Dem Leben wieder Atem einhauchen - Mia Herzberg - E-Book

Dem Leben wieder Atem einhauchen E-Book

Mia Herzberg

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Beschreibung

Mia war 23 Jahre alt, als sie Opfer ritueller Gewalt in einer organisierten Gruppe wurde. Ihre Psyche zog sich in die Dissoziation zurück und sie brauchte fast 20 Jahre und die Unterstützung ihrer Psychotherapeutin Sophie, um sich wiederzufinden. Dieses Buch vereint einen eindrücklichen Betroffenenbericht mit der therapeutischen Perspektive auf Möglichkeiten und Fallstricke in der Behandlung von Betroffenen ritueller organisierter Gewalt. Verzahnt mit Mias Geschichte werden neurobiologische Grundlagen der Traumaentstehung vermittelt sowie Hintergründe zu Dissoziation, komplexer Traumafolgestörung, False Memory, Fragen nach Glaubwürdigkeit und rechtlichen Gesichtspunkten beschrieben. Therapeuten und Betroffene erhalten einen tiefen Einblick in die weitreichenden Folgen ritueller Gewalt, aber auch in Möglichkeiten der Tragfähigkeit von Hilfen - für ein lebenswertes Weiterleben.

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Inhalt

Cover

Titelei

Prolog

Vorwort

Dem Leben wieder Atem einhauchen – Mias Geschichte 1988 – 2020

Epilog

Zeitverlauf Mia

Literatur

Hilfreiche Webseiten

Stichwortverzeichnis

Die Autorinnen

Mia Herzberg (Pseudonym), Diplom-Psychologin, Mutter zweier Kinder, schildert ihre Erfahrungen als Betroffene, nachdem sie als junge Erwachsene ritueller Gewalt ausgesetzt worden war.

Prof. Dr. med. Isabel Böge, seit 2 Jahren Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie an der Medizinischen Universität Graz, zuvor lange als Chefärztin in Süddeutschland tätig. In dieser Zeit begegnete sie Mia. Sie ist ausgebildete Systemische, Trauma- und EMDR-Therapeutin, wobei sie vor allem mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, zeitweilig auch mit jungen Erwachsenen, die in der Kindheit oder Adoleszenz traumatisiert wurden.

Mia HerzbergIsabel Böge

Dem Leben wieder Atem einhauchen

Rituelle Gewalt –Folgen und Behandlungswege

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043513-1

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043514-8epub:ISBN 978-3-17-043515-5

Prolog

I.

Wer ist das.

Das ist Mia.

Ah ja.

Ja.

II.

Das ist Mia. Die geht da lang, sie hat es nicht weit, sie wohnt gleich um die Ecke. Du kennst bestimmt ihre Tante, sie arbeitet hier auch.

Komisch.

Ja, ich glaube, dort zu jobben, wo die eigenen Verwandten leitende Angestellte sind, das ist schwer.

Bestimmt denken alle, sie bekommt Vorteile geschenkt.

Ja, wahrscheinlich.

Und, bekommt sie?

Ich weiß es nicht, so gut kenne ich sie nicht. Sie ist ja viel jünger. Wer kennt die schon. Die Jüngeren.

III.

Was macht sie da?

Sie hockt an der Wasserkante.

Muss sie aufpassen.

Nein, die passt schon auf, die passt immer auf.

Ja, aber was macht sie denn da?

Sie legt etwas hin, Steinchen oder so.

Jetzt steht sie auf. Sie geht.

Nein, sie holt einen Fotoapparat. Macht Bilder.

Jetzt geht sie fort. Lass uns mal gucken. Bevor das Wasser kommt.

Ein Körper. Sie hat ihren Körper aus Muscheln gelegt.

Und keiner, der es gesehen hat. Zu sehen bekommen hat. Die Flut wird es sehen.

Vielleicht hat sie deshalb das Foto gemacht. Das Foto kann sie mitnehmen. Erinnern. Das Bild im Sand nicht.

Vielleicht will sie ihren Körper niemandem zeigen.

Nur das Bild.

Sich selbst zitieren. Um nichts sagen zu müssen.

Manchmal geht es nur so.

Wenn Worte nicht da sind.

IV.

Wer war das?

Eine Freundin.

Wer?

Mia.

Seine oder eine?

Weiß ich nicht, das ist nicht klar.

Sie sagt nichts?

Sie sagt nicht viel.

Naja, sie könnte guten Tag sagen.

Ich glaube, sie möchte nicht auffallen. Oder nicht stören oder so.

V.

Mit wem hast du telefoniert?

Mit Mia.

Mit Mia? So lange? Ich dachte, die redet nicht. Nicht so viel.

Dachtest du.

Ja.

War wohl falsch gedacht.

VI.

Rätsel.

Viele Rätsel. Oder keine.

Blödsinn. Genauso viele wie bei allen anderen. Man weiß es nur nie, man sieht es nicht.

Weiß man es bei ihr?

Natürlich nicht. Aber sie lässt einen manchmal die Frage sehen.

Und dann grübelt man?

Wenn man schlau ist, lässt man es sein.

VII.

Und?

Ich sag nichts.

Stille Wasser?

Ich sag nichts.

VIII.

Wer ist das?

Das ist Mia.

Das ist Mia? Sie sieht ganz anders aus. Lebendiger.

Das macht das Kind.

Süß, der Kleine. Steht ihr, das Kind, sie sieht älter aus. Reifer.

Ja, das finde ich auch.

Ich wusste gar nicht, dass sie ein Kind hat.

Zwei, sie hat zwei, das haben viele nicht gedacht. Erwartet.

Wie schafft sie denn das alles? Die Fahrerei, den Job. Die Kinder.

Die schafft das. Die hat das immer geschafft. Bildet sich auch noch etwas darauf ein. Oder tut so. Dicker Kopf.

Das klingt nach einer eigenen Erfahrung.

Ja.

Und?

Sehr dicker Kopf.

Aber das allein reicht doch nicht.

Nein, man muss auch sich reflektieren können. Das kann sie.

Und auf vieles verzichten.

Ja, das muss sie wohl. Aber ich glaube, das weiß sie. Also will sie es so.

Und wem muss sie was beweisen?

Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es bei ihr auch nur, wie bei uns allen.

Sich selbst, meinst du?

Genau. Sich selbst.

IX.

Viele Freunde. In Italien, Amerika, sogar in Afrika.

Wie macht sie das denn?

Keine Ahnung. Sie schafft das. Manche können das.

Das ist eine Gabe.

Ein Geschenk. Vor allem für die Freunde.

X.

Von Mia? Was macht sie gerade?

Sie findet sich. Es geht ihr gut. Viel zu tun.

Freust du dich?

Ja. Ein Jahr lang hört man fast gar nichts. Und dann ist es wieder so, als wenn man nur ganz kurz weg war.

Spürst Du sie?

Heute. Ja.

XI.

Wer ist das.

Das ist Mia.

Ah ja.

Ja.

Vorwort

Traumata sind so alt wie die Menschheit und werden uns noch lange überdauern. Wir Menschen schonen uns nicht. Kriege, Naturkatastrophen, (organisierte) Gewalt, emotionale Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, rituelle Gewalt – all diese Dinge und mehr begegnen uns als Ursache von Traumatisierungen. Dabei die meisten von Menschenhand.

Und doch sind wir Menschen auch resilient. Nicht jede Person, welche ein Trauma erlebt, trägt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) davon. Allerdings gilt: je früher, je häufiger, je heftiger ein Mensch traumatisiert wird, umso eher ist mit einer Traumafolgestörung zu rechnen. Kinder sind besonders gefährdet. Auch spielt die Beziehung, die wir zum Verursacher des Traumas vorher hatten, der Grad der Beschämung während der Traumatisierung, ob das Trauma von Menschen verursacht wurde oder Folge einer Naturkatastrophe, Folge eines Unfalls ist bzw. wie viele Verursacher involviert waren, eine Rolle.

Kommt es dann zur Posttraumtischen Belastungsstörung ist diese durch drei Kardinalsymptome gekennzeichnet: Intrusionen/Wiedererleben, Posttraumatische Vermeidung und Hyperarousal (ein körperlich-psychischer Übererregungszustand). Dabei tauchen Intrusionen oder auch Flashbacks spontan oder auf Schlüsselreize hin (Trigger) auf. Intrusionen bzw. Flashbacks sind ein unwillkürliches, nicht kontrollierbares Wiedererleben der traumatischen Ereignisse durch sich aufdrängende Bilder, Bildfragmente oder Bildsequenzen, welche meist von ungewollten Emotionen wie Scham, Ekel, Wut oder Körpersymptomen wie z. B. Schmerzen begleitet werden. Sie sind gekennzeichnet durch Plötzlichkeit, Lebendigkeit und große Intensität. Betroffene können in dem Moment nicht mehr unterscheiden zwischen »damals und heute«. Hyperarousal wiederum geht mit vegetativen Körperreaktionen wie Schwitzen, Zittern, Atembeschwerden, Herzklopfen, Übelkeit, Erstarren einher. So führt das Trauma nicht nur in der initialen Situation zu einem Erleben von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Entsetzen, sondern diese Emotionen zeigen sich auch im Weiteren, kontinuierlich, ungewollt und in mannigfaltigen Ausgestaltungsvarianten.

Eine Traumafolgestörung bedeutet dabei allerdings nicht automatisch sichtbare Symptomatik im Alltag. Es gibt auch jene Traumata, insbesondere bei komplexen Traumatisierungen, bei denen die posttraumatische Vermeidung so ausgeprägt ist, dass die Intrusionen kaum wahrgenommen werden oder nur noch als körperliche Intrusionen (z. B. isolierte Schmerzen) auftreten. Oder aber das Trauma in die Dissoziation verdrängt ist (ein Zustand, bei dem man die bewusste Erinnerung an die Traumatisierung abspaltet), dann zeigen sich Folgen der Traumatisierung kaum. Sind unverständlich, leise, wie ein Fragezeichen. Im Alltag ist der Mensch unauffällig. Und auch wenn möglicherweise Symptome des Hyperarousal bestehen, wie Konzentrationsstörungen, Anspannung, Unruhe, Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit, aggressive Reaktionen oder auch Schreckhaftigkeit, werden diese in diesen Fällen leicht falsch interpretiert, z. B. auf einen stressreichen Familienalltag zurückgeführt, einem Konflikt im direkten Umfeld oder Arbeitsbelastung zugeschrieben (Gysi, 2020). Ein Trauma liegt vor und ist doch nicht da. Hilfesuche, Integration ist so kaum möglich.

Erschwerend kommt für das Verständnis von sichtbaren oder unsichtbaren PTBS-Symptomen für Personen im Außen sowie für den Traumatisierten selbst dazu, dass in aller Regel wiederholende komplexe Traumata nicht »einfach mal so« erzählbar sind. Fragen können nicht beantwortet werden oder werden abgewehrt. Wird tatsächlich der Versuch einer Erklärung gewagt, ergibt sich in aller Regel für die Zuhörer*innen/ Therapeut*innen/ Freund*innen beim ersten Versuch noch keine kongruente Geschichte mit Anfang, Mitte, Ende, Schluss. Komplex Traumatisierte erzählen, wenn sie überhaupt Worte für das Initialereignis oder das innere Erleben finden, in Bruchstücken. Das Erlebte wird zerlegt in einzelne Emotionen, Bilder, Sequenzen, Körpergefühle. Nicht zu verstehen für die Außenwelt. Betroffene werden in ihren Aussagen hinterfragt und hören dann irgendwann auf zu versuchen, sich zuzumuten. Sie bleiben allein, mit sich, ihrer Erinnerung, ihrem Gefühl. So die Sicht der Betroffenen. Wie jedoch sieht die Sicht der Fachleute aus?

Seit gut 50 Jahren beschäftigt sich die Traumaforschung intensiv mit dem Verstehen von Trauma und Traumamechanismen. Wir kennen inzwischen die bei Traumatisierung involvierten Gehirnstrukturen. Wir können das kognitive vom emotionalen Gedächtnis unterscheiden, wir kennen Faktoren, die Resilienz bedingen und wir kennen Auslöser bzw. Triggermechanismen von Nachhall-Erinnerungen des Traumas.

