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Robel Afeworki Abay

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Beschreibung

Die voranschreitende Geopolitik geht mit komplexen Formen epistemischer Gewalt eurozentristischer Wissensordnungen einher. Diese zeigt sich auch in der Weitertradierung komplexitätsreduzierender Wissensproduktion sowohl über Behinderung als auch über Migration/Flucht: Es wird wiederholt über die Betroffenen, statt mit ihnen gesprochen. Robel Afeworki Abay widmet sich der Diskriminierung und Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen und beleuchtet aus postkolonialen und intersektionalen Perspektiven die Zugangsbarrieren und Bewältigungsressourcen der Betroffenen. In seiner partizipativen Studie legt er dar, dass epistemische Gewalt hierbei als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens fungiert.

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Robel Afeworki Abay ist Gastprofessor für partizipative Ansätze in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. In seiner Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin befasste er sich mit intersektionalen Kolonialitäten von Rassismus und Ableismus. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Intersectional Disability Justice, Migrationssoziologie, Diversität und Intersektionalität, Rassismus und Ableismus, Disability Studies und Critical Race Theory (DisCrit), Postkoloniale und Dekoloniale Theorien, Climate und Social Justice sowie partizipative Forschung.

Robel Afeworki Abay

Dekolonialisierung des Wissens

Eine partizipative Studie zu Diskriminierung und Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.) an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt- Universität zu Berlin, 2023, u.d.T.: Partizipative Forschung zur Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen. Die Dissertation wurde von Prof.’in Dr. Gudrun Wansing, Humboldt-Universität zu Berlin, und Prof.’in Dr. Hella von Unger, Ludwig-Maximilians-Universität München, begutachtet.

Die Veröffentlichung wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Humboldt- Universität zu Berlin und die Hans-Böckler-Stiftung gefördert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld© Robel Afeworki Abay

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: BAIVECTOR / Adobe Stock (bearbeitet)

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839470534

Print-ISBN: 978-3-8376-7053-0

PDF-ISBN: 978-3-8394-7053-4

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7053-0

Buchreihen-ISSN: 2702-9271

Buchreihen-eISSN: 2702-928X

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

 

 

»There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.« Audre Lorde (2007), Sisters Outsider  Mit voller Dankbarkeit und Wertschätzung für die Schwarze Feministin, Dichterin und Aktivistin Audre Lorde, deren machtkritische und intersektionale Arbeit mein queer-feministisches Wissen und intersektional-analytisches Denken wesentlich prägte.

Inhalt

Danksagung

1.Einleitung

2.Die komplementäre Analyseheuristik postkolonialer Theorien und Intersektionalität

2.1Postkoloniale Theorien

2.1.1Epistemische Gewalt als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens

2.1.2Othering als machtvoller Prozess der Veranderung und Invisibilisierung

2.1.3Epistemischer Ungehorsam: Möglichkeiten der Dekolonialisierung rassistischer und ableistischer Wissensordnungen

2.2Intersektionalität

2.2.1Einführende Überlegungen zur Relevanz des Intersektionalitätskonzepts

2.2.2Intersektionalität als Work-in-Progress

2.2.3Decolonial Intersectionality

3.Forschungs- und Diskursstand

3.1Was heißt hier Teilhabe? Zur entfernten Begriffsverwandtschaft zwischen Teilhabe, Inklusion und Partizipation

3.2Strukturelle Einflussfaktoren der Teilhabe an Erwerbsarbeit

3.2.1Ethnisierung von Bildungsdisparitäten

3.2.2Prekäre Übergangsmöglichkeiten

3.2.3Komplexitätsreduzierende Kategorisierungspraxen

3.2.4Unzugänglichkeit der Unterstützungsstrukturen

3.3Parallelen und Wechselwirkungen zwischen Rassismus und Ableism

3.4Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Diversity zwischen neoliberaler Opferkonkurrenz und communityübergreifender Solidarität

3.5Erwerbsarbeit zwischen ökonomischer Existenzsicherung und umkämpfter Teilhabe

4.Methode und Methodologie

4.1Untersuchungsziele und Forschungsfragen

4.2Forschungsdesign und empirischer Prozess

4.3Partizipative Forschung

4.3.1Feldzugang und Erhebungskontext

4.3.2Erhebungsinstrumente

4.3.3Partizipative Auswertungsworkshops

4.4Grounded Theory Methodology

4.4.1Zirkulärer Forschungsprozess der gleichzeitigen Datenerhebung und Datenauswertung

4.4.2Theoretisches Sampling

4.4.3Qualitative und partizipative Auswertungsverfahren

5.Darstellung der empirischen Ergebnisse

5.1Zugangsbarrieren der Teilhabe an Erwerbsarbeit

5.1.1Strukturell-institutionelle Faktoren

5.1.2Sozio-familiale Faktoren

5.1.3Individuelle Faktoren

5.2Handlungsstrategien und Bewältigungsressourcen

5.2.1Strukturell-institutionelle Ressourcen

5.2.2Sozio-familiale Ressourcen

5.2.3Individuelle Ressourcen

6.Diskussion, Reflexion und Implikationen der empirischen Ergebnisse

6.1Diskussion der zentralen empirischen Ergebnisse

6.2Living at the Crossroads: Rassismus und Ableism als intersektional wirkmächtige Herrschaftsverhältnisse

6.3Reflexion über die Limitationen der empirischen Ergebnisse

6.4Implikationen der empirischen Ergebnisse

6.4.1Notwendigkeit der Weiterentwicklung von Unterstützungsstrukturen

6.4.2Grenzen der Operationalisierung empirischer Intersektionalitätsforschung

6.4.3Cultural Humility: Kritische Reflexionen der eigenen Positionalität in der partizipativen Forschungspraxis

7.Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

Nach einem langen Prozess geht die intensive Promotionszeit mit vielen Höhen und Tiefen, produktiven und weniger produktiven Tagen und Nächten nun zu Ende. Der intensive Schreibprozess der vorliegenden Arbeit ermöglichte mir neben vielen äußerst bereichernden Erfahrungen und Begegnungen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen über gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse auch den persönlichen Reflexionsraum, über die eigenen strukturellen Diskriminierungserfahrungen, Privilegien sowie geopolitischen und sozialen Positionierungen nachzudenken.

Mein ausgesprochener Dank gilt daher an erster Stelle meinen Forschungspartner*innen, die mir im Laufe des gesamten Forschungsprozesses ihre wertvolle Zeit und vor allem ihr Vertrauen schenkten. Ebenfalls möchte ich Prof.’in Dr. Gudrun Wansing und Prof.’in Dr. Hella von Unger von ganzem Herzen dafür danken, dass sie mir während des gesamten empirischen Prozesses neue Denkrichtungen aufzeigten und mich mit ihren produktiven, kritischen und differenzierten Anmerkungen stets ermutigten, weiterzudenken. Außerdem danke ich meinen Freund*innen dafür, dass sie meine kürzeren und längeren Gedanken mit mir diskutierten und durch ihre wertschätzenden und kritischen Betrachtungen dieser Arbeit, mich unterstützten und bestärkten. Auf diesem Wege möchte ich ebenfalls meinen Dank an die Hans-Böckler-Stiftung für die Promotionsförderung zum Ausdruck bringen. Die finanzielle Unterstützung entlastete mich während der Erarbeitung meiner Dissertation enorm und ermöglichte mir, mich wesentlich auf meine Forschung zu konzentrieren.

Dieses Buch ist meiner herzallerliebsten Emaye gewidmet, die mit ihrer bedingungslosen Großmutterliebe und unverbrüchlichen Unterstützung zu meinem Bildungserfolg maßgeblich beitrug. Wie viel ich ihr schulde, ist nicht in Worte zu fassen. Ich hoffe jedoch, dass dieses Buch ein wenig von ihrem Sinn für soziale Gerechtigkeit in einer dekolonialen Welt widerspiegelt.

1. Einleitung

 

»The colonial world is a world divided into compartments.« Frantz Fanon (1963), The Wretched of the Earth

Die voranschreitenden geopolitischen Prozesse, die u.a. mit komplexen Formen epistemischer Gewalt eurozentristischer Wissensordnungen einhergehen (u.a.: Andrews, 2021; Bhambra, 2014a; Getachew, 2019; Spivak, 1988), zeigen sich auch in der Weitertradierungkomplexitätsreduzierender Wissensproduktion und paternalistischer Invisibilisierung von Betroffenenperspektiven in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen sowohl zu Behinderung als auch zu Migration/Flucht: Es wird wiederholt über die Betroffenen, statt mit ihnen gesprochen (mehr zu dieser Kritik siehe: Aden et al., 2019; Afeworki Abay & Engin, 2019; Afeworki Abay et al., 2021; Amirpur, 2016; Kaufmann et al., 2019; von Unger, 2018b). Solche diskursiven und wissenschaftlichen Praktiken sind in vielerlei Hinsicht hochproblematisch, da sich bei näherer Betrachtung dieser Thematik feststellen lässt, dass die theoretische Annährung und empirische Bearbeitung struktureller Vulnerabilitäten von marginalisierten Gruppen wie z.B. Black, Indigenous and People of Color (BIPoC)1 mit Behinderungserfahrungen2 sich als ein vielschichtiges und widersprüchliches Forschungsfeld zeigt. Dabei fungiert die epistemische Gewalt als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens (zusammenfassend dazu siehe: Afeworki Abay & Soldatic, 2023b). Vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Erkenntnisse stellt sich hier sowohl die Frage nach der Dekolonialisierung rassistischer und ableistischer Wissensordnungen als auch nach der eigenen Standortgebundenheit und Positionierung in geopolitischen Machtstrukturen der Wissensproduktion.

Im Hinblick auf den deutschsprachigen Diskurs der Intersektionalitätsforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht lässt sich anhand des aktuellen Forschungstands feststellen, dass über intersektionale Diskriminierungen und Teilhabemöglichkeiten von BIPoC mit Behinderungserfahrungen insgesamt noch wenig empirische Erkenntnisse vorliegen (u.a.: Korntheuer et al., 2021; Wansing & Westphal, 2014a; Westphal & Wansing, 2019a). Entsprechend sind auch die strukturellen Bedingungen der Teilhabe und die damit einhergehenden intersektionalen Diskriminierungsrisiken beim Zugang zu Erwerbsarbeit, insbesondere aus subjektiven Perspektiven der Betroffenen in der Teilhabeforschung3 empirisch nahezu unbearbeitet (u.a.: Afeworki Abay, 2019; BMAS, 2016, 2021; Otten & Afeworki Abay, 2022; Pieper, 2016; Pieper & Haji Mohammadi, 2014a). Vielmehr wurden die Perspektiven und Stimmen der Betroffenen in den hegemonialen Diskursen und Forschungen bislang weitestgehend marginalisiert: Es wird mehr über sie, statt mit ihnen gesprochen (u.a.: Aden et al., 2019; Afeworki Abay & Engin, 2019; Köbsell, 2019; Mohammed et al., 2019). Diese Forschungslücke soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit anhand einer postkolonial orientierten intersektionalen Analyse der Diskriminierung und Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen mithilfe eines partizipativen Forschungszugangs geschlossen werden.

