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Früh an einem Sommermorgen findet der Schüler Jonas Lützen den Bademeister des Freibades in Risum tot im Becken treiben. Der Schock über den grausamen Fund ist groß, erst recht als die Untersuchungen ergeben, dass der Mann ermordet wurde. Nur, wer hat den Bademeister ins Jenseits befördert und warum? Alle Spuren, die Kommissar Thamsen mit seinen Freunden Tom und Haie verfolgt, scheinen im Sande zu verlaufen ...
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Seitenzahl: 287
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Sandra Dünschede
Friesenschrei
Ein weiterer Fall für Thamsen und Co.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Friesenlüge (2014), Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012), Todeswatt (2010), Friesenrache (2009), Solomord (2008), Nordmord (2007), Deichgrab (2006)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © mgebauer / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4612-2
Für Rebekka und Bastiane.
Alles ist möglich –
ihr müsst euch nur trauen!
Jonas trat kräftig in die Pedale. Den Kopf tief über den Lenker seines blauen Mountainbikes gebeugt und dennoch sein Ziel fest im Visier. Er spürte gar nicht, wie sein T-Shirt unter dem sperrigen Schulranzen bereits klatschnass an seinem Rücken klebte und er an den Haarwurzeln zu schwitzen begann.
Es war noch früh am Morgen – sehr früh –, doch die Sonne schickte bereits ihre heißen Sommerstrahlen von einem leuchtend blauen Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke auszumachen war. Selbst der leichte Wind, der hier im Norden eigentlich immer wehte und so auch das wärmste Wetter erträglich machte, schien gelähmt von der Hitze, und das bereits seit Tagen. Nachts sanken die Temperaturen kaum und Jonas hatte sich wieder einmal unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt, nur wenig Schlaf gefunden. Trotzdem war er noch vor Sonnenaufgang aufgestanden.
Heute, heute würde er es endlich schaffen, vor Oke Matthiesen am Fahrradständer der Schule zu sein. Ganz lässig wollte er an dem Metallkonstrukt lehnen und den anderen mit einem breiten Grinsen im Gesicht begrüßen. Mit dem in ihm aufsteigenden Triumphgefühl trat er noch kräftiger in die Pedale. Ja, heute würde er der Sieger sein.
Schon seit einigen Tagen lagen die Jungs in diesem Wettstreit, von dem eigentlich keiner der beiden genau wusste, worin er begründet war. Es ging einfach nur darum, besser als der andere zu sein. Und so wetteiferten er und Oke jeden Morgen darum, wer als Erster an der Schule war, wessen Mutter das leckerste Pausenbrot zubereitet hatte oder wer von ihnen die besseren Ergebnisse im Sportunterricht erreichte. Bisher war Oke stets vor Jonas an der Schule gewesen, aber dies sollte sich heute ändern. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Jonas passierte den kleinen Sielzug kurz vor dem Spielplatz und sah gleich darauf den Fahrradständer einsam und verlassen in der Morgensonne daliegen. Sein Herz machte einen Satz und er jubelte innerlich. Ja, heute würde er es vor Oke schaffen. Nun stand es so gut wie fest. Er mobilisierte ein letztes Mal all seine Kräfte und beschleunigte nochmals das Tempo, doch gleich hinter dem Spielplatz bremste er kräftig, sodass sein Fahrrad ruckartig stehen blieb. Nur mit viel Mühe schaffte er es, nicht kopfüber über den Lenker zu fliegen.
Was war denn das? Die Tür des Freibads stand sperrangelweit offen. Und das um diese Zeit?, wunderte sich Jonas. Er schob sein Rad bis zum Eingang. »Hallo?«, rief er laut, behielt dabei den Fahrradständer jedoch fest im Blick. Nicht, dass ihn dieser Zwischenfall den Sieg kostete. »Hallo?« Da musste doch jemand sein. Warum stand sonst die Tür auf? Vielleicht waren Handwerker an der Arbeit? Das Freibad war nicht gerade das neueste und daher gab es eigentlich ständig etwas zu reparieren. Gut möglich also, dass auch jetzt Reparaturen ausgeführt wurden, nur warum war es dann so still? Und wieso antwortete niemand auf sein Rufen? Noch einmal wanderte Jonas’ Blick hinüber zur Schule, doch nach wie vor war am Fahrradständer niemand zu sehen. Zögernd schob er das Fahrrad zum Zaun und lehnte es gegen den grobmaschigen Draht. Er spürte, wie das Triumphgefühl verflog und sich ein unangenehmes Grummeln in seiner Magengegend ausbreitete. »Was soll schon sein?«, murmelte er laut vor sich hin. Sicher waren nur Handwerker oder Putzleute im Freibad. Wieder schaute er zum Fahrradständer hinüber, dann stieg er langsam die wenigen Stufen zum Kassenhäuschen hinauf. »Hallo? Ist da wer?« Auf seine Frage folgte nur Stille, als habe die Welt die Luft angehalten. Nicht einmal ein Vogelzwitschern war zu hören. Eilig lief Jonas die Treppen wieder hinunter und hielt nach Oke Ausschau. Wieso musste er ausgerechnet heute später kommen? Wenngleich er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als vor seinem Mitschüler an der Schule zu sein, wäre er jetzt froh, wenn Oke endlich um die Ecke biegen und auf den Fahrradständer zusteuern würde. Doch es kam niemand. Jonas trampelte von einem Fuß auf den anderen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte und genau dieses Gefühl zog ihn beinahe magisch erneut die Stufen ins Freibad hoch. »Hallo?« Seine Stimme war nur noch eine leichte Schwingung, die sich auf die glitzernde Oberfläche des Beckens legte, die Jonas nur kurz mit den Augen streifte, ehe er zusammenzuckte. Jede Faser seines Körpers verkrampfte sich plötzlich. Unfähig, sich zu bewegen, stand er da. Nicht einmal den Kopf konnte er wegdrehen, sodass sich dieser scheußliche Anblick für immer in sein Gedächtnis einbrannte.
