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Überall in unserer nervösen Gesellschaft, fühlen sich Menschen entfremdet und heimatlos in einer entzauberten und durchrationalisierten Welt. Das Leben scheint zu sehr bürokratisiert, beziehungslos und von unzähligen Reglementierungen bestimmt. Herz zeigen und mit Herz leben ist der Wunsch nach einem nicht nur Funktionieren-Müssen. Ein Schlüssel dazu ist die Herz-Spiritualität, sie steht für Lebendigkeit, Spontanität und Freiheit.Bischof Hermann Glettler zeigt, was das für die Praxis eines alltagsrelevanten Glaubens bedeutet – denn was nützen dem sehnsuchtsvollen Herzen theoretische Abhandlungen, trockene Dogmen und kirchliche Vorschriften? Glettler nimmt mit in das Herz einer Spiritualität, jenseits von Kitsch, die uns verändert und die Welt. Authentisch, offen und mit Blick auf seine eigene Erfahrungen. Mit konkreten Lebens-Geschichten, mit realisierten Träumen und ebenso intensiven Enttäuschungen, Verwundungen und Demütigungen. Über allem steht die Einsicht: Alles hat mit Herz zu tun, was sich Leben nennt.
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Seitenzahl: 289
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Hermann Glettler
Hermann Glettler
Spirituelle Orientierung in nervöser Zeit
© Verlag Herder GmbH, Freiburg 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © mikroman6 / GettyImages
E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
ISBN Print 978-3-451-39312-9
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83931-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83932-0
Vorwort
Herz macht den Unterschied
Speicher overloaded – was tun, wenn alles zu viel wird?
Die Mitte freihalten!
Vulnerabilität? Wer Herz hat, kann Schwäche zeigen
Alles hängt mit allem zusammen – ein Blutkreislauf
Das Herz verbrauchen? Auf der Suche nach Sinn
Unruhig bis zum Tod: Typisch Herz!
Barmherzigkeit. Allen Kälteströmungen zum Trotz
Konfliktzone Herz. Versöhnung ist möglich!
Stop – Listen – Go! Der Rhythmus entscheidet
The Power of Love – Flügel zum Abheben und Landen
Herzintelligenz – zwischen Bauch und Hirn
Was tun, wenn das Herz erkrankt?
Innere Spannkraft – für die Zumutungen des Lebens
Herzfeuer, nicht Gleichgültigkeit!
Herz ist Trumpf! Das Farbspektrum der Herzlichkeit
Mut! Und die Gnade der Unsicherheit
Hat Gott ein Herz? Ursprung und Mitte von allem
Das Herz Jesu – Quelle neuer Zuversicht
Ein neues Herz? Wenn nötig, eine Transplantation
Solidarität? Mit-Liebende sind gefragt
Woher Herzensenergie? Brunnen bauen!
Herzensbildung – ein Luxusthema?
Geistvoll beten – von Herz zu Herz
Bildverzeichnis
Literatur
Anmerkungen
Dank
Über den Autor
Herz ist gefragt! In allen Belangen und Herausforderungen unserer nervösen Gesellschaft, nicht nur in der Religion. Entfremdet und heimatlos fühlen sich viele Menschen in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Zusätzlich verschärft der Krisencluster unserer Zeit die Frage nach Sinn und Mitte unseres Daseins. Der Wunsch nach einem Nicht-nur-funktionieren-Müssen ist verständlich. Im vorliegenden Buch geht es um die Sehnsucht nach Geborgenheit, um Zugehörigkeit, Empathie und solidarische „Herzbrücken“ in einer verwundeten Gesellschaft.
Mit Herz bezeichnen wir das Ich des freiheitsliebenden Menschen und zugleich seine Verantwortung für ein größeres Wir. Herz wehrt sich gegen jede ideologische Vereinnahmung durch eine bestimmte Philosophie, Politik, Weltanschauung und Religion. Es ist ein Ursymbol und Urwort der Menschheit. Einige kulturgeschichtliche und populäre Bedeutungen von Herz kommen in diesem Buch zur Sprache. Es steht immer für die Würde, Liebesfähigkeit und Verwundbarkeit des Menschen. Entsprechend dem Herz-Kreislauf ist der Stil meiner Texte ein kreisendes Erzählen und Reflektieren, das an jeder Stelle einen Einstieg ermöglicht. Die Betrachtung einiger Kunstwerke vertieft diesen Ansatz.
Das Herz ist ein hochkomplexes Organ, eine faszinierende Pumpe, die den Körper mit frischem Blut und Nährstoffen versorgt. Aber es ist mehr als das. Wenn wir abgesehen von Gesundheitsvorsorge und Kardiologie von Herz sprechen, dann meinen wir die Mitte des Menschen. Das Herz ist das vermittelnde Zentrum, wo Körper und Geist, Emotion und Intelligenz ineinanderschwingen. Herz bezeichnet das, was uns zu humanen Wesen macht – Offenheit und Wertschätzung, mit einem Wort: Menschlichkeit!
Herz ist ein zentrales Wort der biblischen Botschaft. Davon ausgehend versuchen die hier vorliegenden Texte eine Hinführung zu einer zeitgemäßen Herz-Jesu-Spiritualität. Es ist eine Übersetzungsaufgabe, weil diese Tradition und Frömmigkeit vielen fremd geworden ist. Sobald es gelingt, die Kruste von Pathos und Kitsch aufzubrechen, stoßen wir auf die Mitte des christlichen Glaubens. Es ist die Begegnung mit dem barmherzigen Gott. Die Achtsamkeit auf seinen Herzschlag befähigt zum Aufbau einer weltweiten Geschwisterlichkeit.
