Dem Leben Sinn geben - Wilhelm Schmid - E-Book

Dem Leben Sinn geben E-Book

Wilhelm Schmid

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Beschreibung

Immer mehr Menschen fragen nach Sinn. Aber warum ist das so? Und was sind die möglichen Antworten darauf? Bestsellerautor Wilhelm Schmid geht von der Beobachtung aus, dass viele Menschen Sinn in der Liebe erfahren, Sinnlosigkeit aber, wenn sie zerbricht. Ist das ein Indiz dafür, wo Sinn zu finden ist? Warum dann aber alles vom Gelingen einer einzigen Liebe abhängig machen? Sollte es die Liebe nicht besser im Plural geben? Viele mögliche »Lieben« und ihr Sinnpotenzial rücken in diesem Buch ins Licht: Die Liebe in der Familie und zwischen Freunden, die Liebe zu Tieren und zur Natur, zur Kunst und Kultur, zu Ideen und Dingen, zum Geld, zur Heimat, zum Leben, zum Tod und zu einem möglichen Darüberhinaus, zu Gott. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Feindesliebe: Ist es denkbar, sie vom christlichen Ideal abzulösen und auch der Feindschaft eine Rolle bei der Sinngebung fürs Leben zuzugestehen? Deutlich wird in diesem Buch, wie vielfältig und abgründig Sinn sein kann. Wer sich fragt, was Sinn ist und was sich im eigenen Leben dafür tun lässt, findet hier eine Fülle von Anregungen.

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Immer mehr Menschen fragen nach Sinn. Aber warum ist das so? Und was sind die möglichen Antworten darauf? Bestsellerautor Wilhelm Schmid geht von der Beobachtung aus, dass viele Menschen Sinn in der Liebe erfahren, Sinnlosigkeit aber, wenn sie zerbricht. Ist das ein Indiz dafür, wo Sinn zu finden ist? Warum dann aber alles vom Gelingen einer einzigen Liebe abhängig machen? Sollte es die Liebe nicht besser im Plural geben?

Viele mögliche Lieben und ihr Sinnpotenzial rücken in diesem Buch ins Licht: Die Liebe in der Familie und zwischen Freunden, die Liebe zu Tieren und zur Natur, zur Kunst und Kultur, zu Ideen und Dingen, zum Geld, zur Heimat, zum Leben, zum Tod und zu einem möglichen Darüberhinaus, zu Gott. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Feindesliebe: Ist es denkbar, sie vom christlichen Ideal abzulösen und auch der Feindschaft eine Rolle bei der Sinngebung fürs Leben zuzugestehen?

Deutlich wird in diesem Buch, wie vielfältig und abgründig Sinn sein kann. Wer sich fragt, was Sinn ist und was sich im eigenen Leben dafür tun lässt, findet hier eine Fülle von Anregungen.

Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Umfangreiche Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophie-Preis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egnér-Preis für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst.

Zuletzt sind von ihm erschienen: Vom Glück der Freundschaft (2014), Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden (2014), Unglücklich sein – Eine Ermutigung (2012) und Die Liebe atmen lassen. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (st 4419).

Wilhelm Schmid

Dem Leben Sinn geben

Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4570

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung:

Pablo Picasso, Fleur, Studie zu Le Chant des Fleurs, 1955,Privatsammlung, © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Foto: The Bridgeman Art Library

eISBN 978-3-518-73167-3

www.suhrkamp.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Von der Liebe in der Familie

Ist die Ehe noch zu retten?

Familie als experimentelle Lebensform

Die Liebe zwischen Eltern und Kindern

Liebe und Erziehung:Anleitung zu einem sinnerfüllten Leben

Geschwisterliebe, Geschwisterhass

Besonderheiten der Liebe zwischenGroßeltern und Enkeln

Und wenn Kinder Liebe entbehren müssen?

Von der Liebe zu Freunden

Von der Bedeutung der Freundschaft

Beste Freundin, bester Freund: Was ist Freundschaft?