»Niiiiklaaaas!« Haie stöhnte laut. Er stand im Flur am Absatz der Treppe und rief nach seinem Patenkind, das angeblich nur ganz kurz einen Stoffhasen aus seinem Zimmer im oberen Stock holen wollte. Besorgt blickte er auf die Uhr. Wie sollte es bloß werden, wenn Niklas zur Schule kam und morgens pünktlich zum Unterricht zu erscheinen hatte?
Seitdem die Mutter des Jungen vor ein paar Jahren auf dramatische Weise ums Leben gekommen war, lebte Haie mit dem alleinerziehenden Freund zusammen und hatte, vor allem seit er in Rente war, die Aufgabe der Erziehung und Betreuung des Kindes in weiten Teilen übernommen. Tom war selbstständiger Unternehmensberater und reiste momentan viel herum. Gerade jetzt war er ein paar Tage unterwegs und Niklas hatte zum Trost in Papas Bett schlafen dürfen, in dem er nun angeblich den Stoffhasen vergessen hatte. Ohne den wollte er aber partout nicht in den Kindergarten. Doch entweder hatte das Kuscheltier sich gut versteckt oder etwas anderes hielt das Kind auf, denn so lange konnte es unmöglich dauern, den Hasen zu holen.
Haie stieg gerade die ersten Stufen hinauf, als Niklas strahlend am Treppenansatz erschien. »Hab ihn!« Er wedelte wild mit dem Kuscheltier. Seine blauen Augen blitzten glücklich, und sofort konnte Haie dem Jungen nicht mehr böse sein. Zu sehr ähnelte der Kleine seiner Mutter, die Haie noch immer schmerzlich vermisste. »Dann kann es ja endlich losgehen«, seufzte er. »Frau Bünger wird sowieso wieder mit uns schimpfen!« Er wartete, bis Niklas die Treppe hinuntergestiegen war, verstaute den Stoffhasen in dem kleinen Kinderrucksack, den er dem Jungen anschließend aufschnallte. »Nun aber los!«
Wie er selbst fuhr Niklas mit dem Fahrrad zum Kindergarten und legte ein Tempo vor, bei dem Haie kaum mithalten konnte. »Vorne an der Straße warten!«, rief er dem Jungen daher leicht keuchend hinterher.
Nanu, wunderte Haie sich, als sie auf den Schulweg einbogen und Niklas mit einem Affenzahn auf die Grundschule zu radelte. Was war denn da los? In der Ferne konnte er ein paar Blaulichter ausmachen und das Signalrot eines Rettungswagens. »Da muss etwas passiert sein«, murmelte er und trat kräftig in die Pedale, sodass er Niklas bald einholte. Als sie den kleinen Sielzug überquerten, sah er schon die Absperrung vor dem Freibad. Ein Polizist versuchte, ein paar Schaulustige zu vertreiben. »Hier gibt es nichts zu sehen! Gehen Sie bitte weiter!«
Haie blickte auf Niklas, der vor dem rot-weißen Flatterband gestoppt hatte und interessiert seinen Hals in die Höhe reckte. »Komm«, bestimmte er, obwohl er seine Neugierde selbst kaum im Zaum halten konnte. »Frau Bünger wartet.« Er trieb den Kleinen zur Weiterfahrt an und lieferte ihn am Kindergarten ab, der sich direkt neben der Grundschule befand. »Was ist denn da beim Freibad los?«, erkundigte er sich flüsternd bei der Leiterin, doch die zuckte nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ist ja alles abgesperrt.«
Er strich Niklas zum Abschied über den Kopf. »Bis nachher, Kumpel!«
Eilig schob er sein Fahrrad hinüber zum Freibad. Vielleicht, so hoffte Haie, war Dirk, der Leiter der Niebüller Polizei, mit dem er seit etlichen Jahren befreundet war, vor Ort und konnte ihm sagen, was passiert war. Er bemühte sich, so nah wie möglich an das Absperrband heranzukommen, vor dem nach wie vor etliche Neugierige standen. Er drängte sich zwischen die Leute und versuchte, auf Zehenspitzen einen Blick ins Freibad zu erhaschen, doch von dem Freund war nichts zu sehen.
Dirk Thamsen stand etwas abseits am Beckenrand und blickte auf den leblosen Körper des Mannes, den Jonas Lützen mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend gefunden hatte. Der herbeigerufene Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können, der Leichenwagen war angefordert. Ein paar Kollegen von der Spurensicherung waren vor wenigen Minuten eingetroffen und machten sich gerade daran – soweit es die Verhältnisse zuließen – den Fundort der Leiche zu sichern und nach Spuren abzusuchen. Wie es auf den ersten Blick aussah, war der Mann ertrunken; da man ihn allerdings voll bekleidet in dem Becken gefunden hatte, ging er davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um eine natürliche Todesursache handelte. Zumal der Notarzt eine Verletzung am Kopf ausfindig gemacht hatte, zu der er aber nichts weiter sagen konnte. Da würden sie den Obduktionsbericht von Dr. Becker aus Kiel abwarten müssen. Den hatte Dirk Thamsen bereits telefonisch über den Leichenfund informiert.
