Delir beim alten Menschen - Walter Hewer - E-Book

Delir beim alten Menschen E-Book

Walter Hewer

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Beschreibung

Delirium is one of the most important geriatric syndromes, and its potentially unfavourable prognosis is increasingly being recognized. At least 10-20% of older people who are treated in hospitals are affected by it, but dementia and delirium are also frequently encountered in residential care facilities as well. Delirium is discussed in this book in relation to its range of symptoms, classification, and also etiology and pathogenesis. Diagnostic and therapeutic procedures are discussed on the basis of current evidence-based knowledge. Individual chapters are concerned with delirium in diseases of dependency, as well as the current state of knowledge on how to prevent delirium. Numerous case reports, tables and illustrations - along with a discussion of current health-policy issues that go beyond delirium and are relevant for geriatrics as a whole - give the book a close link to practical work for everyone involved in geriatrics and gerontopsychiatry.

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Walter Hewer Christine Thomas Lutz M. Drach

Delir beim alten Menschen

Grundlagen – Diagnostik – Therapie – Prävention

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-021617-4

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023855-8

epub:    ISBN 978-3-17-032165-6

mobi:    ISBN 978-3-17-032166-3

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

 

Vorwort

1 Nichts Neues unter der Sonne? Geschichte des Begriffs »Delir«

Lutz M. Drach

2 Symptomatologie und Epidemiologie

2.1 Symptome und Syndrome des Delirs

Friedel M. Reischies

2.1.1 Gruppen von Symptomen – von verschiedenen kausalen Faktoren verursacht

2.1.2 Kernsymptome des Delirsyndroms

2.1.3 Verlauf der Symptomatik

2.1.4 Hinweis auf die Art der schädigenden Einwirkung auf das ZNS

2.1.5 Akzessorische Symptome

2.1.6 Subsyndrome

2.1.7 Zusammenfassung

2.2 Diagnostik und Klassifikation des Delirs

Friedel M. Reischies

2.2.1 Diagnostik

2.2.2 Klassifikation

2.2.3 Zusammenfassung

2.3 Epidemiologie

Christine Thomas

2.3.1 Die Delirprävalenz ist alters- und kontextabhängig

2.3.2 Delirien führen zu erhöhten Komplikations- und Mortalitätsraten

2.3.3 Delirien können lange anhalten

2.3.4 Delirfolgen können schwerwiegend und kostenintensiv sein

3 Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren

3.1 Ursachen und Auslöser

Walter Hewer, Christine Thomas

3.1.1 Entstehungsmechanismen – Pathophysiologie

3.1.2 Grunderkrankungen

3.2 Risikofaktoren für ein Delir im Alter

Christine Thomas

3.2.1 Höheres Lebensalter

3.2.2 Neurodegenerative Erkrankungen – Demenzen

3.2.3 Psychiatrische Erkrankungen

3.2.4 Chronische Erkrankungen und Multimorbidität

3.2.5 Geriatrische Syndrome

3.2.6 Medikation und Polypharmazie

4 Diagnostik

4.1 Diagnostische Strategien

Walter Hewer, Hermann S.Füeßl

4.2 Syndromale Diagnostik

Christine Thomas

4.2.1 Untertypen des Delirs

4.2.2 Delirsymptome und ihre Erfassung

4.2.3 Delirdiagnostik

4.3 Ätiologische Diagnostik

4.3.1 Neurologische Erkrankungen

Stefan Kreisel, Christine Thomas

4.3.2 Internistische Erkrankungen

Walter Hewer, Hermann S.Füeßl

4.3.3 Toxische Ursachen inklusive unerwünschter Arzneimittelwirkungen

Christine Thomas, Walter Hewer

5 Therapie

5.1 Therapeutische Strategien

Walter Hewer, Hermann S.Füeßl

5.1.1 Notfallbehandlung

5.1.2 Behandlungssetting

5.1.3 Rechtliche und ethische Aspekte

5.2 Kausaltherapie

Walter Hewer, Hermann S.Füeßl

5.2.1 Behandlung von Vitalfunktionsstörungen

5.2.2 Behandlung ausgewählter Grunderkrankungen

5.3 Basismaßnahmen – Beachtung allgemeiner geriatrischer Therapieprinzipien

Walter Hewer, Hermann S.Füeßl

5.4 Nicht-pharmakologische Maßnahmen beim Delir

Lutz M. Drach

5.5 Symptomatische Psychopharmakotherapie des Delirs

Lutz M. Drach

5.5.1 Indikationsstellung

5.5.2 Antipsychotika

5.5.3 Cholinesterasehemmer

5.5.4 Andere Pharmaka

5.5.5 Zusammenfassung

6 Entzugssyndrome und Entzugsdelirien

Dirk K. Wolter

6.1 Pathophysiologie

6.2 Epidemiologie

6.3 Klinik

6.3.1 Alkohol

6.3.2 Benzodiazepine und andere Substanzen

6.4 Risikofaktoren und Prädiktoren

6.4.1 Alkohol

6.4.2 Benzodiazepine und andere Substanzen

6.5 Komplikationen

6.5.1 Alkohol

6.5.2 Benzodiazepine und andere Substanzen

6.6 Prophylaxe und Therapie

6.6.1 Alkohol

6.6.2 Benzodiazepine und andere Substanzen

6.7 Standardisiertes Assessment und symptomgetriggerte Behandlung

6.7.1 Alkohol

6.7.2 Benzodiazepine und andere Substanzen

6.8 Zusammenfassung

7 Prävention

Christine Thomas, Sarah Weller

7.1 Notwendigkeit nicht-medikamentöser Präventionsmaßnahmen

7.2 Bausteine systematischer Ansätze

7.2.1 Erkennung und Dokumentation von Risikofaktoren

7.2.2 Schulung aller Berufsgruppen

7.2.3 Umgebungsgestaltung

7.2.4 Ausgleich sensorischer Einschränkungen

7.2.5 Mobilisation und Vermeidung von Bewegungseinschränkung

7.2.6 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme

7.2.7 Kognitive Aktivierung und emotionale Entlastung

7.2.8 Tagesstrukturierung und Bedürfnisorientierung

7.2.9 Förderung eines gesunden Schlafverhaltens

7.2.10 (Re-)Orientierungsmaßnahmen und Raumgestaltung

7.2.11 Schmerzerfassung und Schmerzmonitoring

7.2.12 Einbezug von Angehörigen

7.3 Medikamentöse Delirprophylaxe

7.3.1 Cholinergika

7.3.2 Antipsychotika

7.3.3 Melatonin

7.3.4 Alpha-2-Agonisten

7.4 Multifaktorielle Delirpräventionsansätze im deutschen Sprachraum

7.4.1 St. Franziskus Hospital in Münster: »OP-Begleitung« durch ein Geriatrieteam

7.4.2 Evangelisches Krankenhaus Bielefeld: Delirpräventionsprogramm help+

7.4.3 Universitätsspital Basel: Forschungs- und Praxisentwicklungsprogramm zur Delirfrüherkennung

7.4.4 Delirprävention auf der Intensivstation

7.5 Implementierung eines multifaktoriellen Delirpräventionskonzeptes

8 Übergreifende Aspekte

8.1 Delir als interdisziplinäre, multiprofessionelle und sektorübergreifende Herausforderung

Walter Hewer, Christine Thomas

8.1.1 Herausforderungen

8.1.2 Lösungsansätze

8.1.3 Zukünftiger Entwicklungsbedarf

8.2 Delir im psychiatrischen Konsiliardienst

Lutz M. Drach

8.2.1 Diskrepanz zwischen der Häufigkeit von Delirien und der Zahl der Konsilanforderungen

8.2.2 Diagnostische Probleme im Konsiliardienst

8.2.3 Besonderheiten des Auftrages für den Konsiliarius beim Delir

8.3 Rechtliche Aspekte beim Delir

Lutz M. Drach

8.3.1 Geschäftsfähigkeit

8.3.2 Einwilligungsfähigkeit

8.3.3 Einwilligung in klinische Studien

8.3.4 Gesetzliche Betreuung und Vorsorgevollmacht

8.3.5 Testierfähigkeit

8.3.6 Patientenverfügung

8.3.7 Rechtfertigender Notstand

9 Ausblick

Christine Thomas, Walter Hewer

9.1 Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Perspektiven – Grundlagen

9.1.1 Pathophysiologie

9.1.2 Diagnosekriterien, Klassifikation

9.2 Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Perspektiven – Versorgung

9.2.1 Epidemiologische Trends

9.2.2 Aktuelle Leitlinien und Stellungnahmen verschiedener Gesellschaften

9.2.3 Delirprävention und -behandlung in einem sich rasch verändernden Gesundheitssystem

9.3 »Take Home Message«

Autorenverzeichnis

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

 

Das Delir stellt ein psychopathologisches Syndrom dar, das bereits im Altertum als solches wahrgenommen wurde. Der damals schon erkannte Zusammenhang mit körperlichen Faktoren wurde im deutschen Sprachraum maßgeblich von Karl Bonhoeffer am Anfang des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und in ein im Grundsatz bis heute geltendes Konzept gefasst.

Parallel zu der demografischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts mit einem stetig wachsenden Anteil älterer und hochaltriger Menschen hat in den zurückliegenden Jahrzehnten das Interesse an psychischen Erkrankungen im Alter stark zugenommen. Dies betraf zunächst insbesondere die Demenzerkrankungen, aber dann in zunehmendem Maße auch das Delir im Alter. Dass das Delir vor allem in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in verschiedenen medizinischen Fachgebieten und darüber hinaus erfuhr, ist im Wesentlichen seiner weiten Verbreitung geschuldet, verbunden mit dem Umstand, dass hohes Lebensalter und Vorliegen einer Demenzerkrankung (und ihrer Vorstufen) ebenso wie die mit dem Alter zunehmende Multimorbidität zu den wesentlichen Risikofaktoren gehören.

Vor diesem Hintergrund lag es nahe, für den deutschsprachigen Leserkreis ein an den Bedürfnissen der Praxis orientiertes Buch vorzulegen. Dabei war es uns wichtig, nach einem kurzen geschichtlichen Abriss die für das Verständnis des Krankheitsbildes erforderlichen Grundlagen zu erarbeiten, die neben der Psychopathologie und Epidemiologie die Ätiologie des Syndroms betreffen. Es folgen die aus klinischer Sicht besonders wichtigen Kapitel zur Diagnostik und Therapie des Delirs, ergänzt durch einen Beitrag über das Entzugsdelir, das auch im Alter ein sehr relevantes Thema darstellt. Da gerade auf dem Gebiet der Prävention in den letzten Jahren wesentliche neue Erkenntnisse gewonnen wurden, die eine verbesserte Prognose bei einem signifikanten Anteil der betroffenen Patienten erwarten lassen, war es uns wichtig, diesem Thema gebührenden Raum zu geben. Den Abschluss bilden Kapitel zu fachübergreifenden Aspekten mit einem Ausblick auf wichtige offene Fragen und sich abzeichnende künftige Entwicklungen. Zahlreiche Fallvignetten sind in die Kapitel einbezogen und sollen eine möglichst anschauliche Vermittlung der theoretischen Inhalte unterstützen.

