Nordmord - Sandra Dünschede - E-Book

Nordmord E-Book

Sandra Dünschede

4,3

Beschreibung

Das beschauliche Risum-Lindholm wird von einem Mord erschüttert. Die Ärztin Heike Andresen, Marlene Schumanns Freundin, wird tot aus der Lecker Au geborgen. Ein Motiv für die Tat ist zunächst nicht ersichtlich, und die Suche nach dem Mörder gestaltet sich schwierig. Auch Kommissar Thamsen tappt im Dunkeln. Bis das Tagebuch der Ermordeten auftaucht. Denn nun fügen sich Stück für Stück die einzelnen Hinweise wie bei einem Puzzle zusammen und enthüllen eine schier unglaubliche Geschichte.

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Sandra Dünschede

Nordmord

Kriminalroman

Zum Buch

Die Tote im Fluss Tom Meissner und seine Freundin Marlene haben in Nordfriesland ein gemeinsames Leben begonnen, als Marlenes beste Freundin, die Ärztin Heike Andresen, spurlos verschwindet. Tom und Haie finden heraus, dass sie im Einstein in Husum eine Verabredung hatte, bei der es, laut Aussage des Wirtes, zu einem Streit kam. Wenige Tage später findet ein Angler ihre Leiche in der Lecker Au bei Norderwaygaard. Die Obduktion ergibt, dass Heike ermordet wurde. Tom, Haie und Marlene beschließen, bei der Aufklärung des Mordes mitzuhelfen und freunden sich langsam mit Kommissar Dirk Thamsen an. Zunächst tappen sie im Dunkeln. Ein Motiv für die grausame Tat ist nicht erkennbar, eine wirklich heiße Spur gibt es nicht – bis Kommissar Thamsen das Tagebuch der Ermordeten entdeckt und nach und nach einen Einblick in Heikes Leben bekommt.

Sandra Dünschede, geboren 1972 in Niebüll/Nordfriesland und aufgewachsen in Risum-Lindholm, erlernte zunächst den Beruf der Bankkauffrau und arbeitete etliche Jahre in diesem Bereich. Im Jahr 2000 entschied sie sich zu einem Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Kurz darauf begann sie mit dem Schreiben, vornehmlich von Kurzgeschichten und Kurzkrimis. 2006 erschien ihr erster Kriminalroman »Deichgrab«, der mit dem Medienpreis des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes als bester Kriminalroman in Schleswig-Holstein ausgezeichnet wurde. Seitdem arbeitet sie als freie Autorin und lebt seit 2011 wieder in Hamburg, wohin es sie als waschechtes Nordlicht zurückzog.

Impressum

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden, basieren allerdings auf zum Teil wahren Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind dennoch rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2022

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © joexx / Photocase

ISBN 978-3-8392-3332-0

Widmung

Jetzt aber – Für Kay. Meinen größten Fan und schärfsten Kritiker.

Karte

 

Hinweis

Für den interessierten Leser haben wir am Ende des Buches ein Glossar erstellt, in dem Begriffe, auf die im Text nicht eingegangen werden konnte, näher erläutert werden.

1

Als Irina den Wagen auf den Hof fahren hörte, wurde sie von einer unbeschreiblichen Angst ergriffen. Ihr Herz raste, jeder Muskel ihres Körpers spannte sich bis zum Zerreißen, sie spürte, wie es zwischen ihren Beinen plötzlich warm und feucht wurde. Sie hatte Angst.

Die beiden Männer waren vor einigen Wochen schon einmal da gewesen. Ihre Mutter hatte lange mit ihnen in der Küche gesprochen. Sie hatte versucht, das Gespräch zu belauschen. Vorsichtig war sie zu der nur angelehnten Küchentür geschlichen. Doch die Männer hatten in einer Sprache gesprochen, die Irina nicht kannte. Nach einer Weile hatte man nach ihr gerufen. Eine schwarze Ledertasche hatte auf dem Tisch gestanden, aus der einer der Männer eine Spritze hervorgeholt hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, alle Kinder im Dorf müssten Blut spenden, aber Irina hatte an ihren Augen erkannt, dass sie log.

Als es an der Tür klopfte, versteckte sie sich unter dem Bett. Die Knie zog sie bis unter ihr Kinn, versuchte, sich klein und unsichtbar zu machen. Sie hörte Schritte.

»Irina?«

Es war die Stimme ihrer Mutter. Sie drehte sich im Raum herum, ging in die Knie und entdeckte die Tochter unter dem Bett.

»Irina, komm heraus! Wir haben Besuch.«

Sie zerrte ihre Tochter am Arm unter dem Bett hervor. Alle Gegenwehr war zwecklos. Die Mutter war stärker.

Als Irina den Kopf unter dem Bett hervorhob, sah sie den großen, dunkelhaarigen Mann in der Tür stehen. Sein Mund verzog sich zu einem schmierigen Grinsen. Ein Goldzahn blinkte in der unteren Zahnreihe.

Sie war wie gelähmt; konnte nur auf diesen Goldzahn starren. Aus dem Mund des Mannes kamen Worte in der ihr unverständlichen Sprache. Ihre Mutter jedoch nickte. Der Mann holte hinter seinem Rücken eine Spritze hervor. Irina wollte sich wieder unter das Bett flüchten, doch ihre Mutter hielt sie so fest, sie konnte sich nicht aus der Umklammerung befreien. Dann spürte sie einen Stich. Sie schlug um sich, versuchte, sich zu befreien, aber alle Kraft schien plötzlich aus ihrem Körper zu weichen. Ihre Beine gaben nach, sie sackte zusammen. Nur noch verzerrt nahm sie das Gesicht ihrer Mutter wahr.

»Mama?«

Eine unsichtbare Macht drückte mit aller Gewalt ihre Augenlider nieder, eine unergründliche Dunkelheit hüllte sie ein.

2

Es war kurz nach 18 Uhr. Marlene schlug das Buch zu, in dem sie gelesen hatte, und stand auf.

Ihre Kollegin war bereits gegangen. Marlene nahm ihre Jacke und verließ ebenfalls das Büro. In 20 Minuten war sie mit ihrer Freundin Heike im Ulmenhof verabredet.

Vor dem Gebäude der alten Volksschule, in dem seit 1990 das Nordfriisk Instituut untergebracht war, suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel.