Was Sie in den Händen halten, ist ein Crossover-Buch zwischen Alltag, Spiritualität und Philosophie, Theologie und sozial-ökologischer Weltverantwortung. Ich schreibe als Seelsorger, Freund, Bischof und Zeitgenosse vieler Menschen, denen ich begegnen durfte. Der Versuch einer spirituellen Orientierung gelingt nur mit konkreten Lebens-Geschichten, mit dem Wahrnehmen von Träumen und Enttäuschungen, Aufbrüchen und Veränderungen, Schuld und Vergebung. Alles hat mit Herz zu tun. Ich danke allen, die sich darauf einlassen.
Dein Herz ist gefragt! Der Titel macht bereits deutlich, dass es einen entschlossenen Widerstand gegen die „globalisierte Gleichgültigkeit“ (Papst Franziskus) in unserer Zeit braucht. Insofern hoffe ich, dass einige der Lebenserfahrungen, von denen ich erzähle, zu Herzen gehen und Mut machen. Es ist der Versuch einer Anstiftung zu Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Herausforderungen unserer Zeit brauchen mehr Herz, mehr Herzlichkeit – letztlich aber auch den Mut, Gottes „Herzensenergie“ zu erbitten und miteinander zu teilen.
Hermann Glettler
„Du bist außer Herz nur noch Herz!“ Wir mussten lachen. Eine Mitarbeiterin hat einen Kollegen herzhaft bewundert und zugleich heftig kritisiert. Er hatte die Fähigkeit, in jede Begegnung eine Extraportion Herz hineinzulegen. Leider konnte er seine Umgebung damit auch ordentlich nerven, vor allem dann, wenn sich das berufliche Alltagsgeschäft damit nur schwer vereinbaren ließ. Ein Herz haben, kann tatsächlich leicht in Verruf kommen, wenn es mit einer Überdosis Gefühl und Schlampigkeit verwechselt wird. Dennoch: Bei Menschen mit Herz staunen wir über ihre Offenheit und ihr Mitgefühl, ihre Aufgeschlossenheit und Lebendigkeit.
Herzmenschen sind Game-Changer. Sie unterscheiden sich von jenen Typen, die kaltherzig nur die Interessen ihres Egos durchziehen. Das Herz macht den Unterschied. Es fühlt sich gut an, wenn jemand herzhaft gegenwärtig ist – in einem Gespräch oder in einer Situation, wo Herzblut gefragt ist. Wenn auf das Herz gehört wird, dann stellen sich fast automatisch Wertschätzung und Höflichkeit ein. Diese unmittelbar gefühlten Herzqualitäten sind alles andere als selbstverständlich.
Herz steht für Engagement und Leidenschaft. Ob ein Installateur, eine Ärztin oder eine Pflegekraft ihren Beruf mit Herz ausübt oder nicht, macht den Unterschied. Bildung, Betreuung, Sozialarbeit, Seelsorge und jede berufliche Tätigkeit schaut mit Herz anders aus. Ganz offensichtlich hängt die Qualität von Begegnungen und Beziehungen vom Herz-Faktor ab. Wir wissen, dass Herz- und Lieblosigkeit verletzen und reine Fassaden früher oder später ohnehin durchschaut werden. Speziell Kinder und Menschen mit mentaler Beeinträchtigung spüren, ob Herz im Spiel ist oder nicht – und sie verstehen die Sprache des Herzens.
Er war erst 14 Wochen alt. Aufgrund einer psychischen Erkrankung mussten Valentins „Baucheltern“ ihren Sohn mit Downsyndrom einer Pflegefamilie anvertrauen. Er fand Aufnahme bei einem Tiroler Ehepaar, das selbst bereits drei eigene Kinder hatte, wenn auch teilweise schon am Weg zum Erwachsenwerden. Als sie mehrmals den dringenden Aufruf nach Pflegefamilien hörten, schenkten sie insgesamt in Folge drei Kindern mit Trisomie 21 ein neues Zuhause: Stefan, Anna und zuletzt Valentin. Obwohl er, ebenso wie seine „Geschwister“, die für Downsyndrom-Menschen so typische Herzensstrahlung mitbrachte, spürte man bei ihm immer eine eigenartige Belastung, fast einen inneren Kampf ums Überleben. Zahlreiche Aggressionsschübe hatten meist mit seiner Sprachlosigkeit zu tun. Seine Herkunftsfamilie ist den Roma zugehörig, seine Muttersprache ein Roma-Dialekt. Die Wende kam unverhofft, als Valentin 15 Jahre alt war: Eine junge „Roma-Tirolerin“ kam als Dolmetscherin zu Besuch. Sie spielte Valentin die „heimliche“ Hymne der Roma vor. Plötzlich jedoch zuckte dieser mittlerweile kräftige junge Kerl total aus, gab fürchterliche Laute von sich und bewarf die Zuhörenden mit allem, was er in die Hände bekam. Die Besucherin schaltete die Musik aus und warf nun ihm Bälle zu, wobei sie einfache Worte in ihrem Roma-Dialekt aussprach: links, rechts, oben, unten, eins, zwei, drei, … Und überraschend für alle: Valentin reagierte genau mit den richtigen Bewegungen. Eine tiefe, heilsame Beziehung schien geglückt zu sein. Vollkommene Beruhigung und Ergriffenheit im Raum. Nach mehr als vierzehn Jahren wurde erstmals mit ihm wieder in seiner Muttersprache gesprochen! Obwohl sie Valentin nie bewusst erlernt hatte, konnte er verstehen. Mittlerweile eignet er sich seine Sprache mit Hilfe einer Lehrerin recht erfolgreich an. Und ein großer Teil seiner schwierigen Geschichte ist für ihn dadurch leichter geworden, sein Leben für ihn lebbar. Jedes Mal, wenn ich Valentins Familie besuche, staune ich über die Ehrlichkeit und Urfröhlichkeit, die mir dort begegnen, eine „Körpersprache des Herzens“, die allen guttut.
Das Herz bezeichnet die Mitte des Menschen. Es ist so viel mehr als der faszinierende Hohlmuskel, der beständig Blut durch unseren Körper pumpt. Die Einheit von Geist, Psyche und Körper wird in diesem symbolischen „Zentralorgan“ am deutlichsten spürbar. Alles schlägt im Herzen auf, muss dort verarbeitet und auch wieder abgegeben werden. Wir denken, erfahren und handeln ganzheitlich, körperlich – ein Leben lang mit Herz!
