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'Das Dasein ist eine lange Kette von Momenten, die man einen nach dem anderen bewusst leben sollte. Alle Anstrengungen, die ihr macht, werden oben im Buch des Lebens eingetragen, und wie viele Segnungen warten dank dieser Anstrengungen auf euch! Wenn ihr sie empfangen werdet, wird man euch auf die Frage: 'Warum diese Geschenke?' antworten: 'Weil ihr euch durch eure Arbeit bis zu den Regionen des Lichts erhoben habt und ihr das Licht und den Frieden auch Menschen gebracht habt, die sich in Elend und Finsternis befanden.' Mehr kann ich euch nicht sagen. Macht weiter, geht auf dem Weg des Lichts. Was wird euch dort am Ende dieses Weges erwarten? Ihr werdet es herausfinden, wenn ihr am Ziel seid und ihr werdet überwältigt sein.' Omraam Mikhaël Aïvanhov
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Seitenzahl: 178
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Über den Autor
Omraam Mikhaël Aïvanhov war ein großer spiritueller Meister, ein lebendiges Vorbild, ein »Überbringer des Lichts« und ein warmherziger, humorvoller Lehrer, der durch sein selbstloses, zugängliches und brüderliches Verhalten überzeugte.
Er strebte an, alle Menschen bei ihrer persönlichen Entwicklung zu begleiten – so wie ein Bergführer seine Kameraden sicher bis auf den höchsten Gipfel führt.
Das Gedankengut, das Omraam Mikhaël Aïvanhov verbreitet hat, bietet zahlreiche Methoden und einen klaren, begehbaren Weg zu größerer Vollkommenheit und mehr Lebensglück.
In wohltuend einfacher Sprache erklärt er alle wichtigen Zusammenhänge des Lebens und ist gerade bei den Fragen unserer heutigen Zeit wegweisend. Ob es um die Bewältigung des Alltags geht, um das Thema der Liebe und Sexualität oder um tiefgründige philosophische Themen – stets sind seine Antworten überraschend klar und hilfreich.
Kurzbeschreibung
»Das Dasein ist eine lange Kette von Momenten, die man einen nach dem anderen bewusst leben sollte. Alle Anstrengungen, die ihr macht, werden oben im Buch des Lebens eingetragen, und wie viele Segnungen warten dank dieser Anstrengungen auf euch! Wenn ihr sie empfangen werdet, wird man euch auf die Frage: »Warum diese Geschenke?« antworten: »Weil ihr euch durch eure Arbeit bis zu den Regionen des Lichts erhoben habt und ihr das Licht und den Frieden auch Menschen gebracht habt, die sich in Elend und Finsternis befanden.« Mehr kann ich euch nicht sagen. Macht weiter, geht auf dem Weg des Lichts. Was wird euch dort am Ende dieses Weges erwarten? Ihr werdet es herausfinden, wenn ihr am Ziel seid und ihr werdet überwältigt sein.«
Omraam Mikhaël Aïvanhov
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Kurzbeschreibung
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Um nicht mehr sagen zu müssen: Wenn ich gewusst hätte...!
Kapitel 2: »Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.« (Mt 6,3)
Kapitel 3: Programm für den Tag und Programm für die Ewigkeit
Kapitel 4: »Seid nicht besorgt um den morgigen Tag«
Kapitel 5: Allein die Gegenwart gehört uns
Kapitel 6: Bevor die Sonne untergeht
Kapitel 7: Der Übergang ins Jenseits
Kapitel 8: Das Leben ohne Grenzen
Kapitel 9: Die Bedeutung der Bestattungsrituale
Kapitel 10: Unsere Beziehungen zu den Familiengeistern
Kapitel 11: Was ist der Wille Gottes?