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, postkoloniale und intersektionale Perspektiven zusammenzuführen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die partizipative Teilhabeforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht fruchtbar zu machen. Dabei liegt das Erkenntnisinteresse der empirischen Studie erstens darin, subjektive Wahrnehmungen und Deutungen von BIPoC mit Behinderungserfahrungen im Hinblick auf ihre Teilhabemöglichkeiten und Diskriminierungserfahrungen beim Zugang zu Erwerbsarbeit und die damit verknüpften Zugangsbarrieren und Bewältigungsressourcen anhand qualitativ-explorativer Interviews zu ermitteln sowie den aktuellen Teilhabediskurs an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht zu erweitern (Teilhabeforschung). Zweitens zielt die Studie darauf ab, die theoretische und empirische Intersektionalitätsforschung aus einer postkolonialen Perspektive weiterzuentwickeln (DecolonialIntersectionality). Entsprechend werden die beiden kritischen Ansätze für die partizipative Teilhabeforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht anschlussfähig gemacht, um die bestehenden Formen eurozentristischer Wissensproduktion sichtbar zu machen und dekoloniale Alternativen aufzuzeigen. Drittens will die vorliegende Arbeit durch ihr partizipatives Forschungsdesign zu einer methodischen, methodologischen und forschungsethischen Weiterentwicklung partizipativer Forschung gemeinsam mit BIPoC mit Behinderungserfahrungen beitragen. Hiermit verbunden ist die Grundüberzeugung, dass die betreffenden Personen und Communities nicht nur als Expert*innen4 der eigenen Orientierungen und Handlungen, sondern auch als handlungsfähige Subjekte des Forschungsprozesses anerkannt und an der empirischen Wissensproduktion aktiv beteiligt werden müssen, damit lebensweltliches Wissen zur Stärkung ihrer vielfältigen Ressourcen im Umgang mit intersektionalen Diskriminierungen generiert werden kann (Partizipative Forschung).

Vor dem Hintergrund der unzureichenden Erkenntnisse über die Teilhabemöglichkeiten von BIPoC mit Behinderungserfahrungen und damit verbundenen Barrieren des allgemeinen Arbeitsmarkts konnte eine Formulierung von potenziellen Theorien erst im Laufe des Forschungsprozesses erfolgen (Breuer et al., 2018, S. 16; Strübing, 2014, S. 59). Entsprechend wurden den aufgeworfenen drei zentralen Erkenntnisinteressen in Orientierung an dem qualitativen Forschungsdesign der Grounded Theory Methodology (GTM) nach Jörg Strübing (2018) und Franz Breuer et al. (2018) nachgegangen, um die intersektionalen Lebensrealitäten der Forschungspartner*innen aus ihren subjektiven Sichtweisen zu erfassen. Ausgehend von einem machtkritischen und dekolonialen Partizipationsverständnis werden die in der empirischen Studie beteiligten Personen im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Forschungspartner*innen bezeichnet, um ihre kontinuierliche und aktive Mitwirkung im gesamten Forschungsprozess anzuerkennen. Mit der Anpassung des Begriffs lassen sich jedoch die existierenden Machthierarchien zwischen den akademisch Forschenden und beteiligten Forschungspartner*innen weder negieren noch vollständig auflösen. Entsprechend werden diese im gesamten Verlauf des partizipativen Forschungsprozesses explizit in den Blick genommen, kritisch reflektiert und je nach Möglichkeit abgebaut. Einen Schwerpunkt bildet dabei der dekoloniale Aufruf zur Reflexion der eigenen Standortgebundenheit und Positionalität der Forschenden, um die damit verbundenen Verstrickungen in die Reproduktion geopolitischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Machtverhältnisse in einem kritisch-reflexiven Forschungsprozess besonders in den Fokus zu stellen.

Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen gegliedert:

Im zweiten Kapitel werden postkolonialeTheorien und Intersektionalität als sich ergänzende theoretische Zugänge dargelegt: ›Die komplementäre Analyseheuristik postkolonialer Theorien und Intersektionalität‹ (2). Entsprechend wird dabei erstens die Notwendigkeit der Einbeziehung postkolonialer Theorien erläutert, um die geopolitischen Machtstrukturen im Sinne der Kolonialität des Wissens über Behinderung und Migration/Flucht kritisch zu analysieren: ›Postkoloniale Theorien‹ (2.1). Der Fokus wird folglich auf die vielfältigen Mechanismen epistemischer Gewalt der eurozentristischen Wissensproduktion und die daraus resultierenden, dekolonialen Interventionen gerichtet: ›Epistemische Gewalt als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens‹ (2.1.1), ›Othering als machtvoller Prozess der Veranderung und Invisibilisierung‹ (2.1.2) und ›Epistemischer Ungehorsam: Möglichkeiten der Dekolonialisierung rassistischer und ableistischer Wissensordnungen‹ (2.1.3). Zweitens wird dabei erörtert, inwieweit der Einbezug einer solchen Analyseheuristik sich als besonders produktiv erweist, um die vielfältigen Verflechtungen der beiden Differenzkategorien ›Behinderung‹ und ›Migration/Flucht‹ sowie den damit verbundenen Teilhabediskurs im Kontext kritischer Analyse von sozialen Ungleichheitsverhältnissen zu erfassen: ›Intersektionalität‹ (2.2). In diesem Sinne werden zunächst im Unterkapitel 2.2.1 ›Einführende Überlegungen zur Relevanz des Intersektionalitätskonzepts‹ vorangestellt und daran anschließend im Unterkapitel 2.2.2 ›Intersektionalität als Work-in-Progress‹ diskutiert, um die Unvollständigkeit und Grenzen der hegemonialen Intersektionalitätsforschung zur Analyse der komplexen postkolonialen Zusammenhänge differenziert zu beleuchten und die Prozesshaftigkeit und Notwendigkeit weiterer empirischer Exploration intersektionaler Analyse zu betonen. Ausgehend von der postkolonialen Kritik an der eurozentristischen Rezeption von Intersektionalität wird im Unterkapitel 2.2.3 das theoretisch-analytische Konzept DecolonialIntersectionality vorgestellt, welches viele wichtigen Möglichkeiten bietet, um postkoloniale und intersektionale Forschungszugänge zusammenzuführen. Dabei wird zudem die Relevanz des Konzepts für die Bearbeitung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet.

Das dritte Kapitel enthält eine umfangreiche Darstellung der bisherigen theoretischen und empirischen Erkenntnisse an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht: ›Forschungs- und Diskursstand‹ (3). Eine Strukturierung und Bündelung dieser Erkenntnisse bildet die Grundlage und Ausgangssituation der empirischen Studie, um die bestehenden Zugangsbarrieren des allgemeinen Arbeitsmarkts sowie die entsprechenden Umgangsstrategien und Bewältigungsressourcen der Forschungspartner*innen aus einer postkolonial orientierten intersektionalen Perspektive herauszuarbeiten. Dabei werden zuerst im Unterkapitel 3.1 ›Was heißt hier Teilhabe? Zur entfernten Begriffsverwandtschaft zwischen Teilhabe, Inklusion und Partizipation‹ die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei zentralen Begrifflichkeiten ausdifferenziert und präzisiert, bevor im darauffolgenden Unterkapitel ›Strukturelle Einflussfaktoren der Teilhabe an Erwerbsarbeit‹ (3.2) die theoretischen und empirischen Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands dargestellt werden. Daran anknüpfend werden im Unterkapitel 3.3 ›Parallelen und Wechselwirkungen zwischen Rassismus und Ableism‹ und die Implikationen dieser theoretischen Perspektiven für die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet. Anschließend werden im Kapitel 3.4 die widersprüchlichen Diskurse über gesellschaftliche Diversität am Beispiel der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht aufgezeigt: ›Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Diversity zwischen neoliberaler Opferkonkurrenz und communityübergreifender Solidarität‹. Im Unterkapitel 3.5 werden die zentralen Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands zusammenfassend diskutiert und in einem größeren, macht- und herrschaftskritischen Diversity-Diskurs eingebettet: ›Erwerbsarbeit zwischen ökonomischer Existenzsicherung und umkämpfter Teilhabe‹.

Das vierte Kapitel widmet sich den methodischen und methodologischen Grundlagen: ›Methode und Methodologie‹ (4). Dabei werden zunächst die ›Untersuchungsziele und Forschungsfragen‹ erläutert (4.1). Danach wird ein Überblick über das ›Forschungsdesign und den empirischen Prozess‹ gegeben (4.2). Anschließend wird ›Partizipative Forschung‹ als emanzipatorischer, methodisch-methodologischer Ansatz diskutiert (4.3). Hierzu werden zunächst der ›Feldzugang und Erhebungskontext‹ erläutert (4.3.1) und die verschiedenen Erhebungs- und Auswertungsverfahren daran anknüpfend beschrieben (4.3.2 und 4.3.3). In einem weiteren Schritt wird das qualitative Forschungsdesign der ›Grounded Theory Methodology‹ vorgestellt (4.4) entlang der wesentlichen Elemente dieser Methodologie erläutert: ›Zirkulärer Forschungsprozess der gleichzeitigen Datenerhebung und -auswertung‹ (4.4.1), ›Theoretisches Sampling‹ (4.4.2) sowie ›Qualitative und partizipative Auswertungsverfahren‹ (4.4.3).

In Kapitel 5 erfolgt die Darstellung der empirischen Ergebnisse. Diese gliedert sich in zwei wesentliche Teile: ›Zugangsbarrieren der Teilhabe an Erwerbsarbeit‹ (5.1) und ›Handlungsstrategien und Bewältigungsressourcen‹ (5.2). Im Unterkapitel 5.1 werden zunächst die zentralen Hürden und Barrieren institutioneller Unterstützungs- und Informationsangebote aufgezeigt, die sich für BIPoC mit Behinderungserfahrungen beim Zugang zu Erwerbsarbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ergeben: ›Strukturell-institutionelle Faktoren‹ (5.1.1), ›Sozio-familiale Faktoren‹ (5.1.2) und ›Individuelle Faktoren‹ (5.1.3). Darauf aufbauend werden im Unterkapitel 5.2 die entsprechenden Handlungsstrategien und-ressourcen zur Bewältigung von Zugangsbarrieren des allgemeinen Arbeitsmarkts dargelegt, die anhand der subjektiven Perspektiven der Forschungspartner*innen herausgearbeitet wurden: ›Strukturell-institutionelle Ressourcen‹ (5.2.1), ›Sozio-familiale Ressourcen‹ (5.2.2) und ›Individuelle Ressourcen‹ (5.2.3).