Das Herz galt im semitischen Kulturraum als Sitz der Affekte – Umschlagplatz und Nährboden für Emotionen aller Art. Gleichermaßen wurde im Herzen Verstand, Gedächtnis und Wille verortet. Im alten China hielt man das Herz nicht nur für den Ursprung der Gedanken und Gefühle, sondern auch für das intellektuelle Zentrum des Menschen. Konfuzius wird der schöne Spruch zugeschrieben: „Wohin du auch gehst, geh mit ganzem Herzen.“ Generell bezeichnet das Herz in den alten Kulturen die Innenperspektive des Menschen im Gegensatz zu allem, was nach außen gerichtet ist. Die heutige Forschung bestätigt dies mit dem Postulat von einem „Gehirn-Herz“.
In der altägyptischen Religion war das Herz auch das Gewissen des Menschen. Nach dem Tod wurde es vor dem Thron des Osiris gewogen, um seinen Güte- und Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Wurde es zu leicht befunden, gab es keinen Eintritt ins Jenseits. Bei der Einbalsamierung legten die Ägypter nach der Entfernung der Eingeweide das Herz wieder zurück in den Körper. Es sollte am Jüngsten Tag Zeugnis über seinen Träger ablegen. Das Ideal war ein „Steinherz“, das kalt und hart für Besonnenheit und Stabilität steht. Das Herz im Mikrokosmos des menschlichen Körpers verglichen die Ägypter mit der Sonne im Makrokosmos der Gezeiten. Alles hängt mit allem zusammen.
Eine irritierend drastische Praxis begegnet uns bei den aztekischen Menschenopfern im alten Mexiko: Durch eine große Schnittwunde griff man in die Brust des Todgeweihten, um das frisch pulsierende Herz herauszunehmen und es als Weihe- und Opfergabe dem Sonnengott entgegenzustrecken. Aus dem blutigen Opfer erhoffte man sich neue Kraft für einen neuen Lebenszyklus. Und in Indien gilt das Herz als Ort des Kontaktes mit Brahman, der Personifikation des Absoluten.
Diese kulturhistorische Skizze ließe sich noch lange fortsetzen. Sie zeigt deutlich die transkulturelle Bedeutung des Herzens. Überall werden mit dem Ur-Wort Herz die Ur-Fragen des Menschseins benannt.
Im Alten Testament begegnen uns die Ausdrücke für „Herz“ (hebräisch lev) über 850-mal. Davon schon 130-mal in den Psalmen, diesen faszinierenden jüdischen Gebeten, in denen der Mensch sein Herz vor Gott ausschüttet. Einer meiner Favoriten ist der Psalm 139, in dem es heißt: „Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis wäre nicht finster vor dir!“ Und ein paar Zeilen weiter wendet sich das Urvertrauen in eine Bitte: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken!“ (Ps 139,23)
Das Herz bezeichnet im biblischen Sinn immer die Mitte der menschlichen Person. Ähnlich wie im kulturellen Umfeld ist es der Ort der Emotionen und Wünsche, Ängste und Sehnsüchte, aber auch Ort des Denkens und der Entscheidungen. Alles, was wir gewöhnlich dem Kopf und Intellekt zuschreiben, wird in der Bibel im Herzen des Menschen angesiedelt: Erkennen, Verstehen, Bewusstsein, Gedächtnis und jegliches Urteilsvermögen. Das Herz ist auch die Kreativwerkstatt und das Innovationszentrum. Künstlerische Begabung ist dem Menschen von Gott „ins Herz gelegt“.
In den Büchern des Alten Testaments gibt es kein eigenes Wort für Gewissen. Das Herz ist der eigentliche Verhandlungsplatz über Gut und Böse. Die Bereitschaft zum aufmerksamen Hören wird dem Herzen zugeschrieben, aber ebenso die Möglichkeit, sich zu verschließen und in sich zu verkrümmen. Im Herzen jedes Menschen laufen wie in einem Zentralbahnhof alle „Züge“ zusammen. Mithilfe dieses Bildes werden wir über eine verträgliche Frequenz der ein- und ausfahrenden Züge, über Waren- und Gütertransporte, Ruhezonen und chaotische Abläufe, Ankünfte und Abschiede nachdenken müssen. Das Herz muss mit allem zurechtkommen.
Etwas salopp ausgedrückt: Das Herz ist Verhandlungsplatz, Bahnhof – und Heiligtum. Im Herzen berühren sich Mensch und Gott. Es ist nach Ignatius von Loyola die Mitte, wo Schöpfer und Geschöpf ungehindert miteinander verkehren können. Ja, Gott selbst wird im jüdischen und christlichen Glauben ein Herz zugesprochen. Er ist nicht einfach der unbewegte Beweger, wie in der Philosophie des Aristoteles, sondern ein leidenschaftlich agierender Gott. Er erfreut sich an seinen Geschöpfen, lässt sich aber auch von deren Not und Elend bewegen – ja, es geht ihm zu Herzen! Diese über Jahrhunderte gewachsene Gewissheit findet in der Person des Jesus von Nazareth ihren Höhepunkt: Gott selbst hat in ihm ein menschliches Herz angenommen und Herz gezeigt, wurde angreifbar und verwundbar.
Nicht zufällig befindet sich das Herz genau in der Mitte zwischen Kopf und Bauch. Es vermittelt und klärt die Vielfalt der Emotionen und versucht eine Orientierung in der Fülle von Informationen und externen Impulsen. Das Herz ist permanent gefragt, es integriert und vernetzt. Das Herz muss in allem, was auf uns einströmt, uns gefühlsmäßig betrifft oder triebhaft bewegt, Position beziehen – einen Impuls aufgreifen oder verwerfen. Das Herz steht für die Freiheit des Menschen, die es gegenüber vielen Zugriffen zu verteidigen gilt. Als vernunft- und herzbegabte Wesen sind wir nicht nur von Instinkten und Hormonen gesteuert, genauso wenig nur von Hirnfunktionen geleitet.
