Dem ruhigen Geist ist alles möglich - Harald-Alexander Korp - E-Book

Dem ruhigen Geist ist alles möglich E-Book

Harald-Alexander Korp

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Beschreibung

»Das Göttliche wohnt in uns. Leider sind wir so selten zu Hause.« (nach Meister Eckhart)

Würde Meister Eckhart heute leben, dann wäre er nicht Mönch, sondern Coach, und wohl ziemlich erfolgreich. Denn der Prediger aus dem 14. Jahrhundert fand in seiner Zeit Antworten auf die Seelennot der Menschen, die so aktuell sind, als wären sie für das Heute gemacht. Harald-Alexander Korp übersetzt Eckharts Lehre in die Gegenwart. Er zeigt, wie sie sich mit den mystischen Traditionen aus Asien ebenso verbindet wie mit modernen Konzepten kognitiver Therapien, dabei aber auf eine ganze eigene Weise zu einem neuen Vertrauen ins Leben führt. Ein immens praktisches Buch für alle, die sich nach spiritueller Tiefe und Inspirationen für den Alltag sehnen.

  • Den Seelencoach entdecken – Begegnungen mit Meister Eckhart
  • Bei einem Meister des Lebens in die Schule gehen
  • Anleitungen für ein wacheres Dasein im Hier und Jetzt
  • Mit zahlreichen Impulsen für eine offene spirituelle Praxis

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Seitenzahl: 296

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Harald-Alexander Korp

Dem ruhigen Geist

ist alles möglich

Mit Meister Eckhart lernen,

im Hier und Jetzt zu sein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

ISBN 978-3-641-24065-3V003

www.gtvh.de

INHALT

NA NU?

Mein Eckhart – dein Eckhart?

Ein Meister – viele Interpretationen

Eckhart heute

Innen ist was los

Gott ist Zwei

NU ABER! – ECKHARTS WELT

Ein Wirrkopf will nach Avignon

Kirche mit Doppelspitze – Papst im Exil

Brüder und Schwestern des freien Geistes – Kirche, nein danke

Beginen und Begarden – liebe und tue, was du willst

Mechthild von Magdeburg – im Bett mit Jesus

Margarete Porète – alles Esel

Auf einen Tee beim Papst – der Prozess

Eckhart – ein Mystiker?

IM NU – ECKHARTS WEG

ERKENNTNISWEG

Leiden – das schnellste Tier

Der Mensch – Tür mit Rahmen

Das bin Ich – vorübergehend

Gott ist das, was ich daraus mache

Gott – Alles und Nichts

Gott grünt und blüht

Der innere Schatz – Seelenfünklein entzünden

Liebe kennt (k)ein Warum

Durchgekitzelt vor Freude

Armut ist Reichtum

DER ÜBUNGSWEG

Dankbarkeit − ein Gebet

Stille – ich bin dann mal da!

Kognitionen – denk mal an

Unablässiges Beten – am Klang entlang

Bilder als Kraftquelle – schau mal an

Gott erfahren – das ist der Gipfel

Und nu? – wie üben?

Spirituelle Krisen – selten ohne

DER ETHIKWEG

Grund genug für einen Grund

Heute schon gelassen?

Erich Fromm − mit Eckhart in eine bessere Welt?

NU DENN! EIN LICHT, VIELE FARBEN – ECKHART UND ANDERE RELIGIONEN

Buddha und Eckhart – Weg der Mitte

Einsichten für gute Aussichten

Buddha-Natur – leer sein, nicht leer fühlen

Mitfreude – sich an der Freude freuen

Ibn Arabi – Poet und Wissenschaftler

UND NU? – ECKHART HEUTE

Eckhart im Cyberspace

DANK

ANMERKUNGEN

NA NU?

Mein Eckhart – dein Eckhart?

Ein heißer Sommertag, wir schwitzen im Berliner Kloster Meister Eckhart, in dem, wie an jedem zweiten Sonntagabend eines Monats, der Meister Eckhart-Gesprächskreis tagt. Zwölf tapfere Menschen starren auf das fotokopierte Traktat und rätseln, was gemeint sein könnte. Heute ist ein schwieriger Text dran, in dem Meister Eckhart sein Gottesbild beschreibt. Nur Johannes grinst verschmitzt. Er trägt heute keinen Talar wie bei den Andachten, sondern ein hellbraunes Hemd, das über seinem wohlgenährten Bauch etwas spannt, und kratzt sich am Kopf mit dem weißen, kurz geschnittenen Haar. Mit Anfang fünfzig hat er seinen Dienst als Priester quittiert und nun gemeinsam mit einem anderen Mönch dieses Kloster gegründet, nicht gerade zur Begeisterung des Erzbistums Berlin und dessen Bischof. Offensichtlich ist Johannes ein Dickkopf, aber das passt ja bestens zu Meister Eckhart.

»Gott ist weder gut noch vollkommen«, liest er aus einer Predigt, »wenn ich Gott gut nenne, so sage ich etwas ebenso Verkehrtes, als wenn ich das Weiße schwarz nennen würde.«

Schweigen in der Runde. Dieser Satz fordert mich echt heraus, andere grübeln ebenfalls. Darf ich denn Gott nicht gut nennen? Ich bin neu im Kloster Meister Eckhart und ähnlich seltsam, wie mir dieser Satz erscheint, so auch der Ort. Ein Kloster habe ich mir irgendwie anders vorgestellt, als altes Gemäuer mit Kreuzgängen. Stattdessen sitze ich jetzt in einem Eckhaus aus rotem Backstein, vielleicht zwanzig Jahre alt, an einer stark befahrenen Kreuzung, mitten in der Hauptstadt. Draußen rumpeln Lastwagen, knattern Motorräder, krakeelen Kinder und von irgendwo her erklingt türkische Musik. Bis vor einigen Monaten war das die Pizzeria Dolce Vita. Im Erdgeschoss sind Bioladen und Café beheimatet. Das Kloster dient außerdem zwei Geistlichen als Wohnstätte. Im ersten Stock, in dem wir gerade tagen, finden sich Liegestühle und Matten für Zen-Meditation. Hier treffen Menschen verschiedenster Kulturen, Nationalitäten und Religionen zusammen, um über Meister Eckhart zu diskutieren und einen Weg in seiner Tradition zu gehen.

