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Die schöne Ilita Darrington-Coombe hat die letzten Jahre in einer exklusiven Konventschule verbracht, als ihr Vater in England stirbt. Ihre eifersüchtige Tante verweigert dem jungem Mädchen jegliche Hilfe, woraufhin sie als Vorleserin bei der erblindeten Schloβherrin im langsam verfallenden Schloβ Lyss anfängt zu arbeiten. Unerschrocken von der neuen Aufgabe, ist sich Ilita nicht bewuβt welche Wirkung ihre Schönheit und ihre Weisheit nicht nur auf die Schloβherrin, sondern auch den jungen Marquis ausübt.
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Seitenzahl: 208
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Als der Zug in die Victoria Station dampfte, verspürte Ilita den plötzlichen Impuls, sich an Schwester Angelica festzuklammern.
Doch schon allein den Gedanken fand sie albern. Im Konvent hatte sie Schwester Angelica, die für die Wäscherei zuständig war, nie gemocht. Sie hatte den Mädchen die langweilige Kunst des Nähens beigebracht, wozu auch Flicken und Stopfen gehörte.
Aber jetzt waren ihr faltiges Gesicht und die bebrillten Augen das einzige, was ihr vertraut erschien, während vor ihr nur die Angst vor der ungewissen Zukunft lag.
»Wenn doch nur Papa hier wäre, dann wäre es wunderbar, wieder in England zu sein«, dachte Ilita und spürte wieder den Schmerz, der selbst jetzt noch, nach anderthalb Jahren, unweigerlich alle Gedanken an ihren Vater begleitete.
Dann sprang ihre Reisebegleiterin, die Tochter des italienischen Botschafters im Court of St. James, auf und rief: »Ich kann Mama sehen! Sie steht auf dem Bahnsteig. Oh, Schwester Angelica, bitte, öffnen Sie das Fenster!«
»Alles zu seiner Zeit, mein liebes Kind!« erwiderte Schwester Angelica. »Wenn deine Mutter gekommen ist, um dich abzuholen, dann kannst du ganz sicher sein, daß sie dich auch finden wird.«
Doch das italienische Mädchen hörte gar nicht zu. Ilita überlegte, ob wohl jemand gekommen war, um sie abzuholen, oder ob man nur einen Diener geschickt hatte.
Es schien unglaublich, daß die einzige Verwandte, die sie bei ihrer Rückkehr nach England gewiß sehen würde, eine Tante war, die sie nur einmal in ihrem Leben getroffen hatte, und von der sie den Eindruck hatte, daß sie weder sie noch ihren Vater mochte.
»Vielleicht freut sie sich jetzt, mich zu sehen«, versuchte sie sich zu trösten.
Aber ihr Instinkt sagte ihr, daß das alles andere als wahrscheinlich wäre.
Die ganze Zeit über, während der Zug sie von Florenz nach England gebracht hatte, hatte Ilita über alles nachgedacht, was geschehen war, hatte versucht sich auszumalen, wie es anders hätte kommen können.
Hätte das Schicksal nicht so überaus grausam zugeschlagen, würde sie jetzt vielleicht mit ihrem Vater nach Darrington Park fahren.
Stattdessen war ihr Vater tot, genau wie sein jüngerer Bruder, der sechste Earl von Darrington.
Jetzt gab es nur noch einen kleinen Jungen in der Schule, der die Familientradition fortführen sollte.
Ilita wußte, es war ihrem Vater niemals in den Sinn gekommen, daß er jemals das riesige Haus in Buckinghamshire und den Titel erben könnte, auf den die Familie immer äußerst stolz gewesen war.
Als zweitältester Sohn, mit einem Vater, der noch immer ein jugendlicher Mann war, und einem Bruder, der nur zwei Jahre älter war als er, hatte Marcus Darrington-Coombe beschlossen, mit dem kleinen Einkommen, das ihm sein Vater gewährte, die Welt zu erforschen.
