Solomord - Sandra Dünschede - E-Book

Solomord E-Book

Sandra Dünschede

4,5

Beschreibung

Am helllichten Tage wird in Düsseldorf die zehnjährige Michelle entführt. Wenig später wird das Mädchen tot aus der Düssel geborgen. Alles deutet darauf hin, dass der Mörder im Kinderpornomilieu zu finden ist, aber die dortigen Ermittlungen von Kommissar Hagen Brandt und seinem Kollegen Teichert verlaufen erfolglos. Bis ein weiteres Mädchen verschwindet und der Täter durch Zufall gefasst werden kann. Doch die Zeit arbeitet gegen Brandt und sein Team, denn der Entführer weigert sich zu kooperieren und keiner weiß, wo er das kleine Mädchen versteckt hält.

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Sandra Dünschede

Solomord

Kriminalroman

Zum Buch

ES GESCHAH AM HELLLICHTEN TAG In Düsseldorf verschwindet am helllichten Tag ein kleines Mädchen, die zehnjährige Michelle. Die Ermittlungen führen Hauptkommissar Hagen Brandt und seinen Kollegen Nils Teichert zunächst ins Milieu der Kinderpornografie. Doch ihre Suche bleibt erfolglos. Schließlich wird die Leiche des Mädchens in der Düssel gefunden, doch wider Erwarten haben weder ein Missbrauch noch eine Misshandlung stattgefunden. Wenig später wird ein weiteres Mädchen vermisst. Die Polizei arbeitet unter Hochdruck.

Durch einen Leichenfund in einer Düsseldorfer Wohnung erhalten Brandt und Teichert konkrete Hinweise auf den Täter. Es gelingt ihnen, den mutmaßlichen Mörder und Entführer festzunehmen. Doch die Zeit arbeitet gegen Brandt und sein Team, denn der Entführer weigert sich zu kooperieren und keiner weiß, wo er das kleine Mädchen versteckt hält …

Sandra Dünschede, geboren 1972 in Niebüll/Nordfriesland und aufgewachsen in Risum-Lindholm, erlernte zunächst den Beruf der Bankkauffrau und arbeitete etliche Jahre in diesem Bereich. Im Jahr 2000 entschied sie sich zu einem Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Kurz darauf begann sie mit dem Schreiben, vornehmlich von Kurzgeschichten und Kurzkrimis. 2006 erschien ihr erster Kriminalroman »Deichgrab«, der mit dem Medienpreis des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes als bester Kriminalroman in Schleswig-Holstein ausgezeichnet wurde. Seitdem arbeitet sie als freie Autorin und lebt seit 2011 wieder in Hamburg, wohin es sie als waschechtes Nordlicht zurückzog.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Friesengift (2019)

Friesengroll (2018)

Kilometer 151 (2017)

Friesennebel (2017)

Kofferfund (2016)

Friesenmilch (2016)

Knochentanz (2015)

Friesenschrei (2015)

Friesenlüge (2014)

Friesenkinder (2013)

Nordfeuer (2012)

Todeswatt (2010)

Friesenrache (2009)

Solomord (2008)

Nordmord (2007)

Deichgrab (2006)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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Alle Rechte vorbehalten

5. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von: © Sandra Nabbefeld / PIXELIO

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3088-6

Widmung

Für Rainer. Weil er verstand, den Düsseldorfer Charme zu genießen.

1

Er hatte sich sein Opfer sorgfältig ausgesucht. Das etwa elfjährige Mädchen mit dem rosa Schulranzen kam beinahe täglich mit demselben Bus, der nur wenige Meter entfernt hielt. Bei Regen trug sie meist eine signalgelbe Jacke mit Kapuze, unter der ihre blonden Zöpfe frech hervorlugten. Bei gutem Wetter hatte sie meist nur ein T-Shirt oder einen dünnen Pullover an, denn die Sonne schien für diese Jahreszeit oftmals schon ungewöhnlich stark und ließ die Luft zwischen den angrenzenden Wohnhäusern bereits um die Mittagszeit schwirren.

Seit Wochen parkte er jeden Morgen pünktlich zum Unterrichtsbeginn in einer der kleinen Seitenstraßen, von wo aus er einen guten Blick auf den Eingang zum Schulhof hatte. Um diese Zeit war es leicht, einen Parkplatz zu finden. Viele Anwohner befanden sich auf ihrem Weg zur Arbeit und machten jede Menge Parkraum frei, wenn sie in ihre Autos stiegen und sich in die rollenden Blechlawinen einreihten, die sich pünktlich zum Beginn der allmorgendlichen Rushhour durch die Hauptverkehrsadern der Stadt schlängelten.

Auch an diesem Morgen schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel und versprach einen herrlichen Tag. Über den Häusern des Stadtteils lag eine friedliche Stimmung, Vögel zwitscherten fröhlich von den Dächern, Menschen begegneten einander lächelnd und freundlich.

Wie gewohnt, parkte er in einer der kleinen Seitenstraßen, stellte den Motor seines Wagens ab und blickte erwartungsvoll hinüber zur Bushaltestelle. Erst vorgestern hatte er seine Vorbereitungen endgültig abgeschlossen. Das Versteck war fertig eingerichtet: eine Matratze, ein kleiner Tisch, die Wände mit Dämmplatten sorgfältig isoliert. Einen Tag hatte er sich als Verschnaufpause gegönnt, um heute ausgeruht und wie geplant endlich zuzuschlagen. Schon erschien der 7.45-Uhr-Bus, hielt an dem gläsernen Bushäuschen und entließ eine beachtliche Schar Kinder wenige Meter entfernt vom Eingang des Schulgebäudes. Das Mädchen mit dem rosa Schulranzen war auch dabei. Es trug einen dunkelblauen Jeansrock und ein weißes T-Shirt. Auf dem kurzen Weg zum Schulhof unterhielt es sich angeregt mit einer Freundin. Er beobachtete, wie die beiden Mädchen hinter den Gitterstäben des Eingangstores verschwanden. Seinen Aufzeichnungen zufolge würde der Unterricht heute bis 13.15 Uhr dauern. Er lehnte sich zurück und griff nach der ›Rheinischen Post‹, die auf dem Beifahrersitz lag.