Für den Moment konnte er hier im Freibad nichts mehr ausrichten und beschloss daher, den Schüler zu befragen, der den Toten gefunden hatte. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Junge in der Schule im Lehrerzimmer saß.
»Juhu, Dirk!«, hörte er plötzlich seinen Namen, als er die Stufen des Freibades hinunterstieg. Er blickte sich um und sah in der Menge Haie Ketelsen hinter dem Absperrband wie wild mit seinen Armen fuchteln. Der Freund, der früher Hausmeister an der Grundschule war, hatte ihm schon einige Male bei seinen Ermittlungen geholfen. Thamsen hob die Hand zum Gruß und wies den Kollegen an, Haie zu ihm zu lassen.
»Moin, Haie, was machst du denn schon hier?«, grinste er dem Rentner entgegen, obwohl er wusste, dass Haie in dem Dorf so gut wie nichts entging.
»Ich habe Niklas zum Kindergarten gebracht und dann die Blaulichter hier gesehen. Was ist denn los?« Erwartungsvoll blickte Haie Dirk an, der plötzlich ein Gähnen unterdrücken musste. »Hat die Kleine wieder durchgeschrien?«
Thamsen nickte. Vor gut einem Jahr war er noch einmal überraschend Vater geworden. Seine Lebensgefährtin Dörte hatte mit der ungeplanten Schwangerschaft sein ohnehin schon chaotisches Leben ordentlich durcheinandergewirbelt, und als Lotta dann zur Welt kam, war es richtig anstrengend geworden. Dirk konnte sich nicht daran erinnern, dass Anne und Timo, seine fast schon erwachsenen Kinder aus erster Ehe, ihn körperlich so strapaziert hatten. Lotta bekam momentan Zähne und schrie jede Nacht. Er hatte seit Tagen nicht ausgeschlafen.
»Ein Schüler hat eine Leiche im Freibad gefunden.«
»Was?«, entfuhr es Haie.
Erneut nickte Thamsen und massierte leicht seine Stirn. »Der Bademeister trieb tot im Becken. Wahrscheinlich schon seit gestern Abend.«
»Aber wie denn? Wer denn?«, stammelte Haie aufgelöst.
Thamsen hob die Schultern. »Noch wissen wir nichts Genaues, aber nach Selbstmord sieht mir das Ganze nicht aus. Kanntest du den Mann?«
Sofort nickte Haie. Natürlich war ihm Ralf Burger bekannt. Er war in diesem kleinen, beschaulichen Dorf geboren und aufgewachsen, wusste über alles und jeden Bescheid. Gerade deswegen war er für Thamsen eine große Ermittlungshilfe. »Weiß denn seine Frau schon von dem Unglück?«
»Nee«, entgegnete Dirk, der das Überbringen von Trauernachrichten gerne auf die lange Bank schob, »da fahre ich hin, wenn ich mit dem Jungen gesprochen …«
»Ich will zu ihm!« Eine schrille Frauenstimme durchschnitt plötzlich die Luft wie die Klinge eines Samuraischwertes. Die beiden zuckten zusammen und drehten sich in die Richtung, aus der das Gekreische kam. Wie eine wild gewordene Furie sahen sie eine Frau heranstürmen. Das leichte Sommerkleid, das sie trug, wehte hinter ihr her, während sie mit erhobenen Armen durch die Luft ruderte. Unbewusst gingen Haie und Dirk in Deckung.
»Wo ist er!« Sie blieb direkt vor den beiden stehen und schrie ununterbrochen: »Wo ist er? Wo ist er?«
Haie stand wie angewurzelt da und auch Thamsen fing sich nur langsam. »Frau Burger?«
»Wo ist er?«
»Bitte«, er legte seine Hand auf ihren Arm, den sie jedoch wegzog, als schmerze sie die Berührung. »Beruhigen Sie sich bitte!«, versuchte Thamsen auf die Frau einzuwirken, doch ohne Erfolg.
»Ralf!«, rief sie und preschte an ihnen vorbei. Ehe sie es sich versahen, war Frau Burger die Stufen zum Freibad hinaufgehechtet. »Ralf! Ra…« Der Ausruf blieb ihr förmlich im Halse stecken, als sie sah, wie der Bestatter gerade den Leichnam ihres Mannes in einen metallenen Sarg wuchtete. Kein schöner Anblick, zumal der Unternehmer des kleinen Bestattungsinstituts aus Niebüll heute alleine am Unglücksort war, da sein Mitarbeiter sich krank gemeldet hatte. Es war ihm kaum möglich, den leblosen Körper in den Sarg zu hieven, daher zerrte und drückte er den Toten in Position.
»Kann jemand mal Herrn Mumme helfen!«, rief Thamsen den Kollegen von der Spurensicherung zu, und hakte dann Grit Burger unter, um sie diesem Anblick zu entziehen. »Kommen Sie.« Er führte die Frau langsam zurück auf den Schulweg, wo die Schaulustigen ihnen kaum Platz machten.