Sie arbeitete seit fast einem Jahr an einem Projekt des Instituts über Theodor Storm und nebenbei als ehrenamtliche Bibliothekshelferin. Das Angebot, am Institut zu arbeiten, war damals zeitgleich mit der Frage ihres Freundes, ob sie nicht zu ihm ziehen wolle, gefallen. Sie hatte nicht lange überlegt und zugestimmt. Nun wohnte sie bei Tom in Risum-Lindholm und fuhr dreimal in der Woche nach Bredstedt ins Institut. Die Arbeit gefiel ihr sehr gut. Es machte ihr Spaß, das Leben und Werk des Heimatdichters zu erforschen. Nur in ihrem neuen Zuhause hatte sie sich noch nicht ganz eingelebt. Tom hatte das Haus von seinem Onkel geerbt. Es war alt und renovierungsbedürftig. Zwar hatte er schon viel gewerkelt, aber es blieb trotzdem noch jede Menge zu tun.

Marlene lenkte den Wagen durch das Tor, die Einfahrt zum Ulmenhof hinauf und parkte auf dem kleinen Vorplatz. Heikes Wagen war nicht zu sehen. Sie schien sich mal wieder zu verspäten.

Sie stieg aus und überlegte, ob sie auf dem Parkplatz auf ihre Freundin warten sollte. Das Wetter war schön, die Herbstsonne hatte den ganzen Tag kräftig geschienen und ließ sich nur langsam von der heraufziehenden Abenddämmerung vertreiben. Sie schlenderte zum Restaurant hinüber und setzte sich auf eine der Steinstufen vor der Eingangstür.

Eine schwarze Katze kam gemächlich um die Hausecke gestreunt. Schnurrend streifte sie um ihre Beine.

Inzwischen war es 19 Uhr. Marlene stand auf. Aus ihrer Jackentasche holte sie ihr Handy. Eigentlich hatte sie schon vor geraumer Zeit das Mobiltelefon wieder abmelden wollen. Es war ihr zu teuer und manchmal sogar lästig, immer und überall erreichbar zu sein. Ihre Mutter hatte es ihr zum bestandenen Examen geschenkt. »Schließlich bist du nun eine Akademikerin. Da brauchst du so etwas«, hatte sie zu ihr gesagt und lächelnd das hübsch verpackte, handliche Telefon überreicht. Aber die Gebühren waren hoch und Marlene hatte es schließlich nur behalten, weil Tom sie mehr oder weniger davon überzeugt hatte, dass es im Notfall einfach praktischer war, eines bei sich zu haben. Und auch Heike besaß eines, zwar nicht für die Arbeit, aber da ihre Mutter schwer krank war, wollte sie immer erreichbar sein. Normalerweise rief sie auch an, wenn sie sich sehr verspätete, doch auf dem Display war kein Anruf verzeichnet. Sie wählte die Nummer der Freundin, es meldete sich jedoch nur die Mailbox.

Merkwürdig, dachte sie, ob Heike unsere Verabredung etwa vergessen hat? Sie hinterließ eine kurze Nachricht.

Weitere 30 Minuten vergingen. Als sich beim zweiten Versuch, die Freundin telefonisch zu erreichen, wieder nur die Mailbox meldete, stieg Marlene in ihren Wagen und fuhr nach Hause.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Bin bei Haie. Wird sicher spät. Kuss, Tom«.

»Das war köstlich. Ich muss sagen, Haie, du bist ein Naturtalent.«

Haie grinste. Seit er sich von seiner Frau getrennt hatte, war er gezwungen, sich selbst zu versorgen. Das war anfangs nach so vielen Jahren ehelicher Fürsorge nicht einfach gewesen. Waschen, putzen, kochen – um alles hatte Elke sich gekümmert. Es war ihm nicht leicht gefallen, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Nur mit Mühe hatte er alles in den Griff bekommen, vor allem das Kochen war ihm zunächst schwergefallen. Langsam hatte er jedoch Spaß daran entwickelt, neue Gerichte auszuprobieren, zu improvisieren, und Tom hatte recht: Es schien, als sei er ein Naturtalent.

»Na ja, wenn ich da so an meinen ersten Rinderbraten denke.« Haie schmunzelte.

»Ach, das lag ja wohl eindeutig an mir.«

Tom hatte an dem Abend, als Haie seinen ersten Rinderbraten zubereitete, angerufen und ihn gebeten, kurz die Bohrmaschine vorbeizubringen. Selbstverständlich hatte der Freund sich sofort auf den Weg gemacht. Sie wohnten ja nicht weit entfernt voneinander und der Braten brauchte noch gut 30 Minuten. Als er Tom jedoch umständlich mit dem Bohrer hatte herumhantieren sehen, hatte er kurzerhand mit angepackt und den Braten völlig vergessen. Als er nach Hause gekommen war, hatte er vor lauter Rauch in der Küche kaum den Backofen gefunden. Der Braten war kohlrabenschwarz und ungenießbar gewesen.

»Sag mal, kannst du mir am Wochenende vielleicht beim Tapezieren helfen? Ich möchte Marlene eine Freude machen und das Schlafzimmer endlich renovieren. Sie hat sich, glaube ich, immer noch nicht so recht eingelebt.«

»Ich dachte, es sei besser geworden, seit ihre Freundin auch in der Nähe wohnt.«

»Schon, aber sie ist manchmal so bedrückt. Ich weiß auch nicht.«

»Macht doch lieber mal ein paar Tage Urlaub. Würde euch sicher guttun.«

Haie hatte wahrscheinlich recht. In letzter Zeit hatten sie wenig Zeit miteinander verbracht. Erst der Umzug, dann Marlenes neuer Job. Er baute sich gerade einen neuen Kundenstamm auf und jede freie Minute werkelte er am und im Haus herum. Da blieb wenig Zeit für gemeinsame Unternehmungen. Wie lange waren sie schon nicht mehr essen gegangen oder hatten einen ausgiebigen Spaziergang gemacht?

»Hast recht. Wenn ich morgen die Zusage von Motorola bekomme, überrasche ich Marlene mit einem Kurztrip nach Amrum. Das bringt uns sicherlich mehr als neue Tapeten!«

3

Marlene wachte sehr früh auf. Sie hatte schlecht geschlafen.

Heike hatte sich gestern Abend nicht mehr gemeldet. Und als sie kurz vor dem Schlafengehen noch einmal versucht hatte, ihre Freundin zu erreichen, war wieder nur die Mailbox dran gewesen.

Sie stand leise auf. Tom schlief neben ihr noch tief und fest. Sie wollte ihn nicht aufwecken.

In der Küche fiel ihr erster Blick auf das Display ihres Handys, welches auf dem Küchentisch lag. Kein Anruf. Keine SMS.

Sie schaltete den Wasserkocher an und setzte sich. Wieder wählte sie die Nummer ihrer Freundin, wieder nur die Ansage. Langsam wurde sie unruhig. Wo war Heike? Wieso meldete sie sich nicht?