Ausgangspunkt für dieses Buch war ein über Jahre von den Verfassern durchgeführter Workshop bei den Jahreskongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Die Autorinnen und Autoren sind sämtlich fachärztlich in der Gerontopsychiatrie tätig, wobei sie auch zusätzliche Expertise in anderen Gebieten einbringen (Neurologie, Geriatrie, Innere Medizin). Der fachlichen Ausrichtung des Autorenteams entsprechend resultiert naturgemäß eine inhaltliche Ausrichtung an den aus gerontopsychiatrischer Sicht besonders relevanten Belangen. Gleichwohl wurde großer Wert darauf gelegt, über unsere Fachgrenzen hinaus das Syndrom Delir aus interdisziplinärer und multiprofessioneller Perspektive zu betrachten. Damit tragen wir dem Rechnung, dass für uns im klinischen Alltag bei der Versorgung deliranter Patienten die enge Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten (Innere Medizin, Geriatrie, Neurologie, Radiologie, operative Fächer etc.) ebenso wie mit anderen Professionen (Pflege, Ergo-/Physiotherapie, Sozialdienst etc.) unverzichtbar ist.

Dieses Buch fußt wesentlich auf der tagtäglichen Arbeit in unseren Kliniken. Deshalb ist es uns ein großes Bedürfnis, unseren (ehemaligen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Göppingen, Stuttgart, Schwerin, Rottweil, Bielefeld, Münster, Wasserburg a. Inn, Haderslev/Aabenraa, Berlin, München für ihre stets qualifizierte und zuverlässige Unterstützung zu danken. Da der Dank sehr vielen Personen gelten muss, ist es uns leider nicht möglich, die vielen, die es betrifft, namentlich zu nennen. Dem Kohlhammer Verlag – Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Daniela Bach und Frau Ulrike Döring – sind wir zu großem Dank verpflichtet für die Anregung des Projekts ebenso wie für seine hoch kompetente und geduldige Begleitung – über einen längeren Zeitraum als ursprünglich geplant. Schließlich und nicht zuletzt gilt der Dank auch unseren Familien, die damit einverstanden waren, dass wir zahlreiche Stunden am Abend und an Wochenenden für dieses Buch aufgewandt haben.

Es ist ein für uns äußerst bedrückender Umstand, dass einer der Herausgeber, Herr Dr. Lutz Michael Drach, das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben durfte. Herr Dr. Drach, der am 24.12.2015 nach schwerer Krankheit viel zu früh verstarb, repräsentierte als Gerontopsychiater, Geriater und Neuropathologe die ganze Bandbreite unseres Faches. Ebenso umsichtig wie streitbar kämpfte er – mit großen Erfolgen – zeitlebens für eine moderne Versorgung von älteren Menschen mit psychischen Erkrankungen. Mit seiner Fähigkeit, Sachverhalte prägnant und didaktisch einprägsam zu vermitteln, hat er über die von ihm selbst geschriebenen Kapitel hinaus Entscheidendes sowohl zu unseren Workshops als auch zu diesem Buch beigetragen. Gemeinsam mit allen anderen Autorinnen und Autoren dieses Buches, von denen mehrere Dr. Lutz Michael Drach schon seit vielen Jahren persönlich in guter Freundschaft verbunden waren, möchten wir ihm in Anerkennung seiner großen Verdienste für die Gerontopsychiatrie das vorliegende Werk widmen.

Wir hoffen, dass dieses Buch bei einer breiten Leserschaft Anklang findet, und freuen uns über Rückmeldungen und Kritik.

 

Walter Hewer

Christine Thomas

1          Nichts Neues unter der Sonne? Geschichte des Begriffs »Delir«

Lutz M. Drach

 

Verwirrtheitszustände bei akuten schweren Erkrankungen sind seit Jahrtausenden immer wieder in der medizinischen Literatur beschrieben und als schlechtes prognostisches Zeichen gewertet worden. Viele immer noch gültige klinische Beobachtungen, pathophysiologische Vorstellungen und Behandlungsprinzipien sind bereits in der Antike formuliert worden.

Schon im »Corpus Hippocraticum«, einer dem Hippokrates von Kos (geb. ca. 460 v. Chr.) zugeschriebenen Sammlung antiker medizinischer Traktate verschiedener Autoren, werden die prognostisch ungünstigen Krankheitsbilder »Phrenitis« und »Lethargos« beschrieben. Dabei ist »Phrenitis« durch hohes Fieber und Verwirrtheit (Morb. I 30) und »Lethargos« durch Schläfrigkeit, Zittern, Schwitzen und Inkontinenz (Morb. II 65, Morb. III 5) gekennzeichnet. Es dürfte sich dabei um die ersten Beschreibungen des hyper- und hypoaktiven Delirs handeln.

Der Begriff »Delir« stammt von dem römischen Arzt und Enzyklopädisten Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.). Der Begriff »Delirium« leitet sich von »de lira ire« ab, was »aus der Furche« oder »aus der Spur gehen« bedeutet. Celsus beschrieb Delirien insbesondere im Zusammenhang mit hohem Fieber oder Kopfverletzungen. Im Übrigen war das psychiatrische Klassifikationssystem damals noch recht übersichtlich: die übrigen Entitäten waren »Mania«, »Hysteria« und »Melancholia«.

Der griechische Arzt Galenvon Pergamon (Claudius Aelius Galenus) (129–199 n. Chr.) blieb bis zur Renaissance die führende medizinische Autorität des Abendlandes. Er unterschied Delirien ohne Fieber, die er »Paraphrosyne« nannte und die mit Halluzinationen, Denkstörungen, Verfolgungswahn und Verhaltensstörungen einhergingen, von Fieberdelirien, die er »Phrenitis« nannte und auf eine Vergiftung des Gehirnes durch die Toxine des Fiebers zurückführte. Bei letzterer Form des Delirs sah er die Behandlung des Fiebers als wichtigste therapeutische Maßnahme an.

Die arabischen Ärzte des Mittelalters, insbesondere Avicenna (980–1037), orientierten sich in ihrer Lehre über die psychischen Störungen, »Quwwat-e-nafsaniya«, an den antiken Autoren und beschrieben ebenfalls das Delirium, neben den übrigen psychischen Störungen Melancholia, Hysteria, Mania und Insomnia (Ghazala et al. 2009).

Antonio Guainerio betonte 1481 in seinem Hauptwerk »Opera medica« die Wichtigkeit einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung des deliranten Patienten.

Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) ersetzte 1761 den antiken Begriff »Phrenitis« durch »Fieberdelir« (delirium febrile).

Thomas Sutton (1767–1835) führte 1813 den Begriff »Delirium tremens« für die Form des Delirs ein, »die sich unter dem Aderlass verschlechtert, aber unter Opium bessert«. Andere Autoren wie Pierre Francois Olive Rayer (1793–1867) erkannten schon kurz danach den Zusammenhang zwischen Delirium tremens und der Alkoholabhängigkeit.

Der Delirbegriff der klassischen deutschen Psychiatrie wurde maßgeblich von Karl Ludwig Bonhoeffer (1868–1948) geprägt (Neumärker 2001). Nach Vorarbeiten über »die akuten Geisteskrankheiten von Gewohnheitstrinkern« (1901) und die »symptomatischen Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen und inneren Erkrankungen« (1910) erschien 1917 »Die akuten exogenen Reaktionstypen«. Hierin sieht Bonhoeffer die akuten, körperlich begründeten Psychosen als Epiphänomene einer fassbaren Körperkrankheit. Klinisches Leitsymptom ist eine Bewusstseinstrübung, die aber auch fehlen kann. Es wird eine Reihe von Zustandsbildern beschrieben, die einander auch im Verlauf der Erkrankung abwechseln können. Neben dem Delir sind vor allem Dämmerzustand, Halluzinose und die Amentia (Verwirrtheit) zu nennen. Auch organische katatone, paranoide und paranoid-halluzinatorische Bilder werden erwähnt. Nach dem »Gesetz der Unspezifität« sind die verschiedenartigen Zustände nicht an eine bestimmte Ätiologie gebunden. Eine kleine Zahl psychotischer Zustandsbilder kann somit von einer großen Zahl möglicher körperlicher Ursachen ausgelöst werden. Bonhoeffer nahm dabei an, dass die unterschiedlichen Reaktionstypen konstitutionell verankert seien.

Der von Nicht-Psychiatern häufig missverstandene Begriff »Durchgangssyndrom« geht auf eine Arbeit von Hans Heinrich Wieck (1918–1980) aus dem Jahr 1956 zurück. Er beschreibt damit ein eher leichteres Stadium von unspezifischer hirnorganischer Beeinträchtigung im Kontinuum der »Funktionspsychosen«. Bei Letzteren handelt es sich um »diejenigen körperlich begründeten Psychosen, die sich nach klinischer Erfahrung zurückbilden können« (aber nicht müssen!). Mit zunehmendem Schweregrad sind das: Durchgangssyndrom, Bewusstseinstrübung, Bewusstlosigkeit und Koma.

In einer bahnbrechenden Arbeit aus dem Jahr 1959 beschrieben George Libman Engel (1913–1999) und John Romano (1911–1994) erstmals den Zusammenhang von gestörter Stoffwechselaktivität, klinischer Symptomatik und den EEG-Veränderungen beim Delir.

Andere medizinische Fächer hatten, wohl auch weil die akuten organisch begründeten Psychosen schon länger nicht mehr im Fokus des Interesses der Psychiatrie stehen, unabhängig von psychiatrischer Expertise entdeckt, dass viele ihrer Patienten delirant sind. Da in Allgemeinkrankenhäusern ein erheblicher Teil der intensivmedizinisch behandelten Patienten betroffen ist, wurde in der anästhesiologischen Literatur seit den 1970er Jahren das »ICU-Syndrom« (»Intensive Care Unit Syndrome«) beschrieben (Holland et al. 1973). Hierbei handelt es sich aber um typische Delirien. Die neuere intensivmedizinische Literatur (z. B. Tonner et al. 2007) hat den Delirbegriff deshalb wieder aufgegriffen. In jüngerer Zeit wurde, ebenfalls von anästhesiologischer Seite, das Konzept der »postoperative cognitive dysfunction« (POCD) formuliert, das Überschneidungen mit dem Syndrom Delir aufweist, andererseits jedoch einen besonderen Fokus auf länger anhaltende Beeinträchtigungen setzt (Moller et al. 1998).

