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Traumatisierungen, hervorgerufen beispielsweise durch physischen oder psychischen Missbrauch, (emotionale) Vernachlässigung oder Kriegs- und Fluchterfahrungen, aber auch bindungs- und generationsübergreifende Traumata, lassen sich in allen gesellschaftlichen Schichten Deutschlands finden. Die vorliegende Dissertation zeigt auf der Basis psychologischer und theologischer Erkenntnisse und unter Einbezug praktischer Fallbeispiele, wie diesen Kindern in ihrer Traumaverarbeitung aus seelsorglicher Perspektive geholfen werden kann, und begegnet im Modell des Emotionspsychologischen Interaktionsgeschehens gleichzeitig der Not derjenigen, die mit betroffenen Kindern unmittelbar zu tun haben und sich aufgrund fehlender Qualifizierung in diesem Bereich leichter überfordert und allein gelassen fühlen. Die Autorin wurde mit der vorliegenden Arbeit 2018 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. [Facing the Horrible. Counceling Traumatized Children] Traumas, whether caused by physical or psychological abuse, emotional neglect, experiences of war and fleeing, or interrelational and multi-generational damage and suffering are found in every social class in Germany. The following dissertation uses psychological and theological insights as well as practical case studies about how children can be helped in their processing of trauma using counseling techniques. It is written to meet the needs of those who directly interact with affected children and might feel overwhelmed or left alone in this area due to lacking qualifications.
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Seitenzahl: 1003
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ARBEITEN ZUR PRAKTISCHEN THEOLOGIE
Herausgegeben von
Alexander Deeg, Wilfried Engemann, Christian Grethlein, Jan Hermelink und Marcell Saß
Band 74
Miriam Schade
DEM SCHRECKLICHEN BEGEGNEN
SEELSORGE MIT TRAUMATISIERTEN KINDERN
EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Leipzig
Miriam Schade, Dr. theol., Jahrgang 1984, studierte Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) und betrieb Feldforschung in São Paulo/Brasilien. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Für ihre Dissertation gewann sie 2018 den Dissertationspreis der FSU.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany
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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Satz: Simone Burchardt und Tommy Drexel, Jena
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
ISBN 978-3-374-05894-5
www.eva-leipzig.de
From where I'm standing
Lord it's so hard for me to see
Where this is going
And where You're leading me
I wish I knew how
All my fears and all my questions
Are gonna play out
In a world I can't control
From where You're standing
Lord, You see a grand design
That You imagined
When You breathed me into life
And all the chaos
Comes together in Your hands
Like a masterpiece
Of Your picture perfect plan
When I'm lost in the mystery
To You my future is a memory
Cause You're already there
You're already there
Standing at the end of my life
Waiting on the other side
And You're already there
You're already there
One day I'll stand before You
And look back on the life I've lived
I can't wait to enjoy the view
And see how all the pieces fit
(Matthew West / John Mark Hall / Bernie Herms)1
Als ich vor fast 15 Jahren auf das Elend traumatisierter Kinder aufmerksam wurde, war mir nicht bewusst, auf welchen weiten und herausfordernden Weg ich mich begeben würde. Inzwischen liegt eine abenteuerliche Reise hinter mir, auf der ich den verschiedensten Erwachsenen und Kindern begegnen und sie in ihren Verarbeitungsprozessen begleiten und unterstützen durfte. Ihnen gilt mein Dank, denn sie brachten mich ins Nachdenken, führten mich an meine Grenzen, an denen ich wachsen durfte, und waren damit wesentlich an der Entstehung meines seelsorglichen Profils und meines Modells beteiligt. Ebenso danken möchte ich Frau Prof. Dr. Corinna Dahlgrün für ihre herausragende und umfassende Betreuung meiner Promotion, für ihr stets konstruktives Feedback, ihre weiterführenden Impulse, ihre Geduld, ihre Ermutigungen und ihre Entschlossenheit, mit der sie nicht nur an dieses Projekt, sondern auch an mich glaubte und glaubt. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Martin Leiner danke ich für die inspirierenden Unterhaltungen und seine weiterführenden Nachfragen. Ein Stipendium der Graduiertenakademie der Friedrich-Schiller-Universität Jena ermöglichte es mir, im Ausland forschen zu können. Vielen Dank. Franziska Frohofer gilt mein Dank dafür, dass sie mir die Arbeitsweise von Tipiti zeigte und mir Einblick in die Welt von Pflegeeltern und Pflegekindern gewährte.