Heute, über zehn Jahre später, ist mir klar, dass ich diesem Ort meine Leidenschaft für die Lehre Meister Eckharts verdanke. Ich bin protestantisch getauft, meine religiösen Wurzeln liegen in der jüdisch-christlichen Tradition. Zwar habe ich Philosophie, evangelische Theologie und Religionswissenschaften studiert, dennoch wenig über diesen faszinierenden Theologen und seinen außergewöhnlichen spirituellen Weg erfahren. In diesem Großstadtkloster standen nun nicht nur Eckharts Predigten, Bücher und Texte im Mittelpunkt – Mönche und Besucher richteten ihr Leben nach seiner Theologie aus und übten sich in täglicher Praxis, die sich aus seinen Schriften ableiten lässt. Für mich als Religionswissenschaftler und Achtsamkeitstrainer bietet Eckharts Lehre heute die inspirierendsten Texte, die ich kenne. Worte, die Mut machen, die von der Freude der Begegnung mit dem Seinsgrund künden – und doch so bodenständig und klug sind. Immer wieder erlebe ich, wie seine lebensnahe Philosophie in meinem Alltag und in dem vieler Menschen nährend und beglückend wirkt.

»Gott ist doch gut. Sorry, aber ich verstehe nicht, was Meister Eckhart uns damit sagen will«, meint eine Frau geradezu empört. Sie stellt sich als Bettina vor und Mutter zweier Kinder. Neben ihrem Stuhl liegt ein roter Motorradhelm.

Was meinte Eckhart also damit, dass man Gott nicht gut und vollkommen nennen solle? Ist Gott denn nicht gut?

Alle starren auf Bruder Johannes. Der lächelt milde und freut sich offensichtlich über die Irritationen. »Ja, ja, wieder so ein Kalenderspruch von unserem Meister«, meint er ironisch.

Erneut meldet sich Bettina: »Wenn es verkehrt sein soll, Gott als gut oder vollkommen zu bezeichnen, wozu brauche ich dann überhaupt noch den Begriff Gott?«

Gute Frage, denke ich. Mir fällt der Witz ein, in dem ein Flugzeug in Turbulenzen gerät und ein Pfarrer einer älteren Dame auf dem Nebensitz rät, auf Gott zu vertrauen. Daraufhin reißt sie die Augen auf und ruft: Ist es denn so schlimm? Nun ist Meister Eckhart nicht unbedingt wegen seines Witzes berühmt geworden. Doch wie wir sehen werden, offenbart sich in seinen Texten immer wieder ein gewitzter Humor, eine Freude am Lachen und der Lust am Sein.

»Das, was er da sagt, beweist ja gerade, dass er ein Mystiker ist«, antwortete Paul.

Ich kenne ihn aus der Zen-Meditationsgruppe. Er arbeitet als Elektroinstallateur in einer kleinen Firma und fand nach einer schmerzvollen Trennung von seiner Freundin in diese Gruppe. Genau wie mich faszinieren ihn Eckharts Worte, fühlt er sich wohl in der Gemeinschaft. Das, was hier gelesen und geübt wird, hilft ihm, mit seiner Trauer besser klarzukommen.

Er fährt fort: »Gott mit irgendwas zu bezeichnen, also zum Beispiel mit gut und vollkommen, schließt ja gleichzeitig anderes aus. Dann dürfte er nicht böse oder unvollkommen sein.«

»Oder aufs Klo gehen«, flüstert jemand.

Einige kichern.

»Für mich bleibt Gott ein Geheimnis.«

»Finde ich auch«, stimmt Bettina zu. »Man kann Gott erfahren, nicht nur darüber reden. Aber wie geht das?«

Alle gucken zu Johannes, der erklärt: »Eckhart sagt: Gott ist weder dies noch das. Und trotzdem etwas.«

Schweigen in der Runde. Ich empfinde ein neugieriges Staunen, wenn ich Eckharts Worte höre oder lese.

»Aber ist das wirklich so?«, setzt Johannes noch eins obendrauf und schaut in die Runde, als hätte er von all dem keinen blassen Schimmer. Er liebt es, die nach Weisheiten gierenden Suchenden mit scheinbar naiven Fragen herauszufordern. Für mich ist er so eine Art Sokrates von Berlin, der den Menschen durch Fragen zu Erkenntnis und Erfahrung verhilft. Das imponiert mir. Keine vorgefertigten Floskeln, wie man zu glauben habe, keine Bibelworte, die man schlucken muss. Nein, eher Fragen, Rätsel – und Praxis.

Für die einen ist Eckhart ein Denker, der seiner Zuhörerschaft eigentlich eine ganz einfache und lebensnahe Botschaft nahebringen möchte. Für die anderen bleiben seine Person und Lehre ein Buch mit sieben Siegeln. Kaum jemanden lassen seine Worte unberührt.

Bettina reißt der Geduldsfaden. »Mir ist das alles viel zu abgehoben. Ich würde gerne wissen, was Meister Eckhart den Menschen heute noch zu bieten hat. Ich bin Krankenschwester auf einer Intensivstation und meistens total im Stress. Meine Tochter pubertiert und mein Ältester will die Schule abbrechen.«

Paul antwortet: »Meister Eckhart hat gesagt, Gott solle man an allen Orten und auch auf der Straße haben!«

»Ja, und was heißt das jetzt?«, fragt Bettina.