Kapitel 12: Im Dienste des göttlichen Prinzips
Kapitel 13: Zum Altar des Herrn aufsteigen
Kapitel 14: Schreitet beständig voran
Kapitel 15: An der Schwelle eines neuen Jahres
Vom selben Autor – Reihe Gesamtwerke
Vom selben Autor – Reihe Izvor
Vom selben Autor – Reihe Broschüren
Copyright
Da Omraam Mikhaël Aïvanhov seine Lehre ausschließlich mündlich überlieferte, wurden seine Bücher aus stenographischen Mitschriften, Tonband- und Videoaufnahmen seiner frei gehaltenen Vorträge erstellt.
Kapitel 1: Um nicht mehr sagen zu müssen: Wenn ich gewusst hätte...!
Die Menschen sind voll und ganz in der Lage, vom Verstand her zu unterscheiden, wo für sie selbst und wo ebenso für die anderen das Gute und das Böse liegen, aber sie begehen weiterhin dieselben Irrtümer. Das ist schwer nachvollziehbar, aber es ist so. Man gibt ihnen Erklärungen, sie verstehen, sie stimmen zu, aber sie tun das Gegenteil von dem, was sie angeblich so sicher verstanden haben. Und warum ist das so? Weil es nicht genügt, sich an ihren Intellekt zu wenden, man muss andere Saiten in ihnen zum schwingen bringen. Man kann sich nicht wirklich auf jemanden verlassen, der sagt: »Ja, ich verstehe«, denn wenn seine Gefühle und seine Wünsche ihn in eine andere Richtung drängen, wird er genau dorthin gehen.
Ich mache mir daher keine Illusionen, ich weiß, dass die Möglichkeiten eines geistigen Meisters begrenzt sind. Seine Aufgabe besteht darin, die Menschen aufzuklären, ihnen begreiflich zu machen, wie sie aus den Sümpfen, in denen sie festsitzen, herausgelangen können, und ihnen die großartigen Regionen zu beschreiben, die auf sie warten, wenn sie sich dorthin aufmachen. Aber der Meister vermag nicht, ihre Vorlieben und ihre Bedürfnisse zu ändern. Dazu haben allein die Schüler selbst die Macht, indem sie spüren, dass sie dort ihr Heil finden werden.1 Selbst wenn es ihnen gelingt, es zu spüren, ist in Wirklichkeit auch das noch nicht genug. Ja, selbst wenn sie von ganzem Herzen wünschen, sich auf den Weg des Lichts zu begeben, taucht eine dritte Schwierigkeit auf, die schrecklichste von allen: Etwas in ihnen, das man »Gewohnheit« nennt, widersetzt sich dieser Neuorientierung.
Ich gebe euch ein sehr einfaches Beispiel. Man bringt im Fernsehen eine Sendung über Hungersnöte in Afrika: Alle Zuschauer verstehen, dass man etwas tun sollte, denn es ist unmenschlich, die Völker so leiden zu lassen. Viele werden sogar erschüttert sein und beim Anblick dieses Elends werden ihnen die Tränen in die Augen steigen. Wenn man ihnen jetzt aber sagt: »Sie können das und das tun, damit diese Völker etwas zu essen haben«, wie viele werden dann bereit sein, ihr beschauliches Leben und ihre Gewohnheiten aufzugeben? Wie viele werden sich entschließen, das Geld, das sie für ihre Bequemlichkeit, ihr Vergnügen vorgesehen haben – und sei es nur ein Teil davon –, dafür zu verwenden, diesen Unglücklichen zu helfen? Nun, genau dasselbe geschieht, wenn es darum geht, sein Leben zu ändern; das bedeutet, der Verstand und das Gefühl können einverstanden sein, aber bis es dann auch dem Willen gelingt, die schlechten Gewohnheiten, die Trägheit und den Egoismus zu besiegen, bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Wenn sie mich sprechen hören oder meine Bücher lesen, weiß ich, dass manche denken: »Ach, der Arme! Wie kann er glauben, es sei so leicht, die Menschen auf den Weg der Weisheit, der Gerechtigkeit, der Liebe zu führen...?« Nein, ich glaube nicht, dass dies leicht ist, ich bin keineswegs so naiv. Ich spreche, um diejenigen aufzuklären, die gekommen sind, mir zuzuhören, denn jede innere Veränderung beginnt mit dem Verstehen, aber ich weiß sehr wohl, dass alles Übrige nicht von mir abhängt. All diejenigen, die sich lieber Illusionen hingeben, kann ich nicht dazu bringen, die Wahrheit zu lieben.