»Zur Seite, bitte! Geht doch mal weg!«, forderte Haie die neugierigen Dorfbewohner auf und half dem befreundeten Kommissar, die Witwe zur Schule zu bringen. Dort waren zum Glück noch die Rettungssanitäter vor Ort, die sich um Jonas Lützen kümmerten.
»Wir brauchen Hilfe«, rief Thamsen und sofort kam einer der Rettungshelfer auf sie zu und übernahm die mittlerweile apathische Frau Burger. Kopfschüttelnd beobachtete Thamsen, wie der Mann die Witwe zum Rettungswagen brachte. »Unglaublich, wie schnell sich im Dorf alles rumspricht.«
»Na ja«, entgegnete Haie, »so ist das hier halt. Wahrscheinlich hat Grit beim Einkauf im SPAR-Markt von Ralfs Tod erfahren«, mutmaßte er, da er wusste, dass der Laden der Hauptumschlagplatz für die Neuigkeiten im Ort war. Helene, die Kaufmannsfrau, sah es als ihre Pflicht an, ihre Kundschaft stets auf dem neuesten Stand zu halten. Allein deshalb blieb in dem kleinen Dorf nichts lange geheim.
Jonas Lützen saß auf einem Stuhl vorm Schreibtisch des Direktors. Eine Lehrerin war bei ihm und strich ihm beruhigend über den Kopf. »Wir haben seine Mutter informiert. Sie kommt ihn gleich abholen.«
Thamsen nickte und ging neben dem Jungen in die Knie. »Das war sehr tapfer von dir heute Morgen«, lobte er Jonas, ehe er begann, vorsichtig seine Fragen zu stellen. »Hast du im Freibad jemanden gesehen?«
Das Kind saß wie versteinert auf dem Stuhl, starrte zu Boden.
»Kannst du mir erzählen, wie du den Bademeister gefunden hast?«
Wieder rührte sich der Junge nicht.
»Er steht unter Schock«, flüsterte die Lehrerin und strich dabei weiter über den Kopf des Kindes. Thamsen konnte sich gut vorstellen, was der Leichenfund in dem Schüler ausgelöst hatte. Die meisten Erwachsenen waren überfordert mit dem Anblick eines toten Menschen, wie musste es da erst diesem kleinen Kerl gehen? Er erhob sich und vertagte die Befragung erst einmal. Momentan würde er sowieso keine hilfreiche Aussage des Jungen bekommen. Er fasste Jonas kurz an der Schulter und lächelte der Lehrerin zu, während er sich verabschiedete und durch den Schulflur zurück auf den Hof schlenderte. Der Rettungswagen war inzwischen abgefahren. Wie es schien, hatten die Helfer Frau Burger mitgenommen, denn von der Witwe war weit und breit keine Spur zu sehen. Stattdessen standen Haie und der Direktor der Schule beisammen und unterhielten sich aufgeregt.
»Also ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer Herrn Burger umgebracht haben soll«, entgegnete der Leiter der Grundschule, als Dirk zu ihnen stieß. »Das muss doch ein Unfall gewesen sein.«
Thamsen verstand sehr gut, dass man sich in seinem persönlichen Umfeld solch eine Gräueltat nicht vorstellen wollte; zumal irgendwie jeder als Täter infrage kam. Und wer wollte schon einen Mörder zum Nachbarn? Doch an einen profanen Unfall glaubte Thamsen nicht. Ralf Burger war Bademeister gewesen und konnte demzufolge wahrscheinlich gut schwimmen. Warum also sollte ausgerechnet er einfach ertrunken sein? Natürlich war es möglich, dass der Mann einen Herzanfall erlitten hatte, aber dagegen sprach immer noch, dass Ralf Burgers Leiche vollständig bekleidet im Becken trieb. Da hätte der Bademeister ja gerade am Beckenrand stehen müssen, als er einen Infarkt bekam. Möglich, aber irgendwie erschien Thamsen dieser Hergang unwahrscheinlich. Höchst unwahrscheinlich. Außerdem war da diese Verletzung am Kopf des Toten, die sehr stark auf eine Fremdeinwirkung hindeutete.
»Hat Herr Burger in der letzten Zeit vielleicht mal erwähnt, ob etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist im Freibad?«
Herr Mohn schüttelte den Kopf, betonte aber, dass die Grundschule ohnehin wenig mit dem Freibad zu tun hätte. »Da wir keinen Schwimmunterricht anbieten, gibt es kaum Berührungspunkte. Hin und wieder ein Schnack, wenn man sich über den Weg läuft. Das ist aber auch schon alles.«
»Und sonst ist Ihnen in der letzten Zeit auch nichts aufgefallen?« Thamsen blickte den Schuldirektor mit leicht zusammengekniffenen Augen an, doch der Mann schien wirklich ahnungslos.
»Herr Burger war schließlich ein anständiger Mann, soweit ich weiß. Wer sollte dem also etwas zuleide getan haben?«
»Also, das ist für den Moment alles«, schloss Thamsen seinen Bericht über den Ermittlungsstand im Fall des toten Bademeisters. Seine Mitarbeiter nickten zwar, schauten ihn dennoch erwartungsvoll an. Viel war es nicht, was sie bisher über den Leichenfund sagen konnten, das wusste er selbst, aber er konnte auch keine Ergebnisse aus dem Hut zaubern. Er hatte zwar Haie zu dem Bademeister befragt, der konnte über Ralf Burger allerdings wenig sagen. »Ich höre mich aber mal im Dorf um«, hatte der Freund angeboten und versprochen, sich sofort zu melden, falls es Neuigkeiten gab.