Das Herz ist Symbol für unser Person-Sein. Gemeint ist damit jene innere Fähigkeit, uns auf ein konkretes Du und auf ein soziales Wir hin auszurichten und in uns Raum und Stimme zu geben. Es macht uns als menschliche Personen aus, dass wir unser Herz öffnen können, dass wir nicht nur auf uns selbst fokussiert sind. Diese Durchlässigkeit und Freiheit ist konstitutiv für unser Person-Sein.1 Herz ist somit ein exakter Ausdruck für unsere Beziehungsfähigkeit, eingebettet zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung. Wir sind von unserem Wesen her „kommunizierende Gefäße“. Südlich der Sahara spricht man von „Ubuntu“ – dieser Nguni-Bantu-Begriff bedeutet: „Ich bin, weil wir sind.“ Herz ist der innere Freiraum für jede Form von Beziehung – ob beglückend oder belastend. Herz meint das Ich, aber zugleich auch das Wir – es ist das „Integrationsorgan“ für die wichtige Balance von Ich-Du-Wir. Mit Herz sind wir fähig, das Verhältnis von Nähe und Distanz abzuschätzen und zu bestimmen, Intimität zu ermöglichen oder zu verweigern.
Das Herz ist nicht zuletzt das eigentliche „Kommunikationsorgan“ des Menschen. Es macht den Unterschied, ob und wie wir miteinander im Gespräch sind – speziell in einer Zeit wachsender Isolation und Diskursunfähigkeit. Eine galoppierende digitalisierte Kommunikation mit den schier unbegrenzten Vernetzungen, Plattformen und Sozialen Medien bringt immer öfter unsere Armut ans Licht: Wir tun uns schwer, wirklich zu kommunizieren – uns auf die Perspektive und Weltwahrnehmung des Anderen einzulassen. Es häufen sich Phänomene des Rückzugs in geschlossene Meinungs- und Überzeugungsblasen. Sollten wir nicht von Neuem den Dialog wagen, den mühsamen, geduldigen Dialog? Unser Herz ist dazu fähig. Wie ein Zelt lässt sich sein innerer Begegnungsraum weiten. Das menschliche Herz kann sich aber ebenso hartnäckig jeder Kommunikation verweigern.
Die Herzqualität unseres Menschseins macht es jedenfalls aus, dass wir uns mit Sinnen, Geist und Seele auf eine größere Welt hin öffnen können. Unser Herz ist der sensible und verwundbare Resonanzraum für alles, was uns umgibt – für Mensch, Gott und Welt.
Eine politische Ära ging zu Ende. Am 2. Dezember 2021 sprach Angela Merkel in ihrer emotionalen Abschiedsrede in Berlin von Dankbarkeit und Demut – und von Haltungen, die auch zukünftig ein soziales Miteinander ermöglichen: „Unsere Demokratie lebt von der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung und zur Selbstkorrektur. Sie lebt vom steten Ausgleich der Interessen und vom Respekt voreinander. Sie lebt von Solidarität und Vertrauen.“ Die scheidende Bundeskanzlerin folgerte aus den großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen der letzten Jahre: „Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen der Anderen zu sehen. Also auch manchmal die unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen, sich für den Ausgleich der Interessen einzusetzen.“ Nach ihrem Glückwunsch für die zukünftige Regierung schloss Angela Merkel ihre bemerkenswerte Abschiedsrede: „Ich bin überzeugt, dass wir die Zukunft auch weiterhin gut gestalten können, wenn wir uns nicht mit Missmut, mit Missgunst, mit Pessimismus, sondern mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen. So jedenfalls habe ich es immer gehalten, in meinem Leben in der DDR und erst recht unter den Bedingungen der Freiheit.“
Herz macht offensichtlich auch im politischen Handeln den wesentlichen Unterschied: bewusstes Wahrnehmen und verbindliche Resonanz – immer neu zu lernen. Auch für uns in der Kirche! Das Zweite Vatikanische Konzil hat in einer maßgeblichen Passage die engste Verbundenheit mit der ganzen Menschheitsfamilie beschrieben: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen einen Widerhall fände.“2 Das menschliche Herz ist somit auch in dieser programmatischen Ansage der zentrale Resonanzraum, in dem wir im Sinne einer „weltweiten Geschwisterlichkeit“ (Papst Franziskus) über alle kulturellen, ethnischen, nationalen und religiösen Barrieren hinweg verbunden sind. Das macht den Unterschied.
Wir haben uns daran gewöhnt, mit dem Smartphone und seinem uneingeschränkten Internetzugang das verfügbare Weltwissen mit uns herumzutragen. Wofür früher Bibliotheken aufgesucht werden mussten, reicht heute das Handy dank Mr. Google, YouTube, Wikipedia & Co vollkommen aus. Ob News und Infos, Weltnachrichten oder Unterhaltung, ob Erbauliches oder Schrott – alles haben wir mit dem kleinen Ding jederzeit am kleinen Schirm parat.
Könnte man das Smartphone nicht als Metapher für unser Herz sehen? Es ist uns meist nicht bewusst, wie viele Daten, Erfahrungen und Wirklichkeitseindrücke wir mit uns herumtragen – unabhängig davon, ob wir sie abrufen oder nicht, „verarbeitet“ haben oder unterdrücken. Alles wird hier abgespeichert – das Wunderbare und das Belastende, die Erfolge und die Niederlagen. Die Erschöpfungskrankheiten unserer Zeit sind ein beredtes Zeugnis dafür, dass wir mit dem Zuviel von all dem, was auf uns einströmt, auf Dauer nur schwer umgehen können. Das Herz ist jedenfalls ein Schwamm – ein geheimnisvoller Speicher in der Mitte jeder Person –, faszinierend und permanent überfordert zugleich. Überlastung allerorts. Bevor ich diese zeitdiagnostische Spur weiterverfolge, richte ich einen Blick auf das Herz, der vermutlich nicht nur mich in Staunen versetzt.
