DeichSühne - Andreas Schmidt - E-Book

DeichSühne E-Book

Andreas Schmidt

4,5

Beschreibung

Ein verlassenes Auto am Rand der nächtlichen Landstraße bei Schleswig wirft Fragen auf: Hier hat sich offenbar ein brutales Verbrechen abgespielt. Die Besitzerin wird am nächsten Morgen grausam zugerichtet im Wikingermuseum Haithabu gefunden. Als sich in der nächsten Nacht in der Eckernförder Bucht ein weiterer schrecklicher Mord ereignet, glaubt zunächst niemand an einen Zusammenhang. Nur Kristin Voss, die neue Ermittlerin beim K1 der Polizeidirektion Flensburg, hat einen Verdacht. Doch der Mörder scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein …

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Andreas Schmidt

DeichSühne

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jens / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7940-3

Widmung

Für Susi und Agent A.

Zwei starke Frauen, die immer an mich geglaubt haben und denen ich danken möchte.

Prolog

Die Mauern der Justizvollzugsanstalt Lauerhof ragten drohend wie eine uneinnehmbare Festung in den grauen Novemberhimmel. Fröstelnd stieg sie aus, nachdem sie den Wagen auf dem Besucherparkplatz abgestellt hatte, nahm mit den behandschuhten Händen den Koffer von der Rückbank, drückte den Knopf der Zentralverriegelung und marschierte auf die Pforte der JVA zu. Dunkle gespiegelte Scheiben verhinderten, dass allzu neugierige Blicke in das Innere des Dienstzimmers dringen konnten.

Tief sog sie auf dem Weg die eisige Herbstluft in die Lungen ein. Schnee, dachte sie, es riecht nach Schnee. Sicher ließ der erste Wintereinbruch in diesem Jahr nicht mehr lange auf sich warten.

Als sie die Pforte erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte. Der Blick zu den Ecken der Mauern verriet ihr, dass man ihre Ankunft längst bemerkt hatte. Sie war in das Visier der unzähligen Überwachungskameras geraten. Vor dem Eingang blieb sie stehen und betätigte den Klingelknopf. Das markerschütternde Brummen des Türöffners malträtierte ihren Schädel. Ausgerechnet jetzt, dachte sie und ärgerte sich, heute Morgen keine Tablette gegen diese verdammte Migräne genommen zu haben. Als der Eingang frei war, trat sie in das Innere der Gefängnispforte. Graue Betonwände und stählerne Türen suggerierten dem Besucher, dass es von hier aus kein Entkommen mehr gab. Sie hasste diese Atmosphäre, würde sich wohl niemals daran gewöhnen. Hinter der gläsernen Scheibe verrichteten drei uniformierte Justizbeamten ihren Dienst, zwei junge Männer und eine Frau. Es gab Wände mit unzähligen Überwachungsmonitoren, Schreibtische und Stahlfächer. Alle drei Bediensteten hätten dem Alter nach ihre Kinder sein können. Jetzt bestimmten sie über ihre Freiheit, auch wenn sie nach dem Termin wieder gehen konnte, blieb das beklemmende Gefühl wie bei jedem Besuch in einer Justizvollzugsanstalt.

Der Mann betätigte einen für sie unsichtbaren Knopf. Das Knacken im Lautsprecher über der Scheibe verriet ihr, dass das versteckte Mikrofon nun aktiviert war. Sie nannte den Grund ihres Besuches und ihren Namen, hielt dabei den Ausweis hoch, sodass er einen Blick darauf werfen konnte.

Den Koffer stellte sie auf dem Boden ab, dann griff sie in die Tasche, um ihr Handy und den Personalausweis in die Stahlschublade zu legen, die sich unterhalb des Tresens öffnete. Der junge Beamte zog die Schublade zu sich herein, nahm beides an sich, legte ihr Smartphone in eine hölzerne Kiste, betrachtete den Ausweis mit einem prüfenden Blick, wobei er das Konterfei des Dokuments mit ihrem Gesicht verglich, bevor er den Ausweis dazulegte und zu einem Telefonhörer griff. Sie hörte ihn über die Lautsprecher der Anlage reden, ohne aber seine Worte verstehen zu können. Nachdem er aufgelegt hatte, kehrte er zurück an die Scheibe. Wieder knackte die Gegensprechanlage.

»Bitte nehmen Sie einen Moment Platz, Sie werden gleich abgeholt.« Jetzt funktionierte die Anlage.

»Danke.« Sie ergriff den kleinen Lederkoffer und leistete der Anweisung Folge. Dabei wechselte ihr Blick zwischen den drei Justizbeamten und der großen Uhr an der gegenüberliegenden Wand des Wartebereichs. Zäh rannen die Sekunden dahin. Sie versuchte, gegen die aufkommende Müdigkeit anzukämpfen, und spürte wieder diesen Schmerz in der Stirn. Warum habe ich keine Tablette genommen?, ärgerte sie sich und zuckte zusammen, als sich eine elektrisch betätigte Tür am gegenüberliegenden Ende des Wartebereichs öffnete.

Ein junger Mann in Uniform trat ein und lächelte freundlich. »Frau Michels?«

»Ja, die bin ich.« Sie erhob sich und nahm den Koffer.

»Bitte folgen Sie mir.«

»Gern.« Das war gelogen, denn sie war alles andere als gern hier. Sie hasste diese Knasttermine, empfand die Umgebung als bedrückend und deprimierend. Der junge Mann, sie hatte eben ein »Hansen« auf dem Namensschild an der Brust entziffert, führte sie in den Schleusenraum. Er deutete auf ein rechteckiges Gerät mit einem Rollband. »Den Koffer bitte einmal hier drauf«, sagte er freundlich wie ein Flugbegleiter. Dann nahm er eine kleine Plastikkiste und schob sie ebenfalls auf das Rollband. »Alles, was Sie in den Taschen haben, bitte in das Kästchen.«

Schweigend kam sie der Aufforderung nach und ließ sich von Hansen zu dem Röntgentunnel führen. Ein wenig wie am Flughafen, durchzuckte es sie in einem Anflug von Humor. Nachdem Hansen zufrieden war, machte er eine einladende Geste. »Dann mal los«, lächelte er und zeigte ihr zwei Reihen strahlend weißer Zähne. Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er voran, nahm ein dickes Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die erste von gefühlten 150 Türen auf ihrem Weg.

Sie war gut genug erzogen, um sich jedes Mal zu bedanken, wenn er ihr eine Tür aufschloss und sie hereinbat, und war einmal mehr beeindruckt von den schier endlosen Gängen und Korridoren, durch die er sie führte. Draußen war gerade Hofgang. Die Inhaftierten standen in Grüppchen beisammen, einige rauchten und betrachteten die Besucherin interessiert. Einige grölten frauenfeindliche Parolen, doch sie war souverän genug, die Anmachsprüche zu ignorieren.

Nach einem langen Fußmarsch hatten sie das Ziel erreicht. Sie befanden sich in dem Trakt, der die Sozialtherapie der JVA Lübeck beherbergte. Hier waren rückfallgefährdete Sexualstraftäter inhaftiert, doch sie verdrängte das mulmige Gefühl, das sie kurz beschlich, als sie Hansens Stimme aus den Gedanken riss.

»Hier entlang bitte.« Hansen hielt ihr schon wieder eine Tür auf, während er mit dem Schlüsselbund in der Hand herumklimperte. Sie sah am Ende des Gangs ein vergittertes Fenster. Rechts eine Tür, vor der zwei Beamte mit teilnahmslosen Blicken Wache schoben. Als Hansen mit seiner Begleiterin auftauchte, erwachten sie aus der Lethargie.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte Hansen.

»Sicher doch.« Der rechte Beamte, ein Kleiderschrank, dessen Oberkörper fast das dunkelblaue Diensthemd sprengte, nickte mit regungsloser Miene. »Es kann losgehen.« Er öffnete die Stahltür mit seinem Schlüssel und machte Anstalten einzutreten.

Abwehrend hob sie eine Hand. »Ich würde gern mit ihm alleine sein.«

Der Kleiderschrank tauschte einen verunsicherten Blick mit seinen Kollegen, doch niemand wagte es, der Besucherin zu widersprechen. »In Ordnung«, sagte Hansen. »Wenn etwas ist, rufen Sie einfach.«

»Geht klar.« Sie schob sich an dem Hünen vorbei und verzog angewidert das Gesicht, als sie den beißenden Schweißgeruch wahrnahm, der von ihm ausging.

Hinter ihr schloss sich die Tür. Wieder wurde abgeschlossen. Sie hatte es so gewollt. Der Raum wies zwei vergitterte Fenster mit Blick zum Hof auf, einen einfachen Tisch, davor zwei Stühle. Er besetzte einen der beiden Stühle und sah gelangweilt auf, als sie sich dem Tisch näherte.

»Moin«, sagte sie und stellte sich vor.

Mit einem stummen Nicken deutete er auf den freien Stuhl. Während sie den Koffer auf dem Boden abstellte und sich setzte, betrachtete sie ihn unauffällig. Der Mann hatte kaum Ähnlichkeit mit den Bildern, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Seine Haut war aschgrau, die dunklen Haare kurz geschoren, der Dreitagebart und sein verschlagener Blick verliehen ihm ein verwegenes Aussehen, von dem sie sich aber nicht einschüchtern ließ. Sie beugte sich zu dem Koffer herab, öffnete ihn und nahm die kleine GoPro und das Stativ heraus, dazu ein kleines analoges Aufnahmegerät mit einem integrierten Mikrofon, das sie so auf dem Tisch positionierte, dass es ihre beiden Stimmen aufzeichnen würde. Dann zückte sie ihre Kladde, schlug sie auf und legte den Stift in einer geraden Flucht daneben. »Darf ich?« Sie hielt die kleine kastenförmige Kamera hoch und wartete sein zustimmendes Nicken ab. Nachdem sie die Kamera aufgestellt, aktiviert und auf ihn gerichtet hatte, lehnte sie sich im Stuhl zurück.