Im Fokus des Kapitels 6 stehen die empirischen Erkenntnisse, die anhand von ausgewählten, konstitutiven Interviewauszügen exemplarisch dargestellt und mit Blick auf die im Kapitel 4 formulierten Fragestellungen zusammenfassend diskutiert werden. Zudem werden die empirischen Erkenntnisse mit den theoretisch-analytischen Ansätzen der postkolonialen Theorien und Intersektionalität in Zusammenhang gebracht (6.1). Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die vielfältigen Verschränkungen rassistischer und ableistischer Ordnungen gelegt: ›Living at the Crossroads: Rassismus und Ableism als intersektional wirkmächtige Herrschaftsverhältnisse‹ (6.2). Darüber hinaus wird eine kritische Reflexion über die Limitationen der empirischen Ergebnisse vorgenommen (6.3). Daran anknüpfend erfolgt die Darstellung von Implikationen, die sich aus den empirischen Ergebnissen der empirischen Untersuchung für den weiteren Forschungsbedarf an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht ableiten lassen (6.4). Dabei werden einige grundsätzliche Überlegungen zur Weiterentwicklung der institutionellen Unterstützungsstrukturen an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht diskutiert (6.4.1). Ferner werden die bestehenden Herausforderungen und Grenzen der Operationalisierung empirischer Intersektionalitätsforschung kritisch diskutiert (6.4.2). Am Ende dieses Kapitels werden die forschungsethischen und methodisch-methodologischen Herausforderungen partizipativer Forschung mitsamt den darin eingebetteten Machtverhältnissen selbstkritisch analysiert (6.4.3).

Das abschließende Kapitel 7 befasst sich mit der theoretischen Einordnung der empirischen Forschungsergebnisse der vorliegenden Arbeit sowie deren Bedeutung für die weitere Schärfung des Teilhabediskurses an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht. Die zusammenführende Analyse der theoretischen und empirischen Erkenntnisse bildet die zentrale Grundlage für eine umfassendere und resümierende Diskussion über die Komplexität intersektionaler und partizipativer Teilhabeforschung.

1Innerhalb der vorliegenden Arbeit wird die kollektive Selbstbezeichnung ›BIPoC‹ dem machtvollen und ethnisierenden Begriff ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ vorgezogen. Eine ausführliche, kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Migrationshintergrund‹ und eine detaillierte Erläuterung des damit zusammenhängenden emanzipatorischen Begriffs ›BIPoC‹ erfolgt im Unterkapitel 2.1.3.1.

2Vor dem Hintergrund der starken Kritik an der Engführung des Begriffs ›Behinderung‹ (siehe dazu insbesondere: Budde et al., 2020; Werning, 2014)und damit verbundenen Herstellungs- und Wirkungsweisen von ›Behinderung‹ wird in der vorliegenden Arbeit von Behinderungserfahrungen (Afeworki Abay, 2019, 2021) gesprochen, um damit den Fokus auf die gesellschaftlichen Mechanismen von Diskriminierungen und Ausgrenzungen im Sinne von sozialen Erfahrungen des Behindert-Werdens zu legen, statt vom vermeintlichen Zustand des Behindert-Seins auszugehen.

3Die Teilhabeforschung ist ein relativ junges Forschungsfeld, welches sich damit befasst, die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen unter den normativen Perspektiven von Inklusion und gleichberechtigter Teilhabe und den damit einhergehenden Einschluss- und Ausgrenzungsmechanismen in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen unter besonderer Berücksichtigung individueller und umweltbedingter Risikofaktoren theoretisch und empirisch interdisziplinär zu untersuchen (Schäfers & Wansing, 2020; Wansing et al., 2022).

4An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass im Verlauf der vorliegenden Arbeit zum Einbezug aller Geschlechteridentitäten mit dem Gendersternchen* gearbeitet wird, um eine einheitliche und gute Lesbarkeit, aber vor allem eine gendergerechte Schreibweise zu ermöglichen.

2. Die komplementäre Analyseheuristik postkolonialer Theorien und Intersektionalität

Die theoretische Basis der vorliegenden Arbeit gründet auf der Kombination zweier theoretisch-analytischer Ansätze: Postkoloniale Theorien und Intersektionalität. Die Zusammenführung der beiden kritischen Zugänge bringt zwar weitere Komplexität im ohnehin anspruchsvollen Feld der Teilhabeforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht mit sich, die zusätzliche methodisch-methodologische Ressourcen sowie macht- und selbstkritische Reflexionsräume erfordert. Gleichzeitig bietet die Berücksichtigung einer postkolonialen Perspektive viele Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Spezifizierung der bestehenden theoretischen und empirischen Erkenntnisse über die intersektionalen Bedingungen der Teilhabemöglichkeiten und potenziellen Diskriminierungserfahrungen von BIPoC mit Behinderungserfahrungen beim Zugang zu Erwerbsarbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Für die empirische Bearbeitung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit werden daher die vielfältig existierenden theoretischen Erkenntnisse postkolonialerTheorien und Intersektionalität zusammengeführt. Die Entwicklung und Anwendung einer komplementären Analyseheuristik der beiden macht- und herrschaftskritischen Ansätze ermöglicht, ein differenziertes und umfassendes Erklärungs- und Analysepotenzial zur Bearbeitung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit und zur entsprechenden Entwicklung inklusiver Strukturen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu entfalten. Im Anschluss an postkoloniale Theorien erweist sich ein intersektionaler Forschungszugang für die Bearbeitung der Forschungsfragen der vorliegenden Arbeit als unerlässlich, um die machtvollen sozialen Praxen der Invisibilisierung, Homogenisierung und Essentialisierung der intersektionalen Lebensrealitätenvon BIPoC mit Behinderungserfahrungen zu überwinden:

»Intersektionalität als auch postkoloniale Analysen haben gemeinsam, dass sie quasi paradigmatisch einen neuen Blick auf (Un-)Sichtbarkeiten, Repräsentation sowie Marginalisierung von (post-)kolonialen und rassifizierten Subjekten entwerfen. Kaum zufällig handelt es sich in beiden Fällen um dezidiert feministische Untersuchungen, die eben auch die Konsequenzen patriarchal strukturierter Gesellschaften darlegen« (Castro Varela & Mohamed, 2021, S. 3).

Eine komplementäre Analyseheuristik von postkolonialenTheorien und Intersektionalität bietet nicht nur einen sich gegenseitig ergänzenden theoretisch-analytischen Zugang zum Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, sondern rahmt auch den historischen Kontext politischer und wissenschaftlicher Diskurse über Behinderung und Migration/Flucht in der kritischen Analyse von bestehenden Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnissen der Dominanzgesellschaft1. Entsprechend soll eine komplementäre Analyseheuristik die Möglichkeit erschließen, nicht nur die bestehenden kolonialrassistischen und ableistischen Zuschreibungspraktiken theoretisch aufzuarbeiten, sondern auch die fördernden und hemmenden Zugangs- und Teilhabebedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts empirisch zu erfassen. Dieses Vorhaben ist zwar anspruchsvoll, verspricht aber einige Möglichkeiten, die beiden theoretischen Ansätze nicht nur anhand von empirischen Erkenntnissen darzustellen, sondern gerade in ihren unterschiedlichen theoretischen Fundierungen und analytischen Perspektiven miteinander in Beziehung zu setzten (u.a.: Castro Varela & Mohamed, 2021; Hutson, 2007, 2011; Kerner, 2017; Mauer & Leinius, 2021; Wallaschek, 2015). 

Der Anspruch dieser Vorgehensweise besteht darin, Prozesse der Inklusion und Exklusion beim Zugang zu Erwerbsarbeit hinsichtlich ihrer widersprüchlichen Mechanismen durch die beiden theoretischen Zugänge zu untersuchen:

»Intersektionalität in Kombination mit postkolonialer Theorie ermöglicht einerseits Marginalisierung und Gewalt dort zu sehen, wo eine De-Thematisierung sie unsichtbar gemacht hat. Sie bewahrt anderseits vor einer eurozentrischen Verengung des Blicks auf Diskriminierungsprozesse und hebt die globalen kapitalistischen Verflechtungen hervor« (Castro Varela & Mohamed, 2021, S. 12).

Ein solches Vorgehen verspricht mehrere Vorzüge: Erstens erweist sich der Intersektionalitätsansatz als wissenschaftlich höchst innovativ und besonders relevant, um die bestehenden strukturellen Ungleichheitsverhältnisse2 an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht in ihrer Komplexität aufzuzeigen. Zweitens könnte es vielversprechend sein, ergänzend zu einem intersektionalen theoretischen Zugang, eine dezidiert postkoloniale Analyse heranzuziehen, um den Zusammenhang fortwährender kolonialer Differenzherstellung und der darin eingebetteten Hierarchie- und Machtverhältnisse aus postkolonialer Perspektive kritisch zu reflektieren sowie die ökonomischen Ungleichheitsverhältnisse des globalisierten kapitalistischenSystemsherauszuarbeiten (u.a.: Castro Varela & Mohamed, 2021; Kerner, 2017; Mauer & Leinius, 2021; Wallaschek, 2015).

Die hier zugrundeliegende Annahme ist, dass der Zugang zu Erwerbsarbeit in einer hochselektiven und exklusiven Gesellschaft grundsätzlich für jede Person einen (Un-)Möglichkeitsraumdarstellt, dessen Anforderungen in Abhängigkeit von individuellen, sozio-familialensowie strukturellen Faktoren unterschiedlich bewältigt werden müssen (u.a.: Afeworki Abay, 2019; Aybek, 2014; Farrokhzad, 2018; Schreiner & Wansing, 2016). Für viele Menschen in marginalisierten Lebenslagen wie etwa Menschen mit Behinderungserfahrungen zeigen sich allerdings insgesamt erschwerte Zugangsvoraussetzungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die mit vielfältigen Barrieren und Exklusionsmechanismen einhergehen (Wansing, 2007, S. 291). Ebenfalls zeigen sich für BIPoC vielfältige Herausforderungen und Zugangsbarrieren auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (u.a.: Aybek, 2014; BMAS, 2016, 2021; Pieper & Haji Mohammadi, 2014a).

Somit rücken die intersektionalen Lebensbedingungen3 von BIPoC mit Behinderungserfahrungen in den letzten zehn Jahren immer mehr in den Vordergrund wissenschaftlicher und politischer Diskurse (u.a.: Korntheuer et al., 2021; Westphal & Wansing, 2019a). Damit einhergehend kommt der Frage nach der intersektionalen Analyse der komplexen gesellschaftlichen Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse eine erhöhte wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu. Entsprechend werden auch strukturelle Veränderungen im Zusammenhang mit den wachsenden Anforderungen und prekären Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse (u.a.: Bartelheimer, 2007; Becker, 2017; Jochmaring, 2019; Jochmaring et al., 2019; Karim, 2021; Ritz, 2015; Schreiner, 2017; Wansing et al., 2018).

Auf der politischen Ebene lassen sich ebenfalls Bemühungen erkennen, die auf die Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungserfahrungen in verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft zielen. Zu dieser Bemühungen gehören bspw. die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in 2009, die Einführung des neuen Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in 2017, 2018 und 2020 sowie weitere Gesetzesreformen im Sozialrecht (u.a.: Wansing et al., 2018; Welti, 2015). Durch Art. 27 der UN-BRK wurde zwar der rechtlich-normative Anspruch explizit formuliert, einen inklusiven Arbeitsmarkt für alle Menschen zu schaffen:

»Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird«.