»Na ja, Eckhart ermutigt uns, nach einem besonderen Bewusstseinszustand zu streben. Also nicht alles zu bewerten, sondern in den Moment einzutauchen. Und dabei eine Seins-Erfahrung zu machen. Man kann auch sagen: eine Verbindung zum Göttlichen zu erleben, die uns trägt. Bei mir stimmt das jedenfalls.«

»Und dass man nicht immer nach dem Nutzen suchen soll. Eckhart ist nun mal kein Wellness-Guru, der uns Erleuchtung in fünf Minuten verspricht.«

»Ist mir schon klar!«, brummt Bettina.

Johannes liest vor: »Nimm dich selbst wahr und wo du dich findest, da lass von dir ab. Das ist das Allerbeste.« Dann wendet er sich an Bettina. »Er empfiehlt, sich erst mal darin zu üben, sich selbst wahrzunehmen. Mit allen Ängsten, Hoffnungen, Träumen, Gedanken – und Fehlern. Und sich anzunehmen. Und sich dann von sich selbst, von seinem Ego zu lösen. Das ist praktische Lebenshilfe.«

»Das ist echt nichts Neues.«

»Krieg das erst mal hin und bleib dabei«, meint Paul.

»Wie soll das denn konkret gehen? Ich habe so gut wie überhaupt keine Zeit.«

Paul antwortet: »Halte einfach mal inne, nimm drei Atemzüge und frag dich: Was fühle ich gerade? Klingt buddhistisch: sich leer machen, um die Buddha-Natur zu erfahren.«

»Und wie bei den Sufis«, ergänzt jemand. »Bei denen heißt es: Stirb, bevor du stirbst. Lass dein Ego sterben, um Raum für Gott zu machen.«

Johannes lächelt. Ich denke, ja, das ist spannend – und Eckhart, ein wahrlich harter Brocken, wie er sich selbst nannte. Aber irgendwie genial. Er deutet Begriffe und Geschichten aus der Bibel, die man zu kennen meint, völlig neu. Kein Wunder, dass er richtig Ärger mit den Bischöfen und dem Papst bekam, seine Lehre als Häresie, als Irrlehre verschrien war. Dabei ist seine Lehre so einleuchtend und menschennah. Eigentlich komisch, dass seine Werke bis heute auf dem Index der katholischen Kirche stehen und es untersagt ist, einige seiner Thesen in der Messe zu lesen.

Nach einer hitzigen Diskussion begeben wir uns in die Stille, so wie Eckhart und Hunderte andere spirituelle Lehrer* es empfehlen. Für mich bedeutet Eckhart lebensnahe, alltägliche Unterstützung. Er und sein Werk erinnern mich an einen Laib Vollkornbrot mit hart gebackener Kruste und duftendem, weichen Teig innen. Man muss wirklich kräftig reinbeißen und darauf herumkauen. Aber das Brot hat einen hohen Nährwert, gibt Kraft, sättigt und schmeckt herzhaft. Und jeder kann dieses Brot anders genießen: Der eine tunkt es in den Kaffee, der andere schmiert Butter und Honig darauf, der Dritte nimmt ein Stück Käse dazu. Damit ist gemeint, dass sich, wie wir noch sehen werden, andere religiöse, philosophische oder psychologische Strömungen gut mit Eckharts Lehre verbinden lassen.

Mir kommt einer der berühmtesten Sätze in den Sinn, die er über sich gesagt hat:

»Ich bin mehr Lebemeister als Lesemeister.«1

Meister Eckhart

Als Prediger des 14. Jahrhunderts sprach und schrieb Eckhart natürlich in der damaligen Sprache. Sie erscheint uns heute fremdartig. Er benutzte Wörter, die wir nicht mehr kennen, die schwer verständlich sind und einiges Kopfzerbrechen hervorrufen. Wir müssen sie in die Sprache unserer Zeit übersetzen, was oft schwierig ist. Eckhart wird »Meister« genannt, weil er den Titel »Magister« trug. Ein Magister war zu Eckharts Zeiten so etwas wie heute ein Professor. Man kann das Wort mit »Lehrer« oder eben mit »Meister« übersetzen.

Damit, dass er »mehr Lebemeister« sei, meinte Eckhart, dass er die Menschen zwar auch schlauer machen wolle, wie »Lesemeister« es eben tun, ihm aber viel mehr daran gelegen sei, Menschen geistliche und spirituelle Hilfe für den Alltag zu geben. Er verstand sich als Lehrer für die Meisterschaft im Leben, in jedem Moment des Lebens. Er zeigt einen Weg auf, wie wir präsenter und glücklicher werden können im Beruf, mit Familie und Freunden, in Freude und Trauer, Gesundheit und Krankheit. Obwohl er Hochschullehrer war und zweifellos einer der größten Philosophen seiner Zeit, beharrte er darauf, dass sich Glaube und Philosophie im Alltag anwenden lassen müssen.

MOTIVATIONS-CHECK

Halten Sie kurz inne und fragen Sie sich:

•Was erwarte ich von diesem Buch?•Was erwarte ich von der Lehre Meister Eckharts?•Wünsche ich mir einen ruhigen Geist und Seelenruhe?•Wünsche ich mir eine Seins- bzw. Gotteserfahrung?

Ein Beispiel: Sie haben immer wieder Streit mit jemand. Was würde sich ändern, wenn Sie einen ruhigen Geist gefunden haben? Wenn Sie sich an eine Gotteserfahrung erinnern? Würden Sie mit Situationen anders umgehen? Was würden Sie sagen? Was tun?