Sie brühte sich einen Tee auf und ging in das kleine Zimmer neben der Küche. Tom hatte es ihr als Büro eingerichtet. Ein Schreibtisch, ein paar Regale, jede Menge Bücher. Hier fühlte sie sich wohl. Das war ihr Reich. Mit nur wenigen und einfachen Mitteln hatte sie es sich gemütlich gemacht.

Sie setzte sich an den massiven Holzschreibtisch und schlug das Buch auf, welches zuoberst auf dem Stapel lag: »Der Schimmelreiter. Dichtung und Wahrheit«. Doch die Buchstaben tanzten nur so vor ihren Augen. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Was war mit Heike? Die Sorge um ihre Freundin ließ ihr keine Ruhe.

Aus dem Telefonbuch suchte sie die Nummer des Krankenhauses heraus. Nach dem vierten Klingeln wurde abgehoben.

»Ich möchte bitte gerne Frau Dr. Andresen sprechen.«

»Einen Augenblick bitte.« Sie hörte ein Knacken in der Leitung.

»Hansen.«

»Heike?«

»Tut mir leid, aber Frau Doktor ist noch nicht im Haus.«

Marlene blickte kurz auf ihre Uhr. Es war zwar früh, aber für gewöhnlich arbeitete Heike um diese Zeit bereits.

»Ab wann ist sie denn zu sprechen?«

Die Schwester teilte ihr mit, dass sie nicht wisse, ob Frau Doktor heute überhaupt noch komme. Sie sei seit zwei Tagen nicht zum Dienst erschienen. Krankgemeldet habe sie sich nicht, deswegen könne sie momentan leider auch nichts Genaueres sagen.

Marlene legte auf. Sie war beunruhigt. Da war doch etwas passiert. Es passte überhaupt nicht zu Heike, unentschuldigt der Arbeit fernzubleiben.

Kurz entschlossen stand sie auf, suchte im Regal nach dem Zweitschlüssel zu Heikes Wohnung, welchen ihr die Freundin für Notfälle gegeben hatte. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und den Autoschlüsseln.

Im Flur stieß sie mit Tom zusammen, der gerade aufgewacht war. Noch verschlafen blickte er sie an.

»Da stimmt was nicht. Ich muss zu Heike«, antwortete sie auf seinen fragenden Blick hin.

»Warte, ich komme mit!«

Sie fuhren über die Bundesstraße nach Niebüll. Heike wohnte nicht weit entfernt vom Krankenhaus. In einer Seitenstraße der Gather Landstraße hatte sie eine kleine Einliegerwohnung eines Einfamilienhauses gemietet.

Marlene klingelte. Nichts.

Mit zittrigen Händen schloss sie die Tür auf und öffnete.

»Heike?«

Sie blieb einen kurzen Moment in der Tür stehen, zögerte einzutreten.

Tom stieß sie leicht an.

In der Wohnung sah zunächst alles aus wie immer. Das Bett war nicht gemacht, überall lagen Klamotten auf dem Fußboden zerstreut, in der Küche stapelte sich das Geschirr. Heike war nun mal ein chaotischer Mensch. Ordnung und Sauberkeit waren ihr nicht wichtig. Für sie zählten Ausgehen, Spaß haben, Freunde treffen. Sie setzte ihre Prioritäten halt anders.

Sie inspizierten die ganze Wohnung, doch nichts deutete auf den Verbleib von Heike hin. Nach einer Weile ließ Tom sich auf das kleine Cordsofa fallen.

»Also, wann genau hast du denn das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

»Am Montag.«

»Gut, heute ist Donnerstag. Vielleicht ist was mit ihrer Mutter? Hast du nicht erzählt, dass sie sehr krank sei? Vielleicht ist Heike zu ihr gefahren.«

»Aber doch nicht, ohne mir Bescheid zu geben!«

Marlene tigerte nervös im Zimmer auf und ab. Sie konnte sich einfach nicht erklären, wo ihre Freundin sein konnte. Wenn es einen Notfall gegeben hätte, hätte Heike sie doch angerufen. Kein Zweifel.

»Vielleicht hat sie einen Mann kennengelernt und sie verbringen Tag und Nacht zusammen. Sicherlich gibt es eine ganz einfache Erklärung.«

Er stand auf und wollte Marlene umarmen, doch sie schüttelte energisch ihren Kopf.

»Nein, Tom, so ist Heike nicht. So etwas würde sie nie tun. Dafür ist ihr die Arbeit auch viel zu wichtig. Weißt du, wie viele Bewerbungen sie geschrieben hat? Sie setzt doch ihren schwer ergatterten Job nicht einfach aufs Spiel. Nicht für so etwas.«

»Was heißt denn ›nicht für so etwas‹?«

Tom kratzte sich am Kopf. Er wusste ja, dass Marlene recht hatte. Zwar hatte er Heike bisher nur flüchtig kennengelernt, aber sie hatte auf ihn nicht den Eindruck einer verantwortungslosen Person gemacht. Eher hatte er sie als sehr ehrgeizig, zumindest was ihren Job betraf, eingestuft. Dass sie nun einfach ohne Entschuldigung nicht in der Klinik erschien, passte auch nicht zu dem Bild, das er von ihr hatte.

Er ging hinüber zum Schreibtisch und nahm einige der Zettel in die Hand, die überall herumlagen. Eine Einkaufsliste, ein Rezept, eine Rechnung vom Zahnarzt.

»Schau mal hier.« Er hielt einen kleinen Notizzettel hoch. »Am Dienstag wollte Heike sich mit einem Herrn Thamsen treffen.«

»Zeig mal!« Marlene riss ihm den Zettel förmlich aus der Hand. »›Dienstag, 13 Uhr, Herr Thamsen, 401138‹. Wer das wohl ist? Heike hat mir gar nichts davon erzählt.«

»Rufen wir ihn doch einfach an!« Tom tippte bereits die angegebene Telefonnummer in sein Handy.

4

Professor Voronin blickte kurz auf, als Schwester Hansen sein Büro betrat.

»Hat Frau Andresen sich gemeldet?«

Die Schwester schüttelte bedauernd ihren Kopf.

»Was denkt die sich nur dabei?«

Der Professor lehnte sich in seinem Ledersessel zurück.

