuchen dürfte und er für ein paar Fragen zur Verfügung stand. Er hatte seit Jahren kein Buch mehr gelesen und musste schmunzeln bei der Vorstellung, dass in dem ersten, das er vielleicht dann wieder in die Hand nehmen würde, er die Hauptfigur sein könnte. Thamsen schrieb der Autorin, er sei gern zu einem Gespräch bereit, und fragte, wann sie vorbeikommen wollte. Wie eine Krimiautorin wohl aussieht, fragte er sich und zuckte zusammen, als es plötzlich an seiner Tür klopfte.
»Herein?« Er nahm an, es sei einer seiner Mitarbeiter und staunte daher nicht schlecht, als eine ältere Dame die Tür öffnete und wie eine Furie auf ihn los stürmte. Gleich darauf stürzte ein Polizist in den Raum.
»Ich bat Sie draußen zu warten.« Er packte die Frau am Arm und versuchte, sie aus Thamsens Büro zu zerren. Doch die Alte wehrte sich mit Leibeskräften.
»Sie müssen meinen Mann finden. Er ist weg«, krakeelte sie. »Sie müssen etwas tun.«
Dirk verfolgte kurz das Handgemenge vor seinem Schreibtisch, stand dann auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Nun mal mit der Ruhe. Wir kümmern uns ja, aber Sie müssen sich anständig benehmen und ruhig erzählen, was passiert ist. Ansonsten können wir Ihr Anliegen nicht bearbeiten. Wie ist überhaupt Ihr Name?«
Die ältere Frau, die durch Thamsens Ansprache plötzlich wie versteinert wirkte, schluckte. »Erika Matzen.«
»Und, Frau Matzen, was genau ist passiert?« Er deutete mit seiner Hand auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Erika Matzen zögerte einen Moment. Sie durften keine Zeit verlieren, schließlich war Heinrich nun beinahe 24 Stunden verschwunden. Gemeldet hatte er sich auch nicht. Erika hatte die ganze Nacht vor dem Telefon ausgeharrt, mehrere Male den Hörer abgenommen, um zu überprüfen, ob der Anschluss überhaupt funktionierte. Doch Heinrich hatte nicht angerufen, und von Stunde zu Stunde war ihre Angst größer geworden, bis sie es fast nicht mehr ausgehalten hatte. Da sie keinen Führerschein besaß, hatte sie auf den Schulbus warten müssen. Zwischen plappernden Kindern mit riesigen Tornistern war sie nach Niebüll gefahren. Den restlichen Weg vom ZOB zur Polizeidienststelle war sie beinahe gerannt.
»Ja, mein Mann ist gestern in Hamburg verschwunden«, entschied sie sich nun doch, die ganze Geschichte zu erzählen. Lange würde sie ohnehin nicht brauchen, daher setzte sie sich nur auf die Kante des Holzstuhls. Dirk Thamsen hörte der Frau aufmerksam zu. Er stellte ein paar Fragen und entschied, dass man eine Vermisstenanzeige aufnehmen würde. Etwas seltsam war die Sache, aber wer wusste schon, was zwischen den Eheleuten vorgefallen war und Erika Matzen ihm vielleicht verschwieg.
»Wir leiten die Anzeige an die Kollegen in Hamburg weiter – und dann schauen wir mal«, versuchte er, die Frau ein wenig aufzumuntern. Mehr konnten sie momentan ohnehin nicht tun, denn dass Heinrich Matzen suizidgefährdet sein könnte, hatte seine Frau ausgeschlossen. Erika Matzen nickte langsam, stand aber nicht auf. Sie konnte nicht begreifen, dass das alles war, was die Polizei wegen Heinrichs Verschwinden tat. Sie mussten doch nach ihm suchen. Ganz offensichtlich war ihm etwas zugestoßen. Warum sonst meldete er sich nicht?