Gegen elf Uhr verließ er kurz seinen Beobachtungsposten, um in einem nahe gelegenen Gebüsch seine Notdurft zu verrichten. Je näher der Unterrichtsschluss rückte, umso unruhiger wurde er. Nervös trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad, blickte immer wieder in den Rückspiegel und kontrollierte die Uniform, die er für den heutigen Tag extra angezogen hatte. Sie hatte einst seinem Vater gehört, der darin seinen Dienst am Volke geleistet hatte. Seit er jedoch vor etlichen Jahren gestorben war, hatte sie lediglich in dem alten Kleiderschrank seiner Mutter gehangen und den Motten als Brut- und Nahrungsstätte gedient.

Er strich mit den Fingern über den leicht löchrigen Stoff und ging in Gedanken nochmals die Sätze durch, die er vor dem Badezimmerspiegel eingeübt hatte, indem er sie immer wieder laut aufgesagt hatte. Wie würde das Mädchen reagieren? Würde die Uniform genügend Vertrauen erwecken? Hatte er wirklich alle Möglichkeiten berücksichtigt? Was, wenn sie nicht freiwillig zu ihm ins Auto stieg?

Endlich sah er die ersten Schüler vom Schulhof laufen. Er startete den Motor und fuhr langsam Richtung Schultor. Sein Puls raste, mit schwitzigen Händen umklammerte er das Lenkrad. Ungeduldig hielt er nach ihr Ausschau und ließ vorsichtshalber schon einmal das Fenster der Beifahrerseite herunter. Bereits wenige Minuten später sah er sie den Schulhof überqueren und atmete auf: Sie war allein. Als sie das Eingangstor passierte, räusperte er sich.

»Hallo, du!« Das blonde Mädchen schaute auf. »Kannst du mir sagen, wie ich zum Großmarkt komme?«

Sie nickte. Ihre blonden Zöpfe bewegten sich dabei im Takt ihres Kopfes. Eilig kam sie näher. Ihr Blick war freundlich, sie lächelte. Stolz sagte sie: »Das kann ich. Da wohne ich nämlich!«

»So ein Zufall!«, er versuchte, überrascht zu klingen. »Wenn das so ist, kann ich dich doch mitnehmen. Dann kannst du mir den Weg direkt zeigen.«

Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn zögernd an. Er lächelte.

»Vielleicht springt noch ein wenig Eisgeld dabei raus!«

Mit dem rechten Auge zwinkerte er ihr zu und das stundenlange Üben vor dem Badezimmerspiegel zeigte Wirkung.

»Na gut«, entgegnete sie und öffnete die Beifahrertür, »aber Sie dürfen davon nichts meiner Mutter erzählen. Ich darf nämlich eigentlich nicht mit Fremden sprechen.«

»Großes Indianerehrenwort«, versprach er ihr und hob zum Schwur die Finger seiner rechten Hand.

2

»Loooore!«

Kriminalhauptkommissar Hagen Brandt klopfte ener­gisch gegen die seit einer halben Stunde verschlossene Badezimmertür.

»Mann, immer diese Hektik«, hörte er die genervte Stimme seiner 13-jährigen Tochter aus dem Badezimmer. Wenig später wurde endlich aufgeschlossen und Lore erschien in der Tür. Sie hatte sich kräftig geschminkt.

»So gehst du mir nicht aus dem Haus!«

Hagen Brandt starrte seine Tochter fassungslos an. Aus der Tasche seiner Cordhose holte er ein Stofftaschentuch hervor.

»Abwischen«, befahl er.

Lore verdrehte die Augen.

»Mensch, Papa, du bist total spießig!«, nörgelte sie, nahm jedoch das Taschentuch und wischte sich flüchtig damit über den Mund. Der Lippenstift hinterließ grelle rote Spuren auf dem weißen Stoff. Grinsend reichte sie es zurück.

»Besser?«

Ein Blick auf seine Armbanduhr machte ihm deutlich, dass ihm keine Zeit für weitere Diskussionen blieb, und so überging er Lores provokative Äußerung, steckte das Taschentuch wieder ein und drängte zum Aufbruch. In diesem Schuljahr hatte sie es immerhin schon geschafft, 14-mal zu spät zum Unterricht zu erscheinen, und er hatte keine Lust, wieder einen Anruf von der Klassenlehrerin Frau Mußmann zu erhalten. Eilig trieb er sie deshalb aus der Wohnung und scheuchte sie erbarmungslos die drei Stockwerke des Altbaus hinunter. Vor der Haustür verabschiedete er sich.

»Und denk dran«, rief er ihr noch hinterher, als sie bereits die Straße überquerte, »Oma erwartet dich heute Mittag nach der Schule. Ich habe ihr gesagt, dass du nach den Hausaufgaben im Garten hilfst.«

Seine Tochter reagierte gar nicht auf seine Äußerung und er blickte ihr ratlos nach. Natürlich wusste er, dass er zu einem großen Teil mitverantwortlich für Lores Benehmen war. Er war viel zu nachlässig, wenn es um ihre Erziehung ging. Ließ ihr zu viel durchgehen. Aber es war nun mal nicht so einfach als alleinerziehender Vater mit einem Teenager, und Lore verstand es bestens, ihn um den Finger zu wickeln. Er holte tief Luft und ging in die entgegengesetzte Richtung zur Straßenbahnhaltestelle.