Ausgehend von den Erkenntnissen des aktuellen Forschungsstands lässt sich jedoch annehmen, dass im Hinblick auf die Zugangsvoraussetzungen des allgemeinen Arbeitsmarkts für viele Menschen mit Behinderungserfahrungen trotz des rechtlich-normativen Anspruchs der UN-BRK bislang keine nachhaltige Verbesserung festzustellen ist (u.a.: Biermann, 2015; Karim, 2021; Ritz, 2015). Als besonders prekär stellen sich hierbei die Erwerbsarbeitschancen für Menschen in marginalisierten Lebenslagen wie etwa geflüchtete Menschen mit Behinderungserfahrungen (u.a.: BMAS, 2016, 2021; Denniger, 2017; Diehl, 2017; Huke, 2021; Pieper, 2016; Pieper & Haji Mohammadi, 2014a) heraus. Je nach erfolgreicher Bewältigung der komplexen Übergangsprozesse von der Schule in berufliche (Aus-)Bildung können sich soziale Ungleichheiten4 in unterschiedlichem Ausmaß intersektional manifestieren (u.a.: Berg, 2017; Boger, 2017b; Emmerich & Hormel, 2017; Granato & Ulrich, 2014; 2017; Schwanenflügel, 2015; Schwanenflügel et al., 2016; Skrobanek, 2015; Walther & Stauber, 2013, 2016). Die Aussicht auf eine Erwerbsarbeit5, die nicht nur dauerhafte ökonomische Existenzsicherung, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung mit sich bringt, ist für diese Personengruppen äußerst gering (u.a.: Bartelheimer, 2007; Becker, 2017; Jochmaring, 2019; Schreiner, 2017).

Trotz dieser erkennbaren behinderungspolitischen Reformbestrebungen findet die Teilhabe an Erwerbsarbeit von Menschen mit Behinderungserfahrungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach wie vor unter prekären Bedingungen statt. Dies hat zur Folge, dass für diese Personengruppe häufig eine Beschäftigung in Sondereinrichtungen wie z.B. in einer WfbM die einzige Alternative bleibt, welche gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer Exklusionskarriere erhöht. Dabei zeichnet sich das Beschäftigungsverhältnis in einer WfbM besonders für Menschen mit sog. geistigen Behinderungen6 bzw. »Lernschwierigkeiten« (Kremsner, 2017, S. 11) durch eine »Dauerhaftigkeit, die so gut wie nie in eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt führt« (Reims et al., 2018, S. 64) aus. Entsprechend stellt sich hier die Frage, inwieweit die existenzsichernde Teilhabe an Erwerbsarbeit in solchen Sondereinrichtungen vollzogen werden kann. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Umsetzung rechtlich-normativer Ansprüche der Teilhabe- und Verwirklichungschancen (Capabilities)7 einerseits und der Reproduktion bestehender intersektionaler Diskriminierungen andererseits, ist für kapitalistisch strukturierteArbeits- und Leistungsgesellschaften charakterisierend (u.a.: Afeworki Abay & Berghs, 2023; Berghs & Dyson, 2020; Dyson et al., 2021; Pieper, 2016; Pieper & Haji Mohammadi, 2014b). Sozeichnetsich die Arbeitswelt imZugeder weitgreifenden Wandlungs- und Umstrukturierungsprozesseder vergangenen Jahre und der damit zusammenhängendenerhöhten Flexibilitäts- und Qualifikationsanforderungenzunehmend durch dominante Normalitätsvorstellungen (Wansing, 2012a, S. 394) und das Ideal ›leistungsfähiger‹ Arbeitskräfte im Sinne des meritokratischen Leistungsprinzips aus (Doose, 2012, S. 86).

Dabei findet die Tatsache kaum Beachtung, dass die verschiedenen Mechanismen institutioneller Diskriminierungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten entlang der Differenzkategorien ›Behinderung‹ und ›Migration/Flucht‹ sowie weitere Differenzkategorien8 wie Klasse, Gender, Alter, Sexualität, Körper etc. beitragen bzw. erst durch die Verflechtungen dieser Differenzkategorien soziale Ungleichheiten hervorgebracht werden können (siehe dazu u.a.: Otten, 2020; Otten & Afeworki Abay, 2022; Riegel, 2016; Walgenbach, 2018b). Wenngleich Behinderung und Migration/Flucht die zentralen Differenzkategorien der vorliegenden Arbeit bilden, werden weitere ungleichheitsgenerierende Differenzkategorien wie z.B. Klasse und Gender in den Fokus der intersektionalen Analyse der empirischen Ergebnisse gerückt.

Abb. 1: Zentrale ungleichheitsgenerierende Differenzkategorien der empirischen Untersuchung (eigene Darstellung).

Im Hinblick auf die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungserfahrungen lässt sich insgesamt feststellen, dass die Personengruppe multiple Zugangs- und Teilhabebarrieren der segmentierten wohlfahrtstaatlichen Strukturen als prägende Herausforderungen erlebt (Dorrance & Dannenbeck, 2013, S. 9; Wansing, 2012a, S. 381ff.). Gegenwärtig wächst zwar die Einsicht, dass die Teilhabe von marginalisierten Gruppen mit intersektional verwobenen Barrieren einhergeht. Um diese zu beheben müssen allerdings die Zugangsstrukturen zu den jeweiligen Teilhabebereichen so gestaltet werden, dass »sie allen Menschen gleichberechtigte Möglichkeiten zur Teilhabe eröffnen und niemanden aufgrund von persönlichen Voraussetzungen, wie Geschlecht, Alter oder Beeinträchtigungen, benachteiligen und ausgrenzen« (Wansing, 2015, S. 48).

Unter besonderer Reflexion bestehender gesellschaftlicher Diversität und institutionalisierter Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse ist daher die Heterogenitätsdebatte an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht in der Teilhabeforschung zu erweitern und empirisch auszuloten (Afeworki Abay, 2022; Otten & Afeworki Abay, 2022). Hierfür können intersektionalitätstheoretische Perspektiven einen kritischen Zugang zu Kontexten und Modalitäten der Herstellung, Aktualisierung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten entlang der im spezifischen Forschungsprojekt zu berücksichtigenden Differenzkategorien ermöglichen:

»As an analytical tool, intersectionality views categories of race, class, gender, sexuality, nation, ability, ethnicity, and age –among others- as interrelated und mutually shaping one another« (Hill Collins & Bilge, 2016, S. 4).

Aus einer intersektionalitätstheoretischen Perspektive ist davon auszugehen, dass das Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien unterschiedliche Facetten annehmen und sich verstärkende Effekte hervorrufen kann. So bedingt Beeinträchtigung9 in Wechselwirkung mit weiteren Ungleichheitsdimensionen wie z.B. Migration/Flucht, Alter, Gender oder Klasse unterschiedliche Teilhabemöglichkeiten und Diskriminierungserfahrungen beim Zugang zu Erwerbsarbeit (Afeworki Abay, 2022). In Bezug auf die Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht ist aufgrund des Mangels an empirisch fundierten Erkenntnissen insgesamt noch wenig bekannt darüber (Wansing & Westphal, 2014b, S. 38f.), inwiefern sich diese Differenzkategorien kategorial überkreuzen und welche »Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die sozialen Strukturen, Praktiken und Identitäten reproduzieren« (Walgenbach, 2012b, S. 2).

Viele Wissenschaftler*innen innerhalb der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung, die sich insbesondere mit der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht und Behinderung befassen, vertreten die These, dass aus der spezifischen Verschränkung der sozial konstruierten Kategorien Behinderung und Migration/Flucht sich spezifische Diskriminierungsmerkmale ergeben können (u.a.: Amirpur, 2016, S. 38ff.; Baldin, 2014, S. 50ff.; Windisch, 2014, S. 120). Insbesondere die Verschränkungen der Differenzkategorien ›Behinderung‹, ›Gender‹ und ›Migration/Flucht‹ wurden bislang jedoch in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft empirisch nur randständig bearbeitet (mehr zu dieser Kritik siehe u.a.: Walgenbach, 2012a, 2014a; Wansing & Westphal, 2014b). Entsprechend bleibt die Frage nach ihren spezifischen Benachteiligungen in verschiedenen Teilhabebereichen weiterhin offen (u.a.: Köbsell & Pfahl, 2015, S. 12; Libuda-Köster & Sellach, 2014, S. 315).

Auf Basis von Mikrozensusdaten kommen bspw. Schildmann, Schramme und Libuda-Köster (2018, S. 101ff.) zu dem Ergebnis, dass Frauen*10 mit Behinderungserfahrungen trotz im Schnitt höherer Bildungsabschlüsse viel mehr finanzielle Benachteiligungen erfahren als Männer* mit Behinderungserfahrungen. Es lässt sich zudem annehmen, dass migrantisierte und Schwarze11 Frauen* mit Behinderungserfahrungen intersektionalen Diskriminierungen ausgesetzt sein können, indem verschiedene Formen von Ausgrenzungen und Diskriminierungen zusammenwirken. Beispielsweise kann Rassismus, neben behinderungs- und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, weitere Dimensionen der Benachteiligung und Diskriminierung aufmachen (u.a.: El-Tayeb, 2001, S. 152ff.; Gummich, 2015, S. 152; Köbsell & Pfahl, 2015, S. 12).

Allerdings ist hierbei von einer einfachen Addition der einzelnen Differenzkategorien wie Behinderung und Migration/Fluchtabzusehen, da nicht die Überschneidung bzw. Überkreuzung dieser Differenzkategorienzu einer mehrdimensionalen bzw. intersektionalen Diskriminierung12 führt, sondern vielmehr können sich aus ihrem Zusammenwirken spezifische Formen sozialer Ungleichheiten und institutionalisierter Diskriminierungen ergeben (u.a.: Afeworki Abay, 2022; Amirpur, 2016; Castro Varela & Dhawan, 2013; Wansing & Westphal, 2014a). Entsprechend sind die komplexen wechselseitigen Beziehungen von sozialen Kategorien bei der intersektionalen Analyse bedeutsam:

»Da die Erfahrung von intersektioneller Diskriminierung mehr ist als die Summe von Rassismus und Sexismus, kann nur eine Analyse, die diese Intersektionalität in den Blick nimmt, die spezifische Unterdrückung Schwarzer Frauen in ausreichender Weise thematisieren. Damit feministische Theorie und antirassistischer Diskurs die Erfahrungen und Belange Schwarzer Frauen vollständig erfassen können, muss der gesamte Bezugsrahmen, mit dessen Hilfe ›die Erfahrungen von Frauen‹ oder ›die Erfahrungen von Schwarzen‹ in konkrete politische Forderungen übersetzt werden, überdacht und umgestaltet werden« (Crenshaw, 2013, S. 36f.).

In diesem Zusammenhang argumentiert Crenshaw (1989, S. 148ff.), dass Schwarze Frauen* mehrdimensionale bzw. intersektionale Diskriminierungen erfahren, nicht nur weil sie Frauen* sind (Sexismus) und nicht nur weil sie Schwarz sind (Rassismus), sondern aufgrund der Verschränkung der beiden Herrschaftsverhältnisse von Rassismus und Sexismus. Es geht ihr also grundlegend um die Erweiterung traditioneller feministischer Theorie und antirassistischer Politik, da »weder Schwarze Befreiungspolitiken noch die feministische Theorie können es sich leisten, die intersektionellen Erfahrungen eines großen Teils derer zu ignorieren, für die sie zu sprechen behaupten« (Crenshaw, 2013, S. 55). Entsprechend ist es notwendig, die daraus resultierenden Inter- und Intragruppenhierarchien in der Analyse von sozialen Ungleichheiten besonders zu berücksichtigen (u.a.: Arndt, 2021; Carbado & Gulati, 2013).