Das Glück, das in der Freundschaft zu finden ist

Die Probleme, mit denen die Freundschaft konfrontiert ist

Kann es eine erotische Freundschaft geben?

Gute Freunde: Kameraden, Kumpel und Kollegen

Menschenliebe, Nächstenliebe und Gastfreundschaft

Von der Liebe zu Feinden

Feindesliebe und Selbstliebe: Was es heißt, seine Feinde zu lieben

Von der Bewahrung der Feindschaft: Was Feinde nützen können

Von der Notwendigkeit der Feindschaft: Bedürfen Menschen des Bösen?

Von den Freuden der Bosheit: Die Kunst, sich Feinde zu machen

Vom Umgang mit Konflikten: Rache üben, Rache ist süß

Von der Sinnlosigkeit, siegen zu wollen

Von der Kunst, das Weite zu suchen

Von der Liebe zu Wesen und Dingen, zur Welt

Die Liebe zu Tieren und ihre Bedeutung für Menschen

Die Liebe zur Natur und das grüne Glück

Die Liebe zu Dingen, materiellen und ideellen

Die Liebe zum Geld. Macht Geld glücklich?

Die Liebe zu Kunst und Kultur als Element der Lebenskunst

Die Liebe zum Essen und Trinken, zu Sport, Spiel und Technik

Die Liebe zur Heimat, zur Welt

Von der Liebe zum Leben und zu einem Darüberhinaus

Liebe zum Leben, zum Schicksal

Die Frage nach dem Sinn und die möglichen Antworten darauf

Liebe zum Tod, Liebe bis in den Tod

Liebe über den Tod hinaus: Von einem möglichen Leben nach dem Tod

Was kann Menschen trösten?

Die mögliche Liebe Gottes und die wirkliche Liebe zu Gott

Leidenschaft und Alltag der Gottesliebe: Aurelius und Isidor

Zum Autor

Vorwort

Ein paar Schritte nur, der Tag war anstrengend. Tausend Dinge gehen mir noch durch den Kopf, ich kann mich jetzt nicht einfach ins Bett legen. Nicht weit von meiner Wohnung strecke ich mich auf einer Wiese aus, in der grünen Stadt Berlin ist das möglich. Die vielen Lichter trüben den Blick in den Nachthimmel, und doch ist es dieser Blick, der mich beruhigt. Schon als kleiner Junge habe ich ihn geliebt, als mein Vater mir die Sterne zeigte, den Großen Wagen beispielsweise, der immer dort oben steht, als wäre er unverrückbar, obwohl jeder einzelne Stern mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf seiner eigenen Bahn durch die endlose Weite rast. Wer bin ich angesichts dieser Dimensionen? Wer sind wir Menschen?

Wir leben auf einem Planeten, der uns als große, weite Welt erscheint, aber aus der Perspektive der Sterne ist er nur ein verschwindend kleiner Punkt in der unendlichen Schwärze des Alls, wir selbst sind völlig unsichtbar. Das Leben, das jeder Einzelne in dieser Welt, auf der Erde, in diesem Land, an diesem Ort, in seinem persönlichen Alltag lebt, ist für den Gang der Sterne belanglos. Was ist der Sinn unserer Existenz?

Unter den eigenartigen Wesen, die die Evolution auf dem Planeten Erde im Laufe langer Zeiten hervorgebracht hat, erscheint dieses als das eigenartigste: Der Mensch ist ein Wesen, das darüber nachdenkt, was ein Mensch ist, kein anderes Wesen macht so etwas. Endgültige Resultate liegen nicht vor, aber provisorische Auffassungen sind möglich: Ein Mensch ist ein Körper mit all seiner Sinnlichkeit, eine Seele mit gefühlten Energien, ein Geist mit einigem Reichtum an Gedanken. Eine Frage ist stets von Neuem, ob und wie Körper, Seele und Geist zu unterscheiden sind, wann genau das Menschsein beginnt, wann es endet. Nicht jeder Mensch ist fähig zur Reflexion und Selbstreflexion, vielmehr sind Ungeborene, Demente und Menschen mit geistiger Behinderung dazu eingeschränkt oder nur potenziell in der Lage. Aber jeder muss mit sich und seinem Leben irgendwie zurechtkommen, kein Anderer kann ihm dies abnehmen. Jeder lebt auf irgendeine Weise mit Anderen, und sei es auf Distanz, und muss auch diese Herausforderung meistern. Jeder ist in soziale und ökologische Zusammenhänge eingebunden, die er nicht beliebig verändern kann, darüber hinaus in eine kosmische und vielleicht transzendente Welt, die er nicht wirklich durchschaut.