»Glauben Sie mir«, versicherte der andere Beamte, der Erika Matzen am Arm griff, um sie vom Stuhl hoch zu ziehen, »die meisten Fälle klären sich schneller auf, als man denkt.«
»Haie, kannst du heute Nachmittag auf Niklas aufpassen?« Tom saß am Frühstückstisch und schnitt ein Marmeladenbrot für seinen Sohn in kleine Quadrate.
»Na sicher passt der Onkel Haie auf dich auf«, antwortete Haie an Niklas gewandt und zupfte dem Kleinen leicht am Ohr. Der jauchzte vor Vergnügen.
»Mehr, mehr!«, forderte Niklas und Haie kam diesem Wunsch zu gern nach. Er liebte den Jungen über alles, auch wenn er nicht sein Sohn war. Wahrscheinlich lag es daran, weil er in dem Kleinen ein Stück von Marlene weiterleben sah und das machte ihn jeden Tag aufs Neue froh. Für Tom hingegen war es oft eine Qual, wenn er in den blauen Augen seines Kindes die so schmerzlich vermisste Geliebte entdeckte, und es stimmte ihn daher oftmals traurig, wenn er sah, wie sehr Niklas nach seiner Mutter kam. Vielleicht war das auch der Grund, warum er den Jungen Haie so oft aufhalste, anstatt sich selbst um ihn zu kümmern. Kaum verwunderlich also, dass Haie und Niklas oft weitaus besser miteinander auskamen als Vater und Sohn. Momentan war Tom das allerdings egal. Er war froh, wieder einigermaßen Boden, wenn auch noch recht wackeligen, unter seinen Füßen zu spüren. Anfangs hatte er gedacht, er packe das mit der Arbeit nicht, aber der Job lenkte ihn zumindest von seiner Trauer ab und brachte ihn wenigstens ab und an auf andere Gedanken.
»Wie geht es denn in Dagebüll voran?«
»Och, eigentlich ganz gut«, entgegnete Tom. »Diese Ferienanlage wird echt ein super Gewinn für die Region. Wenn sie denn endlich fertiggestellt werden kann.«
»Wieso, gibt es Probleme?«
»Naja, ein paar Einheimische sträuben sich, ihr Land zu verkaufen. Kennst ja die sturen Nordfriesen.« Tom steckte eines der Marmeladenquadrate in Niklas weit aufgesperrten Mund. »Ist ja nicht so einfach. Die sollen schließlich ihre Häuser verkaufen, oder? Also würdest du …?«
»Warum nicht?« Seit Marlenes Tod sah Tom viele Dinge anders. Nichts war für die Ewigkeit. Das hatte er mehr als deutlich zu spüren bekommen. Und was machte es dann für einen Unterschied, in welchem Haus man lebte? Die Baufirma machte den Eigentümern zudem großzügige Angebote. »Aber bis auf einen haben wir langsam alle umgestimmt. Ab einer gewissen Summe ist halt doch jeder käuflich.«
»Und auf den einen seid ihr angewiesen?«
Tom nickte. »Leider. Sein Grundstück liegt mittendrin im Baugebiet. Keine Chance drumherum zu bauen.« Das Projekt war für Dagebüller Verhältnisse riesig. Direkt hinter dem Außendeich sollte eine große Feriensiedlung mit über 100 kleinen Häuschen und Wohnungen entstehen. Dazu ein Tennisplatz, eine Badelandschaft und Einkaufsmöglichkeiten. Haie stand dem Vorhaben mit geteilter Meinung gegenüber. Natürlich war es gut, Urlauber in die Region zu locken. Das schaffte Arbeitsplätze, und die konnten sie hier dringend gebrauchen. Viele Möglichkeiten außer dem Tourismus, der Landwirtschaft und ein paar kleineren Unternehmen bot der nördlichste Landstrich des Kreises wirklich nicht. Aber musste man dafür so stark in die Landschaft und das Leben der Einheimischen eingreifen? Außerdem wurde viel freie Fläche bebaut, der weite Blick genommen. Schön sah das jedenfalls nicht aus und ob es der Umwelt gut bekam, wagte Haie auch zu bezweifeln. Die zahlreichen Touristen würden rücksichtslos durch die Landschaft stapfen, Vögel beim Brüten stören, im Watt die letzten Seesterne aufklauben, und auch wenn es verboten war, ihre Strandmuscheln am Deich aufbauen und dadurch den Schutzwall ruinieren. Tom gegenüber hielt sich Haie jedoch mit seinen Argumenten zurück. Er war froh, dass der Freund sich wieder aufgerafft hatte und arbeiten ging. Auch wenn das Projekt, das Tom vorantrieb, ihm ein Dorn im Auge war. »Und was macht ihr, wenn der Typ nicht verkaufen will?«
»Der Typ heißt Heinrich Matzen und hält sich für etwas ganz Besonderes.« Tom war auf den Mann nicht gut zu sprechen, denn bisher waren die Gespräche mit dem Hausbesitzer nicht sonderlich angenehm gewesen. Tom hielt ihn für ein arrogantes Arschloch. »Tja, was sollen wir machen, wenn er nicht verkaufen will?«
Die Mail an die Hamburger Polizei war erst wenige Augenblicke gesendet, da klingelte Thamsens Telefon.