Bezüglich der vielfältigen Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen von Behinderung und Migration/Flucht im Kontext der Erwerbsarbeit stellt sich insgesamt die Frage, inwieweit sich die beiden Differenzkategorien auf die gesellschaftlichen Veränderungs- und Umstrukturierungsprozesseund die daraus resultierenden besonderen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarkts, besonders bei dieser Personengruppe konkret auswirken und sich ggf. in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksame und exkludierende Faktoren der Teilhabe durchziehen. In diesem Zusammenhang beruht der theoretische Zugang der vorliegenden Arbeit auf den kritischen Perspektiven der Intersektionalität und postkolonialen Theorien, die sich gegenseitig ergänzen.

Die komplementäre Zusammenführung der beiden theoretisch-analytischen Perspektiven zielt darauf ab, die bestehenden diskursiven und theoretischen Auseinandersetzungen postkolonialer Theorien kritisch zu beleuchten und weitere Anregungen für die Auseinandersetzungen der Teilhabeforschung in Bezug auf die Personengruppe BIPoC mit Behinderungserfahrungen zu liefern (mehr dazu siehe Abb. 2). Wenngleich etwas verzögert und bisher vorwiegend in Form erster Überlegungen (siehe dazu u.a.: Aden & Tamayo Rojas, 2022; Afeworki Abay & Wechuli, 2022; Kaltmeier, 2016; Kaltmeier & Corona Berkin, 2012; J. Warner, 2021), scheinen postkoloniale Theorien erst in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum angekommen zu sein:

»Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig, eine entscheidende und oft wiederholte Argumentation jedoch besagt, dass Deutschland nie ein großes Empire gewesen sei und mithin die Wirkmächtigkeit der kolonialen Herrschaft eher geringfügig sei. Diese These ist nun hinlänglich widerlegt worden. Zum einen ist es richtig, dass Deutschland nur eine relativ kurze transatlantische koloniale Periode erlebte, doch war Deutschland und vorher etwa Sachsen und Preußen vor und nach der offiziellen Kolonialzeit zutiefst im transatlantischen Sklavenhandel verwickelt. Deutschland hat auch erhebliches Kapital im Kolonialwarenhandel erwirtschaftet und viele kolonial-rassistische Gesetzgebungen überdauerten nicht nur den Nationalsozialismus, sondern wurden später auch in migrationspolitische Instrumente überführt« (Castro Varela & Mohamed, 2021, S. 7).

Im internationalen Kontext weisen grundlegende Überlegungen zur Verbindung von postkolonialen Theorien und Intersektionalität in den diskriminierungs- und herrschaftskritischen Sozialwissenschaften eine lange Theorietradition auf, die sich in einer komplementären Weise auf diese beiden theoretischen Ansätze bezieht (u.a.: Erevelles & Minear, 2010; Grosfoguel et al., 2015; Kurtiş & Adams, 2016; Pickens, 2019; Puar, 2012; Salem, 2014; Schalk, 2018; Tamale, 2020; Tomlinson, 2013). Trotz der zahlreichen Berührungspunkte zwischen postkolonialen Theorien und Intersektionalität zur kritischen Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, scheint es im deutschsprachigen Raum lange »kaum einen Dialog zwischen beiden Ansätzen zu geben« (Wallaschek, 2015, S. 218).

Gegenwärtig erfreut sich die Zusammenführung intersektionaler und postkolonialer Perspektiven zunehmender Popularität, die sich in Form einer großen Anzahl an theoretischen Publikationen in den letzten Jahren beobachten lässt (u.a.: Gutiérrez Rodríguez, 2011; Kerner, 2012b, 2017; Mauer & Leinius, 2021). Dennoch steht bislang eine gegenseitige Bezugnahme zwischen den beiden Ansätzen in empirischen Forschungsprojekten noch aus. Mit einem besonderen Blick auf die wechselseitigen Konstitutionen von Herrschaftsverhältnissen wie z.B. Ableism13 und Rassismus können postkoloniale und intersektionale Perspektiven dazu fruchtbar gemacht werden, ineinandergreifende Strukturen von Ungleichheiten, Macht und Herrschaft in den Vordergrund kritischer Teilhabeforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht zu stellen. Hierbei stellen sich zwei zentralen Fragen:

•Welche epistemologischen, methodologischen und forschungsethischen Implikationen hat die Einnahme dieser Perspektiven?

•Wie wirkt sich die komplementäre Einbeziehung intersektionaler und postkolonialer Perspektiven forschungspraktisch aus?

Das im deutschsprachigen Raum noch recht junge Forschungsfeld der postkolonialen Theorien, welchessich grundlegend als gesellschafts- und machtkritische Perspektive auf die Reproduktion imperialer Wissensregime des globalen Nordens14 versteht (Ha, 2011, S. 182), bietet eine Vielzahl an theoretischen und analytischen Konzepten. Zu den Grundlagen postkolonialer Theorien gehören insbesondere die drei zentralen Hauptwerke: ›Orientalismus‹ nach Edward Said (1978), ›Subalternität‹ nach Gayatri Spivak (1988), und ›Hybridität‹ nach Homi Bhabha (2012). Diese drei Leitfiguren der postkolonialen Theorien verbindet die zentrale These, dass durch hegemoniale Ordnungen und eurozentrische Wissensproduktion (Diskursen und Theorien) des globalen Nordens, Perspektiven und Stimmen der Subalternen im globalen Süden verunmöglicht werden:

»Postkoloniale Kritik kann als diskursiver Ausdruck eines globalen Widerspruchs gelesen werden, der die Bedingungen seiner eigenen Ausgangslage als Möglichkeit der Reflexion begreift. Ebenso wichtig, wie den Blick für weltweite Gesamtzusammenhänge nicht zu verlieren, ist es auch, mikropolitische Prozesse wie die Frage nach der Subjektkonstituierung als Voraussetzung kritischen Denkens zu beachten. Postkoloniale Analysen gehen daher von einem relationalen, dynamischen und kontextuellen Verständnis von Ungleichheit, Macht und Dominanz aus, die permanent neu ausgehandelt werden« (Ha, 2013, S. 75).

Grundsätzlich gilt es hier zu betonen, dass postkoloniale Theorien nicht einer besonderen wissenschaftlichen Richtung zuzuweisen, sondern als transdisziplinäre Forschungsperspektiven zu verstehen sind (Castro Varela & Dhawan, 2015, S. 15). Sie zielen darauf ab, die Verbindung einer materialistischen Analyse von Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnissen mit der Kritik wissensbasierter und diskursiver Normalisierung post- und neokolonialer Dominanzverhältnisse sichtbar zu machen (siehe auch dazu: Kerner, 2012a). In diesem Zusammenhang wird innerhalb der vorliegenden Arbeit eine komplementäre Zusammenführung intersektionaler und postkolonialer Perspektiven für die theoretischen und empirischen Projekte der Teilhabeforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht fruchtbar gemacht.

Abb. 2: Die komplementäre Analyseheuristik postkolonialer Theorien und Intersektionalität (eigene Darstellung).

Mit Rückgriff auf bestehende theoretische und methodologische Prämissen der Intersektionalität und postkolonialer Theorien wird die Relevanz der beiden Zugänge zur Analyse sozialer Ungleichheiten von BIPoC mit Behinderungserfahrungen vor dem Hintergrund behinderungs- und fluchtmigrationsspezifischer Zugangsbarrieren auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt herausgearbeitet.

Gegenstand der folgenden Unterkapitel bilden die grundlegenden Perspektiven postkolonialer Theorien (2.1) und Intersektionalität (2.2). Dabei werden in einem ersten Schritt die wichtigsten Impulse und Positionen aus diesen Forschungsfeldern diskutiert. Erstens wird dabei angestrebt, einige Implikationen postkolonialer Perspektiven gegenüber den vielfältigen Normalisierungs- und Marginalisierungsmechanismen entlang der Differenzkategorien ›Behinderung‹ und ›Migration/Flucht‹ abzuleiten (2.2.1). Zweitens werden dabei die bestehenden Prozesse der Unsichtbarmachung von BIPoC mit Behinderungserfahrungen mittels einer intersektionalitätstheoretischen Perspektive kritisch herausgearbeitet (2.2.2). Daran anknüpfend wird anhand des Konzepts DecolonialIntersectionality erläutert (2.2.3), inwiefern sich die Zusammenführung der beiden Ansätze als besonders fruchtbar zeigt, um die voranschreitenden kolonialen Strukturen und die daraus resultierenden, intersektional verwobenen Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse theoretisch undempirisch auszuloten.

2.1 Postkoloniale Theorien

»Whether produced by outsiders or by indigenous people, end-of-the-century discourses about Africa are not necessarily applicable to their object. Their nature, their stakes, and their functions are situated elsewhere.«Achille Mbembe (2001), On the Postcolony

Das Erkenntnisinteresse postkolonialer Theorien liegt zum einen darin, Nachwirkungen undKontinuitäten kolonialer Herrschaftspraktiken in unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen einer Kritik zu unterziehen sowie ungleiche Macht- und Repräsentationsverhältnisse, die eine Hierarchie zwischen dem vermeintlichen aufgeklärten, säkularen und entwickelten Westen und den rückständigen, religiösen und armen ›Anderen‹ (u.a.: Afeworki Abay, 2020; Hall, 1996; Mbembe, 2010a; Said, 1978) sichtbar zu machen und zu überwinden. Zum anderen regen postkoloniale Theorien in vielfältiger Weise dazu, privilegierte geopolitische und soziale Positionen kontinuierlich zu reflektieren, die u.a. durch die Weitertradierung und Legitimierung kolonialer Wissensregime möglich werden. Dabei wird die Wirkmächtigkeit fortbestehender globaler Macht- und Ungleichheitsstrukturen im postkolonialen Kontext kritisch betrachtet und die damit verbundenen Widerstands- und Emanzipationsmöglichkeiten marginalisierter Gruppen aufgezeigt (u.a.: Castro Varela & Dhawan, 2015; Ha, 2011; Kerner, 2012a; Mbembe, 2001, 2015).

Trotz ihrer vielfältigen Strömungen und Ausrichtungen zielen postkoloniale Theorien darauf ab, die verschiedenen Ebenen kolonialer Vergangenheit, postkolonialer Gegenwart und dekolonialer Zukunft im Hinblick auf sozio-historische Interdependenzen und deren geopolitischen Implikationen für das globale Zusammenleben in der postkolonialen Weltgesellschaft herauszuarbeiten (u.a.: Andrews, 2021; Getachew, 2019; Mbembe, 2015, 2019; Ndlovu, 2018; Quijano, 2016). Im Rahmen postkolonialer Theorien wird eine politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit (koloniales Erbe) und Kontinuität kolonialer Machtverhältnisse (Kolonialität) sowie Dekolonialisierungsprozesse dieser Verhältnisse im geopolitischen Kontext angestrebt (Mignolo, 2012b, S. 201).