Ein Meister – viele Interpretationen

Wer heute das Wort »Gott« googelt, kommt auf etwa 140 Millionen Einträge, bei »Jesus« sind es etwa 875 Millionen, bei »Mohammed« 195 Millionen, bei »Buddha« 177 Mil­lionen, bei »Mose« 14 Millionen. Bei Meister Eckhart? 520 Tausend. Immerhin. Für mich ist Meister Eckhart der päpstlichen Kirche um Lichtjahre voraus, auf jeden Fall ein gerühmter Autor theologischer Meisterwerke und einer der einflussreichsten Mystiker im Christentum. Aber wer oder was war er denn wirklich? Dominikaner, Irrlehrer, Philosoph, Theologe, Scholastiker, Ketzer, Begründer einer neuen Kirche, Christ, Pantheist (jemand, der vertritt, dass Gott und die Welt eins sind), Therapeut, Philosoph, Menschenverführer, Mystiker, Marxist? Viele Aussagen über Eckhart und seine Lehren haben einen wahren historischen Kern. Aber welche Interpretationen entspringen eher Motiven und Bedürfnissen der Interpretierenden? Lässt sich das überhaupt trennen? Welche Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen soll Meister Eckhart erfüllen? Diese Fragen finde ich deshalb besonders interessant, weil es ihm darum ging, uns klarzumachen, dass wir uns letztendlich von Vorstellungen lösen werden und lösen müssen. Auch vom Bild eines Meister Eckhart.

Wer ist also dieser »Meister«, von dem sich die Kirche und der Papst angegriffen fühlten? Die Antwort des Philosophen Ludwig Marcuse: »Der stärkste Kopf. Der energischste, radikalste Denker. Ein Aufklärer, für die Kirche viel gefährlicher als Luther.«2 Dagegen meinte ausgerechnet Nikolaus von Kues, Theologe und Philosoph des 15. Jahrhunderts, der sich wie Eckhart mit der mystischen Gotteserfahrung beschäftigte: »Meister Eckharts Werke sind dem Volke unverständlich. Deshalb sind sie nicht öffentlich zur Lektüre anzubieten.«3 Und der bedeutendste Eckhart-­Forscher des 19. Jahrhunderts, der Dominikanerpater Heinrich Denifle, nennt ihn gar einen Wirrkopf. Gelobt wurde der mittelalterliche Theologe dafür von ganz anderer Seite. Alfred Rosenberg, Chefideologe des Nazi-Regimes4, verkündete: »Meister Eckhart ist der größte Apostel des nordischen Abendlandes.« Er wollte ihn für die Ideologie des Dritten Reiches vereinnahmen, für eine Ideologie des erneuerten »Germanentums«. Lehre und Biografie Eckharts sind also ein Teil deutscher Geschichte, und die Zeit, in der er lebte, kannte Entwicklungen, die den heutigen ganz ähnlich sind. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich dramatisch, neue technische Errungenschaften trugen dazu bei, dass Herrscher an die Macht kamen, die einerseits Arbeitsplätze schufen, doch andererseits vor allem an ihrem Gewinn interessiert waren. Die Menschen fühlten sich überfordert, wurden unzufriedener, einige gründeten neue Bewegungen, die die Macht von Kirche und Königen in Frage stellten. Sie vernetzten sich und so entstand beispielsweise die Gemeinschaft der Beginen, die sich selbstverantwortlich eigene Gesetze gaben.

Meister Eckhart wurde im 13. Jahrhundert geboren. In dieser Zeit verlor ein gemeinsamer Feind der Päpste und Könige im Nahen Osten Macht und Einfluss – die Blütezeit des Islam endete. Da der äußere Feind schwächer wurde, konnten sich die Machthaber der verschiedenen christlichen Länder wieder ihren eigenen Interessen zuwenden, wodurch die Konflikte untereinander erneut aufflammten. Korruption, Ämtermissbrauch und Verschwendung blühten.

Immer mehr Menschen lebten unter katastrophalen hygienischen Zuständen in Städten. Es gab kein sauberes Wasser, Müll und Fäkalien landeten auf der Straße. Als Folge suchten Seuchen ganze Landstriche heim und rafften Tausende Menschen dahin. Die Menschen bangten um ihre Gesundheit und ihr Leben.

In dieser Welt gehörte der Mönch Eckhart dem Orden der Dominikaner an und unterlag dem Armuts-, Gehorsams- und Keuschheitsgelübde. Zwar wurde sein unbequemer Geist der Obrigkeit bald ein Dorn im Auge, er sah sich trotzdem als ein eifriger Diener der Kirche.

Predigen gehörte zu den wichtigen Aufgaben des Ordens der Dominikaner, und Eckhart war ein Prediger durch und durch. Er lehrte seine Zuhörer etwas Außerordentliches und zugleich ganz Lebensnahes: Jeder Mensch trage Gottgleiches von Anfang an und immer in sich, müsse es sich nicht verdienen, sondern nur entdecken. Es helfe ihm, das Richtige und den Lebenssinn zu erkennen, Glück und Freude zu erleben, Leid und Mühsal durchzustehen und sich in einer tiefen Verbundenheit aufgehoben zu spüren. Darauf könne der Mensch bauen, sich darauf verlassen und es in jedem Moment des Lebens erfahren.

Was so lebensfreundlich klingt, trug aber ungeheure Sprengkraft ist sich: Denn wer braucht noch einen Papst, wenn Gott in jeder Seele zur Welt kommen kann. Wer braucht noch eine kirchliche Institution, wenn der Mensch in jedem Moment des Lebens aus eigener Kraft mit Gott eins werden kann? Ja, nicht nur das: Welche Berechtigung hat eine Kirche, wenn sie mit ihren Glaubensinhalten diese Seins-Erfahrung sogar behindert – wie Eckhart meint?

Die Quellen zu Meister Eckharts Leben und Schaffen sind zahlreich. Allerdings ist kein Text von ihm im Original erhalten. Seine Predigten und Traktate blieben nur als Ab- oder Mitschriften erhalten. Der älteste Text stammt aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, wurde also noch zu Lebzeiten Eckharts veröffentlicht. Niemand weiß sicher, ob das, was wir als Text von Meister Eckhart lesen, wirklich von ihm stammt oder ihm nur zugeschrieben wird. Dass Eckhart Latein oder Mittelhochdeutsch sprach und schrieb, macht es zusätzlich schwer, ihn heute zu verstehen, weil gerade bei den deutschen Texten die Bedeutungsgehalte mancher Wörter, die wir zu verstehen meinen, zu Eckharts Zeiten ganz andere waren.