»Mein Name ist Barbara Michels«, stellte sie sich vor. Wieder schwieg er, als ginge ihn das alles nichts an. Auch er lehnte sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Ablehnung, registrierte sie seine Haltung. Er zeigt mir seine Ablehnung. Doch auch davon ließ sie sich nicht verunsichern. »Sie wissen, warum ich hier bin?«

»Nee.« Seine Stimme klang rau.

»Ich möchte ein psychologisches Gutachten erstellen, um festzustellen, ob Sie überhaupt schuldfähig sind.« Sie nahm den Stift, schrieb seinen Namen und das heutige Datum an den oberen Rand der leeren Seite.

»Schön.« Er nickte. »Denn mal los.«

Barbara Michels spielte mit dem Stift in der Hand und betrachtete ihn nachdenklich. So sieht also ein mehrfacher Mörder aus. Und ich habe die Aufgabe, ihn hier rauszuholen, sollte er tatsächlich schuldunfähig sein. »Können Sie sich an die Taten, die man Ihnen vorwirft, erinnern?«

»’türlich.« Er lachte amüsiert auf, als hätte sie ihm einen guten Witz erzählt. Nachdem er sich beruhigt hatte, tippte er sich an die Schläfe. »Ich bin ja nicht bescheuert, auch wenn du das gern hättest.«

»Was ich gerne hätte, soll uns nicht interessieren.« Sie ignorierte, dass er sie unaufgefordert duzte. »Lassen Sie uns lieber über Sie sprechen.«

»Schieß los.« Er beugte sich vor und legte die Unterarme auf den Tisch. »Was willst du hören?«

»Alles«, sagte sie seelenruhig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Ich will die ganze Geschichte hören.«

Kapitel 1

Einige Monate zuvor:

Ihre Augen brannten von der langen Fahrt. Längst hatte sich die Dunkelheit wie ein Leichentuch über die Landschaft gesenkt. Weitläufige Felder und kleinere Wäldchen wechselten sich seit geraumer Zeit ab, während die Landstraße schnurgerade nach Osten verlief. Nur ab und zu führte die Fahrt durch kleinere Ortschaften und vorbei an Bauernhöfen und verwaist wirkenden Scheunen. Die Lichtlanzen der Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit und wirbelten die Nebelschwaden, die über den feucht schimmernden Asphalt krochen, auf. Die Nacht war ungewöhnlich kühl.

Die neue Heimat empfängt mich mit ihrer unwirtlichen Seite, dachte Kristin fröstelnd. Sie griff nach dem Thermobecher, der im Cupholder am Armaturenbrett klemmte. Der Früchtetee, den sie sich aus dem fernen Leer in Ostfriesland mitgebracht hatte, war längst kalt. Dennoch nippte Kristin in kleinen Schlucken. Ruhig lag ihre freie Hand auf dem Lenkradkranz. Hatte sie sich anfangs mit den ungewohnten Abmessungen des geliehenen Transporters schwergetan, empfand sie die erhöhte Sitzposition inzwischen als angenehm. Der Diesel unter der kleinen Haube brummelte sonor gegen die Musik aus dem Radio an. Schon seit Stunden war sie mit dem vollgepackten Auto in ihr neues Leben unterwegs. Hinter der Trennwand des Kastenwagens stapelten sich Kartons und kleinere Möbel, alles, was sie nicht mit dem Umzugsunternehmen hatte transportieren wollen.

Rund 400 Kilometer Fahrt lagen hinter ihr und seit geraumer Zeit führte die Bundesstraße 201 schnurgerade nach Osten. Kristin hatte einen kleinen Umweg über Husum gemacht, um eine alte Jugendfreundin zu besuchen, die seit ihrer Hochzeit hier oben lebte. Das Treffen war angenehm verlaufen und es war ihnen gewesen, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen. So hatten sie über alte Zeiten geplaudert und viel gelacht, bevor Kristin die Weiterfahrt angetreten hatte. Flensburg war ihr Ziel, denn hier lebte sie ab morgen. Ein wenig betrübt stellte Kristin fest, dass sie außer Heike und ihrem Mann niemanden hier oben kannte. Sie war gespannt auf ihre neuen Kollegen und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie sich einen Freundeskreis in der neuen Heimat aufgebaut hatte.

Sie warf einen Blick auf das gelbe Schild am Straßenrand. So langsam rückte ihr Ziel in greifbare Nähe. Bei Schuby würde sie das letzte Stück bis nach Flensburg über die Autobahn fahren. Sie warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett und stellte fest, dass es kurz vor Mitternacht war. Höchste Zeit, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Der morgige Tag würde aufregend und anstrengend werden.

Kristin erschrak, als der Kastenwagen von einer seitlichen Windbö erfasst wurde, nachdem sie ein kleines Waldstück passiert hatte. Der schwer beladene Wagen geriet ins Schlingern. Mit klopfendem Herzen lenkte Kristin gegen, um in der Spur zu bleiben. Dabei schwappten ein paar Tropfen Tee über die Hand, mit der sie den Becher umklammerte. Auf der Stelle war Kristin wieder hellwach. Sie hatte nicht vor, so kurz vor dem Ziel noch im Graben zu landen. Hinten auf der Ladefläche schepperte etwas, dann hatte sie den Wagen wieder unter Kontrolle. Langsam nur beruhigte sich ihr Puls. Ihr war, als würde sie durch einen tiefen, nicht enden wollenden Tunnel fahren. Mit jedem Kilometer, mit dem sie sich der Küste näherte, wurde der Nebel dichter. Sie war froh, wenn sie Flensburg endlich erreicht hatte. Kristin öffnete das Seitenfenster und sog die frische Luft, die in die Fahrerkabine drang, tief in ihre Lungen ein.

Sie erschrak erneut, als sich das rote Glühen der Rücklichter eines Fahrzeuges vor ihr aus dem dichten Dunst schälte. Kristin bremste den Lieferwagen ab und erkannte im nächsten Moment die Konturen eines stehenden Fahrzeuges, das schräg am Beginn des Verzögerungsstreifens einer Ausfahrt stand. Das Heck des kleinen Autos ragte gefährlich auf die Fahrbahn. Jemand hat eine Panne, durchzuckte es Kristin. Seltsamerweise war die Warnblinkanlage des fremden Autos nicht eingeschaltet. Auch ein Warndreieck hatte sie nicht gesehen. Kristin schaltete die Warnblinkanlage des Transporters ein und tippte die Bremse an. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie beim Anblick des fremden Autos, einem dunkelblauen Peugeot 108 mit Schleswiger Kennzeichen. Gut zehn Meter hinter dem Fahrzeug kam sie zum Stehen. Nachdem sie die Handbremse angezogen hatte, schaltete sie die Innenbeleuchtung ein und sah sich suchend in der Kabine um. Kristin hatte keine Ahnung, wo sich in diesem Auto die Warnweste befand, und gab die Suche auf. Nachdem sie den Sicherheitsgurt gelöst hatte, drückte sie die große Fahrertür auf und rutschte vom Fahrersitz. Zögernd näherte sie sich dem fremden Wagen.

Verwundert stellte Kristin fest, dass der Motor des kleinen Peugeot noch lief. Die Rauchwolken aus dem Auspuff vermischten sich mit den Nebelschwaden, die wie Geister aus einer anderen Welt über den Asphalt krochen. Kristin fröstelte. Womöglich hatte der Fahrer einen Herzanfall erlitten.

Jemand benötigt Hilfe. Kristin überlegte, ob der Fahrer wohl versucht hatte, mit letzter Kraft die Ausfahrt zu erreichen, um sich und den Peugeot in Sicherheit zu bringen.