Es sind verschiedenste Verfahren zur Behandlung von Traumata entwickelt worden, wobei keines alleinig für sich als der »Gold-Standard« zu bezeichnen ist, sondern es vielmehr dem Können und der Erfahrung der jeweiligen Therapeut*innen obliegt, welche Methode gewählt wird, welche Strukturen vorgegeben, welche Grenzen in der Behandlung gesetzt werden. Die Kunst ist, Betroffene mit einer (komplexen) Traumafolgestörung individuell zu betrachten, wenn es um das Zuhören, Halten, Stabilisieren, Konfrontieren, Behandeln, Verbalisieren, letztendlich um den Ausstieg aus dem Traumaerleben und dem traumatisierenden Umfeld, geht. Fragen zu stellen, ohne »in Frage« zu stellen. Ohne zu dramatisieren. Ohne zu polarisieren. Ohne zu suggerieren. Und so zu halten. Das Trauma. Den Menschen. Das, was hinter den Worten liegt.

Ich war schon viele Jahre in der Psychotherapie tätig, als mir eine Kollegin, welche als Körpertherapeutin arbeitet, eine traumatisierte Klientin schickte. Sophie1 hatte die letzten zehn Jahre mit der Klientin gearbeitet, und war schon weit gekommen. Mia1 war ungewöhnlich, da sie einen völlig unauffälligen funktionierenden Alltag hatte, selbst Psychologin war, hochfunktionell in einer Klinik arbeitete und ein Trauma in ihrem Alltag in aller Offenheit nicht vorkam. Auch zu Sophie war Mia mit einem ganz anderen Anliegen gekommen. »Körpertherapie würde der Entspannung guttun«, hatte eine Kollegin und Freundin zu Mia gesagt und Mia war neugierig gewesen. Was sie nicht erwartet hatte, war, dass ihr Körper ihr eine Geschichte, ihre Geschichte, erzählen würde, dass sie die Erinnerungen finden würde, von denen sie immer gewusst hatte, dass sie da sind – inkongruent, fragmentiert. Die ihr Leben geprägt hatten, wie ein leiser dauerhafter Ton im Hintergrund, die sie aber, bevor sie Sophie traf, nie hätte formulieren können, nie hätte formulieren wollen. Bei Sophie fand sie sich im Spüren wieder, fand erste Worte, aber es fehlte eine erzählbare Geschichte, ein Narrativ. Ein Narrativ von Trauma, sexueller Gewalt und Unrecht. Ein Narrativ mit Worten. Ein Narrativ, das nur mit Zeit erzählt werden konnte. Ein Narrativ, das dringend des Wortes bedurfte. Jedes ausgesprochene Wort war Mia wichtig. War ein Stück Verarbeitung. Mia wollte nicht mehr unter der Oberfläche des »blauen Sees (über)‌leben«, sie wollte leben. Und Worte für sich und andere finden. Sie wollte, dass auch andere Menschen verstehen, dass es so etwas gibt, was es (offiziell) nicht gibt. Deswegen kam sie zur mir.

Wir Therapeuten sehen manchmal Klient*innen, die wir letztendlich nicht sehen. Weil die Klient*innen ihre Geschichte nicht direkt erzählen, weil wir die Zeit nicht haben, wirklich zuzuhören, weil es Stundenbegrenzungen der Krankenkasse gibt, weil wir in therapeutischer Distanz bleiben (sollen), weil wir nicht glauben, was die Klient*innen erzählen, weil einzelne Fragmente nicht zusammenpassen, weil es kein nachvollziehbares Narrativ ergibt. Mia war eine solche Klientin. Auch ich habe Mia zunächst nicht gesehen, ihre durchschimmernde Geschichte immer wieder neu in Frage gestellt. Sophie hatte mir in wenigen Stichworten vorher erzählt, was sie glaube, worum es gehe. Sie hatte dazu gesagt, sie wolle mich nicht beeinflussen, ich sollte mir selbst eine Meinung bilden. Ich zweifelte. Mias Geschichte war zu fragmentarisch, zu inkongruent, zu merkwürdig. Ich habe in ihr die Fachkollegin gesehen, nicht die komplex traumatisierte Frau. Deswegen, weil sie Fachkollegin war, machte ich auch den Fehler, ihr nichts aus den Theorien der Traumatherapie zu erklären, wie ich es bei jeder anderen Klient*in getan hätte, sondern hatte (falsch) vorausgesetzt, dass sie fachlich alles weiß. Aber sie verstand immer wieder nicht. Themen, die sie ihren eigenen Klient*innen erklären konnte, blieben ihr selbst verschlossen. Mia faszinierte mich, sie passte nicht zusammen, und doch war sie ein in Stücken funktionierendes, sehr sympathisches Ganzes. Ich hinterfragte mich und meine Wahrnehmung. War Mia nur eine kluge Frau, die mich manipulierte? Ich begann Fachliteratur zu lesen. Ich besuchte Fortbildungen. Ich hörte zu. Ich beobachtete mich und ich beobachte sie. Ich begann diagnostisch zu denken. Irgendwann ging es nicht mehr um wahr oder unwahr. Es ging um Traumamechanismen, Traumatisierung, Zuordnen von Beobachtungen zu beschriebenen Kriterien, es ging darum, Mias Traumanarrativ kennen und verstehen zu lernen. Es ging wie in jeder Therapie um das Gegenüber. Es ging um Mia.

Mia HerzbergMia war 41 Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Eigentlich arbeite ich nicht mit Erwachsenen, sondern mit Kindern und Jugendlichen, wenngleich es in der Vergangenheit auch schon mal Ausnahmen gegeben hatte. Sophie hatte mich gebeten, mir »Mia mal anzusehen, sie wirke oft noch so jung, fast wie ein Kind«.

Mia war dabei nicht irgendwer. Sie arbeitete in einer naheliegenden Psychiatrie als psychologische Erwachsenenpsychotherapeutin. Sie hielt Vorträge zu Dissoziation und Posttraumatischer Belastungsstörung, arbeitete mit psychotischen Patienten und behandelte Depressionen. Und doch war Mia auch Klient*in. Mia konnte, als sie zu mir kam, schon mehr über sich erzählen als zu dem Zeitpunkt, als sie Sophie traf, aber Worte zu sich zu finden fiel ihr sichtlich immer noch schwer.