»Dann sollten wir die Obduktion und den Bericht der Spurensicherung abwarten«, erklärte Thamsen, da die anderen ihn immer noch anstarrten. »Und wann willst du mit der Witwe sprechen? Oder ist die noch nicht wieder vernehmungsfähig?« Lorenz Meister von der Kripo Husum, den Thamsen telefonisch über den toten Bademeister informiert hatte und der daraufhin zur Besprechung nach Niebüll gekommen war, blickte ihn geradezu herausfordernd an.
Schon jetzt kotzte Dirk Thamsen die bevorstehende Zusammenarbeit mit den Beamten aus der Polizeidirektion an. Meistens gestaltete sich diese nämlich so, dass er mit seinen Mitarbeitern die ganze Arbeit erledigte, und die feinen Beamten aus Husum dafür die Lorbeeren kassierten. Früher war er regelmäßig auf die arroganten Kollegen, die sich in seinen Augen für etwas Besseres hielten, losgegangen. Jetzt als Dienststellenleiter jedoch scheute er den Konflikt, da er es war, der für die Konsequenzen seinen Kopf hinhalten musste. Also machte er gute Miene zum bösen Spiel. »Ich fahre gleich nachher mal vorbei.« Er musste ohnehin mit Grit Burger sprechen, denn wie Lorenz Meister von der Kripo wusste auch er, dass bei einem Mord der Täter oftmals im persönlichen Umfeld des Opfers zu finden war. Bei der Gelegenheit konnte er auch noch einmal bei Jonas Lützen vorbeischauen. Viel Hoffnung, der Junge würde dann mit ihm reden, hatte er zwar nicht, aber wenn der Zustand sich manifestierte, würde er gleich heute noch der Kinderpsychologin Bescheid geben. Lorenz Meister nickte und sie verabredeten, die nächste Besprechung auf den nächsten Tag zu verlegen. »Aber erst am Nachmittag. Auf 9 Uhr ist nämlich die Obduktion angesetzt und Dr. Becker hat mich hinzugebeten.«
Haie hatte sich Thamsens Aufforderung gleich zur Aufgabe gemacht und war, anstatt nach Hause, direkt von der Schule ins Dorf geradelt. Er hatte sein ganzes Leben in Risum verbracht und wusste daher sehr genau, wo man an die besten Informationen kam. Er betrat den kleinen Supermarkt an der Dorfstraße, der seltsamerweise stark frequentiert war. Normalerweise wurde es erst wieder um die Mittagszeit voller in dem Laden. Doch Haie war halt nicht der einzige, der wusste, dass man im SPAR-Markt bestens mit den Neuigkeiten aus der Umgebung versorgt wurde. Und die Nachricht über den Tod des Bademeisters hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet, wie er den Wortfetzen entnehmen konnte, die ihm beim Betreten des Ladens entgegenschlugen. Helene stand mit hochrotem Kopf an der Kasse und diskutierte wild gestikulierend mit einer Kundin über den Vorfall.
»Also langsam fühlt man sich hier ja seines Lebens nicht mehr sicher«, krakeelte die Frau mit dem Einkaufskorb. »Wir sind erst vor etwas über fünf Jahren hierhergezogen und allein in dieser Zeit ist das jetzt der vierte Mord! Dabei sind wir nach Risum gezogen, weil wir uns in Hamburg nicht mehr sicher fühlten und einen friedlichen Ort gesucht haben. Aber das ist hier ja schlimmer als in der Großstadt!«
»Na, na, na«, meldete sich plötzlich ein älterer Mann mit Schirmmütze aus der Warteschlange zu Wort. »Wenn hier einer umgebracht wird, hat das auch einen Grund. Nicht wie in Hamburg, wo sie einen einfach so auf der Straße abknallen.«
»Und was für einen Grund hat der Täter deiner Meinung nach gehabt, Ralf Burger umzubringen?«, mischte Haie sich ein. Es interessierte ihn, was die Dorfbewohner zu dem Fall zu sagen hatten. Doch der Mann mit der Kappe, auf der das Logo der örtlichen Volksbank prangte, hielt sich plötzlich bedeckt und zuckte lediglich mit den Schultern. Er stecke seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, betonte er, und könne daher nur etwas zu den vergangenen Morden sagen. Außerdem sei doch wohl noch gar nicht klar, ob der Bademeister überhaupt umgebracht worden sei. »Oder?« Er blickte ihn neugierig an. Selbstverständlich wusste man im Dorf über die Freundschaft zwischen Haie und dem Kommissar Bescheid. Daher hatte sich das Blatt schlagartig gewendet und statt der erhofften Informationen, die Haie hatte auskundschaften wollen, war nun er es, der berichten musste.
»Na ja, nach einer natürlichen Todesursache sieht es nicht unbedingt aus«, formulierte er allerdings sehr vage den Umstand, dass die Polizei von einem Kapitalverbrechen ausging.