Nachhaltige Verwirrung zum Delir ist in den deutschsprachigen Ländern durch die deutsche Übersetzung der ICD-10, Kapitel V (F) Psychische Störungen, durch Dilling et al. (1991) entstanden. Es wird hier beim »Delir, nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt« zwischen F05.0 »Delir ohne Demenz« und F05.1 »Delir bei Demenz« unterschieden. Im üblichen medizinischen Sprachgebrauch wird aber »bei« als kausale Beziehung verstanden, etwa wie »obere gastrointestinale Blutung bei Ulcus ventriculi«. Das englische Original spricht von »delirium, not superimposed on dementia« und »delirium, superimposed on dementia«. Aus der deutschen Begriffserklärung wird zwar klar, dass auch die deutsche ICD-10 nur zwischen Delir ohne und bei vorbestehender Demenz unterscheidet, trotzdem induziert diese unglückliche Wortwahl immer wieder die falsche Vorstellung, das Delir sei durch die Demenz verursacht worden.

Dieser kurze medizingeschichtliche Abriss zeigt, dass das Thema Delir nichts von seiner Aktualität verloren hat. Das typische klinische Bild, die Verursachung durch körperliche Erkrankungen und die Verschlechterung von deren Prognose durch ein Delir sind schon seit der Antike bekannt (Adamis et al. 2007). Schon Galen betonte die zentrale Wichtigkeit der Behandlung der körperlichen Erkrankung und Guainerio die Wichtigkeit einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung, beides wichtige Säulen im Management deliranter Patienten. Trotz einiger terminologischer Verwerfungen in letzter Zeit hat der Begriff des Delirs eine bemerkenswerte Beständigkeit gezeigt und wird neben dem DSM-5 sicherlich auch in der ICD-11 seinen Platz behaupten.

2          Symptomatologie und Epidemiologie

 

 

2.1       Symptome und Syndrome des Delirs1

Friedel M. Reischies

Die Krankheitszeichen, die im Zusammenhang mit dem Auftreten eines Delirs beobachtet werden, sind ausgesprochen vielfältig. Einige Patienten zeigen eine »bunte« Symptomatik mit Störungen in kognitiven Funktionen, in der Aufmerksamkeit und im Bewusstsein, aber auch in der Motorik, Wahrnehmung und Emotionalität – andere nur eine leichte Benommenheit und Aufmerksamkeitsstörungen. Die Symptome sollen in diesem Abschnitt einzeln beschrieben werden. Dabei wird der Versuch unternommen, sie in übersichtlichen Kategorien zu gliedern.

Die Spezifität der Symptomatik des Delirsyndroms liegt nicht in den Symptomen – es gibt keine delirspezifischen, keine pathognomonischen Symptome des Delirs. Jedes einzelne Symptom des Delirs kommt auch bei anderen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern vor. Die Delirspezifität liegt im Muster der Symptome, dem Syndrom, und im Verlauf: 1. einem plötzlichen Auftreten der Symptome, 2. einem fluktuierenden Verlauf und 3. einem raschen Abflauen der Symptome (jedenfalls in der Regel, wenn die Ursache des Delirs behoben ist). Für den Diagnostiker ist also die Kenntnis der möglichen und häufigen Symptome des Delirs unverzichtbar, damit er darauf achten kann, denn nach einigen Stunden könnten sie schon nicht mehr erhebbar sein.

Damit erfüllt das Delir die Charakteristik einer psychiatrischen Krankheitseinheit, eine Zustands-Verlaufs-Einheit zu bilden. Erst die Gestalt der Veränderung der komplexen Symptomatik im Laufe der Zeit erlaubt, die Diagnose des Delirs mit Sicherheit zu stellen.

2.1.1     Gruppen von Symptomen – von verschiedenen kausalen Faktoren verursacht

Ein Delir ist ein neuropsychiatrisches Hirnschädigungssyndrom bzw. ein psychiatrisches Syndrom bei einer Hirnfunktionsstörung. Es gibt nicht nur neurologische, sondern auch psychiatrische Krankheitsbilder, die auf eine Schädigung spezifischer Anteile oder Subsysteme des Gehirns zurückzuführen sind. Im Delir entsteht die Symptomatik durch eine akute Störung von Hirnfunktionssystemen der Aufmerksamkeit, Wachheit, des Gedächtnisses etc. Der Leser sollte sich nicht verwirren lassen dadurch, dass bestimmte wohldefinierte Krankheitsbilder mit einer spezifischen Hirnfunktionsstörung, wie eine Transiente Globale Amnesie (TGA), eine temporäre Störung des episodischen Gedächtnisses verursachen, die aber nicht als Delir aufgefasst wird. Hier tritt keine Störung der Aufmerksamkeitsfunktionen auf, die zu den Kernsymptomen des Delirs gezählt wird (s. u.).

Das Delir ist ein Krankheitsbild, das durch viele sehr unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden kann (Kap. 4) und zwar in der Regel auf der Grundlage einer Risikokonstellation von z. B. hohem Lebensalter und vorbestehenden Krankheiten: Beispielsweise tritt ein Delir bei einem Demenzpatienten auf, der zusätzlich einen urogenitalen Infekt erleidet (Kap. 3.2). Die Symptomatik ist daher zu gliedern in

1.  Symptome des Delirs: beispielsweise Aufmerksamkeitsverminderung;

2.  Symptome der aktuell verursachenden Störung, der ätiologisch verantwortlichen Krankheit: z. B. bei einem Schlaganfall mit Delir die neuropsychologische Beeinträchtigung durch die direkte Hirnschädigung, z. B. eine Wortfindungsstörung, oder beim Alkoholentzugsdelir Schwitzen und eine Kreislaufentgleisung;

3.  und gegebenenfalls Symptome einer weiteren Erkrankung, die ein Risiko für eine Delirentstehung darstellt: wie z. B. eine vorbestehende Demenz mit einer Störung des episodischen Gedächtnisses.

Demnach muss in der Diagnostik die Erkennung des Delirs an sich unterschieden werden von der Erkennung der das Delir auslösenden Faktoren – bzw. den Risikofaktoren, welche die Delirentstehung begünstigt haben. Veranschaulichen kann man sich den Sachverhalt, wenn man von einem Bündel von kausalen Faktoren und einer »Delirschwelle« ausgeht (Kap. 3.1). Ein einziger sehr starker ätiologischer Faktor kann das Delir allein verursachen, aber auch ein Bündel von mehr oder weniger schwächeren ätiologischen Faktoren und Delirrisiken. Hier wird es im Vordergrund um die Symptome des Delirsyndroms gehen.

2.1.2     Kernsymptome des Delirsyndroms

Die wichtigsten Bereiche in der Symptomatik des Delirs sind jene der Aufmerksamkeit, des Bewusstseins und der kognitiven Leistungen (Cole 2004, Reischies et al. 2007). Es soll hier daher mit der Störung der verschiedenen Aufmerksamkeitsbereiche begonnen werden. Im Vergleich der ICD-10-Klassifikation der WHO (auf diese wird in den Kapiteln 2.2 und 4 noch näher eingegangen) und der amerikanischen DSM-5-Klassifikation psychiatrischer Krankheitsbilder (Kap. 2.2) fällt auf, dass die ICD-10 das Delir wesentlich komplexer fasst, d. h. die ICD-10 listet mehr Symptome auf, während die DSM-5-Klassifikation die Betonung auf eine Kernsymptomatik legt (American Psychiatric Association 2013). Im Folgenden werden also zuerst die Kernsymptome beschrieben:

•  Aufmerksamkeitsstörungen

•  Bewusstseinsstörungen

•  Störungen kognitiver Leistungen

Aufmerksamkeit

Obwohl die Aufmerksamkeit im Alltag eine große Rolle spielt, bemerken wir sie kaum. Wir werden nur sehr selten auf sie selbst aufmerksam: Die Aufmerksamkeit ist ein Prototyp der unbewusst (implizit) ablaufenden Prozesse der Informationsverarbeitung des Gehirns.

Wie in einem Interview beobachten wir besonders in der psychiatrischen Diagnostik die Aufmerksamkeit und bilden uns (ebenfalls meist implizit) ein Bild über die Aufmerksamkeitsfunktionen des Gesprächspartners. Wir folgen seinen Aufmerksamkeitswendungen, beobachten seine Blicke und beachten die Abfolge seiner Gedanken, die er uns gegenüber äußert. Auch schaut man in der Regel gemeinsam auf bestimmte Objekte, beispielsweise wenn jemand in den Raum kommt (Konzept der »shared intentionality«). In der psychopathologischen Diagnostik müssen die Aufmerksamkeitsfunktionen dann explizit bewertet werden.

Das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5 stellt die Aufmerksamkeitsstörung beim Delir ganz in den Vordergrund und spricht dabei von einer Störung der Aufmerksamkeit in vier Teilaspekten:

1.  Ausrichten und Leiten der Aufmerksamkeit: Hiermit ist die Wendung der Aufmerksamkeit gemeint, beispielsweise die Ausrichtung auf den Untersucher, wenn er an das Bett tritt, oder auf einen eintretenden Besucher oder das Hinsehen dorthin, wo der Untersucher hinblickt. Beim Fokussieren der Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe, wie beispielsweise »die Monate rückwärts aufsagen«, wird ebenfalls die Aufmerksamkeit ausgerichtet – ein Patient könnte beispielsweise die Aufgabe nicht beginnen, sondern immer wieder ablenkende freie Assoziationen äußern.

2.  Fokussieren der Aufmerksamkeit: Hiermit ist die Intensität der Aufmerksamkeitsausrichtung auf eine Aufgabe gemeint, die auch kurzfristig (wie bei einem Golfschlag) erfolgen kann. Die Aufmerksamkeit wird z. B. auf die Aufgabe fokussiert, eine Zahlenfolge nachzusprechen.

3.  Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit: Bei längeren Aufgaben muss die Aufmerksamkeit auf die mentalen Operationen, die gefordert werden, fokussiert gehalten und ablenkende Einflüsse müssen ferngehalten werden. Hierbei ist beispielsweise das Sich-wehren-Können gegen Ablenkungen gemeint (vielfach wird der Begriff Konzentration für die Aufrechterhaltung und Fokussierung der Aufmerksamkeit gebraucht).

4.  Verändern/Lösen der Aufmerksamkeit: Das Abwenden der Aufmerksamkeit von einem Fokus. In dissoziativen oder oneiroiden – traumartigen – Zuständen beispielsweise kann die Aufmerksamkeit nicht von einem Objekt gelöst werden.