Gleich vorweg das Erstaunliche: Ohne Wartung und ohne Pause arbeitet das Herz im Normalfall 80 Jahre und länger, es schlägt, pulsiert und pumpt ohne Unterbrechung, Tag und Nacht! Diese Verlässlichkeit wird meist erst bei einer Erkrankung des Organs bewusst. Keine künstliche Maschine schafft das! Bevor wir weitergehen, etwas Schulwissen mit Update:
Das Herz ist ein muskuläres Hohlorgan, das sich hinter dem Brustbein zwischen den beiden Lungenflügeln befindet, meist etwas nach links versetzt. Das Herz ist etwa so groß wie die Faust des Herz-Besitzers. Es gleicht einem Kegel, dessen Spitze nach unten weist. Das Herz ist im Brustkorb in eine Gewebehülle, den Herzbeutel, eingebettet. Die Wand des Herzens besteht aus einem speziellen Muskelgewebe. Das gesunde Herz wiegt im Durchschnitt zwischen 300 und 350 Gramm – und vollbringt ohne großes Aufsehen permanente Spitzenleistungen: Wenn man das Volumen errechnet, das diese Superpumpe in einer durchschnittlichen Lebenszeit schafft, dann sind das ca. 250 Millionen Liter Blut. Das entspricht ungefähr einem Viertel des Tiroler Achensees mit seinen 454 Millionen Kubikmetern Wasser. Noch erstaunlicher ist es, dass die Herz-Pumpe ohne fixe Aufhängung funktioniert. Sie zieht sich zusammen, verkürzt sich, dreht und windet sich, je nach Bedarf. Der Wirkungsgrad beträgt praktisch 100 % – nichts an Energie geht verloren! Und ein ganz besonderes Detail in dieser Auflistung der superlativischen Eigenschaften des Herzens liefert die Wissenschaft: Herzzellen haben ein sehr komplexes Gedächtnis, ein electric memory. Dieses biochemische Phänomen könnte man als Herzgedächtnis bezeichnen – mit einem gewaltigen Speicherplatz.
Es gibt den physikalischen Grundsatz, dass es im großen Energiehaushalt des Universums keinen Verlust gibt. Energie ist immer in Umwandlung begriffen, eine permanente Transformation. Alles ist im Fluss, ob zwischen den allerkleinsten Teilen der Materie oder im allergrößten, kosmischen Maßstab. Ob Makro- oder Mikrokosmos, das gesamte Leben ist ein ständiger Prozess von Veränderungen. Nichts geht verloren. Alles wirkt sich aus, hinterlässt Spuren, beeinflusst die Umgebung und wird selbst dabei verändert.
Diese Grundeinsicht gilt nicht nur für die physikalisch-materielle Dimension unserer Welt. Sie gilt auch für geistige Prozesse, für das, was wir denken, empfinden, tun oder unterlassen. Das Gute und das Bösartige. Nichts geht verloren. Ich deute diese Tatsache grundsätzlich als Trost – speziell für jene Menschen, die den Eindruck haben, dass ihre ganze Lebensmühe umsonst war. Der Saldo unter ihrer Lebensbilanz ist ihrer Meinung nach nicht genügend. Das, was sie aufzubauen versucht haben, scheint ihnen wie weggewischt zu sein. Die nachfolgende Generation distanziert sich von ihren Vorstellungen und all dem, was sie mühsam „erwirtschaftet“ haben. Ich halte dagegen, dass wir diese Rechnung nicht zu rasch machen sollten. Vieles, was im Laufe der Zeit an Gutem investiert wurde, wird meist erst später als solches erkannt, und vieles muss auch vergehen – auch wenn dieses Faktum schmerzt. Wo wäre denn Platz für Neues? Dennoch halte ich daran fest: Nichts geht verloren! Es gibt eine „Ökonomie Gottes“ mit einer anderen, nicht weltlichen Gesetzmäßigkeit. Gott sieht, was die Absicht des Menschen war und ist. Er sieht und bewahrt in seinem Gedächtnis, was jemand an Geist und Herzblut investiert hat. Er lässt sich nicht blenden von äußerlicher Attraktivität oder scheinbarer Nutzlosigkeit. „Gott sieht das Herz.“ (1 Sam 16,7) Was aus Liebe getan wurde, hat Bestand.
Das Faktum, dass nichts verloren geht, löst im Zeitalter digitaler Mega- und Giga-Speicher natürlich auch beklemmende Gefühle aus. Nichts geht verloren, klingt doch mit Recht bedrohlich. Alles, was es an Information über uns gibt, was wir bewusst oder indirekt durch unser Google-Suchverhalten und jegliche Netzaktivität an Spuren hinterlassen, wird gespeichert. Für immer. Mit dem digitalen Profiling gibt es uns längst schon als Spiegelbild in der digitalen Welt. Eine eigenartig reale Zweit-Existenz, die wir mit jeder Netzaktivität nähren. Auch wenn wir uns gegen diese Datenspeicherung und -verarbeitung grundsätzlich nicht wehren können, besitzen wir die Möglichkeit der mehr oder weniger freien Wahl. Wir sollten zumindest unsere innere Freiheit nicht aufgeben, auch wenn sie oft schwer zu behaupten ist.