Und selbst wenn einer die Wahrheit entdeckt und sie liebt, kann man sagen, dass gerade damit die Schwierigkeiten erst beginnen. Diese Schwierigkeiten, die habe ich zuerst in mir selbst entdeckt. Ich habe verstanden, dass man das Licht empfangen kann, dass man das Licht lieben kann, aber wenn es darum geht, die psychische Materie vor diesem Licht in die Knie zu zwingen, damit sie davon durchdrungen wird, mein Gott, wie langwierig und schwierig ist das! Einen Moment ist sie fügsam und lässt sich modellieren, dann plötzlich widersetzt sie sich, lehnt sich auf, und gewinnt die Oberhand. Dann muss alles von Neuem begonnen werden. Aber man darf sich nicht entmutigen lassen, denn nach und nach wird diese Materie schließlich doch nachgeben. Von dem Moment an, wo das Verständnis da ist und auch die Liebe, muss die Verwirklichung eines Tages kommen. Eines ist jedoch auf alle Fälle sicher: Ohne Verständnis und ohne Liebe hofft man von vorneherein vergeblich auf positive Ergebnisse, und seien sie noch so bescheiden.
Zu verstehen, wo das Gute ist und sich dieses Gute zu wünschen, das ist vielleicht nicht einfach, aber es ist in jedem Fall weniger schwierig als die dritte Etappe: die Anwendung. Jeder kann sehr wohl einräumen, dass es allemal besser ist, maßvoll zu sein, seinem Ehepartner treu zu sein, seine Wutausbrüche zu beherrschen, auf ehrliche Weise zu handeln und aufrichtig zu wünschen, dass dies auch gelingt; aber dann, wenn die Versuchung kommt, wie stellt man es dann an, nicht schwach zu werden? Um zu widerstehen, muss die Frage auf drei Ebenen, auf der Ebene des Intellekts, der Ebene des Herzens und der Ebene des Willens klar sein, und am allerschwierigsten ist es, den Willen so weit zu bringen, dass er seine Gewohnheiten ändert.
Eine schlechte Gewohnheit ist wie ein Klischee, das sich unseren feinstofflichen Körpern einprägt.2 Hat es sich einmal eingeprägt, wiederholt es sich endlos. Selbst wenn man anschließend seinen Fehler bedauert, nützt das nicht viel, man wiederholt ihn, man bedauert aufs Neue, und so fort; eine endlose Kette von Fehlern und Bedauern. Kämpfen, jammern, bereuen, das ist meist unwirksam, denn das Schuldbewusstsein prägt seinerseits wieder ein Klischee ein, also taucht es nach dem Fehler wieder auf, hilft jedoch nicht, diesen zu korrigieren. Es ist so, als seien Fehler und Schuldbewusstsein zwei Wesen, zwischen denen keinerlei Verbindung besteht. Sie folgen aufeinander, das ist alles. Ihr sagt: »Aber das kommt daher, dass der Mensch schwach ist!« Ja, er ist schwach; er ist schwach, weil er unwissend ist. An dem Tag, an dem er das Licht haben wird, wird es ihm gelingen, über seine schlechten Gewohnheiten zu triumphieren.