Im Präsidium erwartete ihn ein Schreibtisch, der unter den Aktenbergen kaum noch als solcher zu identifizieren war. Ein Außenstehender würde Tage brauchen, um sich in dem Chaos aus Papieren, Fotos, Post-its und grauen Aktenordnern zurechtzufinden, aber Hagen Brandt arrangierte sich seit Jahren bestens mit diesem Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Selten ging ihm eine Information verloren und seine Kollegen bewunderten ihn insgeheim dafür. Nur sein Vorgesetzter verdrehte regelmäßig die Augen, wenn er das Büro betrat, und hatte schon oftmals gemutmaßt, dass sein Mitarbeiter wahrscheinlich doppelt so effizient arbeiten könnte, wenn ihn diese Unordnung auf seinem Arbeitsplatz nicht daran hindern würde. In der letzten Zeit hatte er jedoch großzügig darüber hinweggesehen. Die aktuellsten Fälle waren außerordentlich schnell von Hagen Brandt und seinem Kollegen gelöst worden und es gab keinen Grund zur Klage. Vielleicht verbarg dieses Chaos ja doch eine Systematik. Nur, weil sich ihm diese nicht erschloss, bedeutete es noch lange nicht, dass es sie nicht gab, dachte er so manches Mal, wenn er Brandts überquellenden Schreibtisch betrachtete, und beließ es deshalb auch an diesem Morgen nur beim üblichen Augenverdrehen, als er das Büro seines Mitarbeiters betrat und diesen hinter monströsen Aktenbergen in irgendwelchen Papieren blättern sah.

»Guten Morgen, Hagen!«

Brandt blickte auf und nickte flüchtig zum Gruß. Er wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn sein Vorgesetzter das Büro betrat.

»Was gibt’s?«, fragte er deshalb wie selbstverständlich.

»Ein kleines Mädchen ist spurlos verschwunden.«

»Und?«

Sein Chef ließ sich seufzend auf einem der unbequemen Holzstühle vor dem Schreibtisch nieder.

»Sah zunächst danach aus, als sei die Kleine einfach ausgerissen. Aber dann ist plötzlich eine Zeugin aufgetaucht, die gesehen haben will, wie Michelle Roeder zu einem Uniformierten ins Auto gestiegen ist, vermutlich einem Polizisten.«

Sabine Roeder saß wie gelähmt auf der Bettkante des in Rosa gehaltenen Jugendbetts und starrte auf ein Poster an der gegenüberliegenden Wand, das über dem hellen Holzschreibtisch mit Tesastreifen an der Wand befestigt war. Es zeigte fünf junge Mädchen, die gemeinsam die Hauptrolle in einem Film spielten, den sie letzte Woche gemeinsam mit Michelle im Kino angeschaut hatte. Der Film hatte ihrer Tochter sehr gut gefallen und sie hatten jede Menge Spaß zusammen gehabt. Anschließend waren sie noch in der Stadt ein Eis essen gewesen und Michelle hatte ihr gestanden, dass sie sich in einen Jungen aus der siebten Klasse verknallt hatte. Sie hatten ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis, sprachen beinahe über alles. So jedenfalls sah Sabine Roeder die Beziehung zu ihrer Tochter und deshalb stand für sie auch fest: Ihre Tochter konnte nur entführt worden sein. Niemals wäre Michelle davongelaufen. Sie hatte doch überhaupt keinen Grund zum Weglaufen. Nein, ihre kleine Prinzessin befand sich nun wahrscheinlich in den Klauen irgendeines Perversen und … Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen. Schluchzend warf sie sich auf das Bett, weinte hemmungslos und überhörte dadurch das Läuten an der Wohnungstür ebenso wie das Öffnen der Zimmertür nach einem kurzen Anklopfen.

»Sabine?« Martin Schulz, Frau Roeders Sohn aus erster Ehe, stand neben dem Bett und berührte seine Mutter an der Schulter. Erschrocken fuhr sie zusammen, blickte ihrem Sohn verstört ins Gesicht.

»Da sind zwei Herren von der Polizei.«

Während Hagen Brandt und sein Kollege Nils Teichert im Wohnzimmer auf Sabine Roeder warteten, blickten sie sich neugierig um. Der Raum wurde von einem riesigen Plasmafernseher dominiert, der in einem krassen Gegensatz zu der dunkelbraunen Schrankwand aus Eiche stand und seinem Kollegen sogleich einen fragenden Blick entlockte. Auch die anderen Möbelstücke waren eher älteren Datums und passten optisch nicht wirklich zueinander.

Nils Teichert wandte sich einigen Fotos auf einem Regal über dem beigen Cordsofa zu. Hagen Brandt beobachtete ihn dabei. Er und Nils arbeiteten noch nicht lange zusammen, erst seit ungefähr drei Monaten, doch sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Der junge Kollege hatte eine gute Ausbildung genossen und handelte meist sehr umsichtig und überlegt, das gefiel ihm. Außerdem konnte er sich auf ihn hundertprozentig verlassen, und das war gerade in einem Beruf wie dem ihren besonders wichtig. Nichts konnte so gefährlich sein wie ein unzuverlässiger Partner. Brandt hatte da schon so einige Erfahrungen gemacht und schätzte diese Eigenschaft an seinem jungen Kollegen deshalb umso mehr.

»Schau mal hier, Hagen. Ob das der Vater der Kleinen ist?«

Nils Teichert hatte eines der gerahmten Bilder von dem Regal genommen und hielt es seinem Kollegen entgegen. Das Foto zeigte ein etwa zehnjähriges Mädchen auf dem Schoß eines schlanken, blonden Mannes. Die Ähnlichkeit der beiden war verblüffend. Dieselben strahlend blauen Augen, die hohe Stirn und die leicht abstehenden Ohren.

»Sieht fast so aus«, antwortete er und stellte das Bild zurück auf das Regal. Kurz darauf erschien Sabine Roeder. Sie war circa 1,80 Meter groß, schlank und attraktiv. Ihr braunes, mittellanges Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Hagen Brandt schätzte sie auf Anfang 40. Er stellte sich und seinen Kollegen Teichert kurz vor und richtete zunächst ein paar Routinefragen an Frau Roeder.

»Wann genau hat Ihre Tochter gestern das Haus verlassen? Nimmt sie immer denselben Bus? Welche Kleidung trug sie? Gab es Streit? Ist etwas Ungewöhnliches vorgefallen?«

Sabine Roeders Blick wurde mit jeder weiteren Frage hilfloser. Schließlich schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte: »Ich weiß nicht, ich weiß es doch nicht!«

Der Sohn eilte ihr zur Hilfe. Umständlich fasste er ihren Arm, führte sie zum Sofa. Die verzweifelte Mutter ließ sich langsam auf den abgewetzten Polstern nieder.