Kristins Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, verstärkte sich. Automatisch glitt ihre Hand an die Stelle, wo sie normalerweise das Holster unter der Jacke trug. Jetzt vermisste sie die Dienstwaffe, die ihr sonst das Gefühl von Sicherheit gab. »Hallo?« Kristin näherte sich dem Wagen, um einen Blick ins Innere zu werfen. Die Fahrertür stand weit offen, im Innenraum brannte Licht, sogar das Radio dudelte laut vor sich hin. Doch das Auto war verlassen. Vom Fahrer weit und breit keine Spur. Kristins Kopfhaut zog sich zusammen. Sie blickte sich um und suchte die Gegend neben der Fahrbahn ab, doch der Nebel war zu dicht, um etwas erkennen zu können. »Hallo?«, rief sie ins Nichts und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. »Wo sind Sie, geht es Ihnen gut?«

Lauschend legte sie den Kopf schräg, doch niemand antwortete ihr. Kristin beugte sich in den Wagen, um den Motor abzuschalten. Dabei fiel ihr Blick auf die Handtasche, die vor dem Beifahrersitz im Fußraum lag. Hastig zog sie die bereits ausgestreckte Hand zurück und betrachtete die Tasche, eine einfache, blau-weiße Stofftasche. Der Inhalt war über den Beifahrersitz und im Fußraum verstreut worden. Kristin erkannte eine Haarbürste, einen Lippenstift, eine Slipeinlage, ein paar Haargummis und Kondome. Doch persönliche Gegenstände wie eine Geldbörse oder ein Smartphone suchte sie vergeblich. Kristin drängte sich der Verdacht auf, dass hier ein Gewaltverbrechen stattgefunden hatte. Sie war auf der Stelle in Alarmbereitschaft. Als sie einatmete, nahm sie einen chemischen, süßen Duft wahr, der sie an irgendetwas erinnerte, das sie im Moment aber nicht zuordnen konnte. Als sie sich flach atmend zurückzog, bemerkte sie den tiefroten Fleck auf dem Fahrersitz. Sie war lange genug Polizistin, um sofort zu wissen, dass es sich bei der inzwischen getrockneten Flüssigkeit um Blut handelte. Erschrocken wich Kristin zurück und fummelte mit zitternden Fingern das Smartphone aus der Jeanstasche. Sie aktivierte die kleine Taschenlampe und leuchtete die Umgebung neben dem Auto ab. Auch auf der Türsäule und der Seitenscheibe entdeckte sie Blutspuren. Blutige Fingerkuppen hatten Schleifspuren auf Glas und Lack des Wagens hinterlassen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es hier eine gewalttätige Auseinandersetzung gegeben hatte. Der Handtasche nach zu urteilen, handelte es sich bei der verschwundenen Person um eine Frau, die sich offensichtlich gegen einen gewaltsamen Übergriff gewehrt hatte. Kristin fragte sich, wo die Frau sich jetzt befand.

Als Kristin den Lichtkegel der Lampe zum Boden richtete, stellte sie erschrocken fest, dass sie mit beiden Füßen inmitten einer Blutlache stand.

Kapitel 2

Glücksburg, Ostsee, 00.07 Uhr:

Jens Beck realisierte nur zögernd, dass der melodische Klingelton nicht zu seinem Traum gehörte. Doch noch weigerte er sich, in die Realität der Nacht zurückzukehren, und zog sich die Bettdecke über das Kinn.

Nach einem äußerst üppigen Abendessen in der Taverna Sorbas in Sandwig war er, kaum dass er im heimischen Bett lag, in einen tiefen Schlaf gefallen. Heute hatte ihn Hannah, seine Frau, spontan zum Essen eingeladen, und da er die griechische Küche über alles liebte, konnte er einfach nicht nein sagen. Nur auf das eisgekühlte Flens vom Fass und den obligatorischen Ouzo hatte er schweren Herzens verzichtet. Unter der Woche trank er so gut wie nie. Als Erster Kriminalhauptkommissar der Kripo Flensburg und Abteilungsleiter des Kriminalkommissariates 1 musste er immer für sein Team ansprechbar sein. Ausnahmen gab es nur selten.

Immer tiefer bohrte sich der Klingelton des Handys in sein Bewusstsein. Beck stöhnte und zog sich mit einem unwilligen Brummen die Decke über den Kopf.

»Jens«, hörte er die sanfte Stimme von Hannah hinter sich. Sanft rüttelte sie an seiner Schulter. »Dein Telefon klingelt.« Da seine Frau einen leichten Schlaf hatte, war sie zuerst vom Klingelton des Diensttelefons aufgewacht.

»Du träumst«, behauptete Beck schlaftrunken und schüttelte unwillig den Kopf. Doch weder das Smartphone auf dem Nachttisch noch seine Frau gaben nach.

»Nein, leider nicht«, sagte Hannah nun etwas lauter. Jetzt rüttelte sie energisch an ihm herum. »Komm schon, die Arbeit ruft.«

»Mann, Mann, Mann.« Jens fluchte ungestüm, dann angelte er nach dem Handy, das sich unter dem Vibrieren des Akkus gefährlich der Tischkante näherte. Gerade in dem Moment, als es vom Nachttisch zu rutschen drohte, fing Beck es auf.

»Augen auf bei der Berufswahl«, feixte Hannah in seinem Rücken.

Beck brummte etwas Unverständliches und warf einen Blick auf das Display. Als er den Namen der Anruferin erkannte, runzelte er die Stirn. »Was will die denn um diese Zeit?«

»Wer ist es?«

»Die Neue.« Er hatte Hannah von der neuen Kommissarin aus Ostfriesland berichtet, die sich aus privaten Gründen nach Schleswig-Holstein hatte versetzen lassen.

»Wann beginnt sie ihren Dienst bei euch?«

Beck warf einen Blick auf die beleuchteten Ziffern der Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. »Vor sieben Minuten«, brummte er, bevor sein Daumen über das grüne Feld wischte, um das Gespräch anzunehmen.

Kapitel 3 

Es war gut gelaufen, fast schon zu gut. Er erwischte sich dabei, blöde vor sich hinzugrinsen, während er den Wagen trotz des auffrischenden Windes, der von der Küste ins Landesinnere wehte, in der Spur hielt. Immer wieder rauschte er durch dichte Nebelbänke, die ihn trotz eingeschalteter Heizung frösteln ließen. Gut gelaunt lauschte er der Musik, die aus den Lautsprechern des Autoradios drang, und summte leise mit. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihm, dass er jetzt schon seit einer knappen Stunde im Kreis fuhr. Weiter als drei Kilometer hatte er sich nicht von ihrem Wagen entfernt. Bisher war die Karre niemandem aufgefallen. Lange konnte es nicht mehr dauern.

Als er wieder in die Nähe von Schuby kam, erhöhte sich sein Puls. Ruhig lagen seine Hände auf dem oberen Drittel des Lenkradkranzes. Er atmete zweimal tief durch, dann hatte er die Ausfahrt erreicht. Voller Erwartung drosselte er das Tempo, dann sah er das gleichmäßige Flackern der Warnblinkanlage eines Fahrzeuges am Straßenrand. Die eckigen Konturen eines weißen Lieferwagens schälten sich aus dem dichter werdenden Nebel.

»Na bitte«, kam es zufrieden über seine Lippen, während er das Tempo drosselte. »Geht doch.« Der erste Teil seines Plans war geglückt. Fiebrige Erregung ergriff von ihm Besitz, als er eine Gestalt neben dem Peugeot erblickte. Der Statur nach zu urteilen handelte es sich um eine Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und telefonierte. Erst als sie bemerkte, dass er sich näherte, wandte sie sich zu ihm um. Schnell setzte er den Blinker und brachte seinen Wagen neben dem Peugeot zum Stehen. Das rechte Seitenfenster glitt surrend nach unten. Mit gespielter Neugier beugte er sich über den Beifahrersitz. Die Frau, er schätzte sie auf Ende 30, wandte sich zu ihm um.

»Ist etwas passiert?«, fragte er freundlich.

»Jemand hat eine Panne.« Die Frau rauchte. Täuschte er sich, oder zitterte ihre Hand?

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, danke.« Sie ließ das Handy sinken, nahm einen Zug von der Zigarette und schüttelte den Kopf. »Der Pannendienst ist bereits unterwegs.«

So leicht wollte er sich nicht abwimmeln lassen. »Soll ich nicht doch …«

»Ich sagte nein, danke.« Als sie den Kopf schüttelte, klang ihre Stimme energisch und duldete keinen Widerspruch.

»Schon gut, schon gut – ich wollte ja nur helfen.« Er zuckte die Schultern. »Dann eben nicht.«

»Danke.« Sie rang sich ein Lächeln ab und hatte ihn im nächsten Augenblick schon wieder vergessen. Demonstrativ wandte sie ihm den Rücken zu und widmete dem Gesprächspartner am Telefon wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Es grenzte schon an eine Frechheit, wie sie ihn ignorierte, und kurz musste er gegen die aufsteigende Wut ankämpfen.

»Wie du willst.« Er löste die Bremse, ließ die Kupplung kommen und steuerte den Wagen auf die Ausfahrt zu. Mit einem gleichgültigen Gesicht betätigte er den Fensterheber und ließ die Seitenscheibe hochfahren. »Mehr kann ich nicht tun«, murmelte er zu sich selbst und warf einen letzten Blick auf den verunglückten Wagen am Straßenrand.

»Jemand hat eine Panne«, hatte die Frau gesagt. Er lachte, als er den Wagen durch die enge Ausfahrt zirkelte. »Panne ist gut«, rief er amüsiert. »Du blöde Fotze, du hast doch überhaupt keine Ahnung!« Am Ende der Ausfahrt setzte er den Blinker und bog nach links ab. Höchste Zeit weiterzumachen. An Feierabend war noch lange nicht zu denken, erst musste er die Tote in seinem Kofferraum loswerden.

Kapitel 4 

Bundesstraße 201 bei Schuby, 00.50 Uhr:

Es dauerte nicht lange, bis der erste Einsatztrupp vor Ort war, um den Bereich rund um den Peugeot abzusichern. Kristin ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie noch keinen neuen Dienstausweis der schleswig-holsteinischen Behörde in der Tasche hatte. Doch ihr Selbstbewusstsein war groß genug, um die Kollegen des Streifendienstes einzuweisen. Drei Streifenwagen hatte Beck ihr für den ersten Angriff zum Einsatzort geschickt. Das Team der KTU und er selbst würden auch gleich hier eintreffen, hatte er ihr am Telefon versichert.

Zwei Streifenbeamten waren damit beschäftigt, Absperrband in einem großen Umkreis um den verlassenen Wagen zu spannen, vier andere richteten gerade eine Straßensperre ein. Da um diese Zeit kaum Verkehr herrschte, hielt sich die Menge der Autofahrer, die um die Einsatzstelle herumgeleitet werden mussten, in einem erträglichen Rahmen.