Ebenfalls lässt sich im deutschsprachigen Raum beobachten, dass die Dekolonialisierung fortbestehender kolonialer Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse und das damit einhergehende Ziel der Sichtbarmachung und Infragestellung neokolonialer globaler Macht- und Ausbeutungsstrukturen in den letzten Jahren zunehmend Eingang findet (siehe dazu u.a.: Aden & Tamayo Rojas, 2022; Aktaş, 2020; Boatcă, 2016; Boger & Castro Varela, 2020; Castro Varela, 2016; Castro Varela & Dhawan, 2013, 2015; Kaltmeier & Corona Berkin, 2012; Kerner, 2012a, 2017; J. Warner, 2021). Die damit verbundenen epistemischen, sozialen und politischen Herausforderungen werden dabei im postkolonialen Kontext analysiert und dekonstruiert:

»Der Begriff »postkolonial« verweist jedoch nicht nur auf die zeitliche Verortung von Gesellschaften innerhalb einer (abgeschlossenen) Kolonialgeschichte. Er verweist darüber hinaus zum einen auf die Umgestaltung der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, die der Kolonialismus in ehemaligen oder bestehenden Kolonien wie auch in den Metropolen ausgelöst hat und die bis heute nachwirken. Zum anderen machen postkoloniale Perspektiven auf die Verschränkung von Macht und Wissensproduktion im Kontext kolonialer und imperialer Verhältnisse aufmerksam« (Boatcă, 2016, S. 2).

Vor diesem Hintergrund ist das Präfix ›post‹ nicht als die Zeit ›nach‹ der Unabhängigkeit ehemals kolonialisierter Länder zu begreifen, da das Ende der kolonialen Herrschaft keinen Endpunkt kolonialer Verhältnisse darstellt. Vielmehr bleiben die komplexen und widersprüchlichen Prozesse der Dekolonialisierung aufgrund der bis heute anhaltenden globalen Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse bislang erschwert. Ina Kerner (2012a) weist ebenfalls darauf hin, dass postkoloniale Theorien zwar »postkoloniale Konstellationen im zeitlichen Sinne« (ebd., S. 9) untersuchen und thematisieren, allerdings sind koloniale Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht als abgeschlossen, sondern vielmehr als postkoloniale Gegenwart und koloniale Vergangenheit zu begreifen. Wenngleich der Kolonialismus und europäische Imperialismus die Welt geprägt und sich tief in gesellschaftliche Strukturen der Gegenwart eingebrannt haben (Rommelspacher, 2009, S. 28), ist es weiterhin unmöglich, »eine Geschichte des ›Westens‹ ohne die Geschichte der kolonisierten Länder zu schreiben« (Castro Varela & Dhawan, 2015, S. 15) und andersherum.

In diesem Zusammenhang argumentiert Manuela Boatcă (2016), dass diese »Lücken in der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte Europas gehen einher mit der mangelhaften Rezeption kritischer, post- und dekolonialer Arbeiten und mit dem Fortbestehen rassistischer Exklusionsstrukturen auf allen Ebenen der Bildungsinstitutionen« (ebd., S. 10). In der kritischen Betrachtung der geopolitischen Machtstrukturen lässt sich der anhaltende Zustand der Kolonialität als die vergangene Gegenwart und gegenwärtige Vergangenheit der globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen. In Bezug auf dieses Phänomen der kolonialen Kontinuitäten spricht Bhabha (1994) von einer voranschreitenden kolonialen Gegenwart (ebd., S. 128). In diesem Zusammenhang zielt eine postkoloniale Analyse von Geschichtsschreibungen und politischen, gesellschaftlichen, medialen Diskursen darauf ab, die vorherrschenden eurozentrischen Blickwinkel und daraus resultierende Erzählungen zu entlarven und andere, marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang können postkoloniale Perspektiven als »Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre Konsequenzen betrachtet werden« (Castro Varela & Dhawan, 2015, S. 16).

Die Anwendung postkolonialer Kritik ist daher notwendig, um die historische Dimension globaler Herstellungsbedingungen postkolonialer Macht- und Ungleichheitsstrukturen kritisch in den Blick zu nehmen (u.a.: Ha, 2003, 2005; Kerner, 2012a). In diesem Zusammenhang können postkoloniale Theorien fruchtbar gemacht werden, um bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu denaturalisieren und historisch gewachsene Macht-Wissen-Komplexe zu dekonstruieren (u.a.: Castro Varela & Dhawan, 2015). Ferner kombiniert postkoloniale Theoriebildung poststrukturalistische und marxistische Ansätze, um eurozentristische Epistemologien und Wissensbestände sowie die aktuellen komplexen Prozesse des Neokolonialismus zu analysieren und kritisch zu hinterfragen (ebd., S. 8). Somit sind postkoloniale Theorien auch anknüpfungsfähig an die Methodologie der macht- und herrschaftskritischen Intersektionalitätsforschung (u.a.: Afeworki Abay, 2023a; Castro Varela & Mohamed, 2021; Kerner, 2017; Mauer & Leinius, 2021; Wallaschek, 2015).

Ebenfalls sind postkoloniale Theorien unabdingbar, um die komplexen Mechanismen des Othering in der Wissensproduktion stärker in den Blick zu nehmen, die nicht kulturell, ethnisch, national oder politisch markiert sind und damit zu dem Anliegen postkolonialerTheorienbeitragen, eurozentrische Masternarrative zu destabilisieren (u.a.: Boger & Castro Varela, 2020; Castro Varela & Mohamed, 2021; Siouti et al., 2022; von Unger, 2022). Postkoloniale Theorien sind also nicht nur an der Kritik der dichotomisierenden Konstruktionsweisen in »Wir und die Anderen« (Mecheril, 2004, S. 21) interessiert, sondern auch an der Sichtbarmachung hegemonialer Strukturen der Dominanzgesellschaft (u.a.: Afeworki Abay & Wechuli, 2022; Ha, 2011).Dies lässt sich auf eine intersektionale Analyse der hier verwendeten Differenzkategorien ›Behinderung‹ und ›Migration/Flucht‹ anwenden.

Eine postkoloniale Theorie, deren »theoretische Ausarbeitung vor dem Hintergrund des Fortwirkens kolonialer Verhältnisse in heutigen postkolonialen Gesellschaften erfolgt« (Riegel, 2016, S. 51), versteht sich als Ort der kritischen Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und gewaltvollen Kontinuitäten kolonialer Denk- und Handlungsmuster (Castro Varela, 2016). Aus einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive werden dabei post- und neokoloniale globale Herrschaftsstrukturen sowie intersektionale Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus, Ableism und Klassismus etc. thematisiert und analysiert (u.a.: Bergold-Caldwell & Georg, 2018).

Entfernte Verbindungen zwischen postkolonialen und dekolonialen Theorien

Wenngleich in den vergangenen Jahren zunehmend Typisierungen unterschiedlicher Strömungen sich in den Diskursen postkolonialer und dekolonialer Theorien finden lassen, stellen die beiden Ansätze keine klar voneinander trennbaren theoretischen Ausrichtungen dar15, sondern zwei unterschiedliche Strömungen zu einem gemeinsamen Ziel der geopolitischen und epistemischen Dekolonialisierung von post-und neokolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die sich in wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Kontexten entfalten:

»Der lateinamerikanische dekoloniale Ansatz stellte eine frühe (Gegen-)Reaktion auf die Tendenz postkolonialer Studien dar, den europäischen Kolonialismus zum einen am britischen Modell auszurichten und dadurch zu homogenisieren, zum anderen, ihn kaum in Verbindung mit Fragen der politischen Ökonomie kapitalistischer Entwicklung zu untersuchen« (Boatcă, 2016, S. 10).

Viele Vertreter*innen der beiden theoretisch-analytischen Ansätze kritisieren die zunehmende neoliberale Konkurrenz zwischen postkolonialen und dekolonialen Strömungen (u.a.: Bhambra, 2014b; Colpani et al., 2022; Kastner & Waibel, 2012; Lugones, 2010; Mignolo, 2012a; Tembo, 2022). In diesem Zusammenhang hebt Rohit Jain (2021) nachdrücklich hervor, dass »Die Konzepte zu Labels [werden], die zum Teil unnötigerweise gegeneinander ausgespielt werden, um sich in bestimmten akademischen oder aktivistischen Feldern voneinander abgrenzen zu können« (ebd., S. 15). Den beiden theoretischen Ansätzen ist gemein, dass eine eurozentrische Wissensproduktion weiterhin als machtvolles System zur Reproduktion und Legitimation kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse fungiert (u.a.: Maldonado-Torres, 2007, 2014, 2016; Mbembe, 2015; Mignolo, 2012a; Ndlovu-Gatsheni, 2018; Quijano, 2000; Segato, 2022). In der Konsequenz bedeutet dies, dass die gegenwärtig noch wirksame eurozentristische Wissensproduktion im Sinne des »epistemic de-linking« (Mignolo, 2007a, S. 450) vom Fortbestehen globaler Machtstrukturen im postkolonialen Kontext zu entkoppeln ist.

Vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Grundlagen wird in der vorliegenden Arbeit keine Unterscheidung zwischen postkolonialen und dekolonialen Theorien gemacht. Vielmehr werden die beiden Perspektiven je nach Kontext unterschiedlich und ergänzend zueinander verwendet. Neben postkolonialen Theorien sind dekoloniale Ansätze wie z.B. Pluriversalität oder epistemischerUngehorsam16von großer Relevanz, um die Kolonialität eurozentristischer Wissensproduktion bzw. das als okzidental17 gekennzeichnete Wissen zu hinterfragen.

Die nächsten Unterkapitel bieten einen umfassenden Einblick in die Mechanismen der hegemonialen Wissensproduktion und den damit einhergehenden Homogenisierungs- undEthnisierungspraktiken. Dabei wird die Kolonialität des Wissens im Sinne der (Re-)Produktion imperialen Wissens über Behinderung und Migration/Flucht einer postkolonialen Kritik unterzogen (2.1.1). Zunächst soll in einem ersten Schritt die, in Diskursen und Forschungen über Lebenslagen von BIPoC mit Behinderungserfahrungen verbreitete, paternalistisch-protektionistische Praxis des Othering, die in einem engen Zusammenhang mit Prozessen der Marginalisierung und Invisibilisierung der Perspektiven von BIPoC mit Behinderungserfahrungen im postkolonialen Kontext steht, kritisch beleuchtet werden (2.1.2). In einem zweiten Schritt wird dann auf die vielfältigen und komplexen Mechanismen diskursiver und institutioneller Konstruktion der Differenzkategorien ›Behinderung‹ und ›Migration/Flucht‹ detailliert eingegangen (2.1.3).