Es gibt viele Typen der Aufmerksamkeit und viele Systeme des Gehirns, welche diese Aufmerksamkeitsfunktionen vermitteln (Reischies 2007b). Wir können uns die Aufmerksamkeitslenkung vorstellen als ein Mischpult des Tontechnikers beim Konzert eines Orchesters. Der Tontechniker kann am Pult die Gesamtlautstärke verändern, ein Soloinstrument hervorheben, Gruppen von Instrumenten – wie beispielsweise die Bläser – prägnant hervorheben oder umgekehrt in den Hintergrund verschieben. In diesem Sinne sind Menschen erstens insgesamt mehr oder weniger wach. Sie können zweitens auf einen Sinneskanal achten, wenn sie beispielsweise aufmerksam zuhören. Sie können aber auch drittens die Aufmerksamkeit auf ein Wort, einen Gedanken oder auf eine Bewegung fokussieren.

Unfokussierte Aufmerksamkeit

Die bisher genannten Aspekte gehören zur fokussierten Aufmerksamkeit, d. h. die Aufmerksamkeit in Relation zu einem Ziel, dem Aufmerksamkeitsobjekt. Die unfokussierte Aufmerksamkeit ist dem entgegenzustellen und offenbar beim Delir besonders wichtig. Sie meint das Aufmerksamkeitsniveau ohne dass diese sich jeweils auf ein bestimmtes Objekt richtet – beispielsweise die allgemeine Wachheit.

Eines der charakteristischen Merkmale eines Delirs ist eine Verringerung der unfokussierten Aufmerksamkeit, die dem geübten Diagnostiker auch dann auffällt, wenn nur eine geringe Einschränkung besteht. In der Regel bemerkt sie auch der Lebenspartner des Patienten, sodass in diesem Punkt eine Fremdanamnese besonders wertvoll ist. Den Partnern fällt auf, dass die Person »nicht ganz da« ist, »benommen« oder »wie müde« erscheint etc. Dem Untersucher scheint der Patient nicht vollständig »wach« zu sein.

Man hat auch von einer gestörten Alertness/Attentiveness gesprochen (zusätzlich existiert das Konzept der »Vigilanz«). Auch der Begriff Arousal wird gelegentlich in diesem Zusammenhang verwendet. Er bezeichnet als phasisches Arousal beispielsweise die Weckreaktion, die durch einen Schmerzreiz ausgelöst wird. In einem schweren Delir kann es zum Übergang von Somnolenzüber den Soporzum Koma kommen. In diesem Fall muss die Arousal-Reaktion auf Weckreize geprüft werden (Abb. 9.2).

Die Vielzahl der Begriffe für diese psychopathologische Dimension entstammt experimentellen physiologischen Studien. Aber in der psychopathologischen Untersuchung des Einzelfalls, gerade des Delirs, sind diese Störungskonzepte nicht einfach zu diagnostizieren – es kann nicht gesagt werden, ob das Arousal, die Alertness, die Orientierungsreaktion etc. gestört ist, d. h. psychopathologisch können wir nicht sagen, welcher dieser Funktionsbereiche gestört ist. Pragmatisch kann nicht mehr als eine Einschränkung der unfokussierten Aufmerksamkeit konstatiert werden. Wichtig ist der Versuch, das höchste erreichbare Aufmerksamkeitsniveau des Delirpatienten durch Weckreize, ansprechende Fragen etc. zu erzielen, um die unfokussierte Aufmerksamkeit diagnostisch zu evaluieren. Wenn dem Untersucher auffällt, dass der Patient im Interview benommen wirkt, muss er den Versuch unternehmen, ihn auf irgendetwas aufmerksam werden zu lassen, was ihn interessieren könnte, oder beim Handschlag noch eine Arousal-Reaktion auszulösen.

Aktivierung der Aufmerksamkeit – Top-down- und Bottom-up-Prozesse

Am Beispiel des Arousals kann eine wichtige Unterscheidung in den Prozessabläufen der Aufmerksamkeitsaktivierung deutlich gemacht werden – sogenannte Top-down- und Bottom-up-Prozesse:

1.  Ein plötzlicher Schmerz im Fuß aktiviert die Aufmerksamkeit. Man spricht von Bottom-up-Aktivierung (oder auch von der Peripherie her), gewissermaßen »von unten nach oben«.

2.  Andererseits kann Erregung und Aufmerksamkeit auch »von oben nach unten« aktiviert werden (Top down): Wenn beispielsweise einer Person in einem Gesprächskreis im Nachhinein einfällt, dass die Äußerung eines Gesprächspartners als Beleidigung aufzufassen ist, wird plötzlich die Aufmerksamkeit auf die Person und die weiteren Äußerungen der Person gelenkt – d. h. in diesem Fall aktiviert die kognitive Verarbeitung die Aufmerksamkeit.

Beide Bereiche der Aufmerksamkeit, die fokussierte wie auch die unfokussierte, sind im Delir gestört. Bei ungestörter unfokussierter Aufmerksamkeit erscheint ein Patient wach, aber es kann die Fokussierung der Aufmerksamkeit z. B. auf eine Aufgabe (z. B. »100-7«) gestört sein – der Patient ist gegebenenfalls hyperaktiv und unkontrolliert. Bei gestörter unfokussierter Aufmerksamkeit wird z. B. der Versuch gelingen, den Patienten durch eine ihn interessierende Stimulation oder durch Hautreize anzuregen – zumindest vorübergehend. Bei einer Störung in beiden Aufmerksamkeitsdomänen wird der Patient weder durch ein ihn interessierendes Thema noch durch Hautreize auf ein höheres Aufmerksamkeitsniveau gelangen (Tab. 2.1).

Tab. 2.1: Beziehung der Störung von fokussierter und unfokussierter Aufmerksamkeit im Delir

Fokussierte Aufmerksamkeit

Bewusstsein

Seit Hughlings Jackson (Bhat und Rockwood 2007) und Bonhoeffer ist die Störung des Bewusstseins als charakteristisches Merkmal des Delirs bekannt, zumindest wenn sie plötzlich auftritt und reversibel ist. Bonhoeffers Konzept des exogenen Reaktionstyps Delir ist besonders wertvoll, weil er hervorhebt, dass das Gehirn bei einer Schädigung mit nur einer geringen Anzahl von psychiatrischen Krankheitsbildern, wie einem Delirsyndrom, antworten kann (neben einer differenzierten neuropsychologischen Symptomatik).

Das Bewusstsein ist jedoch noch nicht gut genug erforscht. Wir bezeichnen im Allgemeinen mit Bewusstsein das bewusste Wahrnehmen und Handeln und das bewusste Nachdenken, Planen und Entscheiden. Wir nehmen an, dass es einen psychischen Funktionsbereich der Ersten-Person-Perspektive gibt, der für alles, was mit dem »Ich« zu tun hat, zuständig ist.

Unter den Bewusstseinsfunktionen ist ein Monitoring für verschiedene Domänen zentral:

1.  Bewusstes Wahrnehmen der Sinnesqualitäten (»ich sehe den Doktor«, »ich höre die Glocke«) unter sensomotorischer Kontrolle der Person (hinblicken, zeigen, anfassen etc.) und Monitoring der Wahrnehmungen der gesamten Umgebung als Grundlage für eine Orientierung

2.  Monitoring der Gefühle (»ich habe Angst«), internen Zustände (»ich bin erschöpft«), oder

3.  Monitoring der Anforderungen oder Probleme (»ich habe zu hohe Schulden«), Überzeugungen (»so darf man das aber nicht machen!«), Vorstellungen und Erwartungen etc. Das Monitoring von Empfindungen, internen Zuständen oder Problemen führt zur Aktivierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorstellungen und/oder führt zu Aktionen.

Ein wichtiges weiteres Merkmal der Bewusstseinsfunktionen ist, dass die Person in der Regel über diese subjektive Erfahrung berichten kann und sich später daran erinnert. Diese Fähigkeit ist bei Patienten im Delir gestört. In der Regel können Personen im Delir nicht gut auf sich verändernde Anforderungen der Umgebung oder die Bedürfnisse ihres Körpers reagieren. Deswegen müssen sie als hilflose Personen stationär aufgenommen und überwacht werden.

Neben der Intaktheit dieser Bewusstseinsfunktionen muss der Patient überhaupt wach sein, wobei es eine Einschränkung der Wachheit in Richtung Schlaf und eine Einschränkung in Richtung Somnolenz, Sopor und Koma gibt. Diese zweite Dimension wird in der Regel als quantitative Bewusstseinsstörung bezeichnet und geht mit zunehmender Beeinträchtigung der oben genannten Bewusstseinsfunktionen einher.

Die neue Klassifikation der amerikanischen Psychiatrie, das DSM-5, verzichtet auf die Störung des Bewusstseins als Kriterium für das Vorliegen eines Delirsyndroms. Es betont besonders die Störung der Aufmerksamkeit. Dies steht im krassen Gegensatz zur in Deutschland herrschenden Lehrmeinung. Im deutschen Sprachraum steht seit Bonhoeffer die Bewusstseinsstörung an zentraler Stelle der Definition des Delirs. Jedoch ist seit Langem klar, dass die Bewusstseinsstörung zwar eine sehr spezifische Symptomatik des Delirs darstellt, allerdings als Hauptsymptom zu wenig sensitiv ist. Mit anderen Worten, wenn bei einem Patienten eine plötzlich neu aufgetretene Bewusstseinsstörung bemerkt wird, dürfte es sich mit einiger Sicherheit um ein Delir handeln, aber es gibt sehr viele Delirien ohne Bewusstseinsstörungen, beispielsweise flüchtige Verwirrtheitssyndrome bei Exsikkose. Diese Situation hat zur Einführung von neuen Terminologien, z. B. des »Durchgangssyndroms« geführt (Wieck), einem Delirsyndrom ohne Bewusstseinsstörung.

Ein weiteres Problem ist hier nebenbei zu erwähnen: Im deutschen Sprachraum wird die Bewusstseinsstörung beim Delir als qualitative und quantitative Bewusstseinsstörung charakterisiert. International ist aber zur Grobcharakterisierung der Tiefe einer Bewusstseinsstörung die Glasgow Coma Scale (GCS) eingeführt, welche versucht, in dem Spektrum von Somnolenz zum Koma den Schweregrad einer Bewusstseinsstörung zu quantifizieren. Es wird also nur von einer einzigen, quantitativ abstufbaren Dimension »Bewusstsein« ausgegangen. Die internationale Psychiatrie geht bei der Bewusstseinstrübung im Delir nicht mit Jaspers von einer qualitativen Bewusstseinsstörung aus. Jaspers hatte beispielsweise eine Fragmentierung der Bewusstseinsinhalte beschrieben, welche die Qualität des Erlebens beeinträchtigt – diese wäre z. B. mit der begleitenden Störung kognitiver Funktionen zu erklären. Das Hauptargument ist, dass die Diagnostik dieser Charakteristik der Bewusstseinsveränderung im Delir jedoch in der Regel schwer beeinträchtigt oder unmöglich ist – wir können einfach nicht wissen, wie das Erleben des Delirpatienten ist. Wir haben mithin die Situation, dass die amerikanische Psychiatrie die Bewusstseinsstörung nicht mehr zu den Kriterien des Delirs zählt und die internationale Psychiatrie die Diagnostizierbarkeit der qualitativen Veränderung des Bewusstseins nach Jaspers nicht nachvollzieht (Abb. 9.2).