»Möchtest du ein Glas Wasser?«

Sabine Roeder nickte.

Martin Schulz verließ das Wohnzimmer und forderte die beiden Männer auf, ihm zu folgen. In der Küche nahm er drei Gläser aus einem Hängeschrank über der Spüle.

»Sehen Sie denn nicht, wie sehr Sie meine Mutter quälen? Was sollen die ganzen Fragen? Ihre Kollegen haben doch bereits gestern alles aufgenommen.«

»Das ist reine Routine«, erklärte Nils Teichert.

»Jeder noch so kleine Hinweis könnte uns helfen, Ihre Schwester zu finden.«

Brandt beobachtete, wie Martin Schulz Wasser in die Gläser schenkte. Seine Hand zitterte leicht.

»Ist Ihnen denn etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Gab es Streit oder ist sonst etwas vorgefallen?«, hakte er nach.

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Meine Mutter meinte, es sei alles wie immer gewesen. Das Übliche halt. Nur eine kleine Diskussion wegen Michelles allmorgendlicher Trödelei. Nichts Dramatisches.«

»Kennen Sie jemanden in Ihrem Bekannten- oder Verwandtenkreis, der Polizist oder vielleicht Feuerwehrmann ist?«

Martin Schulz schüttelte den Kopf.

»Niemand, der eine Uniform trägt?«, Brandt ließ nicht locker.

»Nein.«

»Kennt Ihre Schwester vielleicht einen Polizisten oder jemanden von einem Sicherheitsunternehmen, der eine Uniform trägt?«

Ein Schulterzucken war die Antwort.

»Und Ihr Vater?«, schaltete sich der Kollege Teichert ein. »Hat der vielleicht etwas bemerkt?«

»Wohl kaum«, lautete die Antwort des jungen Mannes. »Michelles Vater hat sich bereits vor Jahren auf und davon gemacht. Sitzen lassen hat er meine Mutter mit der Kleinen. Ohne ein Wort. Und Geld hat er auch keins gezahlt. Ich weiß nicht, wo der steckt. Und um ehrlich zu sein, ich will es auch gar nicht wissen.«

Martin Schulz hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Brandt griff nach einem der Gläser und trank einen Schluck. Irgendwie erschien ihm die ganze Sache merkwürdig. Gut, Martin Schulz war lediglich der Halbbruder des kleinen Mädchens. Aber er wirkte so unbeteiligt, überhaupt nicht betroffen. Machte er sich keine Sorgen um Michelle?

»Wo waren Sie gestern Mittag?«

»An der Uni. Vorlesung bei Professor Dublin. Danach habe ich mich mit einigen Kommilitonen im ›Café Uno‹ getroffen.«

Brandt nickte. Er hatte vorläufig keine Fragen mehr, musste die Eindrücke erst einmal sortieren, um sich sein eigenes Bild machen zu können. Martin Schulz begleitete die beiden zur Tür. Sie hatten sich bereits verabschiedet, als ihm noch eine letzte Frage durch den Kopf schoss.

»Sagen Sie, Herr Schulz, der Mann auf dem Foto mit Ihrer Halbschwester, ist das der Vater von Michelle?«

Frau Roeders Sohn blickte ihn fragend an.

»Ich meine das Bild auf dem Regal im Wohnzimmer«, fügte er erklärend hinzu.

»Ach so«, antwortete der junge Mann und Brandt glaubte, so etwas wie Erleichterung in seiner Stimme wahrzunehmen.

»Nein, das ist mein Bruder Georg. Er lebt seit einiger Zeit im Ausland. Ich habe bereits versucht, ihn zu erreichen. Bisher allerdings ohne Erfolg.«

Ohne ein Wort zu wechseln, gingen die beiden zu ihrem Wagen. Erst als sie eingestiegen waren und Teichert den Motor startete, brach Brandt das Schweigen.

»Wie ist dein Eindruck?«

Sein Kollege zuckte mit den Schultern.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Schulz uns etwas verheimlicht. Er wirkt so unbeteiligt, oder?«

Teichert hielt an einer roten Ampel und blickte ihn an. »Ist mir auch aufgefallen. Ich meine, selbst wenn Michelle Roeder nur seine Halbschwester ist. Immerhin ist sie spurlos verschwunden. Und er macht uns Vorwürfe, wir würden seine Mutter mit unseren Fragen quälen. Wirkte auf mich nicht wirklich besorgt. Ich meine, keiner weiß, ob Michelle überhaupt noch lebt.«

Brandt nickte. Das entsprach leider der Realität. Auch wenn er es in dem Gespräch nicht ausgesprochen hatte, aber die Wahrscheinlichkeit, das Mädchen lebend zu finden, sank erfahrungsgemäß mit jeder Minute. Wenn die Kleine nicht weggelaufen war, blieb alternativ meist nur eine Entführung als mögliche Erklärung für das Verschwinden. Und in diesem Fall arbeitete die Zeit leider gegen sie. Hatte man doch Michelle Roeder zu einem Mann ins Auto steigen sehen.

Auf der Grafenberger Allee fuhren sie Richtung Innenstadt, bogen allerdings kurz hinter der Straßenbahnhaltestelle Lindemannstraße ab, um zu der Schule von Michelle Roeder zu gelangen.

»Hier am besten geradeaus«, wies Brandt seinem Kollegen den Weg. Er kannte sich in der Gegend bestens aus, wohnte selbst in dem Viertel.

Die Klassenlehrerin Frau Meurer erwartete sie bereits. Die ältere Dame mit der dicken Hornbrille schüttelte fassungslos ihren Kopf.

»Das ist alles so furchtbar«, flüsterte sie.

Brandt stellte zunächst ein paar Fragen zum gestrigen Schultag. Ob Frau Meurer etwas an Michelle aufgefallen sei.

»War sie vielleicht traurig oder wirkte sie besonders aufgeregt?«

Doch Frau Meurer hatte nichts Auffälliges an Michelles Verhalten festgestellt.