Eineinhalb Jahre erzählte Mia in den Therapiestunden Alltäglichkeiten, berichtete von kleineren Problemen in ihrer Beziehung, Konflikten mit ihren Kindern oder schwierigen Situationen bei der Arbeit. Manchmal fragte ich mich, was sie bei mir wollte. Es war nicht so, dass es uninteressant war, was sie erzählte, im Gegenteil, wir diskutierten über ihre Klient*innen, ich lernte manchen neuen therapeutischen Ansatz von ihr und konnte ihre Haltung zu Beziehungsfragen oft gut nachvollziehen. Mia kam jeden Montagabend. Routinen waren ihr wichtig. Es durfte kein anderer Tag sein. Urlaube von mir waren ein Problem.

Mia zeigte in diesen ersten eineinhalb Jahren sehr versteckt immer wieder Anzeichen einer komplexen Traumafolgestörung. Es irritierte, dass sie ihre eigene Traumatisierung nicht zu sehen schien. Ich fragte mich, ob es sich bei Mia um Ego-States handelte oder ob sie unter struktureller Dissoziation litt. Fachbegriffe, die ich zwar kannte, die auch Mia kannte, die aber fast absurd wirkten, wenn ich versuchte, sie auf Mia anzuwenden. Hatte Mia wirklich kein Bewusstsein für ihr Trauma? War ich dabei, ihr etwas zu suggerieren? Sie schien die Begrifflichkeiten der Traumatherapie und deren Inhalte mentalisiert und so aus der Perspektive der Psychologin »Frau Herzberg« verstanden zu haben, als »Mia« hingegen schienen diese im eigenen Erleben und Handeln nicht vorzukommen. Dabei gab es so viele eindeutige diagnostische Kriterien, die bei Mia zutrafen, die auch Sophie gesehen hatte, dass es sich fast um nichts anderes als eine komplexe Traumafolgestörung handeln konnte.

Es war an einem Montagabend im Sommer 2015, an dem Mia plötzlich begann zu erzählen. Nur einen Satz: »Im Raum war es nicht schön«. Mir fiel eine andere Betonung des Wortes Raum auf. Mia erklärte nichts. Wechselte das Thema. Aber von da an gab es immer mal wieder kleine Sätze, die aus dem Alltagskontext fielen. Mia berichtete langsam, in Bruchstücken, in Vor- und Rückblenden, mal alltäglich kongruent, dann wieder dissoziativ in einer eigenen Welt versunken.

Mia war zu dem Zeitpunkt der initialen Traumatisierung dabei gewesen, ihr Psychologiestudium abzuschließen. Sie hatte während des Studiums promoviert und fühlte sich in ihrer Freundesgruppe wohl, als sie plötzlich ohne Vorwarnung aus ihrem Leben katapultiert wurde. Es gelang ihr im Nachgang zur Traumatisierung, intuitiv ihre hohe Alltagsfunktionalität aufrechtzuerhalten. Vielleicht weil sie eine hohe Intelligenz aufwies und in der Lage war, ihr »Leben« in die Kognition zu verlagern. Vielleicht weil sie spürte, dass eine Verarbeitung, ein Bewusstmachen des Erlebten sie verändern, überfordern würde. Vielleicht, weil sie rigoros jedes Detail des Erlebnisses in der Dissoziation verstaut hatte. Damit waren ihr aber auch ihre Emotionen genommen worden. Ihre Lebendigkeit. Ihr Ich.

Zum Zeitpunkt des Therapiebeginns bei Sophie arbeitete sie als leitende Psychologin in einer Therapiegruppe für Erwachsene in der Psychiatrie, lebte in einer Partnerschaft und hatte zwei Kinder. Ihre dauerhafte Dissoziation war ihr im Alltag wenig bewusst. Manchmal wunderte sie sich über sich selbst. Wenn sie sich taub fühlte. Wenn sie sich überfordert fühlte. Wenn sie impulsiv reagierte. Wenn sie nicht reagierte wie andere. Lehrsupervision war ihr bekannt, hatte sie gemacht. Fälle vorgestellt. Oberflächlichkeiten. Trigger intuitiv vermieden. Fachliteratur hatte sie gelesen. Traumafachliteratur ausgeklammert. Erst bei der Geburt ihres ersten Kindes, hatte sie begonnen, sich zu reflektieren. Hatte erstmals versucht, sich zu verstehen, arbeitete an den sichtbaren Symptomen. Sie wollte lernen, ihre impulsiven Reaktionen besser kontrollieren zu können. Bisher hatte sie sich ihre Spannungszustände immer mit dem ihr eigenen Temperament erklärt. Sie war eben so. Damit hatte ihr Partner leben müssen. Ihr Kind aber wollte sie vor diesen impulsiven auffahrenden Momenten, die ihr oftmals selbst nicht in der Ausprägung, der Vehemenz erklärlich waren, schützen. Sie hatte in verhaltenstherapeutischen Sitzungen Handlungsstrategien zur besseren Selbstkontrolle kennengelernt. Sie hatte die Struktur ihrer Herkunftsfamilie besser verstanden. Aber sie konnte nicht entspannen. Zehn Jahre später begegnete sie Sophie. Bei ihr wollte sie lernen zu entspannen.

Es war ein schmaler Grat, den Mia da betrat, da Körpertherapie ebenso wie Traumabehandlung nicht nur auf der kognitiven Ebene stattfindet, sondern die emotionale Ebene einbeziehen muss, um die (unterbrochene) Verbindung von Emotion, Körper und Kognition wieder herzustellen. Dies geht in der Regel nicht ohne eine gewisse Destabilisierung. Eine Destabilisierung des Alltags aber, war für Mia gefährlich. Vielleicht spürte Mia das und machte deswegen Sophie und auch mir von Beginn an sehr deutlich, dass man mit ihr nur insoweit arbeiten konnte, als dass sie es zulassen würde. Sie musste vorgeben dürfen, auf welche Themen sie sich in den jeweiligen Therapiestunden bereit war einzulassen. Setzte man sich über diese fast unsichtbar gezogenen Grenzen hinweg, zog sich Mia blitzschnell in sich zurück, und man fing in der nächsten Stunde mindestens zehn Schritte zurück wieder an, mit ihr zu arbeiten. Sie musste den »lead« der Behandlung haben, es musste in ihrem Tempo sein. Dies gab ihr Sicherheit. Ihre Alltagsfunktionalität durfte nicht in Frage gestellt werden. Ich ließ mich darauf ein. So wie Sophie sich darauf eingelassen hatte.