Er hatte ein Mädchen geheiratet, das ebenso abenteuerlustig war wie er, und zusammen hatten sie Berge bestiegen, Teile Asiens besucht, die auf keiner Karte verzeichnet waren, waren Flüsse hinaufgefahren, in denen es von Krokodilen nur so wimmelte, und hatten mit dem Optimismus von Amateurforschern, die nichts unmöglich finden, Wüsten durchquert.
Als Ilita geboren wurde, behinderte sie diese Reisen nicht; sie wurde einfach mitgenommen.
In einem Korb auf dem Rücken eines Kamels wurde sie in den Schlaf gewiegt, wurde Berge hochgeschleppt in einem Korb, der an einem Yak befestigt war, und lernte von fremden Speisen zu existieren, die andere Kinder vielleicht umgebracht hätten.
Sie hatten nur wenig Geld, aber viel Spaß, und Ilita konnte sich erinnern, daß ihre Kindheit stets von Lachen und Liebe erfüllt gewesen war.
Dann, vor drei Jahren, als sie fünfzehn gewesen war, hatte das Schicksal zugeschlagen.
Sie waren auf dem Schiff von einer Reise nach Afrika zurückgekehrt und in Neapel gelandet, und sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter wurden von einem merkwürdigen Fieber gepackt, das die Ärzte nicht erkannten und nicht behandeln konnten.
Ihre Mutter starb sehr schnell, noch ehe sie begriffen hatten, wie krank sie war. Ilita und ihr Vater konnten sich nicht vorstellen, wie das Leben ohne sie weitergehen sollte.
Tatsächlich war es Ilita, die dann den stärkeren Willen zeigte. Sie zwang ihren Vater zu essen und sorgte dafür, daß er sich wieder für seine Umgebung interessierte, und daran Anteil nahm - Ausgrabungen in Pompeji, die Entdeckung einer römischen Villa in Capri - und langsam wurde er ein wenig normaler.
Einige Monate lang war er geschwächt durch das Fieber, das seine Frau getötet hatte, und in dieser Zeit tauchte unerwartet Ilitas Patentante, Mrs. Van Holden, auf.
Sie war eine enge Freundin ihrer Mutter gewesen, und als sie hörte, daß sie in Neapel waren, kam sie von Rom herüber, wo sie zu der Zeit wohnte, um ihnen zu sagen, wie schrecklich traurig sie über ihren Verlust war.
»Ich habe Elizabeth geliebt«, erklärte sie mit Tränen in den Augen, »und wenn wir einander auch nur sehr wenig gesehen haben, seit ich einen Amerikaner geheiratet habe, so kann ich doch den Gedanken kaum ertragen, daß sie nicht mehr auf dieser Welt ist, die sie schön gemacht hat, einfach, weil sie auf ihr lebte.«
Als sie mit Ilita und ihrem Vater in dem ungepflegten Garten des billigen Hotels saß, in dem sie sich eingemietet hatten, erzählte sie von den Tagen, als sie und Elizabeth, die im selben Alter gewesen war, im Buckingham Palace eingeführt worden waren, wie sie dachten, sie würden die Welt erobern, weil sie so jung und glücklich waren.
»Und weißt du, was geschah?« fragte Mrs. Van Holden Ilita lächelnd. »Deine Großmutter war ganz sicher, daß deine Mutter eine brillante Partie machen würde, weil sie so schön war. Ich habe immer gelacht und erklärt, alle Prinzen, Herzoge und Marquis der englischen Aristokratie würden bei ihr Schlange stehen!«
Ilita, die die Antwort bereits kannte, fragte höflich:»Was ist passiert, Patin?«
»Sie hat auf einem Ball deinen Vater gesehen«, antwortete Mrs. Van Holden, »und sich verliebt! Danach hätte jeder König, selbst der Schah von Persien persönlich, vor ihr auf die Knie fallen können, sie hätte ihn nicht einmal bemerkt!«
»Und ich war in sie genauso verliebt! Sie war die schönste Frau, die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte«, warf Ilitas Vater ein, und man konnte den Schmerz aus seiner Stimme hören.