»Nein«, die Lehrerin schüttelte wieder ihren Kopf, »Michelle war eigentlich wie immer. Wissen Sie, das Mädchen ist sehr still. Eher eine Einzelgängerin. Mir wäre sicherlich aufgefallen, wenn sie irgendwie aufgedreht oder zappelig im Unterricht gewesen wäre.«

Im Gegensatz zu Martin Schulz schenkte er der Klassenlehrerin des verschwundenen Mädchens wesentlich mehr Glauben.

»Können Sie uns etwas zu der häuslichen Situation des Mädchens erzählen?«

Die ältere Dame holte tief Luft, bevor sie seufzend antwortete: »Das ist nicht so einfach. Momentan bin ich Klassenlehrerin von drei unterschiedlichen Klassen. Normal betreut man als Lehrer eine, höchstens zwei Klassen. Aber was erzähle ich Ihnen? Sie wissen sicherlich selbst am besten, wie das mit der Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst aussieht.«

Sie zuckte entschuldigend mit ihren Schultern.

»Na ja, und deswegen habe ich kaum Zeit, mich intensiver mit den jeweiligen Familienverhältnissen der Kinder auseinanderzusetzen, geschweige denn, mich mit Einzelproblemen zu befassen. Das ist auch nicht gerade leicht. Die Probleme sind heute eben doch anders als vor 20 Jahren.«

»Führen Sie denn keine Elterngespräche?« Brandt dachte an die unangenehmen Termine, die er schon des Öfteren bei Lores Klassenlehrerin wahrnehmen musste.

»Selbstverständlich«, Frau Meurer rückte ihre Brille zurecht. »Da es aber bei Michelle kaum Auffälligkeiten gab, liegt das letzte Gespräch mit ihrer Mutter schon eine Weile zurück.«

»Worüber haben Sie mit Frau Roeder gesprochen?«

Die Lehrerin schloss für einen kurzen Moment die Augen, die hinter den dicken Brillengläsern wie kleine Knöpfe wirkten.

»Ich weiß nicht mehr genau«, entgegnete sie dann.

»Haben Sie Aufzeichnungen von den Gesprächen?«

Die Knopfaugen schauten ihn verständnislos an.

»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Gespräche ich zu führen habe? Wenn ich zu allen Notizen schreiben würde«, Frau Meurer stöhnte leise, »dann hätte ich vermutlich dreimal so viele Überstunden, wie ich sie heute schon ohne diesen bürokratischen Humbug habe!« Ihr Gesicht hatte eine leicht rötliche Färbung angenommen. Teichert versuchte, Verständnis zu zeigen.

»Das kann ich gut nachvollziehen. Was meinen Sie, was wir manchmal für Aktenberge zu bearbeiten haben. Da kommt der eigentliche Job manchmal fast zu kurz.« Er nickte der älteren Dame zu. »Aber erinnern Sie sich vielleicht, worum es in dem Gespräch ungefähr ging?«

Erneut schloss die ältere Dame ihre Augen. Unvermittelt begann sie zu reden.

»Mir war aufgefallen, dass Michelle immer stiller im Unterricht wurde. Ich meine, sie ist eh schon ein sehr ruhiges Kind, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie irgendetwas bedrückte. Ich habe das Mädchen direkt darauf angesprochen. Wissen Sie«, versuchte sie, diese scheinbar unpädagogische Vorgehensweise zu erklären, »manchmal ist es besser, die Kinder ganz ohne Umschweife auf eventuelle Probleme anzusprechen.«

»Und was hat das Mädchen geantwortet?« Brandt war neugierig, was bei dem vertraulichen Gespräch herausgekommen war.

»Nichts.«

Die beiden Kommissare blickten sich fragend an.

»Nichts?«

Frau Meurer schüttelte ihren Kopf. »Nein, Michelle hat gesagt, es sei alles wie immer. Angeblich hatte sie nur ab und zu Kopfschmerzen und war deshalb so ruhig.«

»Aber mit der Mutter haben Sie dann trotzdem gesprochen?«

»Ja, Frau Roeder war kurze Zeit später bei mir. Wir haben zunächst über Michelles Schulleistungen gesprochen, aber an denen gab es eigentlich nichts auszusetzen. Als ich sie auf das Verhalten und die von ihrer Tochter erwähnten Kopfschmerzen angesprochen habe, wirkte sie sehr erstaunt.«

»Sie hatte also keine Veränderung an Michelle festgestellt?«

»Offenbar nicht. Wobei ich natürlich nicht beurteilen kann, wie das Mädchen sich daheim verhält.«

Die beiden Kommissare nickten.

»Halten Sie es für möglich, dass Michelle weggelaufen ist? Vielleicht gab es doch häusliche Probleme.«

Die Lehrerin rückte ihre Brille gerade und blickte Brandt unverwandt an.

»Für ganz ausgeschlossen halte ich das nicht. Die Mutter erklärte Michelles Verschlossenheit damit, dass ihre Tochter wohl noch immer nicht das Verschwinden des Vaters verarbeitet hat.«

»Wissen Sie etwas darüber? Kennen Sie den Vater?«

Zum wiederholten Male schüttelte die ältere Dame ihren Kopf. Brandt seufzte innerlich. Er hatte eigentlich nichts anderes erwartet, aber so kamen sie nicht weiter.

»Erst einmal vielen Dank, Frau Meurer. Könnten wir jetzt vielleicht noch mit dem Mädchen sprechen, das beobachtet hat, wie Michelle Roeder zu dem Uniformierten ins Auto gestiegen ist?«

»Natürlich. Aber ich möchte Sie bitten, möglichst behutsam vorzugehen. Ann-Katrin hat furchtbare Angst.«

Sie nickten und folgten der Lehrerin aus dem Zimmer. Mit forschem Gang ging die ältere Dame voran. Sie hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten, als sie durch den langen Flur liefen, an dessen einer Seite sich in regelmäßigen Abständen die Klassenzimmer befanden. Endlich blieb sie vor einer der Türen stehen und drehte sich kurz um.