Damit muss man leben. Ich sehe darin eine glückliche Fügung, denn Eckhart empfahl ohnehin, eine gesunde Distanz zu allem Gesagten und Geschriebenen zu wahren. Er hielt die völlige Identifikation mit einem Gedanken für einen Irrweg. Abgesehen von den Übersetzungsschwierigkeiten, lassen Eckharts Worte sich auch sonst nicht einfach als Rezept benutzen – zu vieldeutig und widersprüchlich erscheinen sie. Er verweigerte sich einer Machbarkeits­ideologie, die Heilsversprechungen gibt, predigte stattdessen, Eigenverantwortung zu übernehmen. Sinngemäß sagte er: Du kannst dein Leben ändern, wenn du willst und weißt, wie es geht. Gleichzeitig können dich aber Wollen und Wissen auch in eine Sackgasse führen. Deine Suche könnte dich süchtig nach Selbstbespiegelung und Selbstoptimierung machen und dein Ich-Bewusstsein, dein Ego, aufblähen. Dann würdest du der Illusion erliegen, ganz sicher zu wissen, was für dich und andere gut ist.

Die Auffassung, mit Verstand, Fleiß und Disziplin ließe sich alles erreichen, hielt Eckhart für überheblichen Unsinn. Trotzdem sah er in Erkenntnis und Vernunft die Schlüssel für eine tiefe Seinserfahrung. Solche Widersprüche und Rätselhaftigkeit lassen heute manchen an Eckhart verzweifeln. Schon seinen damaligen Zuhörern scheint es nicht anders ergangen zu sein. Meint Eckhart doch:

»Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit.«5

Meister Eckhart

Eine tröstliche Bemerkung, an der mir der darin aufblitzende Witz gefällt. Mögen kluge Reden und Nachdenken noch so wichtig sein, es ist völlig in Ordnung, nicht alles zu verstehen. Schon Sokrates sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Nichtwissen öffnet genau den Raum der Stille, des Staunens und Wunderns, den wir suchen und brauchen. Eckharts Worte fesseln seit Jahrhunderten, weil sie die Erfahrung bestätigen, dass die Wirklichkeit sich ständig widersprüchlich und rätselhaft zeigt und der Mensch meist vergeblich versucht, sie in Ordnung zu bringen.

Wer sich auf Eckharts Universum einlässt, kann reich belohnt werden. Er lehrt uns einen Weg zum inneren Raum des Friedens, der Seelenruhe und Zuversicht, der immer da ist und uns offensteht – nur einen Atemzug entfernt.

ÜBUNG INNEHALTEN

Im Kapitel »Der Übungsweg« (S. 117f) finden Sie zahlreiche Übungen. Ich möchte Ihnen bereits jetzt dringend ans Herz legen, das Innehalten zu üben. Innehalten wird in allen Religionen und psychotherapeutischen Konzepten als wirksam angesehen. Es gibt zahlreiche Varianten, letztlich geht es aber immer um das Gleiche: durch den Atem zurück in den Körper zu gelangen und dadurch Gedanken und Gefühle für einen Moment zur Ruhe zu bringen. Dass das wirkt, ist wissenschaftlich gut belegt. Der Atem begleitet uns, solange wir leben. Er ist immer bei uns. Ein Atemzug ist das Erste, wenn wir auf diese Welt kommen, und das Letzte, wenn wir sterben. Atem ist Ausdruck der Lebenskraft. Sich auf den Atem zu fokussieren ist eine der einfachsten und wirkungsvollsten Praktiken, um in die Stille zu gelangen. Atemübungen sind flexibel. Sie können eine Minute, zehn Minuten oder eine Stunde dauern.

Üben Sie am besten regelmäßig, so gewöhnen Sie sich leichter an, im Alltag innezuhalten. Es ist kein großes Ding und trotzdem so wirkungsvoll. Also einfach still werden und bewusst ein- und ausatmen. Ich habe gute Erfahrung mit drei Atemzügen gemacht. Aber auch ein ruhiger, bewusster Atemzug ist besser, als in der Unruhe zu bleiben.

Jeder Tag bietet unzählige Gelegenheiten innezuhalten: vor, während, nach dem Essen, am Schreibtisch, in einem Meeting, beim Einkaufen, in der U-Bahn, bei einem Gespräch, im Auto, im Café, beim Sport, während Sie spazieren gehen und natürlich während Sie dieses Buch lesen.

Der Geist beruhigt sich noch mehr, wenn Sie

•die Hand auf den Bauch legen,•die Augen schließen,•dabei lächeln.

Die Augen schließen wirkt in der Öffentlichkeit etwas seltsam; lassen Sie den Blick stattdessen umherschweifen oder richten Sie ihn auf einen Punkt.

Wenn Gedanken und Gefühle auftauchen, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit sanft zurück zum Atem. Wenn Sie in der vertrauten Schlange am Supermarkt oder an einer Ampel warten, befinden Sie sich eh im Stillstand – ein hervorragender Moment für eine Atemübung. Ich freue mich mittlerweile fast jedes Mal, wenn die Ampel endlich mal rot zeigt und ich bewusst drei Atemzüge genießen darf.

Eckhart heute

Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte:

Ein Fischer legt mit seinem kleinen Boot an und setzt sich an den Strand. Da kommt ein Mann vorbei, der sich als Controller und Projektplaner vorstellt.