»Und ich habe mich ebenfalls verliebt«, erzählte Mrs. Van Holden, als wollte sie sich nicht länger mit Gedanken aufhalten, die sie unglücklich machten. »Aber meine Familie war entsetzt, weil er Amerikaner war! Er war Attaché an der amerikanischen Botschaft in London, und nachdem wir geheiratet hatten, gingen wir zusammen nach Amerika zurück. Ich kann ganz ehrlich sagen, daß ich eine sehr glückliche Frau gewesen bin.«
Eine kleine Pause entstand, ehe sie hinzufügte:»Leider war ich nicht, wie deine Mutter, mit einem Kind gesegnet.«
»Das tut mir leid«, sagte Ilitas Vater.
»Mir auch«, erklärte Mrs. Van Holden, »und deshalb möchte ich sehr ernst mit dir über mein Patenkind reden, Marcus.«
Mit großen Augen starrte Ilita Mrs. Van Holden an.
»Ich nehme an, es ist dir klar, daß sie ebenso schön werden wird wie ihre Mutter! Deshalb ist es sehr wichtig für sie, daß sie, ehe sie in England debütiert, ein Mädchenpensionat besucht.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest!« hatte Ilitas Vater in verwirrtem Ton ausgerufen. »Ich habe Ilita nie als konventionelle Debütantin gesehen!«
»Das ist dann allerdings sehr selbstsüchtig von dir!« schalt Mrs. Van Holden. »Natürlich muß Ilita ihre Chance haben, genau wie Elizabeth und ich die unsere hatten.«
Sie seufzte, ehe sie fortfuhr:»Auch, wenn sie den Bällen, Empfängen und dem Glanz der Londoner Gesellschaft, die vornehmer ist als irgendwo sonst in der Welt, den Rücken kehren sollte, so muß sie doch zumindest die Wahl haben und wissen, welche Art von Leben sie in Zukunft vorziehen würde.«
»Ich möchte mit Papa zusammen sein!« erklärte Ilita hastig.
»Auch ich möchte meine Tochter bei mir haben«, fügte ihr Vater hinzu, wobei er den Arm um ihre Schultern legte.
»Du hast sie fast sechzehn Jahre lang gehabt«, gab Mrs. Van Holden zu bedenken, »und nun, mein Lieber, darfst du in ihr nicht mehr nur das Kind sehen, sondern eine junge Frau, die eines Tages eine Ehefrau und Mutter sein wird.«
Ilita fühlte, wie sich der Arm ihres Vaters schützend fester um ihre Schultern legte, und der Ausdruck in seinem Gesicht verriet ihr, daß ihm die Gedanken, die Mrs. Van Holden angeschnitten hatte, nie zuvor in den Sinn gekommen waren.
Sie redeten und stritten den ganzen Nachmittag lang über Ilitas Zukunft, und die Diskussion wurde noch fortgesetzt, als sie mit Mrs. Van Holden in dem größten und teuersten Hotel von Neapel dinierten, in dem sie abgestiegen war.
Obwohl sie mit ihrem Vater so viel gereist war, hatte Ilita nur selten das Innere der Luxushotels gesehen, die sie sich nicht leisten konnten. Daher fühlte sie sich in einem Zelt, das hastig in einer Oase aufgeschlagen worden war, oder in einer Hütte irgendwo in einem obskuren indischen Dorf viel wohler.
Sie machte sich Sorgen, weil sie, im Vergleich zu Mrs. Van Holden und den anderen Gästen im Restaurant, ausgesprochen schlecht gekleidet war. Selbst ihr Vater, so gut er auch aussah, schien sich in seinem Abendanzug neben den anderen Herren im Raum nicht sehr wohl zu fühlen.