Unabhängig davon muss betont werden, dass jedoch qualitative Bewusstseinsstörungen für die Delirsyndrome wichtig sind: Eines der Syndrome, die in den neuen Klassifikationssystemen unter dem Delir subsumiert wurden, der Dämmerzustand, geht mit dem Vorherrschen einer qualitativen Bewusstseinsstörung einher (s. u.).

Als Zwischenlösung war das Merkmal der Bewusstheit der Umgebung eingeführt worden – der Patient ist sich seiner Umgebung nicht klar bewusst, d. h. seine Umweltorientierung und situative Orientierung sind gestört (disorder of awareness of the environment – in DSM-5 ausgeführt als »reduced orientation to the environment«).

In der deutschen Psychiatrie ist als Stufe zwischen dem klaren Wachbewusstsein und einer Bewusstseinstrübung die »Benommenheit« beschrieben worden. Dieser Begriff ist für die Diagnostik des Delirs äußerst hilfreich, besonders für leichtere Formen. Patienten scheinen nicht voll wach, »nicht ganz anwesend«, »verhangen« etc.

Als Überleitung zu den Störungen kognitiver Leistungen soll hier beispielhaft die Kernsymptomatik prägnant herausgearbeitet werden: Ein Patient erscheint dem Untersucher

•  erstens nicht ganz wach und zudem unaufmerksam. Auch nach Bemühungen, ihn zu aktivieren, klart er nicht vollständig auf und wird nicht attenter.

•  Weiter weist er eine Beeinträchtigung kognitiver Leistungen auf, beispielsweise eine deutliche Störung der zeitlichen Orientierung, die vorher nicht vorgelegen hat.

Dieser Patient wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Delir leiden. Hierbei ist der Unterschied zu einem müden Menschen hervorzuheben: Wenn der schläfrige Mensch aufwacht, wird er z. B. die Orientierung sehr rasch wiedererlangen.

Störung kognitiver Leistungen

Neben der Störung der Aufmerksamkeit stellt die plötzlich auftretende Störung kognitiver Leistungen ein weiteres Kernmerkmal des Delirs dar. Die Störung der kognitiven Funktionen ist nicht spezifisch für das Delir. Im Gegenteil, bei einer Alzheimer-Demenz tritt eine in vielen Merkmalen ähnliche Störung kognitiver Leistungen auf – in der Mini-Mental-State-Examination (MMSE) finden sich vergleichbare Defizite (s. z. B. Morandi et al. 2012a). Aber die Störung kognitiver Leistungen entwickelt sich im Delir und in der Alzheimer-Demenz mit völlig verschiedenen Zeitverläufen. Aus Platzgründen können hier nicht die vielen neuropsychologischen Dimensionen, die jeweils differenziert bei einem Delir gestört gefunden werden, ausführlich besprochen werden. Auch wird im Kapitel 4 auf die für die Diagnostik wichtigen neuropsychologischen Funktionstests eingegangen.

Störung verschiedener Gedächtnisfunktionen

Das Gehirn verfügt über verschiedene Gedächtnisfunktionen, welche die alte Zweiteilung in Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis überholt erscheinen lassen.

Episodisches Gedächtnis

Nachdem herausgefunden wurde, dass Menschen sich kürzlich geschehene Ereignisse als Episoden merken, spricht man von episodischem Gedächtnis. Über das Abrufen der Episode fallen der Person viele Details der erlebten Situation wieder ein.

Personen mit einem Delir haben Probleme, Ereignisse zu erinnern, die in letzter Zeit geschehen sind. Im Delir kann der Patient sich vor allem nicht mehr an die Details der letzten Tage erinnern, während gesunde Personen aus den letzten Tagen normalerweise die meisten Informationen abrufen können. Beispielsweise kann sich der Patient nicht an die Aufnahmemodalität im Krankenhaus erinnern, z. B. wie er in den Untersuchungsraum gekommen ist oder den Transport zum Krankenhaus. Die Personen können im Gegensatz dazu lange Zeit zurückliegende Ereignisse berichten und das autobiografische Gedächtnis ist nicht speziell betroffen.

Üblicherweise werden klinisch zur Untersuchung Merklistentests verwendet. Dabei werden in einer Einspeicher-Episode Wörter zum Merken genannt und der Patient wird zunächst gebeten, diese nachzusprechen oder vorzulesen. Nach einer Ablenkung durch andere Tests wird der Patient dann gebeten, die Wörter, die er sich in der Einspeicher-Episode gemerkt hat, wiederzugeben. Schwer delirante Patienten können sich gar nicht erinnern, kürzlich eine Liste von Wörtern gelernt zu haben (d. h. sie haben die Einspeicher-Episode vergessen).

Die sogenannte »Tiefe« der Einspeicherung einerseits und die Art der Hilfestellung bei der Abfrage aus dem Gedächtnis andererseits ist für die Erinnerungsleistung entscheidend – d. h. wie viele mentale Operationen wurden von dem Patienten beispielsweise mit dem Merkwort durchgeführt und werden bei der Wiedergabe Hinweise auf die Einspeicher-Situation, Oberbegriffe etc. als Hilfsmittel zum Abruf aus dem Gedächtnis angeboten. Die Wiedergabe ist schwerer, wenn der Patient beispielsweise das Wort, das erinnert werden soll, nur lesen musste – leichter ist die Wiedergabe, wenn sich der Patient das Bezeichnete vorstellen oder eine Geschichte damit verbinden musste, was in Gedächtnistrainings vermittelt wird. Für die Abfrage ist wichtig, ob der Patient gebeten wird, ohne Hilfe wiederzugeben, was zu merken war, oder ob Hinweisreize zur Unterstützung der Abfrage gegeben werden. Noch leichter fällt das Wiedererkennen der Merkwörter aus einer Auswahlliste.

Orientierung

Fehler in der zeitlichen und örtlichen Orientierung sind wichtige und einfach zu prüfende Symptome eines Delirs. Für die Beurteilung der Orientierung ist die Einspeicherung/Enkodierung zu beachten: Hat der Patient in den letzten Tagen bzw. Wochen Zugang zu einem Kalender gehabt, die Zeitung gelesen oder Radio gehört etc.?

In der klinischen Routine wird nach dem aktuellen Datum gefragt (Tag im Monat, Monat, Jahr und Wochentag/Uhrzeit). Finden sich Fehler im Monat und/oder Jahr, dann weist dies mit einer Sensitivität von 95 % und einer Spezifität von 86,5 % auf eine Störung kognitiver Leistungen beim Delir (oder bei einer Demenz) hin (O’Keeffe et al. 2011). Nach unserer Erfahrung ist auch ein Verschätzen des aktuellen Tagesdatums um eine Woche oder mehr ein Indikator für eine Störung der zeitlichen Orientierung (Nano-Screening-Test, Reischies 2005, s. Kasten unten). Die Orientierung zum Ort ist ebenso häufig im Delir gestört.

Arbeitsgedächtnis

Die neuropsychologische Forschung hat herausgefunden, dass zum zwischenzeitlichen Speichern von Informationen, die später nicht mehr gebraucht werden, ein Arbeitsgedächtnis existiert, das vom episodischen Gedächtnis gesondert gestört sein kann. Dieses Arbeitsgedächtnis dient beispielsweise als Zwischenspeicher beim Rechnen (zum Speichern von Zwischenergebnissen). Es wird angenommen, dass Informationen für kurze Zeit im Gehirn aktiv aufrechterhalten werden und bei Ablenkung durch eine alternative Aktivität sofort verloren sind. Bei der Aufgabe der seriellen Subtraktion können speziell in diesem Bereich Fehler beobachtet werden (100-7, vom Ergebnis wieder 7 abziehen usw. – die Zahl 7 beispielsweise muss im Arbeitsgedächtnis gehalten werden).

Zum Arbeitsgedächtnis gehört z. B. auch das Nachsprechen einer Zahlensequenz (die sogenannte Zahlenspanne). Beim Delir kann die Zahlenspanne gestört sein. Der Befund kann differenzialdiagnostische Hinweise geben, denn bei eher fortgeschrittenen Demenzsyndromen ist die Zahlenspanne (vorwärts) vielfach noch ungestört.

Verlauf der Gedächtnisstörungen

Wie ist der Verlauf der Gedächtnisstörungen im Delir? Ein Delirpatient wird sich nicht an die Ereignisse der letzten Tage vor dem Ausbruch des Delirs erinnern. Wenn das Delir abgeklungen ist, kann er sich jedoch zumindest an prägnante Ereignisse aus dieser Zeit erinnern. Das Wiedererinnern von während des Delirs nicht abrufbaren Informationen ist typisch für dieses Syndrom. Offenbar ist im Delir nicht vorwiegend der Speicher betroffen, sondern der Abruf aus dem Gedächtnis (Reischies 2007b).

Im typischen Fall kann für die Zeit des Delirs eine amnestische Lücke exploriert werden: Der wieder gesundete Patient erinnert sich an die Ereignisse vor dem Delir, jedoch nur partiell an Ereignisse während des Delirs. Dies hängt offenbar damit zusammen, dass die Einspeicherung von Informationen während des Delirs nicht nachhaltig und durchgehend gelingt.

Störung der Sprache und des Denkens

Wortfindung: Die klinisch neuropsychologische Untersuchung der Wortflüssigkeit (Fluency, bei der die Person möglichst viele Wörter sagen soll, beispielsweise zu einem semantischen Oberbegriff) fördert regelhaft Defizite zu Tage (Reischies et al. 2007). Es sollen z. B. so viele Kleidungsstücke, wie möglich, genannt werden. Nicht nur, dass Patienten mit einem Delir nur wenige Wörter abrufen können, es kommt zusätzlich zu der Nennung falscher Wörter und dem Vergessen der semantischen Kategorie.

Denken: Bei manchen Formen des Delirs fallen ausgeprägte formale Denkstörungen auf. Die Patienten wirken »verworren« (verworrenes/amentielles Delir, Kap. 2.1.6). Viele dieser Patienten können keinen klaren Gedankengang mehr darstellen, springen von einem Thema zum anderen, schweifen ab oder sind im Denken umständlich. Manche Patienten verlieren die Zielvorstellung aus den Augen, sie »verlieren den Faden«.