Schwester Hansen zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich auch nicht erklären, warum die junge Ärztin seit gestern einfach nicht zum Dienst erschienen war. Dabei war sie doch in allem, was sie tat, so zuverlässig und verantwortungsbewusst. Bei den Patienten war sie genauso beliebt wie bei den Schwestern. Immer gut gelaunt, obwohl der Professor ihr viel Arbeit aufbürdete. Vielleicht waren dadurch die Sympathien zu erklären, die Heike Andresen nur so zuflogen. Voronin hingegen war hier nicht gerne gesehen, jedenfalls nicht beim Personal. Schon möglich, dass er auf seinem Gebiet eine Koryphäe war, aber die Art, wie er seine Mitarbeiter behandelte, kam nicht besonders gut an.

»Es ist nur so, Herr Professor, da Frau Andresen nun nicht da ist … Lisa Martens soll ja heute ihre erste Hämodialyse bekommen und es müsste noch jemand mit den Eltern sprechen.«

»Hat das nicht Zeit?«

»Leider nicht. Die Retentionswerte haben sich drastisch verschlechtert.«

»Dann sprechen Sie mit den Eltern!«

»Aber ich …«

Der Professor machte nur eine entsprechende Handbewegung und senkte seinen Blick wieder auf die vor ihm liegenden Akten.

»Nun gehen Sie schon! Gehen Sie! Ich habe für so etwas wirklich keine Zeit.«

»Thamsen.«

»Guten Tag. Mein Name ist Tom Meissner. Ich bin ein Bekannter von Heike Andresen. Mit wem spreche ich?«

»Kriminalhauptkommissar Dirk Thamsen. Kriminalpolizei-Außenstelle Niebüll.«

Tom zog überrascht seine Augenbrauen hoch. Polizei? Was hatte Heike denn mit der zu tun?

»Sagen Sie, ich habe hier einen Zettel gefunden, demzufolge wollte Frau Andresen sich am Dienstag mit Ihnen treffen.«

»Das stimmt. Aber wer sind Sie denn überhaupt?«

»Wenn Sie gerade Zeit haben, sollten wir das vielleicht lieber persönlich besprechen. Meine Freundin und ich könnten in zehn Minuten bei Ihnen sein.«

»Okay. Bis gleich.«

Tom drückte auf die rote Taste seines Handys. Marlene trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Und, wer war das?«

»Polizei.«

»Polizei?« Marlene schlug erschrocken ihre Hand vor den Mund.

Er griff nach ihrem Arm.

»Komm, Herr Thamsen wartet auf uns.«

Tom zog sie aus der Wohnung. Da sie ein wenig durcheinander wirkte, nahm er ihr die Wagenschlüssel ab und fuhr das kurze Stück zur Polizeistation.

Herr Thamsen saß in Zimmer Nr. 13. Tom schätzte ihn auf Mitte 40. Er war groß, schlank und blond. Als sie den Raum betraten, stand er auf.

»Herr Meissner?«

Tom nickte.

»Und das ist Marlene Schumann, eine Freundin von Heike Andresen.«

Herr Thamsen bat sie, Platz zu nehmen.

»Ja, wie Sie ja bereits erwähnten, wollte Frau Andresen am Dienstag zu mir kommen. Sie muss es sich aber anders überlegt haben, denn ich habe gegen 13 Uhr hier vergeblich auf sie gewartet.«

»Was hat Heike denn von Ihnen gewollt?« Marlene rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

Der Kommissar zuckte mit den Schultern.

»Am Telefon hatte sie mir nichts sagen wollen. Es klang aber, als sei es sehr dringend. Deshalb habe ich mich ja auch gewundert, dass sie nicht wie verabredet gekommen ist.«

»Das ist ganz und gar nicht Heikes Art. Es muss etwas passiert sein. Wir müssen eine Vermisstenanzeige aufgeben!«

Tom legte seine Hand auf Marlenes Arm, versuchte, sie zu beruhigen. Herr Thamsen erklärte, dass sie zwar Anzeige erstatten könne, aber viel ausrichten würde das zunächst einmal nicht.

»Besteht denn Suizidgefahr oder hat Frau Andresen eine schwere Krankheit?«

Marlene schüttelte den Kopf. Nein, Heike war doch ein so lebenslustiger Mensch. Gut, die Krankheit ihrer Mutter zog sie schon manchmal ganz schön runter. Aber das konnte man verstehen. Schließlich war sie gerade einmal Anfang 50 und hatte, wenn es hoch kam, nur noch ein oder zwei Jahre zu leben. Aber dass Heike sich deswegen etwas antun sollte? Undenkbar. Sie liebte ihre Mutter über alles. Niemals würde sie sie im Stich lassen.

»Dann sollten Sie vielleicht erst einmal alle Familienangehörigen und Freunde anrufen. Vielleicht gibt es eine Erklärung für das Verschwinden von Frau Andresen.«

Herr Thamsen stand auf. Marlene blickte ihn ungläubig an. Das war alles? So wenig kümmerte man sich um das Verschwinden ihrer Freundin? Es musste etwas passiert sein. Sie spürte es doch. Warum glaubte man ihr nicht? Verzweifelt blickte sie zu Tom.

»Gut, wenn Sie etwas hören, sagen Sie uns doch bitte Bescheid.«

Er holte aus seiner Jackentasche eine Visitenkarte hervor. Der Kommissar nickte.

»Wenn es Sie beruhigt, ich kann mich ja mal mit den umliegenden Krankenhäusern und Polizeistationen in Verbindung setzen. Aber glauben Sie mir, es wird sich sicher alles aufklären.«

5

Haie saß am Küchentisch und blätterte in dem Buch, das Marlene und Tom ihm zum Geburtstag geschenkt hatten.

Es war eine Art Bildband über Nordfriesland und er las gerade interessiert in dem Kapitel über die großen Mandränken, als das Telefon klingelte.

Es war Elke. Sie fragte, ob er Lust habe, sie zu einem Theaterstück im Andersen-Haus zu begleiten. De Plaatdütschen sollten am Abend dort auftreten und Elke hatte zwei Karten für das Stück.

»Oh, heute Abend sieht es schlecht aus«, log Haie.

Seit er und Elke getrennt lebten, unternahmen sie zwar mehr zusammen als in der Zeit davor, aber er wollte ihr auf gar keinen Fall Hoffnungen machen. Schließlich waren sie erst letzte Woche zusammen in der Stadthalle bei einem Konzert gewesen. Wenn er sich zu häufig mit ihr verabredete, würde sie sicher nur denken, dass sie wieder zusammenkämen. Und das wollte er unter keinen Umständen. Für ihn war es endgültig aus. Für Elke nicht, und das wusste er.

»Das ist aber schade. Nun weiß ich gar nicht, mit wem ich hingehen soll. Was hast du denn vor?«

Haie überlegte kurz.