2.1.1 Epistemische Gewalt als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens

»Colonialism was not only an economic process, but also one of imposing Eurocentric knowledge on the colonised. So postcolonialism has resonance for disability studies and helps explain the dominance of perspectives from the metropole.«Helen Meekosha (2011), Decolonising Disability

Wie bereits in der Einleitung angerissen, hängt die fortwährende Geopolitik des Wissens mit den komplexen Formen epistemischer Gewalt des globalen Nordens zusammen (u.a.: Andrews, 2021; Bhambra, 2014a; Getachew, 2019; Spivak, 1988). Diese zeigt sich auch in der Weitertradierungkomplexitätsreduzierender eurozentristischer Wissensproduktion und paternalistischer Invisibilisierung von Betroffenenperspektiven sowohl in der Teilhabeforschung als auch in der Fluchtmigrationsforschung zu Behinderung und Migration/Flucht: Es wird wiederholt über BIPoC aber insbesondere über geflüchtete Menschen, statt mit ihnen gesprochen (u.a.: Aden et al., 2019; Afeworki Abay & Engin, 2019; Afeworki Abay et al., 2021; Amirpur, 2016; Kaufmann et al., 2019; von Unger, 2018b). Solche diskursiven und wissenschaftlichen Praktiken sind in vielerlei Hinsicht hochproblematisch, gleichzeitig lässt sich bei näherer Betrachtung dieser Thematik feststellen, dass die theoretische Annährung und empirische Bearbeitung des Themenfeldes der Vulnerabilität von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wie z.B. BIPoC mit Behinderungserfahrungen sich als ein vielschichtiges und widersprüchliches Forschungsfeld darstellt. Dabei zeigt sich die epistemische Gewalt als konstitutiver Bestandteil der Kolonialität des Wissens (zusammenfassend dazu siehe: Afeworki Abay & Soldatic, 2023b). Entsprechend stellt sich hier sowohl die Frage nach der Dekolonialisierung rassistischer und ableistischer Wissensordnungen als auch nach der eigenen Standortgebundenheit und Positionierung in geopolitischen Machtstrukturen der Wissensproduktion: »How do we understand our locations in the colonial present, as we contemplate and work towards the imperative of decolonization?« (Vimalassery et al., 2016, S. 1).

Einerseits birgt der besondere Fokus auf die Vulnerabilität von marginalisierten Gruppen wie z.B. BIPoC mit Behinderungserfahrungen die Gefahr, die vorhandenen strukturellen Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse zu verschleiern, wodurch die betroffenen Personen und ihre Communities überhaupt vulnerabel gemacht werden (u.a.: Köbsell, 2019; Lorenz, 2018; Otten, 2020; Soldatic et al., 2015; Yeo, 2020; Yeo & Afeworki Abay, 2023). Andererseits erweist sich die gezielte Hervorhebung der Vulnerabilität von bestimmten, gesellschaftlich marginalisierten Gruppen als notwendig, da die Betroffenen oftmals erst durch die theoretisch-diskursive Thematisierung und empirische Bearbeitung von sozialen und strukturellen Vulnerabilitäts- und Diskriminierungsfaktoren den entsprechenden Zugang zu notwendigen Unterstützungen erhalten können (u.a.: Afeworki Abay & von Unger, 2023; Butler, 2016; Erevelles & Nguyen, 2016; Janssen, 2018; Korntheuer et al., 2021; Lorenz, 2018; Mehring, 2022; Morris, 2015; von Unger, 2018b; Yeo, 2020). In diesem Zusammenhang ist Vulnerabilität als Resultat des konstitutiven Wechselspiels zwischen individuellen Voraussetzungen und strukturellen Bedingungen zu begreifen, da diese erst durch die gesellschaftlich vorherrschenden Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse hervorgebracht wird, welche wiederum den Betroffenen den Zugang zu entsprechenden sozialen und strukturellen Bewältigungsressourcen erschweren.

Die hier zugrundeliegende Annahme ist, dass die simplifizierende Beschreibung der komplexen und intersektionalen Lebensrealitäten der Betroffenen nicht selten dazu führt, Vulnerabilitätskonstruktionen dieser Personengruppe im Forschungskontext zu reproduzieren und ihre Handlungsmacht (Agency)18 auszublenden (u.a.: Afeworki Abay, 2022; Korntheuer et al., 2021). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Forschen über Vulnerabilität von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen in einem konstitutiven Spannungsverhältnis zwischen Rekonstruktion von Agency und Reproduktion von Vulnerabilitätszuschreibungen im Sinne von Viktimisierung verstrickt bleibt (mehr zu dieser komplexen Debatte siehe insbesondere: Butler, 2016; Butler et al., 2016; Mackenzie et al., 2014; Mehring, 2022; Mik-Meyer & Silverman, 2019; Schmitt, 2019; Utas, 2005; Yeo & Afeworki Abay, 2023).

Vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Erkenntnisse entwickelte Mats Utas (2005) das Konzept ›Victimcy‹, um die bestehende Dichotomie zwischen Vulnerabilität und Agency zu überwinden und auf ihre wechselseitigen Beziehungen hinzuweisen:

»Victimcy is thus revealed as a form of self-representation by which a certain form of tactic agency is effectively exercised under the trying, uncertain, and disempowering circumstances that confront actors in warscapes« (ebd., S. 403).

Mit dem Konzept kann es gelingen, besondere Lebenssituationen gleichzeitig mit Strukturen, in die sie eingebettet sind und welche die Betroffenen vulnerabel machen, kritisch zu untersuchen, ohne dabei die Handlungsmacht marginalisierter und subalterner Gruppen auszublenden:

»More specifically, it explores theways in which self-representations of victimhood and empowerment alike represent different ›agency tactics‹ available to and alternately deployed under different circumstances and in different social contexts to women in war zones« (ebd.).

Entsprechend sind kritische und intersektionale Perspektiven notwendig, in der Wissensproduktion über Vulnerabilität den Fokus vielmehr auf bestehende gesellschaftliche Strukturen zu legen, die insbesondere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen gegenüber bestimmten Risikofaktoren wie z.B. unzureichende Gesundheitsversorgung, sexualisierte Gewalt, prekäre Bildungschancen oder Armut vulnerabler machen (u.a.: Aktaş, 2020; Burghardt et al., 2017; Janssen, 2018; Mackenzie et al., 2014; Mehring, 2022; Scully, 2014). Diese Forderungen schließen sich auch den Grundsätzen postkolonialer Theorien an, deren Hauptanliegen darin besteht, sowohl die global vorherrschende Geopolitik des Wissens infrage zu stellen als auch auf die Notwendigkeit zu verweisen, den subjektiven Perspektiven und lebensweltlichen Erfahrungen von marginalisierten Gruppen in der empirischen Wissensproduktion besondere Beachtung zu schenken (u.a.: Castro Varela & Dhawan, 2015; Hutson, 2007, 2010; Kerner, 2012a; Mendoza, 2018; Wechuli & Afeworki Abay, 2023).

Partizipative Forschung rückt dabei ins Zentrum dieser Diskussion, da sie ein besonderes Potenzial dabei verspricht, subjektive Artikulationsmöglichkeiten in Bezug auf die gesellschaftlich vorhandenen Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnisse sowie die damit einhergehenden Handlungsstrategien der Betroffenen im jeweiligen empirischen Forschungsprojekt besonders zu berücksichtigen (siehe dazu die Unterkapitel 4.3 und 6.4.3). In diesem Zusammenhang erfährt das Konzept der Decolonial Intersectionality (u.a.: Kurtiş & Adams, 2016; Mollett, 2017; Salem, 2014, 2016; Tamale, 2020; L. Warner et al., 2020) ebenfalls eine zunehmende Aufmerksamkeit, da dieses darauf abzielt, bestehende Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse in Verbindung mit einer postkolonial orientierten intersektionalen Analyseheuristik herauszuarbeiten und somit die theoretische und empirische Intersektionalitätsforschung weiterzuentwickeln. Auf diese kritischen Diskussionen zur Dekolonialisierung der Intersektionalitätsforschung wird im Unterkapitel 2.2.3 detailliert eingegangen.

Bei den kontinuierlichen Prozessen der Dekolonialisierung werden nicht nur die kolonialen Vergangenheiten aufgearbeitet, sondern auch das Erbe des Kolonialismus und die koloniale Kontinuität im Sinne des Neokolonialismus kritisch untersucht. Dabei beschränkt sich der Neokolonialismus nicht nur auf die ökonomisch-kapitalistischen Dimension geopolitischer Machtstrukturen »sondern umfasst auch die Produktion epistemischer Gewalt« (Castro Varela & Dhawan, 2015, S. 8). Die hier zugrundeliegende Annahme ist, dass die Kolonialisierung mit einer umfassenden Wissensproduktion einherging, welche die Überlegenheit und Souveränität Europas konstruiert und festzuschreibt und damit die Grundlage rassistischen Denkens und Handelns bildet:

»Tatsächlich beruht der koloniale Diskurs essentiell auf einer Bedeutungsfixierung, die in der Konstruktion und Fixierung der ausnahmslosen Anderen zum Ausdruck kommt. Die gewaltvolle Repräsentation der Anderen als unverrückbar different war notwendiger Bestandteil der Konstruktion eines souveränen, überlegenen europäischen Selbst« (ebd., S. 16).

In ihrem vielbeachteten Werk ›Can the Subaltern Speak?‹ unterzog Spivak (1988)dieimperiale Wissensproduktion, welche die Stimmen der Subalternen essenzialisiert und marginalisiert, einer postkolonialen Kritik. Mit ihrem Konzept der epistemischen Gewalt (EpistemicViolence) arbeitete die postkoloniale Theoretikerin Spivak (1988) die hierarchisierende Praxis des Othering19heraus. Dabei zeigte sie u.a. die Verunmöglichung von Artikulationsmöglichkeiten der Subalternen am Beispiel der indischen Witwenverbrennung auf, um die damit verbundenen komplexen Verflechtungen von Sexismus und Rassismus innerhalb der hegemonialen Diskurse im postkolonialen Moment hervorzuheben (siehe auch dazu u.a.: Kremsner, 2017, S. 51; Steyerl, 2008, S. 12). In ihrer Argumentation greift Spivak einen zentralen Kritikpunkt von Said (1978) an hegemonialen Diskursen auf. Ihre grundlegende postkoloniale Kritik an der westlichen Wissensproduktion liegt darin begründet, dass in diesen hegemonialen Diskursen über indische subalterne Frauen* gesprochen wird, indem imperiales Wissen für und über die Subalternen produziert wird und nicht mit ihnen gesprochen wird (Spivak, 1988, S. 287).

Dabei werden die eigenen Sprechpositionen der Subalternen abgesprochen und somit auch ihre Handlungsmacht abgewertet (u.a.: Bartels et al., 2019; Brunner, 2020; Crawley, 2022). Damit einher geht auch die Kritik an den westlichen Intellektuellen, die mit der Praxis hegemonialer Wissensproduktion »zu KomplizInnen in der beharrlichen Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst« (Spivak, 2008c, S. 41) werden. Dies wirft auch die zentrale Frage danach auf, wie »das ethnozentristische Subjekt davon abgehalten werden kann, sich selbst zu etablieren, indem es selektiv einen anderen definiert« (ebd., S. 68). Aus diesen gewaltvollen Prozessen kolonialer Differenzkonstruktion »ergibt sich eine Hierarchie der Wissensproduktion, die bestimmte Formen von Wissen disqualifiziert, mundtot macht und dominante Formen von Wissen reproduziert« (Steyerl & Gutiérrez Rodríguez, 2003, S. 7). In diesem Zusammenhang stellt die epistemische Gewalt ein zentrales Konzept postkolonialer Theorien dar:

»One clearly available example of epistemic violence is the remotely orchestrated, far-flung, and heterogeneous project to constitute the colonial subject as Other. This project is also the asymmetrical obliteration of the trace of the Other in its precarious Subjectivity. It is well known that Foucault locates epistemic violence, a complete overhaul of the episteme, in the redefinition of sanity at the end of the European eighteenth century. But what if that particular redefinition was only a part of the narrative of history in Europe as well as in the colonies? What if the two projects of epistemic overhaul worked as dislocated and unacknowledged parts of a vast two-handed engine?« (Spivak, 1988, S. 280f.).