Was soll man also tun? Das Klischee ersetzen, das heißt, die schlechten Gewohnheiten ersetzen, indem man fleißig bestrebt ist, nach und nach und bewusst, andere Gedanken und andere Gefühle zu haben, und vor allem andere Gesten auszuführen. Es gibt dann ebenso viele neue Aufzeichnungen und neue Klischees, denen es gelingen wird, die alten zu neutralisieren. Sie werden diese nicht löschen, denn in der Natur wird nichts gelöscht, aber sie werden diese überlagern und dann ihrerseits wirken.
Ein Mann hat mir eines Tages anvertraut, dass er unwiderstehlich von ganz jungen Mädchen angezogen wird; er war sich bewusst, wie gefährlich das ist, aber er wusste nicht, wie er gegen diese Neigung kämpfen sollte und bat mich um Rat. Nun, ich gab ihm folgenden Rat: »Versuchen Sie, einem jungen Mädchen zu begegnen, das Sie eher gleichgültig lässt, so werden Sie sich leichter beherrschen können und sich so bewusst zur Gewohnheit machen, Distanz zu wahren. Dann begegnen Sie einer anderen und noch einer anderen, und Sie verhalten sich weiterhin korrekt. Auf diese Weise prägen Sie sich nach und nach ein neues Verhalten ein, und dieses neue Verhalten wird die Oberhand gewinnen. Wenn Sie dann einem dieser jungen Mädchen gegenüberstehen, das Sie zuvor die Beherrschung verlieren ließ, werden Sie untadelig bleiben. Aber seien Sie wachsam, üben Sie weiterhin mit denen, die Sie nicht in Versuchung führen.«
Doch was tut man im Allgemeinen? Genau das Gegenteil: Man stürzt sich auf die Personen und die Dinge, die einem Spaß machen, und man wendet sich von den anderen ab. Um eine Versuchung oder eine Schwäche zu überwinden, müsst ihr euch bemühen, das gefährdende Objekt durch ein anderes, für euch unbedenkliches zu ersetzen. Die neuen Klischees, die ihr euch auf diese Weise einprägt, werden euch schützen. Doch auch wenn ihr keinen Versuchungen ausgesetzt seid, die euch schaden würden, falls ihr ihnen erliegt, solltet ihr immer daran denken, neue, bessere Klischees zu erschaffen, damit ihr Fortschritte macht.
Und wisst ihr, dass es der Teufel ist – nennen wir ihn mal so –, der die Menschen oft in das Bedauern drängt, damit sie immer weiter dem Weg des Irrtums folgen, mit frischen Kräften und neuem Elan? Oh nein, das wisst ihr natürlich nicht. Mit Bedauern und Klagen stärkt man das Verlangen der anderen Seite; es ist, als würde mit diesen Tränen und diesem Bedauern das Verlangen Kräfte schöpfen, um aufs Neue wie entfesselt loszulegen. Ja, genau so ist die menschliche Natur, und wer ihre Winkelzüge und ihre Fallen nicht kennt, begeht immer weiter Irrtümer.
Wie viele Leute bilden sich ein, sie würden auf der Grundlage des Guten, das sie verstehen und lieben, handeln! Tatsächlich machen sie genau das Gegenteil, doch unmöglich, sie zur Einsicht zu bringen. Warum? Weil sie sich vorstellen, dass es genüge, wenn man mit dem Verstand ein Ideal erkennt und sich seine Verwirklichung wünscht, um dieses Ziel zu erreichen. Doch leider ist das nicht so, denn gerade dort beginnt der schwierigste Teil. Und darum ist Klarheit eine der wichtigsten Eigenschaften des geistigen Schülers.