»Ich bin mit Tom verabredet.«

Er versicherte Elke noch, das nächste Mal käme er sicherlich mit, und legte auf. Kaum hatte er sich wieder an den Küchentisch gesetzt, klingelte das Telefon erneut. Er dachte, es sei noch einmal Elke, die ihn überreden wollte, doch mit ins Andersen-Haus zu gehen, aber als er den Hörer abhob, meldete sich Tom.

»Kannst du uns helfen?«

»Klar!«

Als Tom eine halbe Stunde später vor dem kleinen Reetdachhaus in Maasbüll hielt, stand Haie bereits vor der Haustür.

»Und, was gibt’s?«

Tom wendete den Wagen und fuhr die Dorfstraße entlang.

Er erzählte von Marlenes verschwundener Freundin und dem Besuch auf dem Polizeirevier.

»Merkwürdig ist das ja schon.« Haie kratzte sich an seinem linken Ohr.

»Und was habt ihr nun vor?«

»Marlene ist wieder in Heikes Wohnung gefahren. Sie will dort warten. Vielleicht kommt Heike ja nach Hause oder meldet sich. In der Zwischenzeit will sie einige Leute anrufen. Freunde, Bekannte, Familienangehörige. Eventuell weiß ja einer von denen, wo Heike steckt, oder sie hat sich gar gemeldet.«

»Und was machen wir?«

»Wir suchen Heikes Wagen. Der steht nämlich nicht vor ihrer Wohnung und demzufolge muss sie weggefahren sein.«

»Aber wo willst du denn anfangen zu suchen? Und ist das nicht eigentlich Aufgabe der Polizei?«

Tom schüttelte seinen Kopf.

»Die Polizei wird erst aktiv, wenn entweder der Verdacht einer Straftat besteht oder das Leben von Heike in Gefahr ist, und da es dafür momentan keinerlei Anzeichen gibt, müssen wir das selbst in die Hand nehmen.«

»Und wie?«

»Wir fahren erst einmal nach Husum.«

»Nach Husum?«

»Da war Heike am Montagabend im Einstein verabredet. Das ist die letzte Spur, die wir von ihr haben.«

Vorsichtig, so, als hätte sie Angst, entdeckt zu werden, schloss sie die Wohnungstür auf.

»Heike?«

Keine Antwort. Sie ging ins Wohnzimmer, sammelte ein paar der herumliegenden Sachen auf und legte sie aufs Bett. Ratlos blickte sie sich um.

Sie betrachtete das kleine Bücherregal. Neben einem Stapel Fachzeitschriften stand eine Gießkanne. Marlene füllte Wasser hinein und begann, die Blumen zu gießen.

Über dem Schreibtisch fiel ihr das Foto auf, welches sie mit Heike in Rom an der Spanischen Treppe zeigte. Es war vor sieben Jahren aufgenommen worden.

Sie hatten sich beim Sporttag an der Uni kennengelernt. Marlene hatte mit der Damenmannschaft der germanistischen Abteilung Fußball gegen die Medizinstudenten gespielt. Heike hatte sie böse gefoult. Mit dem Ellenbogen hatte sie Marlene außer Gefecht gesetzt und dafür eine rote Karte kassiert. Auf der Bank am Spielrand, auf welcher Marlene saß, um sich von dem Übergriff zu erholen, saß Heike wegen des Spielverbots und da waren sie ins Gespräch gekommen und hatten sich auf Anhieb hervorragend verstanden. In den Semesterferien hatten sie dann zusammen einen Trip durch Italien unternommen. Damals waren sie noch so richtig eng befreundet gewesen. Fast jeden Tag hatten sie zusammen verbracht, nicht nur in den Ferien. Sie musste lächeln, als sie daran zurückdachte. In letzter Zeit hatten sie sich nicht mehr so häufig gesehen. Auch nicht, nachdem Heike hierher nach Niebüll gezogen war. Jede hatte ihren Job und dann gab es da ja auch noch Tom. Marlene hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und natürlich jede freie Minute mit ihm verbracht. Wie sehr sie ihre Freundin eigentlich vernachlässigt hatte, fiel ihr erst jetzt auf. Sie nahm sich vor, wenn Heike wieder auftauchte, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Sie griff nach der Telefonliste, die neben dem Foto hing.

Freunde aus Hamburg, eine Tante, Arbeitskollegen und ein gewisser Malte Nielsen. Wer das wohl war? Heike hatte nie etwas von einem Malte erzählt. Sie zögerte kurz, ehe sie zum Telefonhörer griff.

6

Malte Nielsen wälzte sich unruhig in seinem Bett hin und her. Es war bereits hell im Zimmer, die Sonne schien durch die Lamellen der aluminiumfarbenen Jalousie.

Er hatte schlecht geschlafen. Genauer gesagt: Er hatte fast gar nicht geschlafen. Bis tief in die Nacht hatte er vor dem Fernseher gesessen, dazu das eine oder andere Bier getrunken. Als er sich schließlich auf sein Bett gelegt hatte, war er immer noch hellwach gewesen.

Er schlug die Bettdecke zur Seite, setzte sich auf und griff nach der Zigarettenschachtel, die auf dem Beistelltisch neben dem Sofa lag. Das Feuerzeug flammte kurz auf, er zog kräftig an der Zigarette, bis feine Rauchschwaden Richtung Zimmerdecke schwebten. Sein Telefon klingelte. Sicher die Klinik, dachte er. Die können mich mal!

Er arbeitete als Krankenpflegehelfer in der Husumer Klinik. Heute hatte er erst am Nachmittag Dienst. Er hasste die Arbeit im Krankenhaus. Die Patienten gingen ihm auf die Nerven. Ihr Gejammer machte ihn aggressiv. Und dann dieser Gestank. Diese Mischung aus Urin, Kot, Erbrochenem und Tod. Sein Magen rebellierte, wenn er nur daran dachte. Und all das für einen Hungerlohn, den man ihm dafür zahlte. Lange würde er diesen Job nicht mehr machen, da war er sich ganz sicher.

Er stand auf, ließ die Zigarettenkippe in eine der herumstehenden Bierflaschen fallen und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem, doch außer einem schimmligen Stück Käse und abgelaufener Milch gab es nichts. Er schlüpfte in ein Paar dreckige Jeans, griff nach der Cordjacke, die auf dem Sofa lag, und verließ die Wohnung. Vor der Haustür zündete er sich die nächste Zigarette an.

Er hörte erneut das Telefon klingeln und machte kehrt.

»Was gibt’s?«

Malte wich plötzlich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Der Boden drehte sich unter seinen Füßen. Er tastete rückwärts nach dem Sofa und ließ sich verstört auf die Polster fallen.