Schon der Blick in die Sterne, den Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten pflegen, lässt darauf schließen, dass es sie fasziniert, über das hinauszublicken, was vor ihren Füßen liegt, um sich in einem größeren Horizont wahrzunehmen. Es interessiert sie, immer wieder ihre momentane Wirklichkeit zu überschreiten (transcendere im Lateinischen) und ins Offene zu gelangen; seit ihren urzeitlichen Anfängen scheint ihnen das eigen zu sein: In diesem Sinne ist der Mensch von Grund auf ein transzendentes Wesen, jeder einzelne, unabhängig davon, ob er sich in irgendeiner Weise als religiös versteht. Transzendent ist sein Blick, sein Glaube, sein Traum, seine Sehnsucht, seine Hoffnung, seine Vision und Utopie, sogar noch seine Melancholie, dieser diffuse Schmerz über die Begrenztheit des Lebens auf diesem Planeten. Transzendent ist sein Bestreben, Wissen über alle möglichen Zusammenhänge zu gewinnen und sich anstelle ihres Soseins ein Anderssein im Denken vorzustellen, nie nur Wirklichkeit, immer auch Möglichkeiten zu sehen und auf ihre Verwirklichung hinzuarbeiten.

Der Mensch ist überhaupt, so lässt sich sagen, ein Wesen der Möglichkeiten. Mit ihm als Gattung und mit jedem Einzelnen wird eine Möglichkeit des Lebens wirklich. Jeder kann für sich selbst weitere Möglichkeiten finden, erfinden und erproben, und wo er nicht weiterweiß, kann er Versuche anstellen und Experimente wagen. Die gesamte Existenz des Menschen lässt sich als Experiment verstehen, das die Evolution anstellt und das jeder Einzelne noch forcieren kann: »Wir sind Experimente«, meinte schon Nietzsche (Morgenröthe, 1881, 453), »wollen wir es auch sein!« Und welches Experiment bin ich, welches will ich sein? Welche Möglichkeit ist meine eigene, mit der ich zur Welt gekommen bin? Welche Möglichkeiten kann ich selbst entdecken und erkunden? Wie kann ich werden, was ich sein kann?

Gleichförmigkeit ist jedenfalls kein Beitrag zur Evolution. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass der Mensch auch das Wesen ist, das Probleme macht, um sich an ihrer Lösung zu versuchen. Eigentlich hätte er ausreichend mit den Schwierigkeiten zu tun, die ihm die Bedingungen seines Lebens bereiten. Aber immer wieder stellt er haarsträubende Dinge an und überschreitet sämtliche Normen, Formen und Grenzen, vermutlich, um auch auf diese Weise Möglichkeiten des Lebens aufzutun und Unmöglichkeiten kennenzulernen. Für den Blick von außen auf den Menschen tritt diese Eigenart des Einzelnen und der Gattung deutlich hervor: Der Mensch akzeptiert nur Grenzen, die er selbst als solche erfährt, mag er dabei auch bittere Erfahrungen machen. Seinen Eigensinn, die ihm auferlegten und von ihm selbst gesetzten Grenzen stets von Neuem in Frage zu stellen, nennt er Freiheit. Die Epoche ihrer umfangreichsten Verwirklichung nennt er Moderne.