»Ich habe gründlich über alles nachgedacht, Marcus«, erklärte Mrs. Van Holden, als sie mit dem Essen fertig waren. »Ich habe beschlossen, daß mein Geschenk an meine Patentochter, das ohnehin schon überfällig ist - denn ich hatte keine Ahnung, wo Ihr Euch an ihren letzten beiden Geburtstagen herumgetrieben habt - aus fünfzehn Monaten Ausbildung in der bekanntesten, angesehensten und wichtigsten Schule in Florenz bestehen soll.«
Ilita stieß fast hörbar den Atem aus.
»Ich habe mich beim amerikanischen Botschafter und bei zwei angesehenen Italienern erkundigt, und sie alle sagten mir, daß der St.-Sophia-Konvent, der sowohl eine Schule als auch ein geschlossener Orden ist, der eleganteste und wichtigste Konvent in ganz Europa ist.«
»Oh, bitte«, rief Ilita, »ich will nicht zur Schule gehen!«
»Das solltest du aber«, erwiderte Mrs. Van Holden.
Ihre Stimme klang ein wenig rauh, doch sie lächelte, als sie fortfuhr:»Ich weiß, das Leben mit deiner geliebten Mutter, die sehr intelligent und belesen war, ist an sich schon Ausbildung genug, und natürlich hast du auch Fremdsprachen gelernt, wo du so viel mit deinem Vater gereist bist.«
Sie machte eine Pause.
»Aber es gibt noch andere Dinge, die eine junge Dame der Gesellschaft wissen muß, und aus genau diesem Grunde besuchen die jungen Mädchen der Aristokratie, ganz gleich, ob sie aus Italien, Frankreich oder England sind, für gewöhnlich ein Jahr lang ein Mädchenpensionat, ehe sie wie Schmetterlinge in die Welt hinausschweben.«
Ilita hatte gelacht, weil sie es komisch fand, die Dinge so auszudrücken, aber ihre Patentante hatte gesagt:»Ich verspreche dir, liebes Kind, daß du ein sehr schöner, vielgepriesener Schmetterling werden wirst, wenn du erscheinst. Und da deine liebe Mutter nicht in der Lage sein wird, dich im Buckingham Palace einzuführen, werde ich von Amerika herüberkommen, um das zu tun, und ich werde dafür sorgen, daß du unterstützt wirst, wenn nicht von einem deiner Verwandten, dann von einem der meinen. Und ich werde den feinsten und aufregendsten Ball für dich geben, den London je gesehen hat!«
Ilita, der das alles ein wenig Angst machte, schob unter dem Tisch ihre Hand in die ihres Vaters, ihn stumm bittend, nicht einzuwilligen.
Aber sie hatte da bereits schon gewußt, daß er Mrs. Van Holden recht geben würde, und daß dies sich ihre Mutter auch für sie gewünscht hätte.
Danach ging alles so schnell, daß Ilita überhaupt keine Zeit zum Nachdenken mehr blieb.
Ehe sie überhaupt begriff, was geschah, befand sie sich bereits in dem Konvent in Florenz und im Besitz einer ganz neuen Ausstattung von Kleidern, die ihre Patentante für sie gekauft hatte. Obwohl sie versuchte, sich an ihren Vater zu klammem, ging er gleich wieder.
»Wohin gehst du, Papa?«
»Ich bin eingeladen worden, einige neue Ausgrabungen in der Türkei zu inspizieren.«
»Oh, Papa, laß mich mitkommen!« flehte Ilita.
»Wir werden später zusammen verreisen, wenn du frei bist, um das zu tun«, versprach er ihr.
»Aber du fährst doch nicht ab, ohne dich von mir zu verabschieden?«
»Nein, natürlich nicht. Ich werde noch etwa einen Monat brauchen, um alles vorzubereiten, und ich komme noch einmal nach Florenz, ehe ich abreise. Natürlich werde ich dir genau mitteilen, wohin ich fahre, damit du mich immer erreichen kannst, sollte irgendetwas passieren.«
Ilita wollte noch sagen, ihr würde nichts passieren, aber es täte ihr weh zu wissen, daß er so weit fort von ihr sein würde.