Gutes Verhalten ist wünschenswert, aber schlechtes Verhalten ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, sich dessen nicht bewusst zu sein. Derjenige, der unfähig ist zu erkennen, dass er schlecht gehandelt hat, verfängt sich letztlich in unentwirrbaren Widersprüchen. Er begegnet Misserfolgen, er wird von den anderen abgelehnt und weiß nicht warum. Er hält sich für untadelig, er ist überzeugt, dass die anderen ihm zustimmen, ja, ihn sogar bewundern. Er ist beunruhigt von dem, was ihm geschieht, und bildet sich ein, die ganze Welt verschwöre sich gegen ihn, was seine Gedanken und Gefühle sehr negativ beeinflusst. Als Folge lehnt er sich auf und verliert in dieser Auflehnung sein Licht und seine Liebe. All das, weil er sich weigert einzusehen, dass es ihm nicht gelungen ist, die Arbeit auf der dritten Ebene zu erledigen: der Verwirklichung.
Solange man nicht begriffen hat, wie zäh die niedere Natur des Menschen ist und wie viel Achtsamkeit, Demut und Opfergeist die Arbeit an ihr erfordert, ist es nahezu zwecklos, sich auf den spirituellen Weg einzulassen.3 Allzu viele Menschen glauben, sie würden sich rasch verwandeln, nur weil sie eine spirituelle Lehre gefunden haben. Dem ist leider nicht so. Die Bemeisterung des psychischen Lebens ist sehr viel schwieriger, als sie sich das vorstellen! Natürlich findet man in jedem Menschen diese Fähigkeit der Erneuerung, der Regeneration, der Vergöttlichung, aber das ist ein sehr langsamer Prozess, und was jeder in dieser Inkarnation verwirklichen kann, hängt von der Arbeit ab, die bereits in den vorangegangenen Inkarnationen begonnen wurde.4
Für denjenigen, der sich der Schwierigkeiten nicht bewusst ist, auf die man unweigerlich im spirituellen Leben treffen wird, ist es unmöglich, Fortschritte zu machen, und noch unmöglicher ist es, den anderen zu helfen: Angesichts der wenigen Erfolge wird er sehr schnell mutlos werden. Ein spiritueller Lehrer oder Führer erklärt und wiederholt, er hat den Eindruck, verstanden worden zu sein; aber dann tun diejenigen, die behaupten, ihm zu folgen, genau das Gegenteil von dem, was sie doch anscheinend verstanden haben. Wie soll man da mit der Zeit nicht müde, entmutigt und sogar verärgert sein? Doch die Eigenschaften eines Lehrers sind Beständigkeit, Geduld, Nachsicht.
Diese Beständigkeit, diese Geduld, diese Nachsicht sind unverzichtbar; es ist die Sonne die das Vorbild gibt.5 Deshalb muss ein spiritueller Führer so wie die Sonne sein Licht geben, und dann tun diejenigen, die er erhellt hat, ihr Möglichstes.
Jeden Tag betrachte ich die Sonne und ich sehe, dass sie sich nicht entrüstet, dass sie sich nicht verdunkelt, dass sie nicht den Mut verliert unter dem Vorwand, die Menschen wüssten ihr Licht nicht zu schätzen und nicht zu nutzen. Also sage ich mir, dass auch ich mich weder entrüsten noch verdunkeln noch den Mut verlieren sollte.
Keiner braucht mir zu erklären, wie schwierig es ist, den Menschen dabei zu helfen, sich zu bessern. Selbst wenn sie sich seine Schüler nennen, glauben sie oft, besser zu wissen als ihr Meister, was gut für sie ist. Sie wollen ihre Erfahrungen machen und sie tun es. Einige Zeit später, wenn sie vom Leben ordentlich hart angefasst und enttäuscht worden sind, verstehen sie endlich. Von dem Moment an wollen sie auch die anderen von diesem neu erlangten Wissen profitieren lassen; aber warum sollten die anderen auf sie hören? Auch sie wollen ihre Erfahrungen machen. Und darum kommt die Weisheit, welche die einen auf Kosten so vieler Anstrengungen gewonnen haben, so selten anderen zugute.