Eigenartigerweise geht der Gewinn von Freiheit jedoch mit einem Verlust von Sinn einher. Dabei scheint der Mensch das Wesen zu sein, das Sinn braucht, um leben zu können. Sinnlos frei, beginnen Menschen erneut nach Sinn zu suchen, und der kosmische Beobachter kann bei genauerem Hinsehen aus ihrer Bewegung auf der Erdoberfläche schließen, wo sie fündig werden: Es scheint das Zueinanderhin zu sein, das Menschen mit Sinn erfüllt, das Voneinanderweg ruft Klagen über Sinnlosigkeit hervor. Wenn das als Indiz gelten kann, dann ergibt sich Sinn daraus, in Beziehung zu sein, sich zu kontaktieren, Handlungen miteinander und aneinander zu vollziehen. Dem Leben Sinn zu geben, erfordert dann, gegen die moderne Zerstörung von Beziehungen anzuleben, Beziehungen jeder Art zu gründen, zu pflegen und zu bewahren: Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung. Vom eisigen Kosmos aus gesehen ist klar, warum: Menschen suchen nach Wärme, und im Austausch und in der Reibung mit Anderen, körperlich, seelisch und geistig, ist sie am ehesten zu finden. Jede Erfahrung von Sinn eröffnet einen Zugang zu Energien, mit denen Menschen erstaunlich viel fühlen und denken, tun und ertragen können.

Ein immenses Potenzial an Sinn und somit Energie bietet das, was Menschen Liebe nennen. Für viele ist sie von solcher Bedeutung, dass sie sich, um nur ja nichts auszulassen, in ein Liebesleben verstricken, das komplizierter und widersprüchlicher kaum sein könnte. Sie suchen nach Liebe und nehmen jede Gelegenheit dazu wahr, fliehen sie wieder und zerstören sie, um sie im Verlust neu schätzen zu lernen und erneut nach ihr zu suchen. Die größte Sinnlosigkeit wird erfahrbar, wenn die Liebe geht und wenn sie fehlt. Auch aus diesem Grund sollte es die Liebe besser im Plural geben, statt alles vom Gelingen einer einzigen Liebe zwischen zweien abhängig zu machen: Viele Lieben sind nötig, um dem Leben Sinn zu geben. Über die Liebe im engeren Sinne hinaus kommen damit viele weitere Beziehungen der Zuwendung und Zuneigung in den Blick: Zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln, Geschwistern, Freunden, Kollegen, »Nächsten« aller Art und sogar Feinden. Und nicht nur Menschen können geliebt werden, sondern auch Tiere und Pflanzen, Dinge der Natur und Kultur, das Leben und die Welt insgesamt und darüber hinaus das, was viele Menschen Gott nennen.

Die Liebe scheint ein durchgängiges Phänomen zu sein: In jeder Einzelliebe wird das gesamte Kontinuum erfahrbar, jeder Teil steht für das Ganze, pars pro toto. Bei allen Arten von Liebe zeigen sich ähnliche Elemente in variablen Arrangements: Meist treibt eine Sehnsucht Menschen um, häufig verbergen sich ganz unterschiedliche Auffassungen unter dem einen Wort »Liebe«, immer prägt Polarität auch wider Willen das gemeinsame Leben zwischen Freude und Ärger, Vertrauen und Misstrauen, Gewissheit und Eifersucht, Treue und Verrat. Hartnäckig halten sich Unterschiede in den Wahrnehmungen von Männern und Frauen, die sich dazu jedoch ungern bekennen wollen. Oft sind mehrere Ebenen der Sinngebung möglich, sinnlich, seelisch, geistig, transzendent, aber selten bewegen die Liebenden sich auf derselben Ebene. Durchweg sind sie mit dem Alltag, mit Fragen von Macht, Recht und Gerechtigkeit konfrontiert, und immer wieder flammt die Angst vor dem Ende der Liebe auf. Jede Liebe, nicht nur die zwischen zweien, eröffnet neue Möglichkeiten, mündet jedoch zum Verdruss aller in eine Wirklichkeit, die den Möglichkeiten nur teilweise entspricht. Sollte aber eine Verwirklichung gescheut werden, kommt auch keine Möglichkeit zum Zug.