Sie wußte sehr gut, daß es häufig unmöglich für ihn war, mit der Außenwelt zu kommunizieren, wenn er auf einer Forschungsreise war.
Aber als er dann kurz vor seiner Abreise in die Türkei zu ihr gekommen war, hatte er ganz andere Neuigkeiten für sie, als sie erwartet hatte.
In dem Augenblick, als sie ihn sah, hatte sie sofort gewußt, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie erkannte es an seinem Gesicht, und außerdem kannte sie jede Stimmung, jede Vibration, die von ihm ausging.
Noch ehe er den Mund aufmachte, fragte sie, während sie die Arme um ihn schlang:»Was ist los, Papa? Was ist nicht in Ordnung?«
»Wer sagt denn, daß etwas nicht in Ordnung wäre?« gab ihr Vater zurück.
»Ich weiß es, ich kann es fühlen.«
»Es ist nicht direkt etwas nicht in Ordnung.«
Ihr Vater setzte sich auf das harte, unbequeme Sofa im Zimmer der Mutter Oberin.
»Warum machst du dir dann Sorgen?«
Er lächelte ihr zu, und dieses Lächeln erhellte sein Gesicht, ließ ihn noch besser aussehen, als es ohnehin schon der Fall war.
»Du weißt immer, was ich fühle, genau wie deine Mutter«, bemerkte er. »Ja, ich mache mir Sorgen, weil etwas ganz Unerwartetes eingetreten ist, und ich muß mich heute entscheiden, ob ich diese Reise antrete, die ich geplant hatte, oder ob ich nach England zurückkehre.«
»Nach England, Papa?«
Ihr Vater nickte.
»Ich habe heute morgen von einem Boten, der extra von England geschickt worden ist, um mich zu suchen, erfahren, daß dein Großvater vor einer Woche gestorben ist.«
Mit aufgerissenen Augen hörte Ilita zu.
Sie konnte sich zwar kaum noch an ihren Großvater erinnern, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte, aber ihr Vater hatte oft von ihm gesprochen. Daher wußte sie, daß er aus tiefstem Herzen ihre Lebensweise mißbilligt hatte, die er für eine Vergeudung hielt.
»Bist du über den Tod deines Vaters sehr traurig, Papa?« fragte sie nun.
»Ich habe nie an seinen Tod gedacht«, erwiderte ihr Vater. »Schließlich war er erst knapp über sechzig, und er kam mir immer so kräftig vor, vielleicht sollte ich besser sagen, unzerstörbar.«
»Und du glaubst, du solltest zu seiner Beerdigung heimkehren?«
»Die Beerdigung hat bereits stattgefunden. Sie konnten mich nicht rechtzeitig finden, um es mir mitzuteilen. Aber ich bin jetzt der Earl of Darrington.«
Ilita starrte ihn verblüfft an, ehe sie sagte:»Aber . . . dein Bruder . . . Onkel Lionel?«
»Er starb vor neun Monaten im Sudan. Es muß passiert sein, als ich außer Reichweite von Zeitungen war, wie es ja häufig bei uns der Fall war. Bis heute morgen hatte ich keine Ahnung, daß er nicht mehr lebt.«
Ilita bemerkte, wie traurig ihr Vater war und legte ihre Hand auf seine.
»Es tut mir leid, Papa.«
»Mir auch, sehr leid, weil er nämlich ein hervorragendes Familienoberhaupt abgegeben hätte, und einen weit besseren Peer, als ich es wahrscheinlich jemals sein werde.«
Ilita hatte heftig widersprochen.
»Das ist nicht wahr, Papa. Ich kann mich noch gut erinnern, was Mama gesagt hat: Das einzige, was sie je bedauert hätte, wäre, dich nie mit einer Adelskrone zu sehen, denn du würdest viel besser aussehen als alle anderen im Oberhaus.«
Ihr Vater hatte gelacht.