Sofort meldete sich Helene zu Wort, die mit exklusiven Details punkten wollte. »Na, da hat sich doch bestimmt eine seiner vielen Liebschaften an Ralf gerächt.« Haies Kopf schnellte herum. Neugierig blickte er die Kaufmannsfrau an, auf deren Gesicht sich ein triumphales Lächeln breitmachte. Wieder einmal zahlten sich ihre beharrlichen Befragungen der Kunden aus, die oftmals an ein regelrechtes Ausquetschen grenzten. Erst neulich hatte ihr eine Frau erzählt, sie hätte gehört, der Bademeister gehe wohl fremd. »Der sah ja schließlich auch knackig aus und immer braun gebrannt«, geriet Helene beinahe ins Schwärmen.
»Aber wer soll sich denn an ihm gerächt haben?« Haie zweifelte an dem Wahrheitsgehalt der Behauptung.
Doch das Grinsen der Kaufmannsfrau verstärkte sich nur. Sie hatte einfach die besseren Argumente – jedenfalls schien sie davon fest überzeugt, denn sie fegte Haies Zweifel mit einer abfälligen Handbewegung vom Kassentresen. »Na, wenn sich von den Damen keine gerächt hat, dann wird es wohl ein gehörnter Ehemann gewesen sein.«
Leonie Oldsen seufzte leicht, während sie Jonas erneut über das Haar strich. Sie saß mit dem Jungen bereits eine ganze Weile auf der Bank vor der Schule und wartete mit ihm zusammen, dass seine Mutter ihn abholte. Die anderen Kinder hatte der Direktor bereits wieder heimgeschickt, denn an Unterricht wäre heute ohnehin nicht zu denken gewesen. Zu aufgewühlt waren alle von den aktuellen Ereignissen. Zwei Schülerinnen hatten sich vollends in den Vorfall hineingesteigert und sich übergeben müssen. Der tote Bademeister war ein traumatisches Ereignis für die Kinder. Sie hatten Angst, verstanden nicht, wieso der Mann getötet wurde und von wem. Das fragte Leonie sich auch. Wer tat so etwas? Einen anderen Menschen umbringen? Warum? Noch war zwar nicht offiziell bestätigt, dass es sich um einen Mord handelte, aber wie beinahe alle anderen Dorfbewohner ging Leonie davon aus. Sie hatte den Mann nicht sonderlich gut gekannt, eigentlich nur vom Sehen. Erst zu Beginn des Schulhalbjahres war sie nach Risum gezogen und hatte an der Grundschule ihr Referendariat begonnen. Kontakte hatte sie bisher praktisch keine geknüpft, selbst mit den Kollegen war sie nicht sonderlich warm geworden. Daher fuhr sie, so oft es ihr möglich war, nach Kiel, wo sie aufgrund ihres Studiums viele Freunde hatte und sich wesentlich wohler fühlte. Die Enge des Dorfes nahm ihr die Luft zum Atmen – in diesen Augenblicken ganz besonders.
»Wo deine Mutter nur bleibt?« Sie strich Jonas noch einmal über den Kopf, ehe sie aufstand und zur Straße ging. Wie konnte man in dieser Situation seinen Sohn derart lange warten lassen? Ihr war sowieso aufgefallen, dass der Junge in der letzten Zeit leicht verwahrlost wirkte, und auch seine Konzentration im Unterricht ließ zu wünschen übrig. Ob es Probleme in der Familie gab? Das war heutzutage beinahe gang und gäbe und erklärte oft ein auffälliges Verhalten der Schüler. Endlich sah sie einen silbernen Golf auf der Herrenkoogstraße näher kommen, und als das Fahrzeug auf Höhe des Kindergartens war, erkannte Leonie Frau Lützen.
»Tut mir leid, aber mein Freund hatte den Wagen«, entschuldigte sich die Mutter, als sie ausstieg und die Referendarin begrüßte.
Leonie wunderte sich, warum dann besagter Freund Jonas nicht abgeholt hatte, wurde aber in ihren Gedanken gestört.
»Wo ist er?«
Sie wies hinüber zur Bank am Eingang, auf der Jonas wie ein Häufchen Elend saß. »Der Arzt hat ihm etwas zur Beruhigung gespritzt. Wenn es ihm heute Abend nicht besser geht, sollen Sie morgen zum Kinderarzt gehen.«
Frau Lützen nickte und eilte zu ihrem Sohn. Leonie beobachtete aus einiger Entfernung, wie die Mutter auf den Jungen zuging, ihn ansprach und versuchte, ihren Arm um ihn zu legen. Jonas konnte momentan diese Nähe wohl nicht ertragen, denn er rückte fluchtartig zur Seite. Frau Lützen warf Leonie einen Hilfe suchenden Blick zu.
Diese ging zu den beiden und kniete sich vor Jonas. »Du kannst jetzt nach Hause gehen.« Sie berührte seinen Arm, woraufhin er seinen Kopf hob. Leonie sah gleichzeitig so viel in seinem Blick und doch nichts Konkretes. Dann stand der Junge auf und trottete zum Auto.