Wenn trotz allem der Liebe sehr viel Sinn zu verdanken ist, dann heißt dem Leben Sinn geben von Grund auf, für die Liebe zu leben. Diese Sinngebung ist nicht an eine letzte Klärung der Frage gebunden, ob »das Leben an sich« irgendwelchen Sinn hat. Und sie hängt nicht so sehr von aufwallenden Leidenschaften ab, sondern von einer willentlichen Entscheidung. Das Potenzial des Liebens für die Sinngebung so vollständig wie möglich in den Blick zu bekommen, ist das Anliegen dieses Buches, dem bereits eines über die Liebe zwischen zweien vorausging.1 Beide Bücher sind Teil des Projekts, eine umfassende Kunst des Liebens zu begründen, als deren Basis die Selbstbeziehung und Freundschaft mit sich selbst gelten darf.2 Die Kunst des Liebens als gekonnter Umgang mit sich, mit Anderen und der Welt ist das Grundelement jeder Lebenskunst. Eine Voraussetzung der Kunst aber ist, die Wirklichkeiten und Schwierigkeiten der Liebe möglichst gut zu erfassen, um auch ihre Möglichkeiten besser sehen zu können. Der vorliegende Versuch dazu hat keine letzten Wahrheiten zu verkünden, sondern will dem Einzelnen behilflich sein, diejenige Wahrheit für sich zu finden, die ihm ein sinnerfülltes Leben und Lieben ermöglicht.

Leitend ist dabei die Idee, die Liebe nicht in Auffassungen zu ersticken, die dem Reichtum ihrer Möglichkeiten nicht gerecht werden können. Jede Liebe soll atmen können zwischen einem romantischen Grund, der von intensiven Gefühlen geprägt ist, und einer pragmatischen Anstrengung, die auch mit den Zeiten zurechtkommt, in denen die Gefühle ausbleiben oder ins Negative kippen. Unendlichkeitsgefühle sind mit alltäglichen Endlichkeitserfordernissen in Einklang zu bringen. Gangbare Wege sind zu erkunden zwischen den Hoffnungen auf vertraute Nähe und den Ansprüchen auf persönliche Freiheit, von denen moderne Menschen auch dann nicht lassen wollen, wenn dies eine unromantische Entzweiung zur Folge hat. Für alle, die lieber mit sich allein bleiben, stehen neben der Selbstfreundschaft viele andere Arten von Liebe zur Verfügung, die dem Leben Sinn geben können, die Freundschaft mit Anderen beispielsweise. Wer aber eine besondere Herausforderung sucht, findet sie in alten und neuen Formen des familiären Zusammenlebens, das in Zeiten der Diskontinuität geradezu zum Akt des Widerstands wird, um an einer neuerlichen Kontinuität zu arbeiten. Vielleicht ist mit einer neuen Anstrengung sogar die meistbedrohte Art der Liebe in moderner Zeit zu retten, die Ehe, vorausgesetzt, es interessiert sich noch jemand für ihre Rettung.

Von der Liebe in der Familie

Ist die Ehe noch zu retten?

Familie ist, wo mehr als einer ist, wenigstens zwei, die zusammenbleiben wollen, gleich welchen Geschlechts und aus welchen Gründen auch immer. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, wollen nicht einsam sein, suchen den gedanklichen Austausch, den körperlichen Verkehr, die materielle Absicherung: Nur sie selbst entscheiden, was den Ausschlag gibt. Und nicht nur Paare können Familien sein, mit oder ohne Kinder, sondern ebenso Alleinerziehende und alle, die in Wohngemeinschaften oder sonstwie zusammenleben. Bei einem Paar, das zusammenbleiben will, kann von einer Ehe gesprochen werden, mit einem ausdrücklichen oder unausgesprochenen Ja zueinander, mit oder ohne Trauschein, mit einiger Verbindlichkeit und einigen psychologischen, womöglich auch juristischen Konsequenzen. Mit der offenen oder stillen Bekundung, sich zu vertrauen, wird die Trauung im wörtlichen Sinne vollzogen, unabhängig davon, ob sie rituell ausgeschmückt und formell dokumentiert wird.