Visuell räumliche Störung und Störung der Wahrnehmung

Neuropsychologische Untersuchungsverfahren für visuell räumliche Störungen sind in Kapitel 2.2 aufgelistet. Das DSM-5 nennt visuell-räumliche Störungen und Störungen der Wahrnehmung explizit, sie werden jedoch in der Klinik seltener bei Delirpatienten untersucht.

Neuropsychologische Testung (s. a. Kap. 4)

Eine formale neuropsychologische Testung (CERAD-NP etc.) verbietet sich im Allgemeinen, weil die Testbarkeit im Delir deutlich eingeschränkt ist oder sogar nicht mehr besteht. Der Patient kann nicht die notwendige Aufmerksamkeit aufbringen, eine Untersuchung mittels einer langwierigen Testbatterie durchzustehen. Deshalb bewähren sich neuropsychologische Untersuchungsverfahren, die in der Regel nur für kurze Zeit die Aufmerksamkeit fordern und einzeln angewandt werden können. Sie werden z. T. an anderer Stelle erwähnt (Tab. 4.4). Vorschläge für neuropsychologische Untersuchungsverfahren des DSM-5 zur Untersuchung neuropsychiatrischer Störungen finden sich in den Kapiteln 2.2 und 4.2 für die Bereiche, die im Delir betroffen sind. Für die fachärztliche Untersuchung, d. h. für trainierte Untersucher, wurde der Nano-Screening-Test entwickelt, der in wenigen Minuten einige zentrale neuropsychologische Untersuchungsverfahren zusammenträgt (Reischies 2005).

Die Aufgaben des Nano-Screening-Tests

 

•  Tag im Monat: Der wievielte ist gerade?

•  Wer ist gerade in der Position des Bundeskanzlers? Wer ist Bürgermeister?

•  Können Sie so viele verschiedene Wörter wie möglich von einer Sorte sagen? Können Sie so viele Möbel wie möglich nennen? (1 bis 2 Min.)

•  Eine Zahl nachsprechen (1 pro Sek.) »9 1 5 8 3 7«: Auswertung der richtig genannten Ziffern in richtiger Position

•  Hand-Faust-Sequenz wiederholen (Untersucher macht vor): 1. Faust, 2. Handkante, 3. Flachhand (Sequenz notieren)

•  Aufgaben erinnern: Welche Aufgaben für Konzentration und Gedächtnis habe ich Ihnen gerade gegeben?

•  Zusatzaufgabe: Welches waren das 1. und 2. Möbelstück, das Sie genannt hatten?

Im Delir ungestörte neuropsychologische Funktionen

Sind im Delir alle neuropsychologischen Funktionen beeinträchtigt, d. h. sollte von einer globalen neuropsychologischen Störung gesprochen werden? Nein. Bereits die ersten neuropsychologischen Untersucher (Chedru und Geschwind 1972) haben beobachtet, dass viele neuropsychologischen Grundfunktionen ungestört sind. Vor allem fällt auf, dass die Routinefunktionen ungestört bleiben, wie elementare Sprachfunktionen und die Artikulation. Tritt eine Dysarthrie auf, gehört das Symptom nicht zum Delir, sondern kann Hinweise auf die Verursachung des Delirsyndroms geben – beispielsweise eine Intoxikation.

Die elementare Motorik ist ebenfalls ungestört, der Patient kann im Delir in der Regel ungestört gehen und Treppen steigen. Selbst die Grundrechenarten funktionieren, wenn sie in der Jugend gut trainiert worden sind. Das Erkennen von einfachen Formen ist dann ungestört, wenn der Patient nicht unter optischen Halluzinationen leidet. So kommt es in der Regel zu keinen Benennfehlern, es sei denn aufgrund von optischer Missidentifikation (Wallesch und Hundsalz 1994).

Die einfachen und automatisierten, mühelos zu leistenden Hirnfunktionen sind demnach in der Regel ungestört, nicht jedoch die Funktionen, die weniger oder gar nicht automatisiert sind und Aufmerksamkeit und Mühe erfordern. Eine Ausnahme von dieser Regel ist das Erinnern, das einem gesunden Menschen auch mühelos gelingt (vor allem in der Abfrageform des Wiedererkennens aus Alternativen). Dieses ist bei Delirpatienten ebenfalls gestört.

Delirdiagnostik bei vorbestehender Demenz

Werden bei einem kognitiv vorher gesunden Menschen unvermittelt Störungen kognitiver Leistungen beobachtet, besteht ein Delirverdacht. Bei einem jungen Menschen fallen akute Störungen kognitiver Leistungen sofort auf. Dasselbe gilt auch für einen vorher völlig unbeeinträchtigten Menschen im Alter von etwa 70 Jahren. Bei einer vorbestehenden Demenz allerdings ist dies nicht der Fall. Hier muss eine Verschlechterung der Gedächtnisfunktionen bemerkt werden, die eben vorher nicht ungestört waren. Ehepartner werden dies beobachten können, aber einem Psychiater, der die Erstdiagnostik durchführt, kann diese Verschlechterung nicht auffallen. Dies bestärkt die Notwendigkeit der (oben bereits erwähnten) Fremdanamnese.

Beim Vorliegen einer Demenz wird ein hinzutretendes Delir eher an der gestörten Wachheit bzw. Störung der unfokussierten Aufmerksamkeit diagnostizierbar sein – der Patient wirkt plötzlich »benommen«. Ein Patient mit einer mittelgradigen Alzheimer-Demenz wird evtl. eine Apathie aufweisen sowie die typischen neuropsychologischen Defizite, aber er ist wach. Beobachtet der Untersucher auch nur eine leichte Einschränkung der Wachheit und Störung der einfachen Lenkung der Aufmerksamkeit (Blickbewegungen etc.), muss der Verdacht eines Delirs bei Demenz abgeklärt werden. Dies gilt besonders wegen der potenziell lebensgefährlichen Ursachen des akuten Delirsyndroms, z. B. Pneumonie.

2.1.3     Verlauf der Symptomatik

Die Symptomatik des Delirs beginnt rasch und fluktuiert. Zur psychopathologischen Untersuchung des Delirs gehört die Beachtung des Zeitverlaufs der Symptomatik. In der Regel bildet sich die Symptomatik des Delirs rasch zurück – wenn die Ursache gefunden und behoben ist.

Akuität

Wenn zu erfahren ist, dass ein Patient, der bei der Untersuchung deutliche kognitive Beeinträchtigungen aufweist, vor einigen Tagen noch völlig unauffällig gewesen sei, muss der Verdacht auf das Vorliegen eines Delirs abgeklärt werden.

Fluktuation

Dazu kommen Fluktuationen der Symptomatik: Zum Zeitpunkt der Untersuchung können Patienten kaum Symptome zeigen – es ist deshalb unumgänglich, beispielsweise das Pflegepersonal oder Angehörige zu fragen, ob vor Stunden bereits eine stärker ausgeprägte Symptomatik vorgelegen hatte. Auch ergibt sich daraus die Notwendigkeit für ein Training des Pflegepersonals, auf die Kernsymptome des Delirs zu achten.

Tagesschläfrigkeit und Schlafstörungen

Die zirkadiane Rhythmik ist im Delir gestört. Besonders wichtig ist die nächtliche Agitiertheit von Patienten mit einem Delir. Sie machen die Nacht zum Tage, handeln nachts laut und distanzlos etc. Dies führt dazu, dass die Patienten auf internistischen Stationen üblichen Zuschnitts häufig nicht geführt werden können. Veränderungen der Aufmerksamkeit und Wachheit können allein schon wegen der Veränderung bzw. der Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus auffallen – weil die Patienten am Tage bei der Untersuchung müde sind –, dann muss die Müdigkeit von einer Störung der Bewusstseinsfunktionen unterschieden werden.

Es kann auch vorkommen, dass der Patient zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Symptomatik mehr bietet – das Delir ist bereits abgeklungen. Die Reversibilität der Störung kognitiver Leistungen und der Aufmerksamkeitsstörungen ist in den meisten Fällen ein weiterer Beleg, dass es sich bei der beobachteten Symptomatik um das Krankheitsbild eines Delirs gehandelt hat. Wichtige Ausnahmen sind Delirien bzw. Enzephalopathien, deren Ursache fortbesteht und die aus diesem Grund nicht remittieren.

Der Verlauf eines Delirs kann nach dem oben Dargestellten sehr unterschiedlich sein: die Fluktuation und Remission sind von Patient zu Patient sehr verschieden. Es ist noch unklar, ob es vorteilhaft ist, Verlaufstypen zu unterscheiden. Einer dieser Verlaufstypen könnte das rasch und komplikationslos abklingende Verwirrtheitssyndrom (z. B. bei Exsikkose) sein. Ein anderer Prototyp ist ein über längere Zeit fluktuierender Verlauf.

2.1.4     Hinweis auf die Art der schädigenden Einwirkung auf das ZNS

Die Diagnosesysteme fordern als Kriterium des Delirs einen Nachweis der organischen Verursachung. Dies ist eingeführt worden, um differenzialdiagnostisch beispielsweise eine akute Schizophrenie auszuschließen. Eine akut ausgebrochene schizophrene Psychose geht – wie ein Delir – mit Aufmerksamkeitsstörungen und Störungen kognitiver Leistungen einher. Wahn und Halluzinationen – also typische Symptome akuter schizophrener Exazerbationen – können auch beim Delir auftreten, gehören zu dessen akzessorischen Symptomen (Kap. 2.1.5). Bei der Schizophrenie bestehen allerdings zusätzlich Ich-Störungen.

Man könnte jedoch auch einwenden: Stellt nicht das Delir einen typischen Zustands-/Verlaufstyp dar, der den Nachweis einer ZNS-Schädigung erübrigt? Gibt es Symptome des Delirs, die eine Hirnschädigung oder zumindest eine erhebliche Hirnfunktionsstörung belegen? Ist ein typisches Delir nicht der Prototyp eines akuten psychiatrischen Hirnschädigungssyndroms? Dies ist sicherlich der Fall, aber es gibt eine Reihe von untypisch verlaufenden Delirien, die differenzialdiagnostisch von beispielsweise einer schizophrenen Psychose unterschieden werden müssen.

In vielen Fällen ist der Nachweis einer Hirnschädigung, bzw. einer Hirnfunktionsstörung bei organischer Ursache nicht einfach zu erbringen und es müsste bei ungeklärter Ursache eines Delirs die Diagnose selbst infrage gestellt werden (s. hierzu auch Kap. 4.2 und 4.3).