Kristin hasste es zu warten. Ungeduld war ihre große Schwäche, und hier war offensichtlich ein Verbrechen geschehen. Kaum dass sie ihren neuen Wirkungsort erreicht hatte, war sie über das verlassene Auto gestolpert. Natürlich hatte sie Jens Beck, ihrem neuen Vorgesetzten, das Kennzeichen des Peugeot genannt. Beck hatte ihr versprochen, eine Halteranfrage zu veranlassen. Vorher, so fürchtete Kristin, war sie machtlos. So lehnte sie an der Leitplanke der Bundesstraße und zündete sich bereits die dritte Zigarette an.

Ich rauche zu viel, dachte sie selbstkritisch, während sie den ersten Zug nahm und den Rauch gedankenverloren in die nebelige Nachtluft aufsteigen ließ. Der Versuch, sich das Rauchen vor dem Start in ihr neues Leben ganz abzugewöhnen, war damit wohl kläglich gescheitert. Überhaupt war der Start nicht so abgelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wann sie ihre neue Wohnung in Flensburg zu Gesicht bekam, um ein paar Stunden nach der langen Fahrt schlafen zu können, war mehr als fraglich. Den Dienstbeginn bei der Kriminalpolizei in Flensburg hatte sie sich anders vorgestellt. »Das Leben ist kein Ponyhof«, sagte ihre Mutter immer. Also kam sie zu dem Schluss, dass es wenig Sinn hatte, sich über den seltsamen Einstieg bei der neuen Dienststelle zu ärgern.

Viel Zeit fand sie nicht zum Nachdenken, denn ein grauer Sprinter stoppte hinter Kristins Lieferwagen. Gerade als sie den Fahrer zum Weiterfahren bewegen wollte, erkannte sie das SH, die Landeskennung für schleswig-holsteinische Behördenfahrzeuge, auf dem Kennzeichen. Die schwarzen Buchstaben KTU auf der Seite des Kastenwagens verrieten ihr, dass die Spurensicherung im Anmarsch war. Endlich kam Bewegung in die Sache. Eine Frau und ein Mann stiegen aus. Kristin stieß sich von der Leitplanke ab und ging den Kollegen entgegen. Unterwegs nahm sie einen letzten Zug von ihrer Zigarette, bevor sie den Glimmstängel mit der Sohle ihres Sneakers austrat und in den Grünstreifen kickte. »Moin«, grüßte sie freundlich und betrachtete den schlaksigen Endvierziger, der sich mit einem breiten Grinsen als Benno Thierse vorstellte. Der Kriminaltechniker hatte strahlend blaue Augen und einen säuberlich gestutzten Bart, dazu einen blassen, nordischen Teint. An seiner Seite befand sich eine große, schlanke Frau von Anfang 50 mit blonden Haaren, die sie zu einem sportlichen Zopf zusammengebunden hatte. Ihre Kleidung war salopp, offenbar gehörte sie zur Jeans-und-Blazer-Fraktion. Fehlt nur noch das Batik-Halstuch, dachte Kristin, dann sieht sie aus wie eine Grundschullehrerin. »Moin«, erwiderte sie freundlich. Ihre Stimme klang warm und weich. Kristin fand die Kollegin sympathisch, nur passte sie rein optisch irgendwie nicht zum sechsten Kriminalkommissariat. Während sie sich in Gedanken fragte, wie eigentlich eine typische Kriminaltechnikerin aussehen könnte, stellte sich die Frau mit einem knappen »Birthe Jensen, schön, dich kennenzulernen«, vor.

Kristin wunderte sich ein wenig darüber, dass die Kollegen sie bereits kannten.

»Jens hat uns erzählt, dass du die Neue bist«, erklärte Benno Thierse, als er Kristins erstaunten Blick sah.

»Ach so«, erwiderte sie. »Also – schön, euch kennenzulernen, ich bin also Kristin Voss, die Neue im K1.«

Benno Thierse sah an Kristin vorbei und versuchte, einen Blick auf den blauen Peugeot 108 zu erhaschen. »Was haben wir?«

»Ein verlassenes Auto, offensichtlich hat ein Raubüberfall oder eine Entführung stattgefunden.« Kristin schilderte den Kollegen, wie sie den Peugeot vorgefunden hatte. »Überall ist Blut, und der Inhalt der Handtasche wurde im Innenraum verteilt. Wir können also von einem Verbrechen ausgehen.«

»Halteranfrage?« Eine steile Falte legte sich auf Thierses Nasenwurzel.

»Läuft, Jens wollte sich kümmern.«

»Gut.« Thierse nickte Birthe Jensen zu. »Dann wollen wir mal.«

Birthe folgte ihm zur seitlichen Schiebetür des Sprinters. Von Weitem sah Kristin ihnen zu, wie sie in die faserfreien Einmalanzüge stiegen und sich das für die Spurensicherung nötige Equipment zusammenstellten, bevor sie mit Alukoffern zur Einsatzstelle zurückkehrten.

Wieder warten, dachte Kristin frustriert. Sie widerstand dem Verlangen nach einer neuen Zigarette und versenkte die Hände in den Taschen ihrer Jeans. Vielleicht gelang es ihr ja in Flensburg, sich das Rauchen abzugewöhnen. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Gerade als sie das Smartphone aus der Tasche ziehen wollte, erregte ein mit dröhnendem Motor herannahender Ford Focus Kombi ihre Aufmerksamkeit. Kurz dachte Kristin, dass es sich um einen Fahrer handelte, der rücksichtslos auf die Einsatzstelle zuraste, doch dann sah sie das durch die Nacht zuckende Blaulicht auf dem Dach des Autos. Mit quietschenden Reifen kam der dunkelgraue Focus hinter ihrem Lieferwagen zum Stehen. Zwei Männer sprangen heraus. Mit grimmigen Mienen näherten sie sich dem Absperrband, das die Streifenpolizisten vorhin gespannt hatten.

Einen der beiden erkannte sie, bei ihm handelte es sich um Jens Beck, ihren neuen Vorgesetzten. Sie hatten sich vor Kristins Versetzung ein paarmal per Videokonferenz gesehen. Beck war schlank und groß, seine strohblonden Haare waren millimeterkurz. Er trug eine anthrazitfarbene Stoffhose zu einem blassblauen Hemd, darüber einen leichten Mantel in nichtssagendem Grau. Der Bartschatten ließ sein Gesicht älter wirken, als es wirklich war.

Der Fahrer war ein paar Köpfe kleiner als Beck. Er war kahlköpfig und stämmig, trug ein knallgelbes T-Shirt mit dem Aufdruck eines Modelabels unter der offenstehenden Jacke. Die strahlend weißen Turnschuhe schienen im Schein der Autoscheinwerfer zu leuchten. »Ist das deine Art, hier den Einstand zu feiern?«, rief der Kollege ihr schon von Weitem zu. »So eine Scheiße mitten in der Nacht.«

»Moin.« Kristin ging nicht auf die eigenartige Weise des Kollegen ein, sie im Team willkommen zu heißen. »Ich bin übrigens Kristin.« Sie grinste. »Die Neue.«

»Paulsen, Max Paulsen.« Er drückte ihre Hand ein wenig zu fest und zeigte ihr strahlend weiße Zähne. Täuschte sich Kristin, oder starrte er ihr auf die Oberweite?

»Was haben wir?« Beck versenkte die Hände in den Hosentaschen und sah an Kristin vorbei zu dem Kleinwagen am Straßenrand. Die Kurzform kannte er bereits vom Telefonat, jetzt interessierte er sich für Einzelheiten. Kristin brachte ihren Chef auf Stand.

Beck hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. »Schön, Sie persönlich kennenzulernen«, sagte er anschließend. »Auch, wenn ich mir die Umstände ein wenig anders gewünscht hätte.«

»Manchmal ist das Leben kein Wunschkonzert«, erwiderte Kristin lächelnd und dachte wieder an eine andere Weisheit ihrer Mutter.

Beck nickte und sah die Straße herunter. »Ein anderes Fahrzeug ist Ihnen nicht entgegengekommen?«

Kristin schüttelte den Kopf. »Sicher irgendwann mal, aber nichts Verdächtiges, wenn Sie das meinen.« Sie deutete mit dem Kinn zur Ausfahrt. »Da geht es von der Bundesstraße runter. Wenn ich derjenige wäre, der unsere Unbekannte aus dem Auto gezerrt hat, würde ich sehen, dass ich von der Hauptstraße runterkomme und meinen Weg über die Dörfer fortsetze.«

Paulsen grinste. »Macht Sinn, weil hier nach 18 Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt werden.«

»Für mich sieht das nach einem Raubüberfall aus«, fuhr Kristin fort. »Jemand hat die Frau überholt, sie abgedrängt und unter Androhung von Gewalt aus dem Fahrzeug gezogen.«

»Dabei ist eine ziemliche Sauerei entstanden«, fand Paulsen und kratzte sich am Nacken.

»Die Frau wird sich gewehrt haben«, vermutete Kristin.

»Also eine Entführung?« Paulsen runzelte die Stirn und warf Beck einen fragenden Blick zu.

»Ohne despektierlich zu klingen«, murmelte der Kripochef nachdenklich, »aber wer nachts mit einem alten Kleinwagen unterwegs ist, wird nicht zu den Reichen gehören.«

»Was willst du denn damit sagen?« Paulsen stemmte die Hände in die Hüften.