Die Menschen müssen vom Leben erst ordentlich gepiekt und gebissen werden, damit sie anerkennen, dass die Weisen Recht haben. Erst dann sind sie ihrerseits weise geworden. Doch es sind nicht besonders viele, die danach streben, von ihrer Weisheit zu profitieren. Und darum wiederholt jede neue Generation die Irrtümer der vorangegangenen. Das gilt für Individuen genauso wie für Gemeinschaften. Wer will schon wirklich Lehren aus der Geschichte ziehen?
Ein Licht ist euch gegeben, es erhellt euren Weg. Entschließt euch voranzuschreiten. Jesus sagte: »Noch eine kleine Zeit ist das Licht unter euch; wandelt, während ihr das Licht habt, damit nicht Finsternis euch ergreife« (Jh 12,35). Dieses Licht, von dem Jesus spricht, ist natürlich nicht das Licht des Tages im Gegensatz zur Dunkelheit der Nacht; es steht für die guten inneren und äußeren Bedingungen, die uns gegeben sind, um voranzuschreiten.
Wenn die Menschen in Schwierigkeiten und Prüfungen stecken, werden sich viele plötzlich ihrer Unwissenheit und ihrer Schwächen bewusst und sagen sich: »Wenn ich gewusst hätte...!« Sie hätten wissen können, denn alle Bedingungen zu lernen, sich zu üben und sich zu stärken, wurden ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben; aber sie haben diese guten Bedingungen außer Acht gelassen. Das spirituelle Leben erfordert Anstrengungen, doch andere Aktivitäten, andere Beschäftigungen erschienen ihnen in dem Moment wichtiger. »Und ist es jetzt zu spät?« fragt ihr. Nein, es ist niemals zu spät, der Weg des Lebens ist lang, unendlich lang, und andere Bedingungen werden euch in diesem oder einem anderen Dasein gegeben sein. Bemüht euch daher, sie nicht vorübergehen zu lassen, damit ihr euch nicht einmal mehr sagen müsst: »Wenn ich gewusst hätte...!
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Anmerkungen
1 Siehe auch Band 207 der Reihe Izvor »Was ist ein geistiger Meister?«, Kap. VII: »Erwartet von einem Meister nur das Licht«.
2 Siehe auch Band 221 der Reihe Izvor »Alchimistische Arbeit und Vollkommenheit«, Kap. VI: »Die Klischees«.
3 Siehe auch Band 213 der Reihe Izvor »Die Menschliche und göttliche Natur in uns«.
4 Siehe auch Band 241 der Reihe Izvor »Der Stein der Weisen – Von den Evangelien zur Alchimie«, Kap. XI: »Die Regeneration der Materie: das Kreuz und der Tiegel«.
5 Siehe auch Band 235 der Reihe Izvor »Im Geist und in der Wahrheit«, Kap. XVI: »Die Wahrheit der Sonne: Das Geben«.
Kapitel 2: »Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.« (Mt 6,3)
Im dreidimensionalen Raum, in dem wir uns täglich bewegen, haben wir die Möglichkeit, vorwärts und rückwärts zu gehen, nach oben und nach unten, nach rechts und nach links. Das sind sechs Richtungen, die man durch drei Linien darstellen kann, die sich im rechten Winkel kreuzen. Diese sechs Richtungen des Raumes sind in Beziehung zu setzen mit den drei Prinzipien, die dem Menschen zugrunde liegen. Die Richtung von vorne nach hinten ist die des Intellekts; die Richtung von oben nach unten ist die des Herzens; die Richtung von rechts nach links ist die des Willens. Und da der Wille Handlungen hervorbringt, kann man sagen, dass unsere Aktivität sich nach den beiden Seiten hin entfaltet.