»Einen kleinen Moment bitte.«

Sie verschwand im Inneren des Raumes. Brandt und sein Kollege traten an das Fenster, das sich gegenüber des Klassenzimmers befand, und blickten hinunter auf den Schulhof. Ein paar Kinder spielten Fußball, anscheinend hatten sie bereits Unterrichtsschluss. Wild jagten sie über den asphaltierten Hof. Ihre Schulranzen dienten als Tormarkierungen. Brandt fühlte sich für einen kurzen Augenblick in seine Kindheit zurückversetzt. Jede freie Minute hatte er als Junge dem Fußball gewidmet. Richtig gut war er gewesen, hatte im Verein gespielt. Von seinen Freunden wurde er nur ›Klein-Janes‹ genannt  – wer weiß, wenn seine Eltern ihn nicht gezwungen hätten, einen ›anständigen‹ Beruf zu erlernen, wäre er vielleicht sogar Profi geworden. Geträumt hatte er jedenfalls immer davon. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich vorstellte, dass er vielleicht ein entscheidendes Tor bei der Weltmeisterschaft 1982 geschossen hätte.

Die Tür des Klassenzimmers wurde geöffnet und Frau Meurer erschien auf dem Flur. Ein kleines Mädchen folgte ihr zögernd.

»So, Ann-Katrin«, erklärte die Lehrerin mit fester, ruhiger Stimme, »das sind Herr Brandt und Herr Teichert. Sie suchen nach Michelle und hoffen, du kannst ihnen ein wenig helfen.«

Das Mädchen, dessen dunkle Haare die blasse Gesichtsfarbe besonders hervorhoben, schaute sie mit weit geöffneten Augen an. Brandt beugte sich ein wenig nach vorn, sodass er sich in Augenhöhe mit der Schülerin befand.

»Du bist also Ann-Katrin?«

Das Mädchen nickte.

»Und du bist Michelles Freundin?«

Wieder bewegte die Kleine nur ihren Kopf auf und ab. Brandt stöhnte innerlich auf. Er konnte verstehen, dass das Mädchen Angst hatte, aber irgendwie musste er sie zum Sprechen bringen. Das letzte psychologische Seminar, das er besucht hatte, lag schon einige Zeit zurück, und darin war es hauptsächlich um Fragetaktiken im Verhör mit mutmaßlichen Tätern gegangen. Er räusperte sich.

»Hast du gesehen, zu wem Michelle ins Auto gestiegen ist?«

Diesmal schüttelte Ann-Katrin den Kopf. Das kann ewig dauern, bis wir der Kleinen alles aus der Nase gezogen haben, dachte er, doch unvermittelt schaltete sich Frau Meurer mit ihrer direkt-pädagogischen Art in das Gespräch ein.

»Nun erzähl mal den beiden Herren bitte, was du gestern gesehen hast!«

»Ja, also, das war so: Michelle und ich wollten eigentlich zusammen zum Bus gehen«, begann Ann-Katrin zu erzählen und Brandt erschrak beinahe, als er plötzlich die klare, helle Kinderstimme hörte.

»Aber dann ist mir eingefallen, dass ich meine Sporttasche in der Klasse vergessen hatte. Ich habe zu Michelle gesagt, dass sie auf mich warten soll. Das wollte sie aber nicht. Da haben wir uns ganz doll gestritten. ›Blöde Kuh‹ habe ich sie genannt und sie hat mich …«, das Mädchen zögerte und blickte verlegen zu Boden, »immer ›dumme Fotze‹ genannt.«

Brandt war erstaunt über Michelles vulgären Umgangston. Solche Kraftausdrücke kannte er von seiner Tochter nicht.

»Meinen Sie, Michelle ist wegen des Streits mit dem Mann mitgegangen und weggelaufen?«

»Ganz bestimmt nicht«, versuchte Teichert, das schlechte Gewissen des Mädchens zu beruhigen. »Und was ist dann passiert?«

»Ich habe meine Sporttasche aus der Klasse geholt. Hier oben vom Fenster aus habe ich aber gesehen, dass Michelle noch auf dem Schulhof war. Doch als sie mich aus der Tür hat kommen sehen, hat sie sich einfach weggedreht und ist gegangen.«

Brandt kannte dieses zickige Gehabe der Mädchen. Darin stand Lore den anderen in nichts nach.

»Und da warst du natürlich sauer, oder?«, versuchte er, Ann-Katrins Reaktion zu rekonstruieren. Die Kleine nickte. »Hm, und ich bin ihr hinterhergerannt, weil ich ihr sagen wollte, wie bescheuert sie ist. Aber als ich aus dem Tor kam, ist sie gerade in den Wagen gestiegen.«

»Was war das für ein Auto?« Sie zuckte mit den Schultern. »So ein großes, schwarzes.«

»Und der Mann?«

Ann-Katrin erzählte, dass der Mann eine Uniform getragen hatte. Auf die Frage, wie die ausgesehen habe, konnte sie jedoch keine genaue Antwort geben. Allerdings bemerkte sie zum Erstaunen aller, dass sie den Mann schon einmal gesehen hatte, allerdings ohne Uniform.

»Wo?«

»Vor ein paar Tagen auf dem Spielplatz.«

Sie erzählte, wie sie auf den Bus gewartet und sich die Wartezeit mit Schaukeln auf dem Spielgelände vertrieben hatte. Dabei war ihr der Mann aufgefallen. Er hatte nämlich ins Gebüsch gepinkelt und eine Mutter hatte sich fürchterlich aufgeregt.

»Und hast du sein Gesicht gesehen? Kannst du ihn beschreiben?«

Brandt witterte eine Chance, dem Mann auf die Spur zu kommen, doch zu seiner Enttäuschung schüttelte Ann-Katrin den Kopf.

»Und woher weißt du, dass es der Mann mit der Uniform war?«

»Weil er in genau dasselbe Auto gestiegen ist, wie das, in dem der Uniformierte Michelle mitgenommen hat.«

Die Erklärung schien einleuchtend. Nur schade, dass das Mädchen sich so wenig mit Automarken auskannte. Einen großen, schwarzen Wagen fuhren wahrscheinlich Tausende von Leuten in der Stadt, zumal Ann-Katrin noch nicht einmal das Nummernschild oder zumindest das Ortskennzeichen desselben nennen konnte. Vermutlich kam der Mann gar nicht aus Düsseldorf. Brandt seufzte leicht, während sein Kollege noch einmal versuchte, dem Mädchen weitere Einzelheiten zu entlocken. Doch Ann-Katrin schüttelte immer wieder den Kopf.