»Dass hier nicht viel Lösegeld zu holen sein wird.«

»Eine Entführung könnte auch ein anderes Motiv haben«, gab Kristin zu bedenken. »Private Gründe wie etwa eine Beziehungstat. Oder sexualisierte Gewalt.«

»Hört, hört«, staunte Max Paulsen, »unsere neue Kollegin denkt schon weiter.«

»Da, wo ich herkomme, ist das üblich bei der Polizei«, erwiderte Kristin unbeeindruckt. Paulsens selbstverliebte Art ging ihr gegen den Strich. »Wir Frauen sind dafür bekannt, immer einen Schritt weiterzudenken«, schob sie mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen nach.

Beck hob, bevor die Situation eskalieren konnte, beschwichtigend die Hände. »Jetzt geht es erst einmal darum, die Geschehnisse zu rekonstruieren, die der Auffindesituation hier vorangegangen sind.«

»Was wissen wir über den Halter des Fahrzeuges?«, erkundigte sich Kristin.

Umständlich zog Jens Beck einen kleinen Zettel aus der Tasche. »Der Wagen gehört einer Maike Adamo, wohnhaft in Schuby.« Er las die Anschrift von seinem Zettel ab. »Die Dame ist bisher nicht aktenkundig, alles andere ist noch unbekannt.«

»Gut.« Kristin schob ihr Smartphone zurück in die Hosentasche. »Worauf warten wir?«

Beck sah sie überrascht an. »Wie belieben?«

»Worauf wir warten?« Kristin ging auf ihren Lieferwagen zu. »Wir fahren zur Adresse der Halterin und sehen, ob es einen Mann oder einen Lebensgefährten gibt, der uns die Tür öffnet.«

»Damit?« Ein wenig amüsiert nahm sie kurz zur Kenntnis, dass Beck zögerte, in den Transporter einzusteigen. Sie hielt ihm die Beifahrertür auf und sah ihm dabei zu, wie er seinen langen Körper in die enge Kabine faltete.

»Etwas anderes kann ich Ihnen gerade nicht anbieten«, lachte sie. Die Müdigkeit, die sie auf der Fahrt befallen hatte, war wie weggeblasen.

Max Paulsen war ihnen zum Auto gefolgt. »Bei der Sauerei, die sie hier gemacht hat, wird die Frau wohl kaum zu Hause sein«, behauptete er sarkastisch. Kristin ging nicht auf seine Bemerkung ein.

Beck wandte sich an Kristin. »Sie müssen von der Fahrt hundemüde sein und sind noch nicht einmal in Flensburg angekommen«, stellte er fest. »Vielleicht sollten Sie besser Ihre Weiterfahrt antreten und sich ein paar Stunden hinlegen. Morgen ist Ihr erster Arbeitstag in der neuen Dienststelle – und Ihren ersten Fall haben Sie ja quasi mitgebracht.« Er zeigte auf den Peugeot, an dem sich Thierse und Birthe Jensen zu schaffen machten, um Spuren zu sichern.

»Eben«, nickte Kristin. »Es ist mein erster Fall, und da werde ich ganz bestimmt nicht nach Hause fahren und mich ausschlafen.« Auffordernd klatschte sie in die Hände. »Hopp, hopp, es gibt Arbeit, meine Herren.« Sie griente Paulsen und Beck an und hatte einen diebischen Spaß an den überraschten Gesichtern der Männer.

Kapitel 5 

So war es gut. Jetzt lag sie genau richtig. Auf dem Rücken, mit leicht angewinkelten Beinen auf dem harten Boden. Eigentlich hatte er sie eingraben wollen, doch der Lehmboden war unerwartet hart gewesen. So hatte er es dabei belassen, eine flache Kuhle mit dem Klappspaten auszukratzen, in die er sie nun gebettet hatte. In der reetgedeckten Hütte roch es nach feuchtem Lehm. Dabei hatte er sie nur halb vergraben, denn es war nicht seine Absicht, sie verschwinden zu lassen. Im Gegenteil: Sie sollte hier gefunden werden. Mit zufriedenem Blick erhob er sich und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Ohne Hast klappte er den Spaten zusammen, um ihn im Rucksack verschwinden zu lassen. Nachdem er den Rucksack geschultert hatte, betrachtete er sie mit verzücktem Gesicht. Wie schön sie doch sogar im Tod noch war. Ihre langen blonden Haare hatte er mit einer mitgebrachten Bürste so drapiert, dass sie ihren Kopf umgaben wie eine Gloriole. Die Arme hatte sie ausgestreckt, so als wolle sie etwas oder jemanden mit offenen Armen in Empfang nehmen. Auch die Beine ragten leicht angewinkelt aus der Lehmkuhle, fast so, als wolle sie mit ihrem Schoß einen Liebhaber empfangen.

Wunderschön.

Wäre da nicht das hässliche blutverschmierte Loch an ihrer Schläfe, könnte man denken, dass sie schliefe. Wenngleich die Position auch ungewöhnlich war, wie er sich eingestehen musste. Er sah sich um. Ob und wann sie hier gefunden wurde, konnte er nur erahnen. Ihm war es egal. Der Wind trug das Rauschen der Blätter am Danewerk an seine Ohren. Nur selten vernahm er Geräusche von Automotoren auf der Bundesstraße. Irgendwo gluckste es im Unterholz, er glaubte, das leise Schnattern einer Entenfamilie hören zu können.

Zufrieden betrachtete er sein Werk. Den Stein hatte er einen guten halben Meter neben ihr in den Lehm gelegt. Sie würden ihn finden und wissen, was er mit ihr getan hatte. Er genoss den Zustand der aufsteigenden Erregung, der ihn bei ihrem Anblick ergriff, spürte den trockenen Mund, das leichte Zittern in den Händen, das Glühen in seinem Schritt.

Sie hat es verdient.

Hastig strich er mit den Füßen seine Spuren im Lehm so glatt, wie es ging. Er trat einen Schritt zurück, um sein Werk ein letztes Mal in Ruhe zu betrachten. Kurz war er versucht, mit dem Handy ein Foto zu machen, doch er verkniff sich die Aufnahme und versuchte, sich das Bild einzuprägen. Sie musste einfach sterben.

Schuld war sie selber, diese Schlampe.

Der Gedanke an das, was sie getan hatte, versetzte ihn in einen Wahn. Als hinter ihm ein Ast knackte, fuhr er herum. Von der Wut gepackt, suchte er nach dem Verursacher des Geräusches, konnte aber niemanden finden und richtete den Blick wieder auf die Frau am Boden. Sie wirkte so friedlich, wie sie da lag, mit offenen Armen und Beinen. Nie wieder würde sie jemandem Unrecht tun können.

Er gab seinem Bedürfnis nach, öffnete den Reißverschluss seiner Hose, stellte sich breitbeinig über die Tote und erleichterte sich über sie. Für ihn war es das schönste Gefühl der Welt. Als er fertig war, schloss er seine Hose wieder, trat zurück, schenkte ihr zum Abschied einen letzten Blick, warf sich den schweren Rucksack über die Schultern und machte, dass er die Hütte verließ.

*

Schuby, 1.20 Uhr:

»Hier ist es.« Beck deutete durch die Windschutzscheibe des Kastenwagens nach vorn auf eines der einfachen Backsteinhäuser. Er schloss die Navigationsapp seines Smartphones und schob das Handy zurück in die Jackentasche. Langsam ließ Kristin den Transporter durch die verlassene Straße am Rand von Schuby rollen. Das gesuchte Haus war eher unscheinbar und gehörte zu einer Reihe von Einfamilienhäusern, die sich fast wie ein Ei dem anderen ähnelten. Rechts gab es eine Zufahrt und einen Carport, links einen kleinen Vorgarten mit Plattenweg, der zum Hauseingang führte. Aus dem Schornstein kräuselte sich feiner Rauch in den inzwischen sternenklaren Nachthimmel, in den Fenstern brannte um diese Uhrzeit erwartungsgemäß kein Licht.

Unter dem hölzernen Carport stand ein rostiger Berlingo in Blassblau, an einer Bank lehnte ein schwarzes Herrenrad. Eine Tür führte offenbar in den Garten hinter dem Haus. Die Blumen in dem Waschbetonkübel neben dem Eingang waren verrottet. Moos hatte sich auf der Blumenerde gebildet. Alles machte einen heruntergekommenen Eindruck auf Kristin. Sie stoppte den Lieferwagen am Straßenrand und saß weit vorgebeugt hinter dem Lenkrad, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Der Diesel erstarb mit einem letzten Grummeln, dann kehrte Ruhe im kleinen Fahrerhaus ein.

»Mit so einer Kiste bin ich auch noch nie zum Einsatz gefahren.« Beck grinste neben ihr schief, als er den Sicherheitsgurt des Beifahrersitzes löste und die schwere Tür aufstieß.

»Irgendwann ist immer das erste Mal.« Kristin stand bereits neben dem Leihtransporter. Den Focus hatten sie Paulsen gelassen, damit der Hauptkommissar an der Einsatzstelle mobil blieb.

Als sie den Weg zum Haus betraten, flammte ein an der Dachrinne befestigter Scheinwerfer auf und blendete Kristin und Beck. Schweigend durchschritten sie den kleinen Vorgarten und standen schließlich unter dem verwitterten Vordach aus Glasfaserkunststoff. Am Klingelbrett gab es nur einen einzigen Namen.

»Wir sind richtig.« Zufrieden nickend legte Beck den Daumen auf den Klingelknopf. Das Rattern der altmodischen Hausglocke erschien ihr in der nächtlichen Stille der Siedlung überlaut. Kristin rechnete damit, dass in den Nachbarhäusern die Lichter angingen.