»Peer Nielsen, LKA Hamburg, Mordkommission. Guten Morgen!«
»Moin!«
»Ich rufe wegen der Vermisstenanzeige an.« In Thamsens Magengegend machte sich sofort ein ungutes Gefühl breit.
»Ja?«
»Haben Sie ein Bild von dem Mann?«
»Wieso?«
»Na, wir haben hier eine nicht identifizierte Leiche. Wurde gestern im Volkspark aufgefunden. Die Beschreibung könnte passen.«
Dirk Thamsen schluckte. So schnell hatte er nicht mit Ergebnissen gerechnet, und erst recht nicht mit solchen. Wenn die Leiche überhaupt der vermisste Dagebüller war. Aber das ließ sich herausfinden, denn Erika Matzen hatte tatsächlich ein Foto ihres Mannes da gelassen. ›Sie müssen doch wissen, nach wem Sie suchen‹, hatte sie behauptet und aus ihrer Geldbörse ein Bild von Heinrich Matzen gezogen.
»Ich scanne das Bild eben ein und maile es Ihnen.«
»Gut, danke.«
Thamsen legte auf und erhob sich von seinem Stuhl. Das Bild und den Ausdruck der Vermisstenanzeige hatte sein Mitarbeiter mitgenommen.
»Ansgar?«, rief er über den Flur, da dessen Büro direkt gegenüber lag. »Kann ich die Anzeige von Erika Matzen noch einmal haben?« Der andere Beamte erschien kurz darauf mit einer Mappe in der Hand im Türrahmen.
»Wieso?«
»Die Hamburger Kollegen haben da unter Umständen was und brauchen einen Scan von dem Foto.«
»Kann ich erledigen«, bot der junge Polizist an.
Peer Nielsen starrte auf den Bildschirm seines Computers und wartete darauf, dass in seinem Posteingang endlich ein kleiner Briefumschlag aufblinkte. Am Morgen hatte er flüchtig seine Mails durchgeschaut, zwischen denen er die Anzeige aus Niebüll entdeckt hatte. Könnte deine Leiche sein, hatte der Kollege, der ihm die Nachricht weitergeleitet hatte, beigeschrieben. Und tatsächlich, Alter und Aussehen stimmten zumindest ungefähr überein. Auch der Zeitpunkt des Verschwindens von Heinrich Matzen könnte zu ihrem Toten passen, denn lange hatte die Leiche dort unterhalb des Pavillons nicht gelegen. Das jedenfalls hatte der Kollege ihm gestern vor Ort dann doch sagen können, da die Leichenstarre noch nicht voll ausgeprägt gewesen war.
Peer trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Wie lange brauchen die denn, um ein Foto einzuscannen? In einer Viertelstunde musste er los. Dr. Choui, der Gerichtsmediziner, hatte für zehn Uhr die Obduktion angesetzt. Es wäre gut, wenn er das Foto zu diesem Termin mitnehmen könnte. Somit wäre ein Abgleich mit der Leiche möglich. Eine offizielle Identifizierung durch die Familie würde es trotzdem geben, aber erst mussten sie die Angehörigen überhaupt bestimmen. Und dann blieb die Frage, warum war der Mann tot?