Andere fragen sich: Ist es wahre Liebe oder kalte Berechnung? Und nach einer Weile: Lieben sie sich noch? Die Frau haucht ein Yes. Der Mann zieht es vor, philosophisch zu antworten: Whatever love means ... Ihm liegt offenbar an den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten von Liebe und Ehe, die außer einer gefühlvollen Liebesehe auch eine kalkulierte Vernunftehe zulassen, bei der die Gefühle Dritten gehören können. Diejenigen, die so delikat antworteten, waren Lady Diana und Charles, Prince of Wales. Bereits am Tag ihrer Verlobung, zum Zeitpunkt der Pressekonferenz, auf der es zu dieser Szene kam, waren ihre Differenzen nicht zu überhören. 1981 feierten sie die »Hochzeit des Jahrhunderts«. Zwei Kinder und eine Scheidung später, auf die 1997 der tragische Unfalltod Dianas folgte, legalisierte Charles 2005 dann in einer vergleichsweise bescheidenen Zeremonie seine Beziehung zu der Anderen, Camilla, mit der er schon seit 1971 sämtliche Wirrnisse überstanden hatte. Was beide veranlasste, offizielle Ehen mit Anderen zu schließen, selbst aber eine heimliche Ehe miteinander zu führen, behielten sie für sich. Vielleicht trauten sie ihren Gefühlen nicht, oder sie hielten es für ihre Pflicht, der Vernunft zu folgen, jedenfalls der Vernunft dessen, was ihre Familien für richtig hielten. Nun, nach so langer Zeit, war ihre Liebesehe kein Risiko mehr: Wie sich ein Zusammenleben pragmatisch einrichten lässt, das die Romantik zu bewahren versteht, musste ihnen niemand mehr erklären.

In der Geschichte der Ehe, die eng mit der Menschheitsgeschichte verwoben ist, spielte die formelle Ehe lange keine Rolle. Prägend war vielmehr die in jeder Hinsicht wilde Ehe, eine im Zweifelsfall erzwungene Verbindung zwischen Männern und Frauen ganzer Sippen zum Zweck des Überlebens und der Fortpflanzung, der Suche nach Nahrung und ihrer Zubereitung, der Aufzucht von Kindern und der Absicherung gegen Gefahren. Eine große Rolle spielte womöglich die Erfindung des Kochens mit der darauf folgenden »Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern«: Frauen sammeln und kochen, Männer jagen und beschützen (Richard Wrangham, Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte, 2009, 140).

Eine Unterart der wilden Ehe war die Raubehe, die gewaltsame Aneignung von Frauen durch Männer, wie sie in der Erzählung vom »Raub der Sabinerinnen« in der Frühzeit Roms Niederschlag fand und selbst im 21. Jahrhundert noch in manchen Regionen der Welt, etwa in Kirgisien, praktiziert wird. Von der Idee, Regeln für das Zusammenleben der Geschlechter zu formulieren und eine formelle Ehe zu begründen, zeugen erstmals gesetzliche Bestimmungen im babylonischen Codex Hammurabi um 1750 v. Chr., wonach eine Frau per Eheschließung zum Eigentum eines Mannes wird, sowie ägyptische Verträge ab dem 9. Jahrhundert v. Chr., in denen Frauen eigene Rechte zugesprochen werden. Manche Kulturen bewahren Reste archaischer Traditionen in der Form der auf, die meist als Vielehe eines Mannes mit mehr als einer Frau verstanden wird. Andere Kulturen mühen sich weiter mit der ab, der Einehe zwischen zweien. Beide Varianten sind keine Naturerscheinungen, sondern kulturelle Festlegungen, deren Bewährungsprobe in der Praxis fortdauert (Marie-Luise Schwarz-Schilling, , 2004).

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