»Die Wahrheit ist, Ilita, daß ich nicht für den Pomp und die ganzen Zeremonien eines englischen Aristokraten geschaffen bin. Selbst in den riesigen Räumen von Darrington würde ich mir eingesperrt vorkommen, und die ausgedehnten Ländereien, die es umgeben, würden in mir die Sehnsucht nach fernen Horizonten und den schneebedeckten Gipfeln noch unbestiegener Berge wecken.«
Ehe Ilita antworten konnte, fuhr er fort:»Ich weiß genau, alle werden sagen, es ist meine Pflicht, meine Verantwortung, und die Art Leben, zu der Gott mich berufen hat. Schön, schön! Ich akzeptiere das alles.«
Seine Stimme war schärfer geworden.
»Aber ich will verdammt sein, wenn ich auf das verzichte, was meine letzte und vielleicht aufregendste Reise sein wird, ehe ich zu einer Säule der Respektabilität und zweifellos zu einem pompösen Langweiler werde!«
Ilita hatte schallend gelacht, und gegen seinen Willen war der Zorn aus den Augen ihres Vaters gewichen, und er lachte ebenfalls.
»Du hast ganz recht, mein Schatz. Du findest, daß ich alles zu sehr dramatisiere, und genau das tue ich auch!«
Er stand vom Sofa auf und ging durch das spartanisch eingerichtete Zimmer, dessen einziger Schmuck das Kruzifix über dem Schreibtisch der Mutter Oberin war.
Einen Augenblick lang sagte er nichts, und Ilita bat ihn:»Bitte, Papa, nimm mich mit. Ich weiß, du willst deine Expedition in die Türkei wie geplant durchführen, und es wäre wundervoll, wenn wir zusammen sein könnten!«
Ihr Vater sah sie an, und sie wußte, der Gedanke reizte ihn.
»Ich wüßte nicht, was mich mehr freuen würde«, erklärte er dann. »Aber ich weiß, daß deine Patin recht hatte, mein Schatz, als sie darauf bestand, dich hierher zu schicken. So, wie ich in Zukunft meine Pflicht tun muß, mußt auch du die deine tun.«
»Ich will es versuchen, Papa, das verspreche ich«, sagte Ilita. »Bloß, wenn du, schwänzen‘ kannst, dann kann ich es auch.«
»Nicht so leicht«, entgegnete ihr Vater. »Und du weißt, daß es ein Fehler wäre, sechs weitere Monate deiner Ausbildung aufzugeben. Aber ich verspreche dir: Sobald du hier im Konvent fertig bist, und ehe du zu dem Gesellschafts-Schmetterling wirst, den deine Patin für dich plant, werden wir beide irgendwohin fahren, wo uns niemand findet, und werden etwas so Aufregendes entdecken, etwas so Neues und anderes, daß die ganze Welt unser Lob singen wird!«
»Ich möchte nur bei dir sein, Papa!«
»Das möchte ich doch auch. Wir beginnen mit unserer Forschung im selben Augenblick, in dem sie dir all die Auszeichnungen geben und dich als eine der besten und intelligentesten Schülerinnen von hier fortschicken, die sie je gehabt haben.«
Ilita lachte, aber gleichzeitig war ihr bewußt, daß ihr Vater ohne sie in die Türkei fahren würde, und das stimmte sie traurig.
An diesem Abend, nach dem er abgefahren war, weinte sie sich in den Schlaf, wie sie es noch ein Dutzend Male machen sollte.
Es war kein Trost für sie, nun als Lady Ilita Darrington-Coombe in den Augen ihrer Schulkameradinnen von weit größerer Bedeutung zu sein als zuvor.
Und als dann drei Monate später die schreckliche Nachricht kam, daß ihr Vater bei dem Ausbruch eines Vulkans, den er erforschen wollte, ums Leben gekommen war, da war ihr klar, daß sie eine Vorahnung gehabt haben mußte, daß er von dieser Reise nie wiederkehren würde.