Tommy Drexel, Simone Burchardt und Christin Bärwald danke ich für die große Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Christina Wollesky von der Evangelischen Verlagsanstalt danke ich für ihre freundliche Beantwortung aller Formatierungsrückfragen und der VELKD für ihren Druckkostenzuschuss. Den Teilnehmern der Jenaer Sozietät der Praktischen Theologie danke ich sehr herzlich für ihre Bereitschaft, schier endlose Texte zu lesen und zu reflektieren. Sie haben mich herausgefordert, komplizierte Zusammenhänge so deutlich und verständlich wie möglich zu formulieren. Claudia Petermann, Magdalena Steinhöfel, Elisabeth Müller-Panknin und Dr. Ursula Lenz-Bücker danke ich vielmals für ihr ausdauerndes Korrekturlesen.
Danken möchte ich schließlich meinem Ehemann, der mit viel Liebe und Verständnis diese vergangenen Jahre mitgetragen hat, mich unterstützte und stärkte und dafür sorgte, dass es auch noch ein Leben neben der Promotion gab.
Letztlich wäre diese Arbeit ohne einen liebenden und fürsorgenden Gott nicht geschrieben worden. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mir dieses Thema aufs Herz legte und seine Vision von einer Seelsorge mit traumatisierten Kindern mit mir teilte. Mögen seine Absichten mit dieser Dissertation Wirklichkeit werden.
Soli Deo gloria.
Cover
Titel
Impressum
Einleitung
I.DAS PHÄNOMEN TRAUMA
1.Was ist ein Trauma?
1.1Die Definition von Trauma
1.2Die Klassifikationsmöglichkeiten von Traumatisierungen
2.Überblick zur Traumaforschung in den psychologischen Schulen
2.1Trauma als Introjekt – Traumaforschung in der Psychoanalyse
2.1.1Erste Erkenntnisse durch Sigmund Freud und Josef Breuer
2.1.2Weitere Einsichten durch Sándor Ferenczi
2.1.3Neuere Ansätze in der Psychoanalyse nach Mathias Hirsch
2.2Das traumatische Gedächtnis - neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der Traumaforschung
2.3Furchtstrukturen und veränderte kognitive Schemata – Traumaforschung in Lern- und Kognitionstheorien
2.3.1Lerntheoretische Forschungsansätze
2.3.2Kognitionstheoretischer Forschungsansatz nach Mardi Horowitz
2.4Das Trauma-Verlauf-Modell nach Fischer und Riedesser modifiziert und ergänzt durch Hausmann
2.4.1Der Auslöser: Die traumatische Situation
2.4.2Das traumatische Erleben
2.4.3Die traumatische Reaktion
3.Die Folgen des Traumas
3.1Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
3.2Komplexe Traumafolgestörungen
3.3Posttraumatisches Wachstum (posttraumatic growth)
4.Kinder und traumatische Ereignisse
4.1Besonderheiten kindlicher Traumatisierungen
4.2Beispiele für Traumatisierungen im Kindesalter
4.2.1Kindesmisshandlung
4.2.2Traumatisierende Bindungserfahrungen
4.2.3Krieg und Flucht
4.3Symptome kindlicher Traumatisierungen
4.4Bewältigungsversuche des Kindes
4.5Traumatherapie mit Kindern
4.5.1Allgemeine Vorbemerkungen
4.5.2Verlauf einer Traumatherapie
II.CHRISTLICHE SEELSORGE
1.Begriff und historische Skizze
2.Seelsorge – Hinführung zu einer eigenen Definition
2.1Die Grundlagen der Seelsorge
2.1.1Das Heilsgeschehen
2.1.2Annahme und Akzeptanz
2.1.3Empathie
2.1.4Ganzheitlichkeit
2.2Methoden der Seelsorge
2.2.1Verbale und nonverbale Kommunikation
2.2.2Selektive Nutzung psychotherapeutischer Methoden
2.2.3Explizit geistliches Handeln
2.3Ziele der Seelsorge
2.3.1Zum Leben befähigen
2.3.2Den Glauben stärken
2.3.3Trost und Hoffnung
2.4Die Definition von Seelsorge
2.5Warum Seelsorge und nicht nur Therapie?