2.1.5     Akzessorische Symptome

Dem Konzept des DSM-IV folgend bevorzugen wir die Vorstellung einer Kernsymptomatik des Delirs – mit potenziellen zusätzlich auftretenden, sog. akzessorischen Symptomen (Kap. 4.2).

Von den akzessorischen Symptomen soll nur ein Teil hier dargestellt werden. Ein großer Teil der Patienten mit einem Delir ist hyperaktiv. Es handelt sich meist um eine motorische Unruhe mit eher ungeplanter Aktivität – eine Steigerung des gezielten Antriebs (wie man es bei einer Manie bei bipolarer affektiver Psychose beobachtet), ist in der Regel nicht zu finden.

Andere Patienten mit einem Delir sind dagegen hypoaktiv. Bei diesen Patienten ist meist auch eine Verminderung der Wachheit auffällig. Man spricht von einem hypoaktiv-hypovigilanten Delir (Kap. 2.1.6). Dazu kommt, dass Patienten mit einem Delir verlangsamt sind, die Reaktionszeiten bzw. Latenzen von Reaktionen und Antworten sind erhöht (dies ist für die Verhinderung der Teilnahme am Straßenverkehr wichtig).

2.1.6     Subsyndrome

Ein unkompliziertes Verwirrtheitssyndrom ohne Bewusstseinstrübung – beispielsweise bei Exsikkose – ist von einem Vollbild eines Delirs mit halluzinatorischer Symptomatik – beispielsweise beim Delirium tremens – deutlich unterschieden. Die diagnostischen Klassifikationssysteme nennen keine Subsyndrome des Delirs (ICD-10), bzw. rücken diese nicht in den Vordergrund und unterscheiden nur das hyper- bzw. hypoaktive bzw. gemischte Delir (DSM-5). Gibt es also nur ein Delir oder viele Delirsyndrome? Handelt es sich nur um eine mehr oder weniger vielfältige Symptomatik – beispielsweise im Kontrast eines »bunten« Syndroms bei Delirium tremens und eines blanden Syndroms eines hypoaktiv-hypovigilanten Delirs z. B. bei Pneumonie? Die Diskussion um hypo- und hyperaktive Delirformen hat die Unterscheidung von noch mehr Subsyndromen oder Typen des Delirs eröffnet. Wir stellen hier die Charakteristik verschiedener Delirsyndrome für die klinische Diagnostik vor.

Hypoaktives Delir

Die Patienten sind inaktiv, sitzen »apathisch« herum oder liegen ruhig in ihrem Bett und melden sich nicht, wenn Probleme auftauchen. Bezüglich dieses Delirtyps wird davor gewarnt, dass diese Patienten vermeintlich unauffällig bleiben und nicht aktiv untersucht werden – sie klagen nicht über Veränderungen ihrer akuten Symptomatik, deswegen werden lebensgefährliche somatische Ursachen leichter übersehen. In vielen Fällen tritt die Hypoaktivität mit einer Störung der Wachheit (die auch als Hypovigilanz bezeichnet wird) zusammen auf, sodass vom hypoaktiv-hypovigilanten Delirtyp gesprochen werden kann.

Hyperaktives Delir

Diese Patienten sind motorisch unruhig, ungesteuert, z. T. agitiert. Handelt es sich um einfache motorische Unruhe, ist die Situation meist noch auf einer internistischen Station zu beherrschen. Aber es kann auch z. B. eine Enthemmung dazukommen: Die Patienten verhalten sich distanzlos und nicht eingrenzbar. Sie betreten beispielsweise die Zimmer anderer Patienten und können diese belästigen und evtl. gefährden.

Patienten im hyperaktiven Delir erregen die Aufmerksamkeit der Familie oder Pflegenden. Das Problem, dass man die lebensgefährliche Ursache des Delirs nicht erkennt, steht nicht im Vordergrund, sondern eine andere Gefahr: Das Problem ist, dass die hyperaktiven Delirpatienten häufig auf einer somatischen Station wegen ihres Verhaltens nicht zu führen sind – hinsichtlich ihrer auslösenden Grunderkrankung jedoch qualifiziert somatisch behandelt werden müssen. Sie werden auf eine psychiatrische Station verlegt, wo aber die somatisch-medizinische Versorgung nicht immer uneingeschränkt möglich ist.

Es wurde, wie oben bereits angedeutet, vorgeschlagen, von hypoaktiv-hypovigilanten und hyperaktiv-hypervigilanten Delirien zu sprechen. Eine fixe Assoziation von gestörtem Aktivitätsniveau und Vigilanzstörung ist jedoch nicht immer gegeben: Es kann auch sein, dass ein hyperaktiver Patient die Station mit seiner motorischen Unruhe bei deutlich erniedrigtem Vigilanzstatus beschäftigt.

Die Fluktuation der Symptomatik allerdings bringt es mit sich, dass viele der Patienten mit einem hypoaktiven Delir auch Phasen von Hyperaktivität zeigen. Damit erscheint es besser, von einer hypo- oder hyperaktiven Phase des Delirs zu sprechen (weitere Ausführungen zu dieser Thematik finden sich in Kapitel 4.2.1).

Andere Typen des Delirs

Verwirrtheitszustand

Als akuter Verwirrtheitszustand wird ein Syndrom bezeichnet, in dem unvermittelt die Gedächtnisfunktionen schwer beeinträchtigt sind. Die anderen Symptome des Delirs jedoch treten (weitgehend) in den Hintergrund – vor allem findet sich keine Störung des Bewusstseins. Der Patient kann sich nichts mehr merken und ist desorientiert, aber es fällt keine Störung des Bewusstseins auf und der Patient erscheint im Gespräch aufmerksam. Eine Störung der Aufmerksamkeitsfunktionen fällt nicht auf, wenn sie nicht gezielt getestet wird. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird von »acute confusional syndrome« gesprochen. Typisch ist dieses Krankheitsbild beispielsweise für ein Exsikkose-Delir bei sonst gesunden älteren Menschen.

Verworrenes Delir

Wenn im Krankheitsbild vorwiegend formale Denkstörungen zu beobachten sind, kann man von einem verworrenen/amentiellen Delir sprechen. Dazu kommt eine mehr oder weniger ausgeprägte Gedächtnisstörung.

Akutes paranoid-halluzinatorisches Delirsyndrom

Patienten mit akut auftretender paranoid-halluzinatorischer Symptomatik können die Delirdiagnose erhalten: einerseits vom akuten Verlauf her, von der ätiologischen Assoziation mit einer somatischen Ursache und wegen der reversiblen begleitenden Störung kognitiver Leistungen wie der Orientierung sowie der prominenten Aufmerksamkeitsstörungen. Auch klingt in der Regel die paranoide Symptomatik mit den Störungen der kognitiven Funktionen ab. In einem derartigen Fall steht die paranoid-halluzinatorische Symptomatik klinisch im Vordergrund vor den Kernsymptomen des Delirs. Es muss dabei die differenzialdiagnostische Unterscheidung von

1.  Demenz mit paranoid-halluzinatorischer Symptomatik und

2.  Spätschizophrenie/Paraphrenie bei Personen mit ausgeprägten kognitiven Defiziten

geklärt werden.

Die »weißen Mäuse« beim Delirium tremens sind sprichwörtlich. Besonders beim Delirium tremens treten lebhafte Halluzinationen meist in der visuellen Modalität auf. Ein Patient kann vor sich seinen Arbeitsplatz sehen, beispielsweise eine Werkbank oder ein Stück Stoff für Handarbeiten. Dann kann es zu Handlungen in diesem speziellen Kontext kommen – man spricht von einem Beschäftigungsdelir. Häufig wird »Nesteln« beobachtet. Die Abgrenzung halluzinatorischer Symptomatik bei einem Delir von einer akuten organischen Halluzinose fällt zuweilen nicht leicht. Hierfür ist auf die weiteren Symptome eines Delirs, auf den Verlauf und die Begleitsymptomatik zu achten.

Neben Halluzinationen kommt es zu weiteren perzeptuellen Störungen. So treten beispielsweise Illusionen häufig auf. Hiermit hängt z. T. auch die Suggestibilität der Patienten zusammen: Ein Patient liest beispielsweise auf einem weißen Blatt einen Text, wenn er dazu aufgefordert wird.

Flüchtige Wahngedanken finden sich auch im Delir. Es ist davon auszugehen, dass sich dem Patienten in schwierigen Situationen bestimmte emotional geprägte Gedanken aufdrängen, während die kognitiven Funktionen beeinträchtigt sind und somit die »Realitätskontrolle« versagt, d. h. die kritische Erwägung, ob das Erlebte mit der Alltagserfahrung in Einklang zu bringen ist. Die Störung kognitiver Leistungen, besonders des formalen Denkens führt – unter anderem – dazu, dass der Patient die Unwahrheit eines Gedankens nicht überprüfen kann. Wahngedanken sind aus dem Grunde flüchtig, weil einerseits der Patient den Gedanken vergisst und andererseits die Rückbildung des Delirs die Realitätskontrolle wieder funktionsfähig werden lässt. Trotz dieser Unterschiede zwischen paranoid-halluzinatorischer Symptomatik im Delir und bei schizophrenen Patienten ist in einigen Fällen die Differenzialdiagnose – auch hinsichtlich einer neu aufgetretenen Spätschizophrenie und Paraphrenie nicht einfach zu klären.

Delir mit qualitativer Bewusstseinsstörung

Auf dem Boden einer Epilepsie kann ein Dämmerzustand auftreten. Handelt es sich um ein rein dissoziatives Syndrom, kann nach ICD-10 der organische dissoziative Zustand klassifiziert werden. Der Dämmerzustand war nach alter europäischer Tradition nicht unter die Delirien zu subsummieren, denn die Art der Bewusstseinsstörung (Bewusstseinseinengung bzw. -verschiebung) und die Ätiologie sowie der Verlauf unterscheiden sich vom typischen Delir. Differenzierendes Merkmal ist die pathologische Fixierung der Aufmerksamkeit auf etwas, das in der Regel dem Beobachter verschlossen bleibt – denn die Kommunikation mit dem Patienten gelingt nicht und es kommt zu unverständlichen Reaktionen. Differenzialdiagnostisch muss versucht werden, den Nachweis einer epileptischen Erkrankung zu erbringen.

Enthemmungssyndrom

Bei einem Teil der Delirpatienten fällt eine deutliche Enthemmung auf. Sie agieren distanzlos. Das sozial distanzlose Verhalten besteht in zu enger Annäherung an Mitmenschen, lautes Fluchen oder sexuelle Anzüglichkeiten. Die Patienten halten sich an keine Regeln. Besonders wichtig ist klinisch die aggressive Enthemmung.