Als er sich von ihr verabschiedet hatte, hatte sie sich verzweifelt an ihn geklammert und das merkwürdige Gefühl gehabt, daß er ihr entglitt, nicht nur körperlich, sondern so, als gäbe es niemals mehr eine gemeinsame Zukunft für sie.
»Vergiß dein Versprechen nicht, daß wir zusammen auf Forschungsreise gehen, sobald ich hier fertig bin!« hatte sie wieder und wieder zu ihm gesagt.
Doch sie spürte tief in ihrem Herzen, daß das niemals geschehen würde, ganz gleich, was ihr Vater auch antwortete.
Es war unmöglich, an ihn als an einen Toten zu denken, weil er immer so voller Leben gewesen war, von einer Anziehungskraft, die man anderen Menschen, die diesen Magnetismus nicht hatten, nur schwer erklären konnte. Deshalb kamen sie ihr häufig wie Schwachsinnige vor, mit denen man unmöglich kommunizieren konnte.
Doch als sich dann der erste Kummer legte und sie sich zwang, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, da wußte sie auch - genau wie nach dem Tode ihrer Mutter - daß ihr Vater noch immer in ihrer Nähe war, und daß sie immer noch, auf eine Art und Weise, die sie nicht in Worte fassen konnte, mit ihm in Verbindung stand.
Nachts dachte sie so lange an ihn, bis sie sein Gesicht in der Dunkelheit vor sich sehen konnte. Dann lächelte er sie auf seine unwiderstehliche Art an, die immer ein Teil vom Sonnenschein zu sein schien, und meinte:»Schau nach vorne - nicht zurück!«
»Das muß ich tun«, befahl Ilita sich selbst, aber worauf sie sich freuen sollte, was sie erwartete, das war eine Frage, die sie nicht beantworten konnte.
Sie erhielt einen Brief vom jüngeren Bruder ihres Vaters, der sein Nachfolger war und nun den Titel des Earl of Darrington führte.
Es war ein etwas kühler Brief, in dem er erklärte, daß er den Tod seines Bruders aufrichtig bedaure, aber froh darüber sei, daß man in einer solch außergewöhnlich guten Schule für sie sorgte. Wenn es irgendetwas gäbe, das sie benötigte, dann solle sie sich mit ihm in Verbindung setzen.
Ilita fiel jedoch auf, daß er nichts davon erwähnte, sie kennenlernen zu wollen. Ob er plante, daß sie nach der Schule bei ihm und ihrer Tante Sybil leben sollte?
Sie war sicher, daß ihnen das mißfallen würde, genau so sehr wie ihr, aber sie tröstete sich mit dem Versprechen ihrer Patentante, sich in London um sie zu kümmern, sobald sie alt genug war, um zu debütieren. Da Mrs. Van Holden keine Kinder hatte, würde sie sie vielleicht, wenn sie anschließend nach Amerika zurückkehrte, mitnehmen.
»Das wäre schrecklich aufregend«, dachte Ilita und setzte sich, um Mrs. Van Holden in einem langen Brief mitzuteilen, was geschehen war.
Es dauerte lange, bis ihr Brief den Atlantik überquert und sie eine Antwort erhalten hatte. Aber die Nachricht, die sie schließlich von ihrer Patentante bekam, enthielt all das, was sie erhofft hatte.
Mrs. Van Holden war natürlich entsetzt über den Tod ihres Vaters. Doch Ilita hatte das Gefühl - obwohl Mrs. Van Holden das in ihrem Brief nicht ausdrückte - daß sie trotz allem entzückt war, weil Ilita nun den Titel trug und dadurch gesellschaftlich einen weitaus besseren Stand hatte, als nur Tochter des jüngeren Sohnes eines Peers zu sein.
Seit sie im Konvent lebte, hatte sie ihrer Patentante jeden Monat geschrieben, wie sie vorankam und was sie tat.