Endlich ertönte das Signal und der Briefumschlag blinkte auf dem Bildschirm. »Na endlich«, stöhnte Peer und öffnete eilig den Anhang. Das Foto schien älteren Datums zu sein und die Qualität war auch nicht berauschend. Aber auch wenn der Mann auf dem Foto jünger aussah – Peer neigte den Kopf zur Seite – er könnte es vielleicht … Er betätigte den Druckbutton, nahm anschließend das Bild und steckte es in seine Tasche. Eilig verließ er sein Büro.
Der Verkehr war um diese Zeit wie immer zäh in Hamburg. Eigentlich war er fast immer zäh, es sei denn, man fuhr nachts. Und dann diese Ampelschaltung. Grüne Welle? Fehlanzeige. Ständig stand er an einer der zahlreichen roten Ampeln, die selbst auf den Haupteinfallstraßen nicht aufeinander abgestimmt waren. Endlich grün, warum fuhren die anderen denn nicht? Die wenigen Kilometer nach Eppendorf erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Nach quälenden 20 Minuten bog er endlich auf den Parkplatz vor dem Gebäude der Rechtsmedizin ab.
Er war spät dran. Eilig stieg er aus dem Wagen und lief zum Eingang hinüber.
»Hallo Peer«, begrüßte ihn die junge Dame am Empfang. »Zehn Uhr Obduktion bei Dr. Choui?« Er nickte. »Na, dann geh schon mal runter. Kennst dich ja aus.« Sie betätigte den Türöffner. Im unteren Bereich des Gebäudes deutete nichts darauf hin, dass man sich hier in einem rechtsmedizinischen Institut befand – wenn man mal von dem Leichenwagen absah, den man durch die Glastür vor dem Seiteneingang stehen sehen konnte. Ansonsten wirkte alles eher wie in einer normalen Klinik.
Peer Nielsen öffnete die Tür zum Keller und stieg die Treppe hinab. Noch ehe er die letzte Stufe erreichte, spürte er wie immer bei solchen Terminen dieses beklemmende Gefühl, das ihm beinahe die Luft abschnürte. Und spätestens vor der Glastür mit dem Hinweis ›Betreten Sie diesen Bereich bitte nur mit Schutzkleidung‹ verkrampfte sich sein Körper vollends. Es war nicht das erste Mal, dass er einer Obduktion beiwohnte, aber die Vorstellung der vielen toten Menschen hinter dieser Tür machte ihn beklommen. Und es waren wirklich viele. Zwischen 3.000 und 4.000 Tote durchliefen das größte Leichenschauhaus Deutschlands jedes Jahr. Hamburg gönnte sich den Luxus, jeden unerklärlichen Todesfall in der Rechtsmedizin untersuchen zu lassen. Bei dem Gedanken an die zahlreichen Leichen konnte einem mulmig werden.
Er betrat den kleinen Nebenraum, in dem Kittel und weitere Schutzkleidung bereitgehalten wurden. Vor einem der Waschbecken stand Herr Holst, der Sektionsassistent.
»Geht gleich los«, kündigte er an, als er den Kommissar sah. Nielsen zog sich einen der grünen Kittel über und nahm sich ein paar Schutzüberzieher für die Schuhe. Herr Holst reichte ihm einen Mundschutz, den Peer anlegte, während er dem Assistenten zum Sektionsraum folgte.
»Ich hole ihn dann mal«, kündigte Herr Holst vor den Kühlfächern an. Er öffnete eine der schweren Metalltüren und zog einen der vier Toten heraus. Auf einer Bahre schob er den Körper dann in den gegenüberliegenden Raum. Nielsen wartete, bis der Assistent die Leiche auf den Sektionstisch gehievt hatte, und trat dann neben den Toten.