Emotionales Delirsyndrom

Eine Veränderung der Emotionalität tritt häufig auf. Es kann z. B. zu Angst, Euphorie oder Aggressionen kommen. Die emotionalen Veränderungen können in einigen Fällen auf pathologische Erlebensweisen, wie z. B. Halluzinationen und Wahn, zurückgeführt werden. Angst kann auch unter dem Eindruck von Albträumen ausgelöst werden. Verzweifelte emotionale Befindlichkeit bis hin zu Suizidalität ist beobachtet worden. Aber auch eine ausgeprägt gehobene Stimmung kann bei Delirien auftreten, wahnhafte Feiersituationen werden berichtet. Auch gereizt-manische Bilder mit Größenideen sind möglich.

2.1.7     Zusammenfassung

Das klinische Erscheinungsbild des Delirs ist vielgestaltig. Ein prototypisches Delir ist definiert durch die Störung der Aufmerksamkeit und zwar sowohl einer Störung der unfokussierten Aufmerksamkeit (z. B. der Wachheit und der aufmerksamen Präsenz in der Situation) als auch der Störung der fokussierten Aufmerksamkeit (die sich darin ausdrückt, dass der Patient sich nicht auf das Gesprächsthema, eine Aufgabe konzentrieren kann). Ein typisches Delir zeigt einen charakteristischen Verlauf mit 1. akutem Beginn, 2. Fluktuationen des Schweregrads der Beeinträchtigung und 3. Reversibilität sowohl der kognitiven Beeinträchtigung als auch der Aufmerksamkeitsstörungen – wenn die Ursache für das Delir, eine somatische Störung/Erkrankung, abgeklungen ist.

2.2       Diagnostik und Klassifikation des Delirs2

Friedel M. Reischies

Die Symptomatik des Delirs ist seit sehr langer Zeit bekannt und der Vergleich der Beschreibungen zeigt eine überraschende Konstanz über 2.000 Jahre (Adamis et al. 2007). Im Gegensatz zu dieser Konstanz gibt es in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen in der Klassifikation des Delirs. Selbst eine Einigung über die Hauptmerkmale des Krankheitsbilds Delir hat sich nicht ergeben – beispielsweise hat sich die Stellung des Symptoms Bewusstseinsstörungen beim Delir verändert.

2.2.1     Diagnostik

Zwei diagnostische Bereiche sind beim Verdacht auf ein Delir zu unterscheiden:

1.  Die Diagnostik des Delirsyndroms. Wie kann gesichert werden, dass es sich tatsächlich um das Krankheitsbild des Delirs handelt? Welche Gefährdungen ergeben sich durch das Delirsyndrom?

2.  Die Diagnostik der Delirursache. Was ist die Ursache des Delirs? Was muss getan werden, damit das Delir abklingen kann? Zusätzlich steht dabei die Frage an, ob es eine Gefährdung des Patienten durch eine schwerwiegende somatische Grunderkrankung gibt.

In diesem Abschnitt muss die Diagnostik des Delirsyndroms im Vordergrund stehen, denn die Diagnostik der somatischen Ursachen des Delirs ist fast so vielfältig wie die gesamte somatische Diagnostik (Kap. 4) und die somatische Medizin ist für die spezifische Diagnostik der Ursachen zuständig, wenn auch die somatische Grunddiagnostik in der Regel in der psychiatrischen Klinik ablaufen wird.

Der diagnostische Prozess, der zur Sicherung der Delirdiagnose führt, hat zwei Stufen:

1.  Verdacht auf ein Delir

2.  Diagnostische Schritte zur Sicherung der Diagnose des Delirsyndroms

Verdacht auf ein Delir

Welche Merkmale sollten auf die Möglichkeit eines Delirs aufmerksam machen? In vielen Fällen kommen die Kliniker erst spät auf die Idee, dass es sich um ein Delir handeln könnte. Viele Delirien werden immer noch übersehen. Vor allem bei einem Demenzpatienten, der schon wegen seiner Grunderkrankung Störungen der kognitiven Leistungen aufweist, wird vielfach verpasst, daran zu denken, dass eine Verschlechterung der Symptomatik durch ein Delir vorliegen könnte.

Jede akute Verschlechterung der kognitiven Leistung oder eine Störung der Wachheit eines älteren Menschen sollte Anlass sein, an die Möglichkeit eines Delirs zu denken. Da andere Patienten mit einem Delir vorwiegend unruhig werden und beispielsweise über Angst klagen, sollte ganz allgemein bei einer plötzlichen Veränderung im psychischen Befinden eines alten Menschen an ein Delir gedacht werden.

Diagnostische Schritte zur Sicherung der Diagnose des Delirsyndroms

Anamnese

Zunächst wird der Versuch unternommen, eine Anamnese zu erheben. Dies ist jedoch wegen der eingeschränkten Interviewfähigkeit der Patienten in einem ausgeprägten Delir nicht immer möglich. Weiterhin ist in vielen Fällen auch die Verlässlichkeit der Aussagen in Zweifel zu ziehen. Es kann zunächst versucht werden, Aspekte der biografischen Anamnese zu erfragen. Dies hat den Effekt, dass der Patient über Vertrautes sprechen kann und man eine frühe Dekompensation vermeidet – etwa bei Fragen über die vorangehenden Tage, von denen der Patient vieles vergessen hat.

Zudem kann der Untersucher anhand der Schilderung der biografischen Daten die Ungestörtheit des Langzeitgedächtnisses prüfen. Bei der Anamnese der letzten Jahre und Monate kann das Neugedächtnis beurteilt werden. Der erfahrene Diagnostiker wird dabei bemerken, ab welchem Lebensjahr die Angaben vage, das Zeitgitter gestört oder keine sinnvollen Angaben mehr gemacht werden – bei einem Patienten mit einer typisch verlaufenden Alzheimer-Demenz wird dies gegebenenfalls bereits für die letzten Jahrzehnte gelten oder, wenn die Erkrankung erst beginnt, für die letzten Jahre. Typisch für ein Delirsyndrom ist im Gegenteil, dass zwar allgemein die Abfrage von Erinnerungen beeinträchtigt ist, aber wesentliche Lebensereignisse auch aus der Zeit unmittelbar vor dem Beginn des Delirs nicht vergessen sind.

Wegen des im Delir gestörten episodischen Gedächtnisses muss die Exploration der letzten Stunden und Tage ausführlich erfolgen. Überprüfbare Daten aus den letzten Stunden liegen meist über den Transport in die Klinik (oder die Praxis) vor. Zusätzlich kann der überprüfbare Kontakt mit Personen (Arzt, Pflegekraft, Polizeibericht etc.) befragt werden. Diese Antworten des Patienten können für die Prüfung des episodischen Gedächtnisses herangezogen werden. Wenn weitere Daten über die Ereignisse der letzten Tage, die von Begleitpersonen, der Familie, Nachbarn etc. bestätigt werden können, erfragt werden, können ergänzende, valide Informationen über das Gedächtnis erlangt werden.

Liegen jedoch keine fremdanamnestisch bestätigten Daten vor, geben zumindest die nachlassende Detailliertheit der Schilderung der unmittelbar zurückliegenden Ereignisse, nur noch ungenaue oder stereotype Angaben über die letzten Stunden und Inkonsistenzen, die im Gespräch auffallen, Hinweise auf eine wahrscheinlich vorliegende Schädigung des episodischen Gedächtnisses. Die Prüfung der Orientierung (vorwiegend zu Zeit und Ort, weniger zur Person) wird bei Patienten mit einem Delir Defizite aufdecken.

Zusammenfassend sind folgende neuropsychologisch-psychopathologische Befunde typisch für ein Delirsyndrom (Saxena et al. 2009):

1.  Das autobiografische Gedächtnis der länger zurückliegenden Zeit sollte ungestört sein.

2.  Das episodische Gedächtnis der Zeit nach Beginn des Delirs ist gestört.

3.  Die Orientierung zu Zeit und Ort und

4.  das Zeitgitter sollten Defizite aufweisen.

Wenn möglich, sollen bei der Anamnese besonders Hinweise auf die prämorbide Intelligenz ermittelt werden, damit die klinisch neuropsychologischen Untersuchungen angemessen eingeschätzt werden können: Darunter zählen Schulbildung, Ausbildung, das höchste Berufsniveau, die Art der Hobbys oder Lieblingsbücher bzw. Lieblingssendungen. Wenn Testaufgaben wie Rückwärtsrechnen oder die Wortflüssigkeit geprüft werden, sollten die Ergebnisse unter Berücksichtigung des Bildungsniveaus beurteilt werden.

Wegen der Diagnostik der möglichen somatischen Ursache eines Delirsyndroms muss der Patient hinsichtlich somatischer Beschwerden und z. B. zu Süchten ausführlich befragt werden (Kap. 4).

Fremdanamnese

Eine Fremdanamnese ist unerlässlich, denn einerseits wird der Patient wegen der fast immer fehlenden Einsicht in die Defizite und Verhaltensstörungen wenige kritisch verwertbare Äußerungen machen. Er wird in den meisten Fällen nicht über Fehlhandlungen berichten. Andererseits werden, wie oben geschildert, verlässliche Daten aus der letzten Zeit zur Validierung der vom Patienten geäußerten Erinnerungen benötigt.

Leider ist die Fremdanamnese in einigen Fällen – besonders bei älteren alleinlebenden Menschen – nicht zu erheben. Es muss versucht werden, die Familie, aber auch die Nachbarschaft zu befragen, dazu den Krankentransport, gegebenenfalls die Polizei, bzw. Feuerwehr, welche den Patienten begleitet haben. Die Fragen gelten jeglichen Auffälligkeiten in folgenden Bereichen:

•  Veränderungen in der Aufmerksamkeit, Wachheit

•  Auftreten von Desinteresse an der Umgebung, Desinteresse am Transport (wohin werde ich gebracht etc.?)

•  Erinnerungen zum Ablauf des Transports (wie kamen die Helfer in die Wohnung, wer war anwesend etc.?)

•  Dazu allgemeine Fragen über die letzte Zeit

•  Verschlechterung in kognitiven Fähigkeiten wie Orientierung, oder Beobachtung von Fehlern im Alltagsverhalten

•  Veränderung des Schlafverhaltens, nächtliche Überaktivität etc.

•  Neu aufgetretene wahnhafte Überzeugungen, Fehlwahrnehmungen oder emotionale Auffälligkeiten

Psychopathologische Untersuchung

Bei der Erhebung der Anamnese, im Interview, ergibt sich bereits eine Fülle von psychopathologisch relevanten Beobachtungen – so z. B. über Sprachproduktion, Sprachniveau, Sprachverständnis und formale Denkstörungen.

Auf einige Merkmale muss besonders geachtet werden. Erfahrungsgemäß ergeben sich große Schwierigkeiten in der Beurteilung der Aufmerksamkeitsstörungen (Kap. 2.1