Und so erzählte Mia nach und nach. Oft rang sie um Worte. Bis heute sind einzelne Passagen nicht erzählbar und werden es wahrscheinlich auch nie sein. Diese bleiben Bilder in ihrem Kopf. Worte, Sätze, die sie hingegen ausgesprochen, gefunden hatte, schrieb sie auf. In Vor- und Rückblenden. Verdeutlichte Dissoziation, Depersonalisation, Traumatisierung, Traumaentstehung.

In diesem Buch wird Mia ihre Geschichte erzählen, ihr Narrativ. Es soll jedoch nicht nur ein Narrativ sein, das sich mal leicht, mal schwer liest, sondern auch ein Fachtext, der Mias Erleben um bekannte sowie (kritisch) diskutierte traumatherapeutische Hintergründe ergänzt. Aus der täglich praktischen Arbeit ist ein Buch entstanden, das Therapeut*innen Wege der Behandlung, deren Möglichkeiten und Grenzen bei Vorliegen einer komplexen Traumafolgestörung mit Dissoziationen aufzeigt. Dabei bleibt es den jeweiligen Therapeut*innen überlassen, was er/sie glaubt, ebenso wie welcher primäre Zugangsweg gewählt wird. Sophie war genauso erfolgreich, wenn nicht erfolgreicher, mit ihrem Ansatzpunkt aus der Körpertherapie, wie ich mit klassischen traumatherapeutischen Methoden. Der Text soll dabei nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Mut machen, Aussagen zu hinterfragen, individuelle Wege zu beschreiten, nicht aufzugeben, wenn (therapeutische) Felsbrocken im Weg liegen, sondern weiterzugehen, Schritt um Schritt.

Dieses Buch möchte einerseits erklären, wie diese Art der Traumatisierung entsteht, andererseits die Diskussion darum aufgreifen, warum wir uns so schwertun, eine solche Traumatisierung zu sehen und als für den/die Klient*in real anzuerkennen. Es soll die Fragen stellen, die sich jeder im Verlauf einer solchen Behandlung stellt bzw. stellen sollte. Es soll erklären, warum Menschen wie Mia kaum eine Chance haben, Gerechtigkeit zu erfahren, es von Therapeuten Zeit, Geduld und ein »in eigenen Grenzen über eigene Grenzen gehen« bedarf, damit Menschen wie Mia heilen können. Was war und was wahr ist, bleibt letztendlich immer eine eigene subjektive Realität. Und so soll es auch hier dem Leser überlassen werden, eine eigene Haltung zu dem Thema rituelle Gewalt zu finden.

Letztlich habe nicht ich, sondern hat Mia entschieden, den Weg zur Publikation zu gehen: »Wenn dieses Buch auch nur einer/einem Betroffenen helfen kann, sich zu trauen, seine/ihre Geschichte zu erzählen, Therapeut*innen Anregung sein kann, einen individuellen Weg in der Traumabehandlung zu gehen, es Menschen, die rituelle Gewalt erlebt haben, eine Stimme verleiht, dann hat sich jedes meiner gefundenen Worte in diesem Buch gelohnt.«

Endnoten

1Namen geändert.

Dem Leben wieder Atem einhauchen –Mias Geschichte 1988 – 2020

Prolog 2012

In Gedanken versunken trat ich aus dem Gerichtsgebäude, in dem ich die letzten drei Stunden verbracht hatte. Heute war die Gerichtsverhandlung gewesen, welche mich vorab so beschäftigt hatte. Wie erwartet, war ich verurteilt worden. Es hatte keinen anderen Weg gegeben. Richter M., ein Bekannter einer Freundin von mir, dem ich von der anstehenden Verhandlung erzählt hatte, hatte es schon vorab gesagt: »Sie sind unschuldig, aber Sie werden verurteilt werden, solange Sie dem Gericht nicht die Wahrheit sagen.« Er hatte geseufzt. »Sie werden verurteilt werden, weil Sie ein Detail nicht werden erzählen können. Aber wenn Sie dem Gericht dieses Detail erzählen, dann werden Sie verurteilt werden, da Sie die Wahrheit nicht beweisen können. Man wird Ihnen nicht glauben.« Insofern hatte ich gewusst, was auf mich zukam, als ich heute Mittag das Gerichtsgebäude betreten hatte. Und doch fühlte es sich unrecht an. Es war eine Nacht verhandelt worden, die bald ein Jahr her war, die falsche Nacht.

Einen Moment verharrte ich vor dem Gerichtsgebäude, sog die kühle Luft des frühen Abends ein, es hatte geschneit. Es war stickig gewesen in dem Gerichtssaal. Die Richterin hatte mich nicht angesehen, als sie ihr Urteil verkündet hatte, war sie sich nicht sicher gewesen?

»Surreal« murmelte ich leise und wischte die wenigen Schneeflocken von meinem Ärmel, die sich lautlos auf den dunklen Stoff gesetzt hatten, als wollte ich die letzten Stunden aus meinem Leben streichen. Dann setzte ich mich in Bewegung. Es war eiskalt draußen, Raureif lag auf den Bäumen, die Welt schien still zu stehen, der Schnee hatte sich wie eine weiche Decke über die Wiesen, die Fußsteige, den See gelegt. Verloren fielen noch ein paar Flocken. Seit drei Wochen schwankten die Temperaturen draußen zwischen –10 °C und –12 °C. Vorher hatten alle darüber geklagt, dass es wieder mal keinen Winter gäbe. Nun war er da. Der Winter.