Bis zu einem gewissen Grad liegt es an uns, wofür wir in unserem Herzen (Speicher-)Raum freigeben möchten – was wir uns runterladen, „downloaden“. Und was nicht. Ob wir dazu die nötige Freiheit und Widerstandskraft aufbringen, bleibt eine echte Frage und Herausforderung. Ich erwähne nur nebenbei das Suchtpotential, das im Konsum von Gewaltvideos und Pornographie aus dem Netz, aber auch in Online-Glücksspielen liegt. Wer auf Dauer „drinnen hängt“, beschädigt sich und andere. Zurück bleiben abgestumpfte, zugemüllte und gleichzeitig ausgebeutete Herzen. Die Welt der ungefilterten Infos und Datenflüsse ist in jedem Fall mit uns nicht höflich. Sie dringt auf uns ein, triggert uns an, will permanent unsere Aufmerksamkeit. Unser Herz gleicht in diesem Sinne nicht nur einer enormen Speicherkarte oder Festplatte, sondern auch einem Schwamm, der aufsaugt, was ihm an roher Wirklichkeit begegnet.
Im Jahr 2021 lag für einige Wochen ein riesiger gelber Schwamm am Karl-Rahner-Platz vor der Jesuitenkirche in Innsbruck. „Der Schwamm 4.0“ ist ein Kunstwerk und eine Inszenierung des in Teheran geborenen und in Hamburg lebenden Künstlers Michel Abdollahi. Wir kennen den dargestellten Gebrauchsgegenstand aus Küche und Badezimmer, benutzen ihn zum Reinigen von Haushaltsgeräten und Sanitäreinrichtungen. Das unübersehbare Objekt glich in Farbe, Form und Materialität exakt dem bekannten Haushaltsgerät. Der Reinigungsschwamm entspricht mit seinen Eigenschaften und seiner Struktur den organischen Schwämmen, wie sie in den Weltmeeren vorkommen. Das Geflecht flexibler Fasern ergibt eine Saugfähigkeit, die wir bei einem Gebrauchsschwamm so schätzen. Das aufgeblähte Alltags-Ding hat neugierige Blicke und Verwunderung angesaugt. Leider wurde es auch zum Opfer von Vandalismus. Zuerst nur als Trampolin und knautschweiche Kuschelbühne zum Posieren für coole Selfies verwendet, haben sich die Leute recht bald am Objekt bedient: Teile wurden herausgerissen und in der Gegend verstreut. Ziemlich wehrlos, entstellt und mäßig attraktiv lag der große Schwamm bereits nach einigen Tagen da. Diese eigenartige Benutzung und schnelle Zerstörung deute ich als ein sprechendes Zeichen.
Der ungeschützt exponierte Schwamm versinnbildlicht eine wichtige Dimension des Herzens: Es saugt das verunreinigte Blut an, reinigt es und pumpt es mit Sauerstoff und Nährstoff angereichert wieder zurück in den Körper. Wir haben den überdimensionalen Schwamm bewusst vor jener Kirche gezeigt, in der sich ein spezielles Herz-Jesu-Bild aus dem Jahr 1767 befindet3. Jährlich wird vor diesem Bild im Rahmen eines Gottesdienstes feierlich ein Gelöbnis eingelöst, das in Bozen im Jahr 1796 von den Tiroler Landständen angesichts einer prekären politischen Situation beschlossen wurde.4
Für Michel Abdollahi ist der vergrößerte Putzschwamm ein Zeichen, um mit Kunst im öffentlichen Raum die „negativen Energien wie Hass, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz aufzusaugen“. Er will daran erinnern, dass „leere Parolen, Korruption und Hetze das Fundament einer Demokratie ins Wanken bringen“. Für diese Reinigungsaktion braucht es mit Sicherheit viele Schwämme! Viel Angst, Resignation, zerstörerische Aggression und Verzweiflung wären zu entfernen.
Zusätzlich dazu legt sich mir noch eine weitere Deutung der Schwamm-Installation nahe: Der menschgewordene Gott hat sich in der Person des Jesus von Nazareth alles zu Herzen genommen, was uns Menschen ausmacht. Unsere ganze Existenz hat er durch ihn „aufgesaugt“, gereinigt und gewandelt – die unfassbare Fülle von Sehnsucht und Leid, Erwartungen und Enttäuschungen, die großartigen Momente und das millionenfache Versagen. Dafür ließ er sich in den Dreck ziehen, ja sogar zerreißen. Jesus ist das verwundete Herz Gottes. Ich habe dieses Herz wie einen riesigen Schwamm vor Augen, der sich verwenden lässt, alles Negative aufnimmt, reinigt, verwandelt und als eine neue Energie zurückgibt. Mit Sicherheit taugt dieser Herzschwamm nicht zum oberflächlichen Drüberpolieren, wo tiefere Wunden zu heilen wären.
Am Altar über dem Herz-Jesu-Bildnis wird in der Jesuitenkirche die zentrale Aussage Jesu zitiert: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28) Eine klare Einladung an alle Erschöpften und Ermüdeten, die überladenen Herzspeicher zu leeren – das tägliche Zuviel. Doch was sagt das barocke Bild? Es führt auf eine wichtige Spur der Herz-Jesu-Mystik5. Jesus präsentiert dem Betrachter sein verwundetes, brennendes Herz. Er reicht es auf seiner halb geöffneten Hand. Was ist damit gemeint? Ein Herzenstausch? In der katholischen Bildtradition wird dies so gedeutet. Auch ohne große mystische Versenkungen ist die Geste verständlich. Jesus bietet sein Herz an – es ist ein Symbol für Lebendigkeit, Liebe und Verletzlichkeit. Was möchte er dafür haben? Er bittet um das Herz dessen, der sich auf diese persönliche Kommunikation einlässt. Ja, tatsächlich, der lebendige Christus lädt mich als Betrachter ein, mein eigenes, vielfach überfordertes Herz ihm anzuvertrauen. Die offene, zärtliche Hand nimmt alles entgegen, auch alle Fragen und Zweifel – und Christus bietet dafür sein eigenes, lebendiges Herz an. Es geht um einen spirituellen Tausch - eine symbolische „Handlung“, die eine effektive Entlastung von Sorgen und Ängsten bringen kann. Heilwerden und Versöhnung sind möglich, neue Klarheit und Orientierung im Zuviel unserer Zeit. Auf einen Aspekt möchte ich besonders hinweisen: Im faszinierenden Tausch wird dem eigenen Herzen eine neue Belastbarkeit und Liebesfähigkeit „mitgegeben“. Jesus verheißt nicht das Blaue vom Himmel. Er bittet uns – ja uns, die Erschöpften, Müden, die Typen mit den vollen Speichern, „sein Tragejoch zu akzeptieren“. Im Klartext: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,29f.) Den wirklichen Frieden des Herzens gibt es im Sinne Jesu nicht, indem wir alles loswerden, alles fallenlassen und uns zurückziehen – hinter uns die Sintflut, Tschüss und weg. Der eigenartige Herzenstausch beinhaltet die Bitte Jesu, ihm die zu schweren Lebenslasten zu übergeben und uns im Gegenzug für seine Sache, für seine Gerechtigkeit, für seine Anliegen – in sein „Joch“ einspannen zu lassen. Die Konsequenz ist eine innere Ruhe, meist auch eine wachsende Freude und Ausgeglichenheit. Umgekehrt stellen sich eher Leere und Frustration ein, wenn der Mensch auf die eigenen Sorgen und Befindlichkeiten fixiert bleibt. Der mögliche Herzenstausch ist in jedem Fall eine verrückte Sache – heilsam, befreiend, entlastend.