Sie fuhren durch Bredstedt, als Toms Handy klingelte. Er hielt kurz am Straßenrand und nahm das Gespräch entgegen.

»Vielen Dank, Herr Günzel. Ich melde mich am Montag bei Ihnen. Wiederhören!«

Tom lächelte selbstzufrieden.

»Ich hab den Job«, beantwortete er Haies fragenden Blick.

»Glückwunsch! Wobei ich immer noch nicht verstehen kann, wie du diesen Managertypen solcher großer Unternehmen auch noch helfen kannst, ihre Taschen noch voller zu machen. Und der kleine Mann steht auf der Straße. Also, gerecht finde ich das nicht!«

Tom war Teilhaber einer Münchner Unternehmensberatung. Seit er nach Risum-Lindholm gezogen war, arbeitete er von zu Hause aus und baute sich vor Ort einen neuen Kundenstamm auf. Das Unternehmen Motorola, welches seit wenigen Jahren auch einen Standort in Flensburg hatte, war für Tom ein enormer Fortschritt hier im Norden.

»Ach was«, setzte er der Kritik des Freundes entgegen, »gerade das will ich doch alles optimieren. Und wenn das Unternehmen schwarze Zahlen schreibt, muss auch keiner auf der Straße stehen!«

»Aber die Manager füllen sich trotzdem die eigenen Taschen. Das ist wie bei ›Sesam, öffne dich!‹. Nur dass hier keiner diese habsüchtigen Geier umbringt!«

»›Sesam, öffne dich!‹? Was haben denn Ali Baba und seine Räuber mit Motorola zu tun?«

»Nee, nicht Ali Baba! Hier in der Gegend von Husum soll es mal zwei Brüder gegeben haben. Der eine klein und arm und der andere groß und reich. Der Kleinere der Brüder hatte im Wald Räuber beobachtet, die eine Klippe, in der viel Geld versteckt war, mit ›Sesam, tue dich auf!‹ öffneten. Als die Räuber wieder verschwunden waren, ging er zu der Klippe und sprach: ›Sesam, tue dich auf!‹ Drinnen füllte er seinen Sack mit Geld. Leider erzählte er seinem Bruder davon. Der ritt gleich mit sechs Eseln zu der Klippe. Den Rat seines kleinen Bruders, sich aufzuschreiben, was er zu der Klippe zu sagen hatte, missachtete er. ›Sesam, tue dich auf!‹, sprach er, um die Klippe zu öffnen, und füllte im Inneren seine Säcke randvoll mit Geld. Als er allerdings die Klippe wieder verlassen wollte, hatte er vergessen, welchen Spruch er zum Öffnen der Klippe verwandt hatte. Als die Räuber zurückkamen, ermordeten sie ihn. Das hatte er eben von seiner Vermessenheit und Habsucht!«

»Na, übertreibst du nicht ein bisschen?«

»Ich finde, das ist ein sehr lehrreiches Märchen.«

Marlene legte enttäuscht den Hörer auf die Gabel des schwarzen Tastentelefons. Sie hatte die Liste nun schon beinahe abtelefoniert. Über die Hälfte der Leute hatte sie jedoch nicht erreicht. Selbst Heikes Exfreund hatte sie angerufen. Aber laut ihm hatten er und Heike seit der Trennung keinerlei Kontakt mehr gehabt. Die gescheiterte Beziehung war mit ein Grund für Heikes Umzug nach Niebüll gewesen. Natürlich war zunächst der Job ausschlaggebend gewesen, aber sie war auch froh darüber gewesen, dass sie eine Stelle 200 Kilometer entfernt von ihrem Ex gefunden hatte. Hier erinnerte sie wenigstens nicht die Umgebung ständig an ihn und es bestand auch nicht die Gefahr, ihm überraschend auf der Straße zu begegnen.

Marlene überlegte, ob sie nicht doch Heikes Mutter anrufen sollte. Eigentlich wollte sie diese nicht unnötig beunruhigen. Heikes Schwester hatte gesagt, dass sie gestern mit der Mutter telefoniert hatte. Von Heike sei allerdings nicht die Rede gewesen. Wenn die Tochter jedoch zu Besuch gewesen wäre, hätte ihre Mutter das ganz bestimmt während des Telefonats erwähnt. Marlene nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe.

Plötzlich klingelte das Telefon. Eilig nahm sie den Hörer ab.

»Hallo?«

»Frau Andresen?«

»Nein, ich bin Marlene Schumann. Eine Freundin.«

»Oh.«

Der Anrufer war offensichtlich überrascht. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand abnehmen würde. Und schon gar nicht eine fremde Person.

Marlene unterbrach das überraschte Schweigen.

»Mit wem spreche ich denn?«

Der Anrufer räusperte sich.

»Ich bin Professor Voronin. Der Vorgesetzte von Frau Andresen. Ich muss sie dringend sprechen!«

»Das tut mir leid. Aber meine Freundin ist nicht da. Hat sie sich denn immer noch nicht in der Klinik gemeldet?«

»Nein, aber allmählich sollte sie das tun! Ich wollte ihr eigentlich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber nun kann ich es auch Ihnen sagen. Ihre Freundin sollte schnellstens im Krankenhaus auftauchen, sonst kann sie ihren Job vergessen! Auf Wiederhören!«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte der Professor auf. Sie blickte verdutzt auf den Telefonhörer. Mit dem war nicht gut Kirschen essen. Heike hatte nie etwas darüber erzählt, dass ihr Chef offenbar ein Tyrann war. Überhaupt hatte sie sehr wenig von ihrem Job erzählt. Was, wenn ihr die Arbeit doch nicht so viel Spaß gemacht hatte, wie Marlene angenommen hatte? Vielleicht war ihr die Stelle im Krankenhaus egal und sie meldete sich deswegen nicht?

Sie stand auf und trat ans Fenster.

»Wo steckst du nur?«, murmelte sie leise vor sich hin.

7

Sie parkten in einer Seitenstraße in der Nähe vom Restaurant Einstein. Haie stieg aus und reckte sich so, als ob sie mindestens eine Tagesreise hinter sich hätten.

»Und nun?«

»Jetzt schauen wir uns mal ein wenig um.«

Tom schloss den Wagen ab, zog seine Jacke an und spazierte die Straße entlang. Haie folgte ihm.

»Sag mal, was meinst du denn, was mit dieser Heike ist?«

Er hatte zu Tom aufgeschlossen. Der zuckte mit den Schultern.