Kristin drehte der Haustür den Rücken zu, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen.

Im Haus näherten sich Schritte. »Wo hast du schon wieder gesteckt?«, polterte eine raue Stimme, während im Schloss ein Schlüssel gedreht wurde. »Hast du mal auf die Uhr geguckt? Es ist jetzt …« Der Mann, der mit grimmiger Miene die Haustür öffnete, brach erschrocken ab, als er die Polizisten sah. Kristin betrachtete ihn. Sie schätzte ihn auf Anfang 40, er war von untersetzter Statur, hatte lichtes Haar und einen Bart. Er trug ein fleckiges T-Shirt und eine ausgebeulte graue Jogginghose zu Tennissocken, die in blau-weiß gestreiften Badelatschen steckten. Kristin wehte eine Alkoholfahne entgegen. Sie atmete flach.

»Wer sind Sie und was zum Teufel …«

»Mein Name ist Jens Beck, das ist meine Kollegin Kristin Voss.« Im Gegensatz zu Kristin war Beck im Besitz seines Dienstausweises, den er dem Mann jetzt entgegenhielt.

»Kripo?«

»Herr Adamo?«, antwortete Beck mit einer Gegenfrage.

Der ungepflegt wirkende Mann nickte. »Worum geht es?« Er seufzte. »Ist was mit Maike?«

»Vielleicht können wir das im Haus besprechen?«, fragte Beck und deutete an Adamo vorbei in den Flur.

»Also ist etwas mit Maike«, brummte Adamo und gab widerwillig den Eingang frei.

*

Ihn zog nichts nach Hause. Er wusste, dass ihm dort die Decke auf den Kopf fallen würde. Jetzt einfach so heimzufahren, wäre ein sehr unwürdiger Abschluss nach einem sehr erfolgreichen Tag, der eigentlich gefeiert werden musste. Doch die Uhrzeit passte nicht zum Feiern, also fuhr er ziellos mit dem Auto durch die Gegend. Je weiter er nach Westen kam, umso sternklarer wurde die Nacht. Die kühle Luft drang durch das geöffnete Fenster ins Wageninnere. Es tat gut, die Weite des Landes zu spüren.

Gelöst von dem, was hinter ihm lag, trommelte er den Takt der Musik aus dem Radio auf dem Lenkradkranz mit. Es tat gut zu fühlen, wie die Anspannung der letzten Tage langsam von ihm abfiel. Alles war gut gelaufen, eigentlich sogar besser, als er es sich erträumt hatte. Er war der Bundesstraße nach Westen gefolgt und hatte irgendwann Dagebüll erreicht. Die Fahrt führte vorbei an schmucken Holzhäusern, die kleinere Geschäfte und Ferienwohnungen beherbergten. Dann lag Dagebüll Mole vor ihm. Viel zu lange schon war er nicht mehr hier gewesen. Vom Fährhafen aus legten tagsüber die Schiffe nach Föhr und Amrum ab. Doch um diese Zeit herrschte eine geisterhafte Leere am Anleger. So fuhr er bis zum Aussichtspunkt auf der Landzunge, die ein paar Meter weit in die Nordsee ragte. Es herrschte Flut, und der Wind peitschte das Wasser bis an die Kaimauer des Hafens. Nachdem er den Motor abgeschaltet hatte, genoss er sekundenlang die Stille hier draußen, bevor der den Sicherheitsgurt löste und ausstieg. Ohne den Blick von der See zu nehmen, umrundete er den Wagen und lehnte sich rücklings an die noch warme Motorhaube. Nachdem er den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hochgezogen und die Hände in den Jeanstaschen versenkt hatte, stand er einfach da, reckte die Nase in den würzigen Wind und genoss die Weite, die sich ihm bot.

Zu seiner Linken lagen die drei Fähranleger verlassen da. In ein paar Stunden würden sich die ersten Schiffe mit Touristen und Pendlern füllen, um zu den Inseln aufzubrechen, doch noch hatte er die Mole für sich. Das Klimpern der Karabiner im Wind am Fahnenmast klang wie eine Melodie in seinen Ohren und mischte sich stakkatoartig unter das Geschrei der Möwen, die im Wind taumelten. Wieder richtete er den Blick auf das Meer. Er spürte die unendliche Tiefe und Weite der Nordsee und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei. Wasser übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus.

Während er auf die See hinausblickte, ordnete er seine Gedanken. Bisher war alles gut gelaufen, und er war zufrieden mit sich und dem Ergebnis. Nun war es wichtig, nicht leichtsinnig zu werden. Er sog die Luft tief durch die Nase ein und überlegte sich die nächsten Schritte. Das, was er heute getan hatte, war erst der Anfang.

Ein teuflisches Grinsen legte sich auf seine Mundwinkel, als ihm eine Idee kam. Scheinbar gedankenverloren stand er noch ein paar Minuten da und blickte auf die Wellen hinaus. Wer ihn sah, der ahnte nicht, dass in ihm ein Plan reifte. Nach einer gefühlten Ewigkeit stieß er sich von der Motorhaube ab und stieg in den Wagen. Die Rückfahrt würde er nutzen, um seinen Plan reifen zu lassen. Als er Dagebüll in Richtung Osten hinter sich ließ, graute bereits der Morgen. Jetzt war es an der Zeit, nach Hause zu kommen.

*

Schuby, 1.25 Uhr:

»Sicher sind Sie nicht nur gekommen, um mir mitzuteilen, dass Maike verschleppt wurde, oder?« Nachdenklich drehte Hein Adamo den schweren Kaffeepott in den Händen. Kristin und Beck saßen mit ihm am Küchentisch des Hauses in Schuby. Sie hatten ihm erklärt, was vorgefallen war. Kristin hatte einen Kaffee dankend abgelehnt, während sich Beck offensichtlich über das nachtschwarze Gebräu in seiner Tasse freute.

»Gegenfrage«, sagte Kristin nun. »Haben Sie einen Verdacht, wer Ihre Frau überfallen und entführt haben könnte?«

»Nee«, sagte Hein Adamo für Kristins Geschmack etwas zu schnell. »Feinde hatte sie jedenfalls nicht. Wahrscheinlich war es ein Unbekannter, der sie geschnappt hat.«

Kristin wunderte sich über seine Wortwahl, sagte aber nichts dazu. »Also gehen Sie von einer Entführung aus.«

»Was weiß ich?« Hein Adamo schnaubte und zuckte mit den Schultern. »Bin ich der Bulle oder Sie?«

»Haben Sie keine Angst um Ihre Frau?«

»Natürlich hab ich Schiss, dass ihr was passiert ist.«

»Wir gehen davon aus, dass ihr etwas zugestoßen ist«, erklärte ihm Kristin in ruhigem Ton.

»Logisch, wenn Sie mir vom Blut am Auto erzählen.« Hein Adamo lachte humorlos auf. »Sie wird sich ja wohl kaum selbst eins übergebraten haben.« Er trommelte auf dem Tisch herum. »War es ein Raubüberfall?«

»Schwer zu sagen«, räumte Kristin ein. »Wertgegenstände wie eine Geldbörse oder ihr Handy haben wir nicht gefunden.«

»Klar – weil die Schweine nicht wollten, dass ihr rausfindet, wer sie ist.« Wieder schob er das trockene Lachen hinterher.

»Mich würde interessieren, wohin Ihre Frau unterwegs war«, mischte sich Beck ein, der sich Notizen machte und bisher Kristin das Reden überlassen hatte.

»Hierher, was sonst?« Adamo stellte die Tasse auf das geblümte Platzdeckchen und machte eine ausladende Geste. »Sie hat gearbeitet und war wohl auf dem Heimweg.«

»Wo arbeitet Ihre Frau?« Beck drehte den Stift zwischen den Fingern.

»Sie ist Saftschubse im Walhalla.«

»Bitte wo?« Kristin runzelte die Stirn, der die abwertende Wortwahl von Adamo gegen den Strich ging.

»Das ist eine urige Wikingerkneipe in Busdorf, die nach einem Götterpalast der nordischen Mythologie benannt ist«, erklärte Beck ihr.

»Eine miese Kneipe für notgeile Säcke ist das«, behauptete Hein Adamo und schnaubte wütend. »Und Maike lässt es zu, dass sich die Kerle an ihr aufgeilen.«

Längst war Kristin zu dem Schluss gekommen, dass es um die Ehe der Adamos nicht gut bestellt war. Er war eifersüchtig, und sie fragte sich, ob es dafür einen Grund gab.

»Die Zeiten sind schwer und die Kohle knapp«, schob Adamo nach, als er Kristins Blick bemerkte. Tatsächlich waren ihr nicht nur der heruntergekommene Eindruck des Hauses, sondern auch das alte und abgewohnte Mobiliar aufgefallen. Die Küchenmöbel bestanden aus einfachen Schränken mit tiefblauen Fronten, die Elektrogeräte wirkten alt, auch die Eckbank am Fenster, auf der sie saßen, knarrte bei jeder Bewegung. Von Wohlstand war hier nichts zu sehen. »Ich arbeite im Schichtdienst, Maike drei Mal in der Woche als Kellnerin in dieser Spelunke. Ich habe ihr schon oft gesagt, sie soll das Kellnern da aufgeben.«

»Warum?« Beck musterte ihn mit unverwandter Miene.

»Sie sind doch ein Mann.« Jetzt grinste Adamo anzüglich.