Sie ist ein Herz-Schwamm. Meine Mama hat bereits ein langes und entbehrungsreiches Leben hinter sich – eine große Familie gemanaget; eine arbeitsintensive Landwirtschaft im Nebenerwerb geführt; jahrzehntelange Baustellen am Stallgebäude und Bauernhaus; eine langjährige Pflege der eigenen Eltern; ein immer offenes Haus für Gäste, und – als ob dies nicht ausreichen würde – meine Mama ist die personifizierte Anteilnahme an den Schicksalsschlägen unzähliger Menschen. Die Leute melden sich per Telefon oder kommen vorbei. Mama ist fast immer erreichbar, sie hört zu, versucht zu verstehen, trägt Sorgen mit und betet für die Leute – äußerst verlässlich. Gelegentlich habe ich probiert, ihr den Tipp zu geben, einmal ein Telefonat nicht anzunehmen oder einen Besuch abzusagen, um auf die eigenen Kräfte zu achten. Sie bringt es kaum übers Herz. Ihr Geheimnis ist ein enormes Gottvertrauen – was sie aufsaugt, aber selbst nicht klären, geschweige denn lösen kann, gibt sie an die „höhere Instanz“ weiter. Dadurch bleibt ihr trotz aller Beanspruchung eine innere Frische und Herz-Schwamm-Qualität erhalten.
Viele solidarische Herz-Schwämme dieser Art bräuchten wir, damit sich mehr Menschen entlasten können. Und es gibt sie. Nicht nur ein kurzlebiger Applaus, sondern ein regelmäßiger Dank gebührt den vielen Menschen, die in den typischen „Zuhörberufen“ so etwas wie Schwämme der Aufmerksamkeit sind: Therapeuten, Ärzte, Seelsorgerinnen, Priester, Frauen und Männer in den Sozial- und Pflegeberufen und an vielen anderen Knotenpunkten unserer Gesellschaft. Im Zuviel unserer Zeit helfen sie den ihnen anvertrauten Menschen beim Ordnen, Klären und Sortieren aller Zumutungen des Lebens. Sie scheuen meist nicht den Einsatz, das Gebrauchtwerden und die damit zwangsläufig verbundene Abnutzung. Schwämme sind verletzlich, sie würden aber ebenso durch ein Nichtbenützt- oder Nicht-gebraucht-Werden spröde, hart und unansehnlich. Das ist ihr (Herz-)Schicksal.
Ein Schwamm bleibt nur funktionstüchtig, wenn er nicht nur aufsaugt, sondern auch selbst regelmäßig ausgepresst und gereinigt wird. Sonst verdreckt und verstopft er. Wie ein Herz sich ständig ausdehnt und zusammenzieht, Verschmutztes ansaugt, reinigt und die neue Energie wieder abgibt, so funktioniert eben auch jeder Schwamm. Aber was tun, wenn diese Abläufe überlastet oder gestört sind? Überlastete Herz-Speicher können zur Acedia führen. Mit diesem Begriff bezeichnet die Tradition ein Gefühl von Niedergeschlagenheit, Widerwillen, Null-Bock-Stimmung – schlichtweg den Verlust von Interesse und Lebens-Neugier. Was kann rechtzeitig helfen? Mit Sicherheit kluge Filter und Firewalls – um eine Verseuchung mit Viren zu vermeiden. Wir kennen ihre Namen: Verzweiflung, Hass, Missgunst, Zynismus, um nur einige zu nennen. Sie können die „Datenverarbeitung“ im Herzen beeinträchtigen und das ganze System lahmlegen. Gegensteuerung? Ja, mit Stille, bewusster Reduktion der permanenten Erreichbarkeit, mit Gebet, Lektüre, Entspannung in der Natur … Diese und ähnliche Entlastungsübungen wirken heilsam und präventiv, sie schützen und weiten das menschliche Herz. Unbedingt zu erwähnen ist die Bedeutung einer guten Begleitung. Jedes Miteinander-Überlegen, -Reflektieren und -Unterscheiden kann zur Entlastung beitragen. Ebenso wenig ist es eine Schande, rechtzeitig Seelsorge und Therapie in Anspruch zu nehmen. Ein sympathisch-kritischer Blick von außen und ein klärendes Wort können eine reinigende und entkrampfende Wirkung haben. Wir brauchen einander. Hilfreich für eine regelmäßige Reinigung und Entlastung der inneren Datenspeicher ist auch eine abendliche Gewissenserforschung, eine Revision de Vie, wie es auf Französisch heißt. Es ist ein kurzer Rückblick auf den Tag, wenn möglich nicht mit einer Fixierung auf das eigene und fremde Versagen. Wichtiger und heilsamer bei dieser „Tagesinventur“ ist der Dank für die vielen Momente, wo trotz aller Beschränktheit etwas gelungen ist. Dann können Körper, Seele, Geist und Herz verlässlich zur Ruhe kommen.