»Ein bisschen merkwürdig finde ich das schon. Dass sie den Termin bei dem Kommissar nicht eingehalten hat – gut, vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen. Aber dass sie die Verabredung mit Marlene hat sausen lassen und sich nicht meldet, finde ich schon höchst seltsam. Also, entweder hat sie einen Supertypen kennengelernt oder es ist tatsächlich etwas passiert.«

Er blieb plötzlich stehen. »In Husum ist sie jedenfalls noch gewesen.«

Er deutete mit seiner Hand die Straße entlang. Einige Meter entfernt stand der rote Polo am Straßenrand:

»NF-HA-2307«. Er hatte sich das Nummernschild notiert.

»Was für ein Saustall!«

Haie blickte neugierig in den Wagen. Überall stapelten sich Klamotten, im Fußraum lagen ein Pizzakarton, angebrochene Cola- und Fanta-Flaschen und auf dem Beifahrersitz eine Handtasche.

»Sagtest du nicht, sie sei verabredet gewesen? Wieso liegt dann ihre Tasche im Auto?«

Tom blickte nun ebenfalls ins Wageninnere. Das war wirklich merkwürdig. Er konnte sich kaum eine Frau vorstellen, die ohne ihre Handtasche zu einer Verabredung ging. Die Tasche so offensichtlich im Auto zu deponieren, das grenzte schon an Dummheit. Da war ein Einbruch ja quasi vorprogrammiert.

»Komm, lass uns mal den Wirt befragen, ob sie überhaupt da gewesen ist.«

Sie gingen zurück zur Osterende, der Straße, an der das Einstein lag. Das rote Backsteinhaus mit der Leuchtreklame sah verlassen aus.

»Mist!« Tom blickte auf seine Armbanduhr. »Die machen erst in einer Stunde auf!«

Er spähte durch eines der Fenster ins Innere der Kneipe. Sie war rustikal, aber sehr ansprechend eingerichtet. Haie studierte in der Zwischenzeit die Speisekarte.

»Da ist jemand!«

Tom klopfte laut gegen die Fensterscheibe.

»Hallo! Hallo?«

Die Tür wurde geöffnet. Ein kleiner, schmächtiger Mann mit Schnauzer trat heraus.

»Tut mir leid, aber wir öffnen erst in einer Stunde.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich bin Tom Meissner und das ist mein Freund Haie Ketelsen.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Freund.

»Wir haben nur ein paar Fragen. Haben Sie kurz Zeit?«

»Sind Sie etwa von der Polizei?« Der Mann runzelte seine Stirn.

Tom bemühte sich, möglichst schnell zu erklären, dass sie nichts mit der Polizei zu tun hätten. Das Gesicht des Mannes wurde freundlicher.

»Wir suchen diese Dame. Sie soll am Montagabend hier verabredet gewesen sein.«

Aus seiner Jackentasche hatte er das Foto herausgezogen, welches Marlene ihm zugesteckt hatte. Es zeigte die Freundinnen vor dem Hamburger Michel.

»Da muss ich meine Brille holen. Kommen Sie doch kurz herein.«

Sie folgten dem Mann in die Kneipe. Er bot ihnen an, an der Theke Platz zu nehmen. Hinter dem Tresen suchte er nach seiner Brille, fand sie zwischen zwei Whiskyflaschen.

»Ja, die war am Montag hier. Hübsches Ding, ist mir gleich aufgefallen.« Er lächelte.

»Da drüben hat sie mit so einem Typen gesessen.«

Mit der Hand zeigte er auf einen der Tische. Dann erzählte er, dass das Paar sich in die Haare bekommen hatte. Sie hatte ihm Papiere gezeigt und er war ziemlich laut geworden. Als er bemerkt hatte, dass die Leute um ihn herum alle zu ihnen herüberschauten, war er aufgesprungen und hatte das Lokal verlassen. Sie hatte kurze Zeit später die Rechnung gezahlt und war ebenfalls gegangen.

»Hatte sie eine Handtasche dabei?«

»Hm, ich glaube schon.«

Sie wählte zum wiederholten Male die Nummer von Malte Nielsen.

»Hallo?«

Sie erschrak.

»Ich, ich bin Marlene. Marlene Schumann.«

»Und?«

Sie räusperte sich.

»Ich bin eine Freundin von Heike. Sie, sie ist verschwunden.«

Eine panische Angst ergriff sie plötzlich bei diesen Worten. Ihr Körper verkrampfte sich, ihr wurde übel. Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, ließen sie schwindeln. Dann löste sich plötzlich eine Träne. Und noch eine und noch eine. Sie begann, hemmungslos zu schluchzen.

»Aber, aber«, tönte es aus dem Hörer, »sie wird sich schon nicht in Luft aufgelöst haben. Am Montag jedenfalls wirkte sie noch völlig fidel.«

Sie horchte auf.

»Sie haben Heike am Montag gesehen? Dann waren Sie ihre Verabredung? Ich muss Sie treffen. Wahrscheinlich waren Sie der Letzte, der sie gesehen hat! Kann ich zu Ihnen kommen? Wann können wir uns sehen?«

Malte Nielsen holte tief Luft. Es entstand eine kurze Pause.

»Morgen um zwölf Uhr in Fiedes Krog.«

8

»Soll ich nicht doch mitkommen?«

Tom beobachtete Marlene, die sich im Badezimmer schminkte.

»Besser nicht. Dieser Malte klang merkwürdig am Telefon. Nicht, dass wir ihn verschrecken, wenn wir da zu zweit auftauchen.«

Sie zog ihre Jacke an und verabschiedete sich mit einem Kuss.

An Fiedes Krog war Marlene schon häufig vorbeigekommen, aber besucht hatte sie die Kneipe neben dem Rathaus in Bredstedt noch nie.

Sie betrat den Gastraum und blickte sich suchend um. Die Kneipe hatte gerade erst geöffnet, sie war der erste Gast. Hinter dem Tresen stand eine ältere Frau und lächelte sie freundlich an.

Sie zögerte einen kurzen Augenblick, wählte dann aber einen Tisch in der Nähe der Eingangstür. Die Frau vom Tresen trat zu ihr.

»Einen Tee bitte.«

Polizeihauptkommissar Thamsen legte langsam den Hörer auf das Telefon vor ihm auf dem Schreibtisch. Er hatte bereits seine Kollegen in Husum und Flensburg angerufen, aber Unfälle oder sonstige Vorkommnisse, an denen eine junge Frau beteiligt gewesen war, hatte es seit Montag nicht gegeben.