2.6Besonderheiten der Seelsorge mit traumatisierten Kindern
3.Grenzen und Chancen der Seelsorge
3.1Grenzen der Seelsorge
3.2Chancen der Seelsorge
4.Die Anforderungen an den Seelsorger
4.1Die Erfahrung eigenen Geliebt- und Angenommen-Seins
4.2Geduld
4.3Empathie
4.4Sich abgrenzen können
4.5Persönlich gelebte Spiritualität
4.6Selbstliebe
4.7Emotionale Kompetenz
III.SEELSORGE ALS EMOTIONSPSYCHOLOGISCHES INTERAKTIONSGESCHEHEN
1.Das Phänomen Emotion
1.1Begriffliche Abgrenzung und Definition
1.2Emotion im wissenschaftlichen Diskurs: Emotionstheorien
1.2.1Die evolutionsbiologischen Emotionstheorien
1.2.2Die systemtheoretische Emotionstheorie
1.2.3Die neurobiologische Emotionstheorie
1.2.4Die psychoanalytische Emotionstheorie
1.2.5Kognitive Bewertungstheorie
1.3Die Bedeutung von Emotionen
1.4Die emotionale Entwicklung des Kindes
1.4.1Das erste Lebensjahr
1.4.2Zwischen einem und zwei Jahren
1.4.3Im Alter zwischen drei und fünf Jahren
1.4.4Das sechste Lebensjahr
1.4.5Im Alter von sieben und acht Jahren
1.5Emotion und Trauma
1.5.1Die kognitivistische Erklärung
1.5.2Die neurobiologische Erklärung
1.5.3Die tiefenpsychologische Erklärung
2.Das emotionale Erleben des Seelsorgers
2.1Emotionale Herausforderungen für den Seelsorger während der Interaktion
2.2Das traumatisierte Kind und der Seelsorger
2.3Emotionsregulation
2.4Das emotionspsychologische Interaktionsmodell der Seelsorge
IV.EXPLIKATION DER EMOTIONEN FÜR DIE SEELSORGE
1.Lähmende Emotionen
1.1Überforderung, Hilflosigkeit und Ohnmacht
1.1.1Überforderung
1.1.2Hilflosigkeit
1.1.3Ohnmacht
1.2Schmerz, Traurigkeit und Trauer
1.2.1Schmerz
1.2.2Traurigkeit
1.2.3Trauer
1.2.4Exkurs: Wenn Kinder trauern
1.3Angst und Einsamkeit
1.3.1Angst
1.3.2Exkurs: Kinder und Angst
1.3.3Einsamkeit
1.3.4Exkurs: Das Einsamkeitserleben des Kindes
1.4Lähmende Emotionen: Eine Zusammenfassung und Übertragung auf die Situation des Kindes
2.Aktionistische/agierende Emotionen
2.1Ärger, Schuld und Scham
2.1.1Ärger
2.1.2Schuld und Schuldgefühl
2.1.3Scham
2.2Aktionistische/agierende Emotionen: Eine Zusammenfassung und Übertragung auf die Situation des Kindes
2.3Ablehnende Emotionen
2.3.1Ekel und Verachtung
2.3.2Ekel
2.3.3Verachtung
2.4Ablehnende Emotionen: Eine Zusammenfassung und Übertragung auf die Situation des Kindes
2.5Annehmende/motivierende Emotionen
2.5.1Mitleid
2.5.2Zuneigung
2.6Annehmende Emotionen: Eine Zusammenfassung
2.7Handlungsvorbereitende Emotionen
2.7.1Interesse
2.8Handlungsvorbereitende Emotionen: Eine Zusammenfassung
2.9Tragende/unterstützende Emotionen
2.9.1Freude und Zufriedenheit
2.9.2Freude
2.9.3Zufriedenheit
2.10Tragende/unterstützende Emotionen: Eine Zusammenfassung
V.PRAKTISCHE HANDREICHUNGEN UND METHODEN
1.Kontaktaufnahme
1.1Mimik und Blickkontakt
1.2Das Kind ansprechen
2.Rituale
2.1Begrüßungsrituale
2.2Rituale, die den Alltag strukturieren
2.3Rituale bei Tagesbeginn und Tagesende
2.4Tischgebete als Rituale
2.5Wochenplanung als Ritual
2.6Ritualisierung von Urlaub und Wochenende
3.Vertrauen aufbauen und festigen
3.1Geborgenheit vermitteln und Sicherheit geben
3.1.1Was Geborgenheit ist
3.1.2Wenn Geborgenheit verloren geht
3.1.3Wie man Geborgenheit bewusst entwickeln und aufbauen kann
3.2Körperliche Nähe und Berührungen
3.2.1Wenn Berührung und Körperkontakt fehlen
3.2.2Die Bedeutung von Körperkontakt und Berührung für den Menschen
3.2.3Bedeutung von Körperkontakt und Berührung für die Seelsorge mit traumatisierten Kindern
4.Kreativität als therapeutische Methode
4.1.1Das Rollenspiel
4.1.2Kreatives Gestalten
4.2Musik allgemein
4.3Das Singen
4.4Geschichten erzählen, vorlesen und erfinden
5.Explizit geistliches Handeln
5.1Gebet
5.1.1Was ist Gebet?
5.1.2Warum wir beten
5.1.3Ausgewählte Gebetspraktiken
5.1.4Gebetshindernisse
5.2Segnen
5.2.1Was ist Segen?
5.2.2Warum segnen wir?
5.2.3Was passiert beim Segnen?
5.2.4Segen als Raum spiritueller Erfahrung
5.2.5Das Wie des Segnens
6.