Ich ging den leicht gefrorenen Weg entlang. Es gab kein Ziel in mir, außer Distanz zwischen mich und das Gericht zu legen. Ich zog meinen Kopf weiter in den Schal. Feine Eiströpfchen bildeten sich dort, wo mein Atem auf den Schal traf. Gefrorenes Leben. Kalt war mir nicht, nur meine Füße spürte ich nicht mehr. Lederstiefel und kurzer Wollrock, nicht die richtige Kleidung für einen Schneespaziergang. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Sophie mich von der Verhandlung abholen könnte. Sophie hatte mir gesagt, dass sie heute um 15 Uhr mit der Arbeit fertig sei. Als ich sie aber um halb fünf, direkt nach der Verhandlung, noch vom Gerichtssaal aus, angerufen hatte, war Sophies Handy aus gewesen.

»Ich sollte mich langsam entscheiden, wo ich hingehen möchte«, dachte ich. Die Kälte war spürbar. Innerlich wie äußerlich. Innerlich ließen mich die Worte im Gerichtssaal frieren, die Worte der Menschen, die nichts verstanden hatten. Äußerlich brachte der Wind die Kälte mit sich. Ich änderte meine Marschrichtung. Es gab nur einen Ort, der sich jetzt passend anfühlte, Sophies Ofen. Nur einmal war ich den Weg zu Sophie zu Fuß gegangen, das war in diesem Jahr im Hochsommer gewesen. Heiß und kaum aushaltbar war es gewesen. Extreme des Wetters. Extreme Punkte in meinem Leben. Damals hatte ich nicht gewusst, ob ich ankommen wollte. Heute wollte ich ankommen.

Dezember 2005

Es war Anna gewesen, die mir Sophie empfohlen hatte. »Du arbeitest viel zu viel«, hatte Anna an einem unserer spätabendlichen Treffen gesagt, »Mia, du musst dich einfach mal wieder spüren, lass dich ein wenig verwöhnen. Sophie ist Körpertherapeutin, es ist ein schönes Gefühl, eine Decke über sich ausgebreitet zu bekommen.« Während ich in meine Jacke schlüpfte, hatte Anna mir eine Internetseite auf einen Zettel geschrieben. Sie drehte sich mit einem Lächeln zu mir um, drückte mir den Zettel in die Hand und umarmte mich zum Abschied.

Anna ist Allgemeinärztin, ich hatte sie vor acht Jahren bei einer Fortbildung kennengelernt und sie sofort gemocht. Anna, mit dem blonden Lockenschopf, die ihren Patienten so sehr zugewandt ist. Die bereit ist, sich für jeden einzusetzen, alles zu diskutieren und dies nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten, meist lebhaft gestikulierend mit blitzenden Augen. Ich habe selten jemanden erlebt, der sich so intensiv mit sich und seinem Umfeld auseinandersetzt – und so wenig schläft. Wenn ich nachts um 1:05 Uhr an Anna eine E-Mail schreibe, ertönt nicht selten noch um 1:25 das leise »pling« des Posteingangs mit einer Antwort von ihr. Auch ich liebe die Nacht, es ist die ruhigste Zeit des Tages. Nicht selten treffe ich mich erst kurz vor Mitternacht mit Anna. Andere Leute sind zu der Zeit schon lange im Bett, aber Anna sagt immer: »Für einen Mitternachtstee ist es nie zu spät«. Nicht selten übernachte ich bei Anna, wenn es wieder einmal spät geworden ist. Dann legt Anna mir noch schnell eine Wärmflasche ins Bett und ich fühle mich zu Hause. Anna ist mir nah und ich vertraue ihrer Einschätzung, vielleicht weil Anna viel von mir weiß, nicht alles, aber mehr als viele andere. Dennoch runzelte ich die Stirn, als Anna Sophie vorschlug. »Körpertherapie, was soll das denn sein?« »Probier's einfach aus Mia, wirklich, ich könnte mir vorstellen, dass es dir gefällt.« Anna drückte mir den Zettel in die Hand. »Mal sehen,« antwortete ich, schob den Zettel in die hintere rechte Hosentasche und wickelte mir den Schal fester um den Hals. Es war wirklich schon herbstlich draußen »Sehen wir uns nächste Woche?« »Ja, klar, komm einfach vorbei.« Ich umarmte Anna, »Dann bis bald!« Den Zettel in meiner Hosentasche hatte ich schon wieder vergessen, bevor sich die Tür hinter mir geschlossen hatte.

Erst Tage später fiel dieser meinem Mann Paul in die Hände, als er die Hose in die Wäsche tun wollte. Er kam aus dem Bad, hielt eben diesen Zettel hoch und sah mich fragend an. »Körpertherapie? Wollt ihr in der Klinik eine neue Stelle ausschreiben?« »Wie?« ich blickte vom PC auf, an dem ich gerade dabei war, einen Entlassbericht für eine meiner Patientinnen zu erstellen. Völlig verständnislos sah ich auf den Zettel in Pauls Händen und brauchte eine Weile, um diesen zu erkennen: »Ach so, das. Anna hat gesagt, ich solle mir die Frau mal anschauen, würde guttun.«

Ich wandte mich wieder meinem PC zu. Aber Paul ließ nicht locker: »Und was macht eine Körpertherapeutin dann mit dir?« Ich sah auf: »Paul, ich arbeite, du kannst dir die Internetseite der Körpertherapeutin ja mal an deinem Laptop ansehen und mir sagen, was du denkst. Bin noch nicht dazu gekommen.« Ich zögerte einen Moment, dann aber zeigte ich auf meinen PC: »Aber vorher, sag mir bitte, ob ich das so formulieren kann. Lisa ist langjährig traumatisiert und sehr empfindlich mit Aussagen zu ihr, nimmt mich ständig unter Schweigepflicht, dennoch möchte ich der weiterbehandelnden Psychotherapeutin Hinweise auf ihre Persönlichkeit geben. Darf ich dir den einen Absatz einmal vorlesen?«

Paul stellte sich hinter mich. Ich spürte seine Körperwärme und Nähe, die ich so liebte. Ich mochte seinen Geruch nach Tabak und Seife, auch wenn ich sein Rauchen eigentlich nicht billigte und auch einforderte, dass er für jede Zigarette nach draußen ging. Er respektierte dieses – fast immer. Nur manchmal fand ich einen Zigarettenstummel auf dem Balkon. Auch wenn ich dann formal darüber schimpfte, ärgerte es mich meist nicht wirklich, im Gegenteil, innerlich musste ich eher lächeln. Ich konnte mir in solchen Momenten gut vorstellen, wie er dort stand, selbstvergessen in seinen Gedanken, die Zigarette hektisch löschend, wenn er mich nach Hause kommen hörte. Da es selten vorkam, war das heimliche Rauchen auf dem Balkon an kalten Wintertagen eines dieser offenen Geheimnisse, die jeder kannte, aber keiner ansprach. Es war okay, solange es nicht zur Regel wurde.