Die meisten Traditionen verbinden symbolisch gesehen die rechte Seite mit dem Guten und die linke Seite mit dem Bösen. Wenn man von jemandem sagt, er folge dem linken Weg, (Formulierung aus dem französischen Sprachgebrauch) bedeutet das, dass er sich schlecht verhält. Diese Symbolik von der rechten und der linken Seite finden wir in den Worten Jesu wieder: »Wenn du Almosen gibst, lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.« Die Hände handeln unter dem Einfluss des Willens. Die linke Hand und die rechte Hand sind Ausdruck der menschlichen Aktivität.
Sei es nun vor oder zurück, nach oben oder unten, nach rechts oder links, in Wirklichkeit sind alle Richtungen gut, sofern sie mit Umsicht eingeschlagen werden, und die Gegensätze, die man zwischen ihnen errichtet hat, haben nur eine symbolische Bedeutung. Die symbolische Sprache ist die Mathematik der Ideen, sie fasst in einigen sehr einfachen Prinzipien die vielschichtigsten Wirklichkeiten zusammen.
Was also wollte Jesus sagen, als er empfahl, die linke Hand in Unwissenheit darüber zu lassen, was die rechte Hand tut? Wenn wir diese Worte wörtlich nähmen, würde das bedeuten, dass allein die rechte Hand in ihren Aktivitäten gerechtfertigt wäre. Doch wir können nicht viel tun mit nur einer Hand. Im praktischen Leben sind wir uns bewusst, wie sehr linke und rechte Hand sich ergänzen und in Harmonie zusammenwirken. Der Gebrauch einer einzigen Hand reicht für die meisten Arbeiten nicht aus, und man kann nicht sagen, dass die rechte Hand wichtiger sei als die linke, auch wenn man ihr in der Erziehung für gewöhnlich den Vorrang gibt. Man glaubte lange Zeit, die linkshändigen Kinder korrigieren zu müssen, indem man sie zwang, mit rechts zu schreiben und zu malen, aber das war ein Irrtum. Die Mehrheit der Menschen bedient sich von Natur aus der rechten Hand, aber das ist kein Grund, die Linkshänder zu behindern.
Gott hat den Menschen mit großer Weisheit geschaffen, und da er ihm zwei Hände gegeben hat, wie hätte Jesus da raten können, sie zu trennen? Sicher, ihr werdet mir entgegnen, die Leute seien nicht so dumm, die Worte Jesu wörtlich zu nehmen. Einverstanden, sie nehmen sie nicht wörtlich, aber wie nehmen sie diese sonst?
Manche haben in den beiden Händen die Versinnbildlichung von Intellekt und Herz gesehen, und sie haben daraus gefolgert, dass sich weder der Intellekt in die Angelegenheiten des Herzens einmischen darf noch das Herz in die Angelegenheiten des Intellekts. Nein, das ist nicht die richtige Interpretation. Das Herz mit seinen Wünschen, seinen Leidenschaften, seinen Launen, kann sich Plänen widersetzen, die weise und vernünftig sind, und der Intellekt muss eingreifen, um das Herz aufzuklären. Und was den Intellekt angeht, so kann er kalt sein, trocken, starr, dann muss auch das Herz sein Wort mitreden, um ihn zu erwärmen, ihn zu besänftigen und versöhnlicher zu stimmen.
In Wirklichkeit repräsentieren diese rechte und diese linke Hand, die Jesus erwähnt, die beiden Naturen des Menschen: seine höhere und seine niedere Natur.1 Wenn die rechte Hand, die höhere Natur, handeln will, »Almosen geben« will (»Gutes tun« im weitesten Sinne), muss sie umsichtig vorgehen, damit die linke Hand, die niedere Natur, ihr nicht Hindernisse in den Weg legt. Das ist ein strategisches Prinzip: Es ist wohl niemals vorgekommen, dass Generäle überall ihre Schlachtpläne verteilten, die sie gerade vorbereiteten. Die rechte Hand soll nicht nur Intelligenz beweisen, um die besten Pläne auszuarbeiten, sondern sie soll diese auch wachsam vor den Manövern der linken Hand schützen.