»Warum fischen Sie denn nicht mehr, es ist doch noch recht früh?«

»Ich möchte noch mit meiner Familie zusammen sein, mich mit ein paar Freunden treffen, Wein trinken und ein bisschen Musik spielen. Dann möchte ich mich noch ein bisschen hinsetzen, den Tag genießen und einfach nichts tun.«

Daraufhin sagt der Projektplaner: »Wenn Sie ein paar Stunden mehr arbeiten würden, könnten sie mehr Fische fangen, sie verkaufen, das Geld sparen und sich davon nach einiger Zeit ein größeres Boot kaufen. Mit dem größeren Boot könnten sie noch mehr Fische fangen. Und sie könnten diese größere Menge direkt über den Großhändler für mehr Geld verkaufen. Sie würden Profite machen und irgendwann selbst eine Fabrik kaufen. Nach einiger Zeit könnten sie dann sogar an die Börse gehen und ihre Firma verkaufen. Dann wären sie Millionär und könnten das Leben genießen.«

Der Fischer überlegt: »Wie lange würde das dauern?«

»15 -20 Jahre, wenn sie Glück haben.«

»Und dann?«

»Dann könnten sie den Tag mit ihrer Familie verbringen, den Abend mit ihren Freunden zusammen sein, Musik machen, Wein trinken und auch einfach mal nichts tun. Sie hätten auch noch Zeit, ein bisschen fischen zu gehen.«

Da lacht der Fischer: »Das ist doch genau das, was ich jetzt gerade tue.«6 Diese Geschichte zeigt, warum es sich bis heute lohnt, Meister Eckharts Texte zu befragen. Eckhart will uns die Augen dafür öffnen, dass wir das, was wir suchen, oft längst haben. Vielleicht ist es unsichtbar, verschüttet oder sieht anders aus, als wir es uns wünschen – dann wartet es eben darauf, entdeckt zu werden. Wenn wir uns – anstatt irgendetwas außerhalb von uns zu suchen – nach innen wenden, erinnern wir uns an das, was wir schon immer waren und sind. In der Meditation gelingt das leicht. Meditiere ich, fühle ich mich immer wieder tief berührt von etwas, das sich wie Heimat anfühlt, ja wie ein universales Nach-Hause-Kommen. Eckhart nennt das in jedem Menschen und jedem Wesen angelegte Zuhause den »Seelengrund«, für mich ein passendes Sprachbild. Ich finde zurück in den Urgrund des Seins.

Innen ist was los

Eckhart leitet dazu an, die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und zu erforschen. Damit liegt er ganz im Trend der Jetztzeit, die vor allem auf dem Hintergrund östlicher Philosophie wie Yoga oder den Lehren des Buddhismus Wege der inneren Sammlung wiederentdeckt hat. Auch im Christentum existieren solche Traditionen und Übungen, etwa bei den Urchristen und Wüstenvätern. Die entsprechende Haltung dem Leben gegenüber ging allerdings verloren. Eckhart wies vor siebenhundert Jahre wieder darauf hin, wie hilfreich es sei, die Wahrnehmung zu schulen, indem man Geist und Herz öffnet für alles, was da ist. Wer die Aufmerksamkeit auf das innere Erleben lenke, entwickle einen friedvollen Geist und werde seelisch gesunden.

Durch den Blick nach innen gelangt der Mensch in das Hier und Jetzt. Eckhart nennt es das »Nu«.

»Immer ist die wichtigste Stunde die gegenwärtige … Nehme ich aber ein Nu, das begreift alle Zeit in sich7 … Gott wirkt allzeit in einem Nu in der Ewigkeit.«8

Meister Eckhart

Mit dem Nu ist das »Nun« gemeint, der jetzige Moment, der Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist zeitlich nicht messbar, denn gemessene Zeit ist ein Zeitraum von einem Augenblick zum nächsten. Von daher kann Eckhart sagen, dass im Nu zugleich das Jetzt und alle Zeit enthalten sind. Das entspricht der Ewigkeit, denn auch sie ist zeitlos. Ewigkeit umfasst nämlich keinen ewigen Zeitraum, sondern ist eben kein Zeit-Raum. Wenn uns das Jetzt bewusst wird, ist es längst Vergangenheit. Diesen Moment nennt Eckhart die gegenwärtige Stunde, obwohl der Moment weder eine Stunde dauert, noch überhaupt Zeit vergeht. Er hält die gegenwärtige Stunde für die wichtigste. Warum? Und wie gelangt man ins Nu?

»Nimm dich selbst wahr und wo du dich findest, da lass von dir ab. Das ist das Allerbeste.«9

Meister Eckhart

Eckharts Weg beginnt mit dem durch unsere Sinne vermittelten rationalen Erfassen der Welt. Das ist etwas ganz Gewöhnliches und Alltägliches: Wir sehen, hören, schmecken und fühlen unser In-der-Welt-Sein, indem wir sinnliche Eindrücke rational deuten. Gerade darin liegt aber ein Problem: Das rationale deuten der sinnlichen Eindrücke ist in der Regel sofort auch verbunden mit einer Beurteilung des Wahrgenommenen. Wir sehen nicht nur und deuten den Sinneseindruck als »Baum«, sondern wir beurteilen auch sogleich: »Ich sehe einen Baum, der einmal beschnitten werden müsste«.

Dieses Urteil bindet uns sogleich an das Wahrgenommene. Das So-Sein des Baumes wird hier sogleich mit einer Aktivität, die mich in eine Beziehung zu dem Baum setzt, verbunden. Ich bleibe als Beobachter nicht frei im Gegenüber zum Wahrgenommenen. Eckhart geht es im zweiten Schritt deshalb darum, die Wahrnehmung ohne Beurteilung zu schulen. Wer sich des Urteils enthält bleibt frei von den Dingen. Er oder sie kann die Dinge loslassen.

Und genau das ist der dritte Schritt: Die Schulung des beurteilungslosen Wahrnehmens geht einher mit dem Freiwerden von den Dingen. Ich lasse die Dinge los, oder besser noch: Die Dinge lassen mich los. Dabei müssen »Dinge« nicht nur Gegenstände sein. Auch Eindrücke, die andere Menschen auf mich machen, oder Emotionen, die ich spüre, können gemeint sein.