Die epistemische Gewalt ist nicht nur vom Kolonialismus geprägt, sondern wird auch aktuell in neokolonialen Machtverhältnissen mittels der vorherrschenden Geopolitik des Wissens fortgeführt (u.a.: Boatcă, 2016; Castro Varela & Dhawan, 2015; Kaltmeier, 2012, 2016; J. Warner, 2021). Die gegenwärtige Bedeutung vom Kolonialismus, der sich im Sinne kolonialer Kontinuität (Coloniality) aufrechterhält, wird von Nelson Maldonado-Torres (2007, S. 243) folgendermaßen erläutert:

»Coloniality survives colonialism. It is maintained alive in books, in the criteria for academic performance, in cultural patterns, in common sense, in the self-image of peoples, in aspirations of self, and so many other aspects of our modern experience. In a way, as modern subjects we breath coloniality all the time and every day«.

In diesem Zusammenhang kann epistemische Gewalt als machtvoller Mechanismus verstanden werden, welcher koloniale Subjekte als ›handlungsfähige Andere‹ konstituiert (Spivak, 1988, S. 280). Diese Perspektive schließt sich auch Frantz Fanons Argumentationen in seinem ersten großen Werk ›Black skin, white masks‹ (1967) an, in welchem er darlegt, dass rassistische Stereotypisierungen sich als zentrale Praktiken der gewaltvollen Konstruktion und Repräsentation kolonialrassistischer Differenz analysieren lassen, die auch in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Praxis vorzufinden sind (siehe auch dazu: Hall, 2004).

Damit einher gehen ebenso machtvolle Mechanismen des diskursiven Silencing20 (Spivak, 2008c, S. 145). Mit Spivak (1988) lässt sich weitergehend argumentieren, dass eine enge Verbindung zwischen den fehlenden Repräsentations- und Artikulationsmöglichkeiten und den machtvollen Prozessen des Silencing besteht. Die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse werden dabei nicht zuletzt durch symbolische bzw. kulturelle Hegemonie aufrechterhalten und weiter tradiert. Dieser Perspektive schließt sich Stuart Hall (2004) an, der von einer »Macht der Repräsentation, von der Macht zu kennzeichnen, zuzuweisen und zu klassifizieren, von symbolischer Macht, von ritualisiertem Ausschluss« (ebd., S. 145) spricht.

Die hier zugrundeliegende Annahme ist, dass »Differenz in einer spezifischen Weise produziert wird und uns nicht zuletzt dadurch regiert, dass uns Differenzen eben so oder so zu sehen gegeben werden« (Hark & Villa, 2017, S. 8). Somit dienen die vielfältigen Mechanismen der Herstellung und Reproduktion von Differenzen zur Aufrechterhaltung hegemonialer Ordnung der Dominanzgesellschaft: »Die Herstellung von Differenz ist immer im Zusammenhang mit Macht zu sehen, denn der soziale Raum ist stets auch ein dominanzstrukturierter Raum« (Rosenstreich, 2011, S. 241). In diesem Zusammenhang wird auch die sich als homogen Weiß und christlich imaginierende deutsche Dominanzgesellschaft mit der communityübergreifenden Aussage der rassifizierten Gruppen ›We are here, because you were there‹21 zunehmend konfrontiert und nach den kolonialen, repräsentationalen und diskursiven Strukturen befragt:

»Der Diskurs um die Anerkennung des Anderen führt zu zwei ethisch politischen Umgangsweisen: auf der einen Seite wird der Andere im Anspruch auf Universalität unter das Diktat der Gleichheit subsumiert; auf der anderen Seite wird er aus differenzpolitischer Perspektive zum Fetisch der kulturellen Partikularität stilisiert […] In beiden Strategien fungiert der Andere als Projektionsfigur, die vereinnahmt, konsumiert und einverleibt wird« (Steyerl & Gutiérrez Rodríguez, 2003, S. 8f.).

Mit Bezug auf Said (1978) und Spivak (1988) wird dabei die »Konstruktion des Anderen als ›konstitutives Außen‹ für die Produktion des imperialen Projektes Europa« (Steyerl & Gutiérrez Rodríguez, 2003, S. 9) aus postkolonialer Perspektive zunehmend kritisiert. Das Sprechen für eine subalterne Gruppe wird somit zur Aufrechterhaltung der eigenen Privilegierungen und Machtpositionen, was Spivak (2008c, S. 78) am Beispiel des britischen Kolonialismus in Indien zynisch schreibt: »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern«. Neben der Problematik imperialer Wissensproduktion betont Spivak, dass die Subalternen keinesfalls als homogene Gruppe bezeichnet werden können, da »die Frage der ›Frau‹ am problematischsten in diesem Zusammenhang [scheint]. Es ist klar, dass arm, Schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen« (ebd., S. 74).

Eine postkoloniale Reflexion imperialer Wissensproduktion kann es ermöglichen, den komplexen globalen Macht- und Herrschaftsverhältnissen entgegenzuwirken, die in den jeweiligen hegemonialen Diskursen ihren Ausdruck findet. In diesem Sinne hebt Claudia Brunner (2020) mit dem Begriff der epistemischen Gewalt die Notwendigkeit hervor, dass der konstitutive Zusammenhang von Wissen, Herrschaft und Gewalt der Wissensproduktion in der postkolonialen Gegenwart in den Fokus zu rücken ist: »Die Analyse und Theoretisierung epistemischer Gewalt stellt das von seiner kolonialen Unterseite bereinigte Konzept der Moderne infrage und macht deutlich, dass wir auch heute noch in einer kolonialen Moderne leben« (ebd., S. 271f.). Entsprechend ist die epistemische Gewalt als ein konstitutives Element von Herrschaftsverhältnissen zu verstehen, wie sie in heutigen postkolonialen westlichen Gesellschaften in Erscheinung treten.

Als Zwischenresümee der bisherigen Diskussion lässt sich festhalten, dass die machtvollen Otheringprozesse auf die konkreten Teilhabemöglichkeiten von rassifizierten Gruppen wie BIPoC mit Behinderungserfahrungen enorme Auswirkungen haben können. Postkoloniale Perspektive sind daher von großer Bedeutung, um die hegemonialeWissensproduktion kritisch in den Blick zu nehmen, die das eigenständige Sprechen-Können der Subalternen in den bestehenden Machtstrukturen unhörbar und unsichtbar macht (Spivak, 1988, S. 79). Zudem ermöglichen solche herrschaftskritische postkoloniale Perspektiven, einer unhinterfragten Reproduktion vermeintlicher »kultureller Differenz« (Castro Varela & Dhawan, 2015, S. 166) entgegenzuwirken. Um diese Machtverhältnisse aufzulösen und eine innovative und emanzipatorische Form der Wissensproduktion zu etablieren, gehen viele postkolonial orientierte Forschungsprojekte der zentralen methodologischen Frage nach, wie der lebensweltliche Wissensvorrat der Forschungspartner*innen anerkennend und wertschätzend in den Forschungsprozess einbezogen werden kann.

Das hegemoniale Dispositiv eurozentristischer Wissensproduktion hat somit zur Folge, dass die machtvollen Prozesse Unsichtbar- und Unhörbarmachung von Perspektiven rassifizierter Communities (u.a.: Lugones, 2010; Steyerl & Gutiérrez Rodríguez, 2003) oder in der postkolonialen Sprechweise der »Subalternen« (Spivak, 2008a, S. 75) erst möglich werden. Die Selbstreflexion und Selbstpositionierung, sowie die damit verbundene Kontextualisierung der eigenen Aussagen, ist eine weitere mögliche Strategie, den Geltungsanspruch eurozentristischer Wissensproduktion kritisch zu hinterfragen.

Ausgehend von einer kritischen Analyse bestehender Macht- und Herrschaftsstrukturen zeichnen sich postkoloniale Theorien durch die Infragestellung von kolonialen Narrativen in den westlichen Epistemologien und den damit zusammenhängenden Marginalisierungs- und Exklusionsprozessen rassifizierter Gruppen aus (u.a.: Aden & Tamayo Rojas, 2022; Bergold-Caldwell & Georg, 2018; Castro Varela, 2016). Damit eng verbunden ist die Zieldimension, dass mittels postkolonialer Perspektiven sich Machtverhältnisse, und die damit einhergehende Prozesse der Essentialisierung von Lebensrealitäten rassifizierter Gruppen wie BIPoC mit Behinderungserfahrungen im globalen Norden reflektieren lassen (u.a.: Afeworki Abay, 2019; Andrews, 2021; Ha, 2003; Ha et al., 2007; Hutson, 2007; Mbembe, 2015, 2017). Wenngleich postkoloniale Perspektiven im deutschsprachigen Raum bislang nur unzureichend rezipiert wurden, sind in den letzten Jahren die vielfältigen Mechanismen der Kontinuität kolonialer Denkmuster, Wissensbestände und -praktiken sowie die notwendige Reflexion über die bestehenden Abhängigkeits- und Machtverhältnissezwischendem globalen NordenundSüden deutlich erkennbar (Aden & Tamayo Rojas, 2022; Boatcă, 2016; Castro Varela & Dhawan, 2015; Castro Varela & Mohamed, 2021; Kaltmeier & Corona Berkin, 2012; Kerner, 2012a; Schöpf, 2020; Wallaschek, 2015; J. Warner, 2021).

In der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung an der Schnittstelle Behinderung und Migration/Flucht finden sich jedoch weiterhin nur wenige Texte, in denen die Reflexion dieser und weiterer Fragen besprochen wird (Afeworki Abay & Wechuli, 2022; Hutson, 2010; Pieper & Haji Mohammadi, 2014b). Im Ergebnis findet eine imperiale Wissensproduktion in den Diskursen über BIPoC mit Behinderungserfahrungen statt, in welcherPerspektiven der Betroffenen nicht nur in den jeweiligen Communities, sondern auch in den statistischen und empirischen Daten in Deutschland weiterhin unsichtbar bleiben (Gummich, 2015; Köbsell, 2019; Korntheuer, 2019, 2020; Otten, 2018; Wansing & Westphal, 2014a). Die Unsichtbarkeit dieser Personengruppe kann erstens damit zusammenhängen, dass bis dato keine umfassenden Daten weder qualitativ noch quantitativ vorhanden sind (u.a.: BMAS, 2016, 2021; Westphal & Wansing, 2019a; Windisch, 2014). Zweitens ist ihre Unsichtbarkeit auf die fortwährende Verdrängung post- und neokolonialer Ausbeutungsprozesse aus der öffentlichen Wahrnehmung der Dominanzgesellschaft zurückzuführen (u.a.: Afeworki Abay et al., 2021; Ha, 2011; Puar, 2017).

Innerhalb der postkolonialen Studien werden diese machtvollen Mechanismen der Invisibilisierung bzw. Unsichtbarmachung als postkoloniale Entinnerungsprozesse