»Ich habe nur noch gesehen, wie der Wagen um die Ecke gebogen ist.«

Teichert bedankte sich bei der Kleinen. Für ihn war klar: Mehr würden sie momentan von dem Mädchen nicht erfahren. Sie nickten Frau Meurer zu und verabschiedeten sich. Brandt blickte sich jedoch noch einmal um, als sie bereits ein paar Schritte den Flur entlanggelaufen waren.

»Sag mal, Ann-Katrin, hast du Michelle schon einmal besucht?« Sie nickte.

»Und kennst du den Vater?«

»Nein, der war nie da.«

3

Sie fuhren zurück zum Präsidium.

»Wir sollten versuchen, etwas über den Vater herauszufinden. Vielleicht hat er etwas mit Michelles Verschwinden zu tun«, sagte Brandt.

Sein Kollege nickte zustimmend, während er den Wagen durch den dichten Stadtverkehr zum Jürgensplatz steuerte.

Im Flur zu ihrem Büro kam ihnen ihr Vorgesetzter Hans Schirmer entgegen.

»Für 13 Uhr ist eine Pressekonferenz im Fall Michelle Roeder anberaumt. Könnt ihr dabei sein?« Die beiden bejahten und berichteten, was der Besuch bei der Familie des vermissten Mädchens und die Befragung der Lehrerin und von Michelles Freundin ergeben hatten.

»Und die Befragung der Anwohner?«, erkundigte sich ihr Chef. Brandt und Teichert blickten ihn fragend an.

»Sind die denn nicht bereits gestern befragt worden?«

»Soviel ich weiß, nicht. Ich dachte, das würdet ihr gleich mit erledigen.«

Brandt spürte eine heiße Welle in sich aufsteigen. Erst holte man ihn zu diesem schwierigen Fall aufgrund seiner letzten Ermittlungserfolge hinzu, und dann erwartete man, dass er alles selbst übernahm.

»Schick ein paar Leute von Marcus raus. Die sollen das übernehmen«, äußerte er in barschem Ton. »Wir haben dafür keine Zeit.« Ohne die Reaktion seines Gegenübers abzuwarten, setzte er unvermittelt seinen Weg ins Büro fort. Teichert folgte ihm.

»War das nicht ein wenig forsch?«, fragte der, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Brandt ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, der sich zu der leicht übergewichtigen Last mit einem lauten Knarren äußerte.

»Ist mir egal«, antwortete er nur knapp.

Er hatte weder Zeit noch Lust, sich an solchen, aus seiner Sicht Banalitäten, aufzuhalten. Da draußen lief ein Mann frei herum, der ein kleines Mädchen angesprochen und sie überredet hatte, zu ihm ins Auto zu steigen. Was danach geschah? Er wusste es nicht, aber aufgrund seiner Erfahrungen vermutete er, dass es nichts Gutes war, was der Mann im Schilde führte. Und wer konnte erahnen, ob und wann er vielleicht noch einmal zuschlagen würde, wenn sie ihn nicht fanden? Er wurde plötzlich unruhig, blickte zur Uhr. Lore hatte bereits Unterrichtsschluss. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer seiner Mutter. Nach dem vierten Klingeln wurde abgehoben.

»Brandt?«

»Ich bin’s. Ist Lore schon da?«

»Ja, wir essen gerade. Soll ich sie holen?« Seine Mutter wunderte sich über seinen Anruf. Normalerweise war ihr Sohn immer so stark in seine Arbeit eingebunden, dass er sich eigentlich nie während des Tages meldete. Schon gar nicht, um sich nach Lore zu erkundigen. Sie hatte sowieso den Eindruck, dass Hagen mit der Erziehung der Kleinen immer noch total überfordert war. Es war auch nicht leicht für ihn nach dem Unfall von Margit. Seine Trauer hatte er mit Arbeit erstickt. Tag und Nacht war er im Präsidium gewesen, hatte sich weder um Lore noch um irgendetwas anderes gekümmert. Die Wohnung war völlig verwahrlost gewesen, die Kleine total verstört. Eine Weile hatte sie ihm das durchgehen lassen, hatte geholfen und sich um Lore gekümmert. Als sie jedoch festgestellt hatte, dass er immer tiefer in diese Lethargie verfiel, hatte sie ihm eines Abends gehörig die Leviten gelesen. Dabei war es natürlich zu einem heftigen Streit zwischen ihnen gekommen. Störrisch, wie er nun einmal war, hatte er alles abgestritten und ihr vorgeworfen, sie hätte kein Verständnis für seine Situation. Außerdem hätte sie Margit sowieso nie gemocht, wahrscheinlich sei sie sogar froh, dass sie tot sei, hatte er sie angeschrien. Es hatte sie sehr verletzt und viel Kraft gekostet, über die Äußerungen ihres Sohnes hinwegzusehen. Wenn es nicht auch um Lore gegangen wäre, hätte sie damals vermutlich einfach die Tür hinter sich zugezogen und wäre gegangen. Aber die Kleine brauchte sie. Und mehr als ihre Großmutter brauchte sie jetzt vor allem ihren Vater. Das hatte sie versucht, ihm zu erklären. Er war nicht allein. Lore hatte ihre Mutter verloren und sie hatte Angst, auch noch ihren Vater zu verlieren. Diese Äußerung hatte ihm offenbar die Augen geöffnet. Sie hatten danach zwar nie wieder darüber gesprochen, aber Hagen war kurz darauf mit Lore in eine andere Wohnung gezogen, hatte Margits Sachen endlich weggeräumt und sich mehr um seine Tochter gekümmert. Er war sogar mit ihr gemeinsam auf den Friedhof gegangen, das erste Mal nach der Beerdigung.

»Dann holst du Lore, wie vereinbart, heute Abend ab?«

»Ja«, antwortete er knapp und legte auf.