Sich und anderen Stille schenken! Ich musste es wieder lernen. In einer Phase konfliktreicher Auseinandersetzungen habe ich begonnen, mich spätabends neben meinem Bett hinzuknien und zehn Minuten in Stille zu verbringen. In mir ist Ruhe eingekehrt. Ohne große Anstrengung sind die erfreulichen Momente des Tages aufgetaucht, aber ebenso Situationen, die sich wie Niederlagen anfühlten. Die Stille hilft mir, alles wahrzunehmen und ohne Beschönigung sein zu lassen.
„Stille schenken!“ Sich selbst und anderen. Menschen wurden ermutigt, im nervösen Geschäft ihres Alltags eine reale Unterbrechung einzubauen. Der Anstoß zu dieser einfachen, aber doch so wirksamen Kampagne im Winter 2021 kam vom Theologen Otto Neubauer, der sich in einer erfrischend jesuanischen Haltung unermüdlich für Begegnung und Dialog einsetzt.6 Mit 10-Sekunden-Stille-Videos wurde die Initiative in den Sozialen Medien verbreitet. Unter den Teilnehmenden entstand eine wertvolle Verbundenheit – heilsam alternativ zur immer spürbareren Zerrissenheit in der Gesellschaft.
Ein prominenter Unterstützer von „Stille schenken!“ war der französische Schauspieler Philippe Pozzo di Borgo, der mit seinem Film „Ziemlich beste Freunde“, ein Millionenpublikum erreicht hat. Nicht nur sein Schicksal einer Querschnittslähmung wird darin dargestellt, sondern vor allem die bewegende Freundschaft mit dem unprofessionellen Pfleger Driss, gespielt von Abdel Yasmin Sellou. Das Plädoyer von Pozzo di Borgo ist klar formuliert: Wir brauchen Stille, um wieder begegnungsfähig zu werden. Unsere zerrissene Gesellschaft kann sich nur erneuern, wenn wir im Anderen „seine Vielschichtigkeit, Zerbrechlichkeit und seinen Ruf nach Würde“ neu entdecken. Nur in der Stille finden wir den Zugang zum „inneren Reichtum“, zur Mitte von uns selbst und zur Mitte unserer Nächsten. Begegnung wird möglich. Das Herz bezeichnet diese persönliche Mitte des Menschen. Sie wahrzunehmen, freizuräumen und freizuhalten, ist für uns alle ein Dauerauftrag.
Unser physisches Herz wird durch eine muskulöse Scheidewand in zwei Pumpsysteme aufgeteilt – „das linke und das rechte Herz“. Die Redeweise vom linken und rechten Herz ist berechtigt, auch wenn es natürlich um dasselbe Organ geht. Jedes dieser beiden „Herzen“ besteht aus einem Vorhof und einer Herzkammer. Die Kammer im linken Herz ist größer und kräftiger, weil sie das Blut mit höherem Druck durch den gesamten Organismus pumpen muss. Die Kammer im rechten Herzen ist schwächer ausgebildet, weil sie mit einem wesentlich niedrigeren Druck lediglich das Blut in die Lungenstrombahn zu befördern hat. Trotzdem bilden beide Herzhälften bzw. beide Herzen eine Einheit mit exakt aufeinander abgestimmter Arbeitsteilung. Zwei Herzen! Zwei Räume, die ineinandergreifen.
Dieser anatomische Befund ist bezeichnend: Wir sind von Natur aus auf Kommunikation angelegt. Dialog, nicht Monolog ist uns ins Herz geschrieben! Der Grundrhythmus der zwei perfekt koordinierten Pumpsysteme macht deutlich, dass wir als weltbezogene Wesen auch zwei Kreisläufe brauchen – einen inneren, dessen Aufgabe die Reinigung und Sauerstoffanreicherung ist, und einen äußeren, der den gesamten Körper mit neuer Energie zu versorgen hat. Beide Systeme benötigen und bedingen einander – Innerlichkeit und Welt-Zugewandtheit.
Wünsche und Bitten gibt es viele – mehr Erfolg, Spaß bei der Arbeit, Glück in der Liebe, endlich einen Lottogewinn, keine Demenz im Alter und vieles mehr. Eine davon abweichende Bitte ist uns von König Salomo überliefert: Der Nachkomme König Davids hat sich bei seiner Thronbesteigung ca. 1000 v. Chr. nicht militärische Erfolge, Macht oder Ansehen gewünscht – all das wäre nachvollziehbar gewesen. Er hat schlicht um Weisheit und Verständnis für die vor ihm liegende Aufgabe gebetet: „Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht!“ (1 Kön 3,9) Seine Bitte wurde erhört. Salomo war nicht nur weise, sondern auch unerhört erfolgreich. Er baute den legendären, ersten Tempel in Jerusalem. Sprichwörtlich wurden sein Weisheitswissen und das berühmte „salomonische Urteil“. Um uns nicht blenden zu lassen – angesichts der vielen Manipulationen, Fake-News und „alternativen Fakten“ –, bräuchten wir heute eine große Dosis seiner Hinhör-Fähigkeit und Urteilskraft.
Am Anfang steht das Hören, nicht das Wort, nicht die Tat. Die innere Hörbereitschaft macht den Unterschied. Das jüdische Glaubensbekenntnis, das Schma Jisrael, beginnt mit dieser Haltung: „Höre Israel! Der Ewige, unser Gott, der Ewige ist eins.“ Zuerst Hören! Das Nicht-Hören war die Urversuchung des Volkes Israel. Es war gleichbedeutend mit Ungehorsam und wurde als „Verstockung des Herzens“ beschrieben. Weil das Hören auf die Weisungen Gottes allen Aktivitäten vorausgehen muss, tragen fromme Juden das Schma Jisrael