»Und?«

»Haben Sie noch nie einer Kellnerin auf die Titten oder auf den Hintern geschaut?«

»Ich bin glücklich verheiratet.«

»Auch gut. Aber es ist, wie ich sagte: Die besoffenen Kerle machen sie ständig an, geben ihr anzügliche Sprüche und tatschen ihr am Arsch herum.«

»Und deshalb sollte sie den Job an den Nagel hängen?«

»Logisch. Keine schöne Vorstellung für einen Mann, dass sich fremde Kerle an seiner Frau aufgeilen. Von mir aus soll sie sich beim Netto an die Kasse setzen und den Omas ihr Kukident verkaufen. Das ist allemal besser, als den notgeilen Kerlen das Bier und ihren Klaren zu bringen.« Hein Adamos Gesichtsfarbe hatte einen tiefroten Ton angenommen. Er umklammerte den Kaffeepott jetzt so fest, dass die Knöchel seiner Hände weiß unter der Haut hervortraten. Kristin sah ihm an, dass es in ihm brodelte. Als sie einen Blick auf Becks Notizen warf, las sie dort das Wort »Eifersucht« mit einem Fragezeichen versehen.

»Wie steht es um Ihre Ehe?«, fragte Kristin in das entstandene Schweigen hinein.

»Was wollen Sie hören?« Adamo bedachte sie mit einem feindseligen Blick. »Wollen Sie wissen, wie oft wir ficken?«

Kristin schüttelte stumm den Kopf.

Adamo senkte die Stimme und war um Fassung bemüht. »Wir leben unter einem Dach, dies hier ist das Haus ihrer verstorbenen Eltern, Kinder gibt es nicht, wir streiten und wir lieben uns.«

»Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, dass Ihre Frau spät dran war?«, versuchte es Kristin.

»Klar doch.«

»Und – haben Sie nicht versucht, sie telefonisch zu erreichen?«

»Doch, sogar mehrmals.«

»Und?«

»Mailbox.« Hein Adamo hielt Kristins Blick stand. »Eigentlich untypisch, dass sie ihr Handy aus hat.« Umständlich zog er sein Smartphone aus der Tasche der ausgebeulten Jogginghose. Er entsperrte es und rief die Kontakte auf. »Hier«, sagte er schließlich, »zuletzt habe ich sie um kurz vor Mitternacht angerufen, um zu wissen, wo sie bleibt. Sonst ist sie gegen 23 Uhr zu Hause.«

Kristin warf einen Blick auf das Display. Viermal hatte er seine Frau vergeblich angerufen. Sie beschloss, eine Handyortung zu veranlassen, musste das aber erst mit Beck abstimmen. »Sicher sind Sie uns bei der Suche nach Ihrer Frau behilflich.«

»Natürlich.« Adamo nickte. »Was muss ich tun? Soll ich eine Vermisstenanzeige aufgeben?« Plötzlich wirkte er hilflos.

Kristin tauschte einen Blick mit Beck, der unmerklich den Kopf schüttelte. »Nein«, sagte sie, »dass Ihre Frau vermisst wird, ist mit der rätselhaften Auffindesituation ihres Autos und unserem Einsatz schon aktenkundig. Wir benötigen eine Liste der Kontakte Ihrer Frau. Gemeinsame Freunde, Familie, Nachbarn …«

»Wollen Sie die Leute mit Ihren Fragen belästigen?«

»Herr Adamo, es geht um das Leben Ihrer Frau«, erklärte Kristin geduldig. »Wir gehen, wie bereits erwähnt, davon aus, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Und die Menschen, zu denen sie Kontakt hatte, werden uns sicherlich gern bei der Suche nach Ihrer Frau unterstützen.«

Beck blätterte in seinem Notizheft eine neue Seite auf, schob es Adamo hin und legte seinen Stift daneben. »Hier«, sagte er und zeigte auf das Smartphone auf dem Tisch, »schreiben Sie uns die Kontakte tabellarisch auf. Name, Art der Beziehung zu Ihrer Frau und die Telefonnummer, im Idealfall mit Anschrift.«

»Das kann dauern.«

»Wir haben Zeit.« Beck schenkte ihm ein Lächeln.

»Was kann ich sonst tun?«

»Zum DNA-Abgleich benötigen wir eine Haar- oder Zahnbürste sowie ein möglichst aktuelles Foto Ihrer Frau«, antwortete Kristin.

»Bedienen Sie sich.« Adamo deutete über die Schulter in den Flur des kleinen Hauses. »Das Bad ist auf der rechten Seite.«

»Danke.« Kristin erhob sich. Als der Stuhl über den Terrakottaboden schabte, rieselte ihr ein Schauer über den Rücken. Sie ließ sich von Beck Asservatenbeutel und Handschuhe geben, dann ließ sie die Männer alleine in der Küche zurück. Im Flur roch es muffig, das war ihr schon beim ersten Betreten des Hauses aufgefallen. Entweder gab es im Haus ein Problem mit Schimmelbefall, oder die Adamos lüfteten einfach zu selten. Das Badezimmer war klein und mit veralteten moosgrünen Kacheln gefliest. Waschbecken, Kloschüssel und die Duschtasse waren ebenfalls im düsteren Grün der 1980er-Jahre gehalten. Das Glas des Spiegelschranks war angelaufen, eine Birne brannte nicht. Es gab ein kleines Fenster mit Scheibengardine und Milchglas, unter der Holzdecke brannte eine runde einfache Lampe. Kristin zog die Einmalhandschuhe über und sah sich genauer um. Während sie die Einrichtung in Augenschein nahm, hörte sie die Männer in der Küche reden. Deodorant und Zahncreme stammten aus dem Discounter, auch bei den wenigen Parfümfläschchen handelte es sich nicht um hochwertige Marken. Über Reichtum schien das Ehepaar tatsächlich nicht zu verfügen. Es gab zwei Zahnputzbecher auf der Ablage unter dem Spiegel, ein Glas mit Haargummis und ein Körbchen mit Bürsten von unterschiedlicher Form und Größe. Kristin entnahm dem Becher die pinkfarbene Zahnbürste und bugsierte sie in einen Beutel, dann nahm sie eine Haarbürste, in der sie einige lange blonde Haare entdeckte, die ganz sicher nicht von Hein Adamo stammten. In den dritten Beutel schob sie zwei zerfledderte Haargummis. Dann zog sie einen weiteren Beutel heraus und bediente sich an der dunkelblauen Zahnbürste von Hein Adamo. Kristin hoffte, dass die Farbklischees bei den Zahnbürsten der Adamos galten, und war nicht sehr optimistisch, dass der Hausherr im Besitz einer Ersatzbürste war. Nachdem sie die transparenten Beutel verschlossen hatte, begab sie sich zurück in die Küche. Gerade schob Hein Adamo Beck das Notizheft wieder hin. Die Kontakte und Namen hatte er von seinem Smartphone abgelesen. Als Kristin die Küche betrat und sich zu ihnen setzte, wirkte Becks Miene zufrieden. »Wir haben alles.«

Kristin wandte sich an Hein Adamo. »Sicher haben Sie ein Foto für uns?« Kristin seufzte.

»Klar, auf dem Handy.« Er legte sein Smartphone wieder auf den Tisch, entsicherte es und rief die Fotomediathek auf. Kurz schien er seine Besucher vergessen zu haben, während er sich durch die Bilder scrollte, und grinste anzüglich. »Aber die Nacktfotos zeige ich nicht.«

»Eigentlich wäre uns ein richtiges Bild lieber«, antwortete Kristin. Als sie sein fragendes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ein analoges Bild auf Papier.« Sie schaute sich um, doch bis auf einen vergilbten Küchenkalender neben der Tür gab es keine Bilder an den Wänden.

»Ach so.« Hein Adamo erhob sich und ließ die Polizisten kurz alleine. Kristin tauschte einen Blick mit ihrem Vorgesetzten. Sie hörten, wie sich Adamo in die Stube begab und kurz darauf mit einem Fotoalbum zurückkehrte. »Hier«, sagte er, »aus dem letzten Urlaub. Wir waren in den Bergen.« Er schlug es auf und versank mit entspannten Gesichtszügen in den Erinnerungen, dann fingerte er ein Bild aus den Fotoecken heraus und legte es zwischen ihnen auf die Tischdecke. »Das ist sie.«

Kristin beugte sich vor und betrachtete die verschwundene Maike Adamo. Sie sah eine schlanke Frau in Wanderkleidung mit Rucksack. Die schulterlangen blonden Haare hatte sie zu einem kurzen Zopf zusammengebunden, das breite Lachen erreichte ihre strahlend blauen Augen. Maike Adamo schien eine lebensbejahende Frau zu sein.

»Hübsch, nicht?« Hein Adamo warf Beck einen Blick zu, der sich eine Antwort auf die Frage ersparte. »Dürfen wir das Foto mitnehmen?«, fragte er stattdessen.

»Sicher.«

»Herr Adamo, sicher können Sie uns sagen, wo Sie die letzten Stunden verbracht haben.« Kristin hielt hier nichts mehr. So langsam spürte sie die bleierne Müdigkeit, die ihr das Denken erschwerte.

Hein Adamos Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Als er zu seinem Kaffeepott griff, um einen Schluck zu trinken, bemerkte Kristin, wie seine Hand zitterte. »Hier«, grollte er, »und nein – kein Arsch kann das bezeugen.« Wieder trank er einen Schluck, bevor die große Tasse unsanft auf dem Tisch aufkam. Der Kaffee schwappte über und bildete einen unansehnlichen Kranz auf der Tischdecke. »Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich was mit dem Verschwinden meiner Frau zu tun habe, oder?«

Weder Beck noch Kristin beantworteten die provokante Frage.