Fünfundzwanzig Jahre kannte und liebte ich diesen Geruch nun schon und seit einundzwanzig Jahren war Paul an meiner Seite. Auch wenn wir aufgrund unserer jeweiligen Berufstätigkeit in zwei verschiedenen Städten lebten und uns deswegen nicht täglich sahen, so war Paul über die Jahre zu dem Boden geworden, auf dem ich stand. Paul war der Ruhepol in meinem hektischen Leben. Er verstand mich ohne Worte, akzeptierte mich so wie ich war und konnte sogar meine Launen ertragen, die immer mal wieder durchbrachen. Plötzlich, explosiv und vernichtend. Wegen Kleinigkeiten, die meist nicht der Rede wert waren. Er ließ mir den Raum, den ich zum Leben brauchte.

Unsere beiden Kinder, Felicie und Felix, 9 und 6 Jahre alt, lebten bei mir. Oft hatte ich unter der Woche mit dem Status der Alleinerziehenden zu kämpfen. So brachte ich morgens den einen in die Schule, den anderen in den Kindergarten. Nachmittags fuhr ich Felicie zum Klarinettenunterricht, Felix zum Fußball; ich buk Waffeln, klebte Pflaster auf aufgeschlagene Knie, begleitete Hausaufgaben, las beiden abends im Bett lange vor. Ich liebte all diese kleinen Dinge sehr und doch verwünschte ich Paul nicht selten dafür, dass er 600 km entfernt arbeitete. Meist dann, wenn ich mich abends müde noch an den PC setzen musste, um noch dringende Patientenberichte zu schreiben oder Vorträge vorzubereiten, für die ich nachmittags keine Zeit gehabt hatte. Aber irgendwie funktionierte es immer und Paul kam verlässlich am Wochenende, an dem wir Familienalltag lebten. Es gab eben gemeinsame Qualitätszeit und den Alltag. Wie jede Woche war Paul nun gestern fürs Wochenende gekommen und tat mir gut.

An jenem Sonntag, einem kalten sonnigen Dezembertag, war es drinnen gemütlich warm, Paul hatte Feuer gemacht. Es war kurz nach Weihnachten. Felix lag bäuchlings auf einer Decke vor dem Kamin, in sich versunken mit seiner neuen Polizeistation beschäftigt, Felicie war bei einer Freundin aus Grundschultagen. Ich musste ein zweites Mal lächeln, als ich kurz hochsah, und Felix' in der Luft baumelnde Beine sah, das hatte er schon als 2-Jähriger so gemacht.

Wenn man Mia das erste Mal kennenlernte, so traf man eine im Außen gut funktionierende Psychologin, Partnerin und Mutter. Auffällig lediglich der geringe Schlaf, ständige Aktivität, zeitweilige überschießende Impulsivität und dass sie ihren Partner im Alltag lieber ein wenig in der Distanz wusste als in der Nähe. Mia war sympathisch, attraktiv, wortgewandt, interessant und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Mia erzählte lebendig von allem, was ihr so passierte, berichtete von Klient*innen, ihren Kindern, Paul. Es waren leichte, fröhliche Termine bei mir. Und doch fielen mir Risse in der Fassade auf. Mia war immer mal kurz abwesend, suchte ein hohes Ausmaß an Struktur, um möglichst viel Kontrolle über die jeweiligen Gesprächssituationen zu behalten, zeigte kaum Emotionalität, wirkte manchmal leer, schwieg dann lange.

Sophie hatte mir gesagt, dass bei Mia eine schwere Traumatisierung vorlag. Mia hatte das Wort Trauma angedeutet. Die Diskrepanz zur »Alltagsperson Mia« war frappierend. Mia schrieb alles, was wir besprachen, direkt nach dem Gespräch auf. Sie beschrieb immer wieder psychoemotionale Erschöpfungszustände, ohne dass in ihren Erzählungen Traumata als eine mögliche logische Erklärung auftauchten. Sie zeigte ein hohes Kontrollbedürfnis. Zuckte bei jedem noch so kleinen Geräusch in meinen Therapieräumen zusammen. Intuitiv machte ich innere Fragezeichen an Mias Bericht ihres funktionierenden ganz normalen Alltags. Es dauerte dennoch sehr lange, bis ich mir fast sicher war, dass bei Mia eine primäre strukturelle Dissoziation mit Depersonalisationserleben vorlag.

Was bedeutet dies? Unsere Erfahrungen/Erinnerungen setzen sich zusammen aus Bildern, Emotionen, körperlichen Empfindungen, eigenem Verhalten und dem Wissen um situative Zusammenhänge. Die jeweiligen Elemente werden in unterschiedlichen Teilen des Gehirns gespeichert, behalten jedoch ihren situativen Zusammenhang. Kommt es nun zur Traumatisierung schaltet der Körper auf Überleben um, und aktiviert sein Notfallsystem. Überfordernde Gedächtnisinhalte, oftmals Emotionen, werden abgespalten und eine Fokussierung auf die zum Überleben unabdingbaren momentan möglichen Handlungsmöglichkeiten erfolgt. Die Erinnerung fragmentiert, Anteile des Erlebnisses werden dissoziativ abgespalten, andere bruchstückhaft erinnert. Es kommt so nicht zu einer ganzheitlichen Integration (Emotion und Kognition) des Erlebnisses in die einheitliche Lebensgeschichte, sondern zu Erinnerungsfragmenten.

Dissoziation bedeutet dabei zunächst einmal »Spaltung«, »Trennung« und beschreibt einen Zustand eines Menschen, bei dem Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Motorik sowie Körperempfindungen wie Schmerz oder Hunger nicht mehr im Zusammenhang mit der Außenrealität stehen.