Er vermutete bereits anhand des Geräuschpegels, den er vor dem Raum vernahm, in dem die Pressekonferenz stattfinden sollte, dass jeder Platz belegt sein würde. Journalisten, Fotografen – sogar mehrere Fernsehteams hatten sich angekündigt. Der Fall erregte verständlicherweise viel Aufsehen. Wieder einmal war ein kleines Mädchen verschwunden. Die Polizei tappte im Dunkeln, und zum Schluss würde man wahrscheinlich nur noch die Leiche des vermissten Kindes finden.

Er holte tief Luft, bevor er den Raum betrat und zielstrebig auf den Tisch zusteuerte, an dem bereits der Polizeipräsident und sein Vorgesetzter Schirmer saßen. Sein Kollege Teichert folgte ihm.

Zunächst begrüßte der Präsident die Anwesenden und gab eine kurze Zusammenfassung über den Fall Michelle Roeder. Anschließend übergab er das Wort an Hans Schirmer, der Auskunft über den Stand der Ermittlungen erteilte und um Mithilfe der Bevölkerung bei der Suche nach dem Mädchen bat. Brandt beobachtete derweil die Journalisten. Wie eine Meute Geier saßen sie vor ihnen, machten sich fleißig Notizen, warteten gierig auf den Teil der Konferenz, in welchem sie sich mit ihren Fragen wie die Aasfresser auf die Polizei stürzen und die Ermittlungen auseinanderpflücken konnten. Er sah bereits die morgige Schlagzeile der Zeitungen vor seinem inneren Auge: ›Wieder ein Kind spurlos verschwunden – Polizei unfähig, das Mädchen und dessen Entführer aufzuspüren‹. So oder zumindest so ähnlich würden diese sensationslüsternen Journalisten das Verschwinden von Michelle Roeder publizieren. Dass die Bevölkerung anscheinend wieder einmal weggeschaut hatte, würde selbstverständlich mit keinem Wort erwähnt werden. Es fiel doch schließlich auf, wenn ein Mädchen von einem erwachsenen Mann angesprochen wurde, da konnte man sich doch einschalten, mal nachfragen. Aber kaum jemand zeigte heutzutage noch Zivilcourage, geschweige denn, dass man überhaupt Interesse an seinen Mitmenschen hatte. Durch seine Grübeleien hatte er den Ausführungen seines Vorgesetzten nicht mehr folgen können und erschrak ein wenig, als plötzlich die Hände der Journalisten in die Höhe schnellten.

»Johann Burger, RP: Gibt es nähere Hinweise auf den Täter, stammt er vielleicht sogar aus dem näheren Umfeld des Kindes?«

»Darüber haben wir bisher keinerlei Erkenntnisse.«

»Marion Settler, WAZ: Wird die Mutter sich an die Öffentlichkeit wenden, um eventuell den Entführer anzusprechen?«

»Wir haben diese Möglichkeit in Erwägung gezogen.«

Brandt war immer wieder fasziniert, wie ruhig und sachlich sein Vorgesetzter diese endlose Fragerei über sich ergehen ließ. Diplomatisch beantwortete er meist jede noch so provokativ gestellte Frage. Dabei verlor er niemals die Geduld. Dazu wäre er selbst nie in der Lage. Brandt wohnte den meisten Pressekonferenzen zum Glück lediglich als eine Art Alibi-Kommissar bei, damit nicht der Eindruck bei der Presse entstand, dass zu wenig Mitarbeiter mit dem Fall beschäftigt waren. Hin und wieder beantwortete er ein paar Fachfragen. Gerade bei Kapitaldelikten war er als Spezialist bei den Journalisten bereits bekannt. Heute jedoch war keine der Fragen direkt an ihn gerichtet, und so wartete er ungeduldig auf den Abschluss der Konferenz, um sich endlich wieder dem Fall zuwenden zu können. Es erschien ihm wie eine halbe Ewigkeit, bis alle Fragen ausführlich beantwortet waren und die Reporter endlich den Raum verließen.

Auf dem Weg zurück in sein Büro fragte er Schirmer nach den Suchmannschaften, von denen in der Konferenz die Rede gewesen war.

»Ja, wäre gut, wenn du mal rausfahren könntest.«

»Wo genau habt ihr die Truppen eingesetzt?«

»An den Rheinwiesen.«

»An den Rheinwiesen? Wieso dort? Gibt es eine Spur?«

Sein Chef schüttelte den Kopf, verwies aber auf einen Fall, bei dem vor etlicher Zeit schon einmal eine Kinderleiche auf den Rheinwiesen entdeckt worden war.

»Aber es gibt im Fall Michelle Roeder keinerlei Anzeichen, dass der Täter mit dem Kind Richtung Rhein gefahren ist. Was ist mit dem näheren Umfeld der Schule? Wer durchsucht diese Gegend?«

»Da habe ich jetzt Marcus’ Leute hingeschickt. Die übernehmen auch gleichzeitig die Befragung der Anwohner.«

»Gut«, er nickte Schirmer zu. »Und sonst?«

Sein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern. »Es gibt bis jetzt keine Hinweise und außerdem habe ich keine weiteren Leute.«

Brandt versuchte, sich für einen kurzen Augenblick in die Lage des Mannes zu versetzen, der Michelle entführt hatte. Wohin würde er das Mädchen bringen? Wo war man am ehesten ungestört, fiel keinem auf? Der Ort durfte nicht zu weit entfernt sein. Der Mann war sicherlich nervös und das Kind würde nach einer Weile anfangen, Fragen zu stellen, zu weinen oder vielleicht sogar zu schreien. Die Gefahr, womöglich durch die Nervosität einen Unfall zu bauen, war groß. Das wollte der Entführer sicherlich nicht riskieren.

»Was ist mit dem Grafenberger Wald?«

Schirmer wiederholte: »Ich habe keine weiteren Leute.«

»Dann fordere welche an. Wir können es uns kaum leisten, wieder von der Presse zerrissen zu werden. Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen!«

Er drehte sich um. Für ihn war klar, dass Schirmer seinem Rat folgen würde. Denn eins stand fest: Sie konnten sich keine schlechten Schlagzeilen erlauben. Schon gar nicht, wenn es um das Verschwinden eines Kindes ging.