Haie blickte auf seine Uhr. In einer halben Stunde musste er Niklas wieder aus dem Kindergarten abholen. Eigentlich hätte der Kleine gar nicht in die Betreuung gemusst, denn seitdem Haie in Rente war, hatte er genügend Zeit, sich um sein Patenkind zu kümmern. Doch da Niklas keine Geschwister hatte und auch in direkter Nachbarschaft keine Kinder in seinem Alter wohnten, hatten Tom und er beschlossen, dass es für den Jungen gut war, zumindest ein paar Stunden am Tag unter Gleichaltrigen zu sein. Außerdem brauchte er dringend eine weibliche Bezugsperson. Sie waren nun einmal ein reiner Männerhaushalt und Haie glaubte nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern würde. Tom trauerte noch immer um Marlene und litt nach wie vor sehr unter dem Verlust. Wenngleich es für seine Umwelt nicht mehr ganz so stark ersichtlich war, so wusste Haie doch, dass es Tom oftmals viel Kraft kostete, jeden Morgen aufzustehen und sich nicht seiner depressiven Stimmung hinzugeben. Und er selbst? Haie lebte bereits etliche Jahre getrennt von seiner Exfrau Elke, doch eine wirklich ernsthafte Beziehung hatte er seitdem nicht geführt. Anfänglich hatte er sich für eine neue Partnerschaft nicht bereit gefühlt und seit Marlenes Tod hatte er sich ausschließlich um Tom und vor allem um Niklas gekümmert.
Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit beschloss Haie, noch schnell zum Schlachter in Lindholm zu fahren. Das Wetter war wieder sonnig und warm, und er hatte Niklas versprochen, heute zu grillen. Am liebsten mochte der Junge die Würstchen vom Schlachter im Dorf, deshalb schlug Haie den Weg Richtung Bundesstraße ein. Außerdem konnte er dann gleich in der Bäckerpost, die sich quasi neben der Schlachterei in der Dorfstraße befand, etwas Brot besorgen.
Als Haie um die Kurve bog, sah er die Schlange der wartenden Kunden bis auf den Gehsteig stehen und stöhnte. Natürlich war der Andrang ein Zeichen für die gute Qualität in diesem Laden, aber mussten die Leute gerade jetzt einkaufen? Die Schlachterei bot neben besten Fleisch- und Wurstwaren auch diverse Mittagsgerichte an, die bei den Dorfbewohnern äußerst beliebt waren. Haie hatte selbst bereits einige Male von dem Angebot Gebrauch gemacht, wenn er keine Lust zum Kochen gehabt hatte. Und diese Möglichkeit musste er natürlich auch anderen Leuten zugestehen.
Er stellte sein Fahrrad im vorgesehenen Ständer ab und reihte sich in die Warteschlange ein. »Moin!«, grüßte er in die Runde, doch niemand nahm wirklich Notiz von ihm. Der Kunde vor ihm schüttelte permanent den Kopf in der Unterhaltung mit seiner Vorderfrau. Natürlich ging es um den Leichenfund, was Haie sehr schnell den aufgebrachten Äußerungen der Dame entnehmen konnte.
»Das kann doch meist nicht wahr sein! Was sind das für Irre, die hier frei herumlaufen?«
Wie so oft verallgemeinerten die Leute den Vorfall, sahen ihr eigenes Leben in Gefahr. Gleich kommt bestimmt wieder eine abfällige Bemerkung über die Polizei, dachte Haie und behielt recht.
»Und was tut die Polizei, um uns vor solchen Verbrechern zu schützen?«
»Nichts«, pflichtete der Mann vor Haie der Frau bei. »Die haben bestimmt wieder keinen blassen Schimmer.«
Haie räusperte sich und die beiden blickten ihn irritiert an. »Na, so ganz ohne Grund wird man Ralf Burger bestimmt nicht umgebracht haben. Vielleicht hat jemand seine zahlreichen Seitensprünge bestraft?« Er wollte gleich mal austesten, wie viel Helenes Gerüchte wert waren. Sofort drehten sich weitere Kunden um und starrten Haie an. So ziemlich jeder im Dorf wusste von seiner Freundschaft zu Kommissar Thamsen und daher hatte seine Äußerung ein enormes Gewicht. Er hatte allerdings nicht geahnt, was er mit der Aussage anrichtete.
»Was willst du denn damit sagen?«, kreischte die Frau, die zuvor kein gutes Haar an der Polizei gelassen hatte. »Weiß man etwa schon, wer den Bademeister umgebracht hat?«
Die starrenden Blicke wurden intensiver. Eigentlich hatte Haie gedacht, er könne an neue Erkenntnisse in dem Fall kommen, doch seine Aktion war irgendwie nach hinten losgegangen. »N… n… nö«, stammelte Haie und überlegte fieberhaft, wie er die Situation wieder in den Griff kriegen konnte. »Ich meine nur, dass hier kein Irrer herumläuft und einfach wahllos Leute umbringt. Es gibt bestimmt einen Grund, warum Ralf Burger sterben musste.«
»Ist denn überhaupt klar, dass es Mord war?« Der Mann vor ihm in der Warteschlange blickte ihn neugierig an.
Haie schluckte. Hatte er sich doch zu weit aus dem Fenster gelehnt? Er hatte doch nur ein paar Informationen für Thamsen einholen wollen. »Na ja, vielleicht war es auch ein Unfall«, versuchte er nun, wieder ein Stück weit zurückzurudern.
»Ach ja?« Die Frau schaute ihn misstrauisch an, und auch er selbst glaubte nicht an diese Möglichkeit. »Und was meintest du dann mit den zahlreichen Seitensprüngen?«
Anscheinend hatten diese Leute noch nichts von Helenes Gerüchten gehört, ansonsten wären sie doch wahrscheinlich gleich darauf eingegangen. »Wat weiß ich. War nur so daher gesagt«, entgegnete Haie und nickte Richtung Fleischtheke, an der die Verkäuferin ungeduldig auf den nächsten Kunden wartete.