Wenn es gelingt, auf diese Weise »der Dinge ledig« zu werden, wie Eckhart sagt, dann ist, um mit Eckhart zu sprechen, die Seele bereit, für die »Gottesgeburt« in ihr, für die Erfahrung des Einseins mit dem Göttlichen. Dies ist der vierte Schritt. Für Eckhart kommt in dieser Erfahrung zum Menschen nichts hinzu, er wird auch nicht von außen irgendwie ergriffen. Vielmehr geht Eckhart davon aus, dass in der aller Dinge »ledig« gewordenen Seele das »Seelenfünklein« nun sozusagen frei leuchten kann. Dieses »Seelenfünklein« ist aber die nach Eckhart immer schon in der Seele existierende Präsenz des Göttlichen, die durch die »Dinge« verstellt wird. Ist die Seele frei von allen Dingen, dann erfolgt sozusagen der »Durchbruch«: Die Gottesgeburt in der Seele.

ECKHARTSCHER VIERKLANG

Zusammengefasst geht es bei Eckhart also um den folgenden Vierklang:

1. Eckharts Weg beginnt mit der alltäglichen sinnlich vermittelten und rational gedeuteten Wahrnehmung der Welt (Vernunft).

2. Im zweiten Schritt geht es darum zu lernen, wahrzunehmen, ohne sogleich zu urteilen (Wahrnehmen).

3. Je mehr dies gelingt, umso freier werden Menschen von den Dingen. Der Mensch gelangt zu einem In-der-Welt-Sein, ohne von den Dingen besessen zu werden (Sich lösen).

4. Wenn der Mensch schließlich »aller Dinge ledig« ist, kann sich die Gottesgeburt in der Seele ereignen (Gottesgeburt).

Wichtig ist es, sich diesen Vierklang tatsächlich als Klang vorzustellen. Auf dem spirituellen Weg, den ein Mensch geht, sind diese vier Schritte darum keine Stufen, die eine nach der anderen zu erklimmen wären, sondern Qualitäten einer Bewegung oder besser: Töne einer Harmonie, die zugleich gespielt werden. Und wenn es gelingt, die ersten drei Töne ganz rein zu spielen, dann wird dem Spielenden, vielleicht, der vierte Ton geschenkt.

Eckhart selbst wählt ein anderes Bild. Er vergleicht die Innenwelt des Menschen mit einem Krug: Füllt man ihn bis zum Rand, passt nichts mehr hinein. Damit ich aber den Krug leeren kann, muss ich erst einmal erkennen, dass der Krug gefüllt ist. Erst dann kann das beginnen, was Eckhart das »sich Abscheiden« nennt. Es ist der Prozess, in welchem man sich von Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen löst bzw. sie loslässt bzw. von ihnen losgelassen wird. Ist der Krug, gemeint ist die Seele, leer, d.h. frei von Bildern, findet sich darin ihr eigentlicher Inhalt.

Sich selbst wahrzunehmen und im Nu zu verweilen, ähnelt dem, was heute als Üben der Achtsamkeit bezeichnet wird. Buddhismus und einige psychologische Therapieformen betrachten Achtsamkeit als erlernbare Kompetenz. Auch das Christentum kennt Übungen der Achtsamkeit. Sie gehörten zur der Zeit Meister Eckharts vor allem in den Klöstern zur üblichen spirituellen Praxis. Man wusste bereits, dass das Verweilen im Hier und Jetzt mit einem besonderen Bewusstseinszustand, mit Gelassenheit und tiefem Seelenfriedens einhergeht. So schafft Achtsamkeit Voraussetzungen für ein gelungenes, in einem Urgrund ruhendes Leben. Und das Verweilen in diesem Seelengrund verhilft uns – im Glück und im Leiden – in Kontakt mit unserer angeborenen Freude zu kommen.

Gott ist Zwei

In der »abgeschiedenen« Seele – im leeren Krug – ist nun Raum für etwas, das Eckhart die »Gottesgeburt« nennt. Der Begriff fußt auf einem neuartigen, geradezu revolutionären Gottesbild, das Eckhart in biblischen Texten entdeckte. Mag Gott außerhalb der Welt stehen, mögen betende Gläubige ihre Augen gen Himmel richten oder zum Kreuz in der Kirche – Eckhart verkündigt einen Gott, der auch in der Welt und in jedem Menschen existiert. Das Gottgleiche in der Seele – das zu einem zentralen Pfeiler seines Lehrgebäudes avanciert.

Eckhart sieht in der Seele zwei Anteile. Der eine Teil ist der Ort für das Fühlen. Der andere Teil ist etwas, das für Eckhart gottgleich ist. Er nennt es Seelengrund, Seelenfünklein oder Seelenbürglein. Damit meint er immer das Gottgleiche in einem Wesen. Allerdings verknüpft er es mit unterschiedlichen Vorstellungen.

Mit poetischen Bilder veranschaulicht er: Gott blühe und grüne im Seelenfunken. Jeder Mensch könne das Blühen entdecken und erfahren. Dann predigt er geradezu liebevoll von dem Fünklein, das darauf warte, entzündet zu werden. Im Seelengrund ruhe der Mensch und hier finde die Gottesgeburt statt.

Dafür könne der Mensch Hilfe und Segen der Kirche annehmen – aber das brauche er nicht. Denn jeder Mensch sei allein in der Lage, das Blühen Gottes wahrzunehmen. Sofort und hier: Jetzt helfe ich mir selbst.