»Die Rufnummer und den Telefonanbieter Ihrer Frau benötigen wir ebenfalls.« Kristin betrachtete Adamo, der Beck geduldig Nummer und Provider diktierte. »War es das dann?«

»Fürs Erste ja, aber bitte halten Sie sich bereit.« Kristin nickte ihrem Vorgesetzten zu, er schien keine Einwände zu haben, die Fragerunde hiermit zu beenden.

Beck trank seinen Kaffee aus, klappte sein Notizbuch zu und verstaute es gemeinsam mit dem Stift in der Manteltasche, bevor er Kristin ein Zeichen gab. Sie nahm das Bild von Maike Adamo an sich, dann erhoben sie und Beck sich zeitgleich. Adamo machte Anstalten, sie zur Tür zu bringen, doch Beck winkte ab. »Danke«, sagte er, »wir finden alleine nach draußen.«

Kapitel 6

»So ein unsympathischer Typ«, machte Kristin ihrem Ärger Luft, als sie wieder auf der menschenleeren Straße standen. Wütend zog sie den Reißverschluss ihrer gesteppten Jacke zu. Es war feuchtkalt geworden, ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor dem Gesicht. Sie spürte den Blick von Hein Adamo in ihrem Rücken. Als Kristin einen flüchtigen Blick zurück zum Haus warf, bewegte sich eine der Gardinen. Er sah ihnen nach. Kristin ignorierte Adamo und wandte sich an ihren Chef. »Oder halten Sie ihn für unschuldig?«

»Es ist zu früh, um ihn zu verdächtigen.« Beck wiegte unschlüssig den Kopf. Neben dem Wagen blieb er stehen und hielt ihr mit einem Lächeln die Hand hin. »Jens«, sagte er, als er Kristins überraschtes Gesicht sah. »Wir duzen uns hier alle.«

»Kristin.« Sie nahm seine Hand.

»Kristin Viola Voss«, grinste er, »so stand es in deinen Bewerbungsunterlagen.«

Kristin zuckte unmerklich zusammen. Ihren zweiten Vornamen mochte sie nicht, warum, konnte sie sich selber nicht erklären. So verschwieg sie den Zweitnamen nach Möglichkeit. »Kristin reicht völlig aus«, sagte sie und drückte den Knopf der Zentralverriegelung. »Und?«, fragte sie, als sie im Fahrerhaus saßen und sie den Diesel startete. »Was denkst du über Adamo?«

»Irgendetwas an seiner Geschichte gefällt mir nicht, aber ich kann noch nicht sagen, was.« Er massierte sich die Schläfen.

»Du meinst, er lügt?« Langsam steuerte sie den Wagen durch die menschenleeren Straßen von Schuby.

»Ob er lügt, weiß ich nicht.« Beck seufzte und schien sich darüber zu ärgern, dass er sein Gefühl nicht erklären konnte.

»Du hast so ein Bauchgefühl«, half Kristin ihm.

Er nickte. »Adamo ist alles andere als nett«, überlegte Beck, während Kristin den Wagen durch die verlassenen Straßen von Schuby zur Bundesstraße steuerte. »Aber ob er etwas mit der Tat zu tun hat, wage ich zu bezweifeln.«

*

Bundesstraße 201 bei Schuby, 2.05 Uhr:

»Treffen wir uns gleich noch in der Direktion?« Kristin warf Beck einen fragenden Blick zu, während sie den Transporter über die leere Landstraße lenkte. So langsam machte ihr die Müdigkeit zu schaffen.

»Nee, lass mal.« Beck schüttelte den Kopf. »Bring mich zur Einsatzstelle und sieh du zu, dass du ein paar Stunden Schlaf bekommst. Streng genommen beginnt dein erster Arbeitstag bei uns ja erst morgen früh um 8 Uhr.« Er lächelte ihr väterlich zu.

Kristin wollte protestieren. Es war nicht ihre Art, einen neuen Fall für eine Pause zu verlassen. Die ersten Stunden nach einem Gewaltverbrechen waren die wichtigsten bei der Suche nach dem Täter. Doch die lange Fahrt und die ersten Ermittlungen forderten jetzt ihren Tribut. Tatsächlich freute sich Kristin auf eine Dusche und auf ein Bett. »Einverstanden«, stimmte sie eher halbherzig zu. »Auch wenn wir …«

»Wir kommen zurecht, Kristin.«

»Danke.« Die Einsatzstelle bei der Ausfahrt der Bundesstraße kam in Sicht. Inzwischen hatte man leistungsstarke Scheinwerfer aufgestellt, die auch den letzten Schatten aus der Nacht prügelten. Um den Wagen von Maike Adamo herrschte emsiges Treiben. Kollegen in weißen faserfreien Anzügen sicherten Spuren, was das Zeug hielt, während die uniformierten Beamten dafür sorgten, dass sich kein Unbefugter der Einsatzstelle nähern konnte. Auch der weiße Kastenwagen wurde angehalten.

Kristin fuhr das Fenster herunter.

»Hier können Sie nicht durch«, wurde sie von dem Streifenpolizisten aufgeklärt. »Es gibt eine Umleitung, Sie müssen …«

»Das ist in Ordnung«, mischte sich Jens Beck ein. Freundlich lächelnd beugte er sich über den Sitz nach links.

»Ach, Sie sind das.« Die Gesichtszüge des Streifenpolizisten, ein junger Bursche, der wohl gerade erst die Polizeischule in Eutin absolviert hatte, entspannten sich. »Dann immer zu, Chef.« Er gab seiner Kollegin an der Absperrlinie ein Zeichen, und sie konnten passieren.

Kapitel 7

Es fühlte sich eigenartig an, als Kristin gegen 2.30 Uhr morgens zum ersten Mal die Tür zu ihrem neuen Zuhause aufschloss. Die Wohnung lag im dritten Stockwerk eines Wohn- und Geschäftshauses in der Angelburger Straße 41 und nur einen Steinwurf von ihrer neuen Dienststelle an der Norderhofenden entfernt. Kristin hatte sich vorgenommen, künftig mehr Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurückzulegen. Da war ihr das Angebot des Maklers sehr gelegen gekommen, der ihr die Altbauwohnung in Zentrumsnähe am Telefon schmackhaft gemacht hatte. Von außen machte das Haus einen etwas heruntergekommenen Eindruck, was sicher auch an den farbenfrohen Graffitis an der heruntergelassenen Jalousie vor dem Schaufenster eines Ladenlokals im Erdgeschoss lag. Das Treppenhaus war jedoch sauber und modern gehalten. So erklomm sie zum ersten Mal die Stufen bis unter das Dach des Mietshauses. Sie war gespannt auf ihre Wohnung, die man komplett saniert und modernisiert hatte. Als sie ein wenig atemlos oben angekommen war und die Wohnungstür aufschloss, drang der Duft nach frischer Farbe in ihre Nase. Ihre Hand wischte über die Wand neben der Türzarge, sie suchte und fand den Lichtschalter und war im nächsten Augenblick vom grellen Licht einer nackten Glühbirne an der Decke geblendet. Der Vermieter hatte Wort gehalten: Die Wohnung war frisch gestrichen, die Bohlen sauber abgeschliffen und neu versiegelt. Rechts lag die Küche. Man hatte ihr eine moderne Einbauküche mit anthrazitfarbener Arbeitsplatte, hellen Fronten und zeitgemäßen Elektrogeräten spendiert. Dahinter lag das Badezimmer. Die Wanne lag unter der Dachschräge und verlieh dem Raum ein gemütliches Flair. Am Ende des schmalen Flurs lag die Stube, auch hier bestimmten schräge Decken und Fenstergauben das Bild. Kartons und zerlegte Möbel stapelten sich fast bis zur Decke und kündeten davon, dass Kristin in den kommenden Wochen keine Langeweile haben würde. Auf Freunde, die ihr beim Aufbau der Möbel und beim Einräumen der Schränke halfen, würde sie vorerst verzichten müssen. Alle, die geholfen hätten, lebten im knapp 400 Kilometer entfernten Ostfriesland.

Außer Heike, ihrer Schulfreundin, die der Liebe wegen vor ein paar Jahren nach Husum an die Westküste gezogen war. In der Kürze der Zeit konnten sie bei Kristins Besuch am Nachmittag natürlich nicht all das nachzuholen, was es zu erzählen gab, und so hatte Heike ihr versichert, sie bald schon in Flensburg zu besuchen. »Ist ja jetzt nicht mehr weit«, hatte sie Kristin mit auf den Weg gegeben.

Mit gemischten Gefühlen durchschritt Kristin jetzt ihre Wohnung. Von der Stube aus führte eine Treppe ins Loft unter dem Dach. Hier sollte das Schlafzimmer entstehen. Wie besprochen, hatten ihr die Männer der Umzugsfirma eine Matratze auf den dunkelbraunen Parkettboden gelegt. Das war also ihre Schlafstatt für heute Nacht. Kristin lächelte, als sie ihre blau-weiß-rot gestreifte Bettwäsche erkannte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es die Farben von Schleswig-Holstein, ihrer neuen Heimat, waren. Kristin fühlte, wie sie von Einsamkeit umfangen wurde. Die Stille der noch leeren Wohnung drückte auf ihr Gemüt, was sicher auch daran lag, dass sie todmüde war und dringend schlafen musste, um den ersten offiziellen Arbeitstag in der neuen Dienststelle gut zu überstehen.

Jetzt gab es also kein Zurück mehr.