Dirk Thamsen fuhr die Steege entlang und stoppte seinen Wagen vor einem kleinen Einfamilienhaus in der Nähe des Friedhofs, in dem Ralf Burger gewohnt hatte. Wie besprochen, hatte er sich nach der Versammlung auf den Weg zur Witwe gemacht. Zunächst hatte er es im Krankenhaus versucht, doch dort hatte er erfahren, dass Grit Burger auf eigenen Wunsch entlassen worden war. Daraufhin war er nach Risum gefahren.
Er räusperte sich ausgiebig, ehe er den schwarzen Klingelknopf drückte. Zunächst machte es den Anschein, als sei niemand da, aber nach dem zweiten Klingeln hörte er dann doch schlurfende Schritte, ehe die Tür einen winzigen Spalt breit geöffnet wurde. Grit Burgers bleiches Gesicht erschien zwischen der Haustür und deren Rahmen. Sie schien leicht benommen, vermutlich wirkte das Beruhigungsmittel noch.
»Sind Sie ganz allein?«, wunderte Dirk sich. Grit Burger nickte. Sie öffnete die Tür ganz, nachdem er um Einlass gebeten hatte. »Soll ich jemandem Bescheid geben?«, fragte er, während er der Witwe durch den schummrigen Flur ins Wohnzimmer folgte.
Frau Burger ließ sich wie ein nasser Sack auf einen Sessel plumpsen und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, flüsterte sie.
Seltsam, befand Dirk Thamsen. Er würde in solch einer Situation nicht allein sein wollen, oder doch? Schnell schob er den Gedanken zur Seite, schließlich ging es hier nicht um ihn. »Frau Burger, momentan können wir noch nicht sagen, wie Ihr Mann ums Leben gekommen ist, aber ich gehe davon aus, dass es sich um einen Mord handelt.«
»Mord?« Sie blickte ihn mit glasigen Augen an, und er bezweifelte, dass sie überhaupt verstand, wovon er sprach. Eigentlich war er vor der Obduktion nicht befugt, derlei Behauptungen aufzustellen, aber das war ihm in dieser Situation egal. Er brauchte Hinweise. »Können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Mann so etwas angetan hat? Hatte er Feinde, gab es Ärger oder Streit?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Und was war mit Ihrer Ehe? Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie das fragen. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann beschreiben?«
Die Frau auf dem Sessel holte tief Luft und nickte. Thamsen wartete einen Augenblick, doch sie schien gar nicht wahrzunehmen, dass er mit einer Antwort rechnete.
So kam er nicht weiter. »Soll ich nicht doch jemanden anrufen? Aus der Familie?« Er hoffte, etwas über weitere Verwandte zu erfahren. Vielleicht konnten die ihm eine Auskunft erteilen. Die Witwe war dazu momentan augenscheinlich nicht in der Lage.
»Meine Mutter?« Die Antwort klang wie eine Frage, und er nickte ihr aufmunternd zu. »Die Nummer ist auf dem zweiten Speicherplatz im Telefon hinterlegt.«
Er stand auf und nahm das mobile Telefon von der Ladestation. Zwei Fingertipps und die Nummer wurde automatisch gewählt. Thamsen wartete, doch auch nach mehreren Freizeichen wurde am anderen Ende nicht abgehoben. »Vielleicht ist sie schon auf dem Weg zu Ihnen?«
Grit Burger zuckte gleichgültig mit den Schultern, während er überlegte, was er tun sollte. Die ganze Situation war ihm unangenehm. Der Umgang mit den Angehörigen von Todesopfern war ihm noch nie leichtgefallen, doch diese Frau machte ihn ratlos. Hinzu kam ihr glasiger Blick. Thamsen konnte das Verhalten der Witwe nicht einordnen. Und dann diese sterile Atmosphäre. Er blickte sich um. Kein Fussel, kein Staubkrumen. Nur überall diese Bilder. Grit und Ralf Burger lächelnd Arm in Arm. Am Strand von St. Peter-Ording, vor ihrem Haus, auf dem Hamburger Michel. Waren die echt oder inszeniert? War das Paar glücklich gewesen?
»Haben Sie Kinder?«
»Nein. Ich kann keine bekommen.«
Ihre direkte Antwort machte ihn verlegen. Was tat er hier eigentlich? Wühlte in dem Leben einer Frau herum, die gerade auf brutalste Weise ihren Mann verloren hatte. »Tut mir leid, ich wollte nicht …« Das Klingeln des Telefons unterbrach seine entschuldigenden Worte. Da er immer noch stand, nahm er das Gespräch entgegen. »Bei Burger.« Es folgte eine kurze Pause.
»Wer ist denn da?«, krächzte schließlich eine ältere Frauenstimme aus dem Hörer.
»Kommissar Dirk Thamsen. Und Sie sind?«
»Else Mommsen. Ist meine Tochter nicht da?«
»Doch, aber …«, er räusperte sich. »Vielleicht haben Sie es noch nicht erfahren?«
»Was?«
»Nun ja, Ihr Schwiegersohn ist heute Morgen tot im Freibad aufgefunden worden. Es wäre gut …«
»Hat sie es also endlich geschafft«, johlte Else Mommsen dazwischen.
»Bitte was?« Thamsen verstand nicht, was die Frau damit sagen wollte.