Zweifellos ist das noch heute eine revolutionäre These, denn die christliche Kirche formiert sich weiterhin aus Klerikern, die von sich behaupten, nur mit Hilfe ihres Spezialistentums bekäme der Mensch eine tragfähige Verbindung zum Göttlichen. Eckhart dagegen sagt im Grunde nur das, was von Jesus überliefert ist:

Man wird nicht sagen: Siehe hier oder da ist es! Denn sehet, das Himmelreich ist inwendig in euch.«

Lukas 17,21

Eckhart lokalisiert das Himmelreich im Seelengrund, der sich in jedem Menschen finde.

Eckhart wusste, dass die menschliche Vorstellungskraft aus Geschichten Erkenntnis, Hoffnung, Trost, Kraft und Freude schöpft. Deshalb erzählte er anschauliche Mini-Geschichten und entwarf kühne Bilder in seinen Predigten. Doch wies er wiederholt darauf hin, dass Vorstellungen auf dem Hintergrund von Liebe, Angst, Hoffnung, Neid sowie weiteren Bedürfnissen und Gefühlen entstehen und vergänglich sind, wie alles andere auch. Deshalb sei es zwar gut, auf sie zu bauen, besser aber, sie loszulassen. Er vergleicht verstandesmäßiges Wissen und rationale Vorstellungen von Gott mit einem Boot, mit dem man einen Fluss überquert. Das Schiff, Metapher für Vorstellungen, vermag den Suchenden über das reißende Wasser des Lebens führen. Am anderen Ufer angelangt, wäre das Fahrzeug aber nur Ballast auf dem weiteren Weg. Buddha verwendet übrigens ein ähnliches Bild für seinen Weg der Mitte. Wenn man es schafft, den inneren Beobachter zu aktivieren und das urteilende Denken loszulassen, geschieht das Himmelreich.

ZUSAMMENFASSUNG

•Meister Eckhart fordert von seinen Zuhörern ein anderes Verständnis von Begriffen. Darauf muss man sich einlassen. »Gott«, »Himmel«, »Vater«, »Sohn« usw. bekommen eine neue Bedeutung. Er wagt eine für die damalige, aber auch für die heutige Zeit provokante Auslegung der Bibel.•Meister Eckhart führt neue Begriffe ein: »Seelengrund«, »Seelenfunken«, »Gottesgeburt«. Sie klingen zunächst fremd. Geläufig ist seine Kreation des Begriffes »Gelassenheit«.•Meister Eckhart lehrt, dass im Menschen, so wie in jedem Wesen, etwas Gottgleiches existiere und dass man dies in einer »Seins-Erfahrung« erfahren könne.•Es existiert kein Originaltext, von dem man sicher weiß, dass Meister Eckhart ihn aufgeschrieben hat. Man findet Mitschriften seiner Predigten und Abschriften anderer Texte.

ÜBUNG: HALT DOCH MAL DIE LUFT AN! (CA. 1 MINUTE)

Hier eine Variante der Atemübung, die weiter vorne steht:

•Legen Sie die Hand auf den Bauch.•Atmen Sie tief in den Bauch ein (ca. 5 Sekunden).•Halten Sie die Luft an (ca. 5 Sekunden).•Atmen Sie langsam durch den Mund aus (ca. 10 Sekunden).•Machen Sie dies insgesamt dreimal.

*Hier und im Folgenden beschränke ich mich der Einfachheit halber auf die männliche Form.

NU ABER! – ECKHARTS WELT

Ein Wirrkopf will nach Avignon

Stellen Sie sich vor, Sie sind Außendienstmitarbeiter einer einflussreichen Firma und für ein Gebiet zuständig, das von Thüringen über Brandenburg nach Mecklenburg und über Hamburg bis in die Niederlande reicht. Und leider haben Sie keinen Führerschein, kein Auto und die Bahn ist noch gar nicht erfunden. Sie müssen alle Wege zu Fuß bewältigen und das sind viele. Zu ihren Aufgaben gehört nämlich, Dutzende von Klöstern zu besuchen, um zu überprüfen, ob dort alles im Sinne ihres Auftraggebers, der päpstlichen Kirche, seine Ordnung hat. Zugleich sind Sie für das seelische Wohl der Mönche und Nonnen in den Klöstern zuständig. Außerdem wollen Sie theologisch forschen, Predigten und Traktate verfassen, um auf revolutionäre Weise das Evangelium völlig neu auszulegen. Ganz schön viele Aufgaben, die einem Energie, Geduld und Beharrlichkeit abverlangen.

Meister Eckhart hat genau diese Herausforderungen bewältigt. Man darf vermuten, dass er seine Kraft aus der Seins-Erfahrung im Nu schöpfte. Dafür standen ihm zahlreiche Praktiken zu Verfügung. Aus seinen Predigten geht hervor, dass er z. B. das unablässige Beten kannte. Er war viel zu Fuß unterwegs und so praktizierte er es womöglich im Gehen. Beim unablässigen Beten wiederholen die Betenden ständig ein Wort oder einen kurzen Satz wie z. B. »Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner«. Die Gedanken kommen zur Ruhe und man kann in einen anderen Bewusstseinszustand gelangen.

KURZE GEHMEDITATION

Wie wäre es mit einer kleinen Erholungspause à la Meister Eckhart?

Im Zen-Buddhismus ist die Geh-Meditation eine beliebte Methode, sich nach einer Sitzmeditation zu bewegen und trotzdem Achtsamkeit zu üben. Dabei richtet man seine Aufmerksamkeit auf ein Mantra oder seine Körperempfindungen.

Durch die Verlangsamung der Gehbewegungen ist es einfacher, die Körperempfindungen wahrzunehmen.

Grundhaltung:

•Lassen Sie die Hände seitlich neben ihrem Körper hängen. Sie können sie auch vor oder hinter ihrem Körper locker ineinanderlegen. Die Knie sind locker und möglichst nicht durchgedrückt.•Erspüren Sie den Boden unter ihren Füßen. Atmen Sie tief ein und nehmen Sie Ihren Atem wahr.•Neigen Sie den Kopf und achten Sie darauf, was Ihre Füße spüren.

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