Fast alle Menschen kennen kleine Momente der Alltagsdissoziationen, in denen wir unwillkürliche Eindrücke, die wir als unwichtig, störend oder überfordernd empfinden, ignorieren und später auch nicht erinnern. Unter existenziell bedrohlichen Situationen, die oftmals mit Angst, Hilflosigkeit, Schmerz, Irritation oder Orientierungslosigkeit einhergehen, in denen wir zum Überleben unbedingt selbstwirksam handeln müssen, kann Dissoziation zur vorrangigen seelischen Reaktionsmöglichkeit werden. Unerträgliche Aspekte der Situation werden so aus dem Bewusstsein ferngehalten, damit wir die Funktionen erhalten, die wir brauchen, um überleben zu können (Krause-Utz, 2022).

Der Begriff der Dissoziation ist in der Psychotherapie nicht jung. Pierre Janet (1859 – 1947) beschäftigte sich als erstes systematisch mit dissoziativer Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins bei erlebtem Trauma. Nach Janet bildet sich das »Unterbewusste« dann aus, wenn es in der Folge von Traumata zu Dissoziationen kommt, in denen versucht wird, das Unerträgliche des Erlebten auszublenden. Im Unterschied zur »Dissoziation als Abwehr« stellt Dissoziation in diesem Verständnis eine psychische Möglichkeit bereit, Unerträgliches autoregulativ zu verarbeiten, eine innere Distanz zu Traumageschehen herzustellen (Fiedler, 2019; van der Kolk et al., 1989b). Dissoziation aufgrund von Traumatisierung ist demnach zunächst einmal nichts Krankes, sondern eine biologisch angelegte (gesunde) Schutzreaktion auf gravierende Störungen von außen. Problematisch wird es erst, wenn die aus der Dissoziation resultierenden Verhaltens- und Empfindungsmuster den nicht-traumatischen Alltag schwierig machen. Laut Gysi (2020) lassen sich unterschiedliche Formen der Dissoziation unterscheiden: Depersonalisation (sich von außen zuschauen), Derealisation (die Umgebung, und damit auch die Täter, aus großer Distanz wahrnehmen), Desomatisation (den Körper nicht mehr spüren), Deaffektualisation (keine Gefühle mehr verspüren), Detemporalisation (das Gefühl für die Zeit verlieren), dissoziativer Stupor (umgangssprachlich auch »Erstarren« oder »Freeze«, mit der Unfähigkeit, sich bei vollem Bewusstsein zu bewegen, sich zur Wehr zu setzen oder zu schreien), dissoziative Amnesie (Erinnerungslücken während einer traumatischen Situation), teildissoziiertes Handeln (automatisiertes Handeln direkt nach einem Trauma, ohne schon eine strukturelle Dissoziation zu entwickeln).

Dissoziation und ritueller Missbrauch sind eng miteinander verbunden. So zeigten Nobakht et al. (2018) eine starke Korrelation zwischen rituellem Missbrauch und Dissoziation auf und postulierten, dass der wichtigste prädiktiver Faktor für die Entwicklung einer dissoziativen Störung ritueller Missbrauch ist.

Dissoziation ist ein Zustand, in dem während einer traumatischen Situation bestimmte Aspekte der Situation, insbesondere Emotionen und Körperempfindungen aus dem Bewusstsein ferngehalten werden, damit in dem Moment die Funktionen erhalten werden können, die benötigt werden, um die traumatische Situation zu überleben. Die entstehende Spaltung der Wahrnehmung kann verschiedene Bereiche der Motorik, Sensorik, Wahrnehmung bzw. Kognition betreffen.

Im Gegensatz zu dem Grundbegriff der normalen Dissoziation ist der Begriff der primären, sekundären bzw. tertiären strukturellen Dissoziation deutlich jünger. Er wurde in den letzten 10 – 20 Jahren von Ellert Nijenhuis, Onno van der Hart und Kathy Steele durch jahrelange Beobachtungen und Erforschung dissoziativer Störungsbilder entwickelt. Sie gehen davon aus, dass durch anhaltende Traumatisierung – meist in der frühen Kindheit, bei entsprechendem Ausmaß auch in späteren Lebensjahren – eine strukturelle Aufteilung der Persönlichkeit entstehen kann. Die Persönlichkeit teilt sich in einen oder mehrere »Anscheinend Normale Persönlichkeitsanteile (ANPs)«, die auf den Erhalt des Alltags spezialisiert sind, als »normal« gelten und wenig Ahnung vom Trauma haben und einen oder mehrere »Emotionale Persönlichkeitsanteile (EPs)«, als die Bereiche, die vom Trauma erzählen können und immer wieder traumanah sind. Diese sind im Alltag dysfunktional und dürfen hier nicht erscheinen, da sie die Klient*innen mit Emotionen überfluten und handlungsunfähig werden lassen. Deswegen müssen diese in der Dissoziation verbleiben (van der Hart et al., 2008). Das Ziel einer strukturellen Dissoziation ist, analog dem der normalen Dissoziation, das Überleben zu sichern und die Funktionsfähigkeit der Psyche (im Alltag) zu erhalten. Das Ausmaß der entstehenden Spaltung ist absoluter, unverbundener, und kann je nach Schweregrad zu ganz unterschiedlichen Symptomen führen. Dabei haben die ANPs in der Regel wenig bis keinen Kontakt zu den EPs.

Man unterscheidet nach Ellert Nijenhuis zwischen drei Formen der Dissoziation. Bei der primären strukturellen Dissoziation liegt ein ANP und ein EP vor. Der ANP ist v. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass er keine Erinnerung an Traumatisierungen hat und nur in sehr beschränktem Ausmaß über ausdifferenzierte Empfindungen für sensorische, soziale und zwischenmenschliche Modalitäten verfügt. Der EP hat die Empfindungen, Wahrnehmungen, Einschätzungen und Reaktionsweisen des Traumas gespeichert und aktiviert diese im späteren Leben bei entsprechenden Triggern, als ob die traumatische Realität Gegenwart wäre. Bei der sekundären strukturellen Dissoziation