Er trank einen Schluck Kaffee und blickte zum Fenster hinaus. Warum war Heike Andresen am Dienstag nicht wie verabredet zu ihm gekommen? Was hatte sie mit ihm besprechen wollen? Sie hatte sehr aufgeregt geklungen. Dass sie es sich vielleicht anders überlegt oder die Sache sich erledigt hatte, das kam ja schon mal vor. Davon war er eigentlich ausgegangen. Dass sie nun aber verschwunden war und sich weder bei ihrer Arbeitsstelle noch bei ihren Freunden meldete, war merkwürdig und ließ ihm keine Ruhe. Wo war die junge Frau abgeblieben?

Das Telefon klingelte. Es war die Schule seiner Tochter. Ob er Anne abholen könne? Er wunderte sich. Seit er und seine Frau getrennt lebten, verbrachten die Kinder, sofern es sein Dienst zuließ, zwar jedes zweite Wochenende bei ihm, aber dieses Wochenende war ein Besuch der Kinder eigentlich nicht geplant gewesen.

Er griff nach seiner Jacke und verließ das Büro. Im Flur traf er seinen Kollegen von der Schutzpolizei.

»Na, Dirk, schon Wochenende? Nix los, was?«

»Nee, muss nur schnell meine Lütte von der Schule abholen. Ich komm nachher noch mal rein.«

Anne saß bei der Direktorin im Büro. Als Dirk Thamsen den Raum betrat, stürmte seine Tochter auf ihn zu. Er nahm sie auf den Arm, blickte verwundert zur Schulleiterin.

»Ich müsste mal mit Ihnen sprechen, Herr Thamsen. Anne, wartest du kurz draußen?«

Das kleine Mädchen blickte ängstlich seinen Vater an.

»Geh nur, ich komme gleich zu dir.«

Die Direktorin bat ihn, Platz zu nehmen, und kam direkt zur Sache. Seine Frau vernachlässige die Kinder. Anne und Timo würden sowieso schon sehr unter der Trennung leiden, aber seit seine Frau einen neuen Lebensgefährten habe, würden die Kinder teilweise ungewaschen und ohne Frühstück zum Unterricht erscheinen. Ob ihm denn nichts aufgefallen sei?

Er schüttelte den Kopf. Letzte Woche war doch alles in Ordnung gewesen. Gut, er hatte sich über die kaputte Hose von Timo und die viel zu kleinen Schuhe von Anne geärgert. Schließlich zahlte er genug Unterhalt, da konnte er ja wohl erwarten, dass die Kinder anständig gekleidet waren. Aber sonst hatte er nichts bemerkt. Und die Kinder hatten auch nichts erzählt. Sie waren in letzter Zeit zwar stiller und zurückhaltender, aber das hatte er der Trennung zugeschrieben. Dass etwas bei Anne und Timo nicht in Ordnung und seine Exfrau nur mit sich und ihrem neuen Lover beschäftigt war, davon hatte er wirklich keine Ahnung gehabt.

»Ich werde mit ihr sprechen.«

Die Schulleiterin nickte. »Und bitte reden Sie auch mit Anne. Sie hat heute zum zweiten Mal auf eine Mitschülerin eingeschlagen.«

Nervös blickte Marlene auf ihre Armbanduhr. Es war bereits Viertel nach zwölf und von diesem Malte war nichts zu sehen.

Außer ihr saßen inzwischen zwei ältere Herren in dem Gastraum. Sie tranken Bier und diskutierten lautstark über den Bürgermeister der Kleinstadt.

Sie nippte an ihrem Tee und blickte sich um. Warum Malte für ihr Treffen wohl diese Kneipe ausgesucht hatte? Der eigentliche Reiz des »Krogs« lag vor allen in den Auftritten des Inhabers Fiede Kay. Oft trat er um die Kaffeezeit oder in den Abendstunden auf und gab seine plattdeutschen Lieder und Döntjes zum Besten. Man nannte ihn den »Volkssänger aus dem Norden«, der nicht nur gut sang, sondern auch noch hervorragendes Bier zapfte. Marlene hatte in der Zeitung einen Bericht darüber gelesen. Um diese Zeit war es allerdings relativ ruhig in der Kneipe.

Ihre Gedanken wanderten zu der Freundin. Wo sie nur steckte? Das letzte Mal, dass sie sich getroffen hatten, war zwei Wochen her. Tom hatte arbeiten müssen und so war sie kurz entschlossen mit Heike nach Tondern gefahren. Sie waren durch das kleine Städtchen gebummelt und hatten anschließend in einem kleinen Restaurant zu Abend gegessen. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie über ihre Exfreunde gelästert hatten. Wie zwei Teenager hatten sie zusammengesessen und gekichert.

Ganz in Gedanken bemerkte sie gar nicht, dass Malte die Kneipe betrat. Zielstrebig steuerte er auf ihren Tisch zu und setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl gegenüber. Sie erschrak ein wenig. Nicht so sehr über sein plötzliches Erscheinen, sondern mehr über sein Aussehen. Unrasiert und offensichtlich ungewaschen. Jedenfalls roch er so. Er bestellte ein Bier.

»Und du bist eine Freundin von Heike?« Er musterte sie ungeniert.

Marlene setzte sich gerade auf, verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja, und woher kennst du sie?«

Er erzählte, dass er Heike bei der Arbeit kennengelernt hatte. Er sei als Pfleger tätig und hin und wieder helfe er auch in der Klinik in Niebüll aus. Sie seien öfters miteinander ausgegangen. Essen, tanzen und so. Auch am Montag. Da habe er sie das letzte Mal gesehen.

Ob Heike hatte anklingen lassen, dass sie wegwolle oder dass sie etwas vorhabe? Nein, darüber hatten sie nicht gesprochen. Heike sei wie immer gewesen. Sie hatten zusammen gegessen, einen netten Abend verbracht. Anschließend habe er sie zu ihrem Wagen begleitet. Erst Marlenes Anruf hatte ihn daran erinnert, dass Heike sich am Mittwoch bei ihm hatte melden wollen. Nun sei auch er ein wenig beunruhigt.

Sie wusste, dass er log, und fragte sich, warum. Tom hatte ihr erzählt, was der Wirt im Einstein beobachtet hatte. Sollte sie ihn damit konfrontieren?

Er zündete sich eine Zigarette an.

»Und ihr habt euch nicht gestritten? Oder ist sonst vielleicht etwas vorgefallen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nichts, rein gar nichts.«

Tom hatte den Frühstückstisch abgeräumt, das Geschirr abgewaschen, gestaubsaugt und gebügelt. Nun saß er am Küchentisch und versuchte, sich auf einen Zeitungsartikel im Nordfriesland Tageblatt zu konzentrieren, als das Telefon klingelte.

Es war Haie.

»Und, habt ihr was von Heike gehört?«