Sie hatte das Gefühl, ihrer Patin das schuldig zu sein, weil sie schließlich für ihre Ausbildung aufkam. So war das mindeste, was sie dafür erwarten konnte, ein regelmäßiger Bericht über ihre Fortschritte.
Mrs. Van Holden hatte bis vor sechs Monaten jeden Brief beantwortet, den Ilita ihr geschickt hatte. Dann war eine lange Pause eingetreten, und sie hatte sich besorgt erkundigt, ob sie ihre Briefe erhalten hätte, oder ob sie vielleicht auf Reisen gewesen war, und man ihr die Briefe nicht nachgeschickt hatte.
Endlich erhielt sie den Brief einer ihrer Sekretärinnen. Sie wurde informiert, daß ihre Patentante kürzlich Witwe geworden und zutiefst traurig über den Verlust ihres Ehemannes war. Außerdem stände es mit ihrer eigenen Gesundheit auch nicht zum Besten.
Sie sandte jedoch ihre besten Grüße und bat Ilita, so bald wie möglich wieder zu schreiben.
Ilita tat das, schrieb jetzt sogar wöchentlich, aber es fiel ihr schwer etwas zu finden, was für jemanden auf der anderen Seite der Welt interessant sein würde.
In den folgenden zwei, drei Monaten hatte sie zwei kurze Briefe erhalten, die von Mrs. Van Holden in sehr zittriger Schrift verfaßt waren.
»Es geht mir schon etwas besser, mein liebes Kind«, hatte sie geschrieben, »und ich gebe mir natürlich Mühe, schnell gesund zu werden, damit ich nach England kommen und Dich in London empfangen kann, wenn Du den Konvent verläßt. Ich habe bereits Anweisungen gegeben, ein großes Haus für mich zu suchen, das ich für die Saison mieten kann. Dort will ich den Ball geben, den ich Dir versprochen habe. Außerdem habe ich an die Frau Deines Onkels geschrieben, die neue Countess, und sie gefragt, ob sie beabsichtigt, Dich im Buckingham Palace vorzustellen.«
Es klang alles schrecklich aufregend, aber dann, vor einem Monat, hatte Ilita wieder einen Brief von ihrer Tante erhalten.
Er war ganz offensichtlich einem Sekretär diktiert worden, denn er war kurz, klang kühl und geschäftsmäßig. Ilita wurde informiert, man habe soeben erfahren, daß ihre Patentante, Mrs. Van Holden, in Virginia verstorben sei und deshalb nicht wie geplant nach London kommen könnte.
»Es war geplant«, hieß es weiter in dem Brief, »daß Du in London bei Mrs. Van Holden wohnen solltest. Ich habe jedoch auch einen Brief von der Mutter Oberin Deiner Schule erhalten, in dem sie mich informiert, daß Du nun zu alt bist, um noch länger ihre Schülerin zu bleiben, und daß man Dich deshalb am Ende des Semesters nach England zurückschicken wird. Du wirst hier zu mir ins Darrington House kommen. Dort werde ich Dir mitteilen, was in Bezug auf Deine Zukunft beschlossen wurde. Ich wünsche nicht, daß Du, ehe ich mit Dir gesprochen habe, mit irgendeinem anderen Mitglied der Familie in Verbindung trittst. Sobald ich weiß, wann der Zug, mit dem Du kommst, in London eintrifft, werde ich dafür sorgen, daß Du von einem Wagen abgeholt wirst. Befolge bitte die Anweisungen in diesem Brief.
Hochachtungsvoll,
Sybil Darrington.«
Ilita las den Brief wieder und wieder. Sie fand es ungewöhnlich, daß ihre Tante ihr so förmlich schrieb.
Dann fiel ihr ein, daß sie, als sie vor zwei Monaten vom Tod ihres Onkels erfahren und einen Kondolenzbrief geschickt hatte, nicht einmal eine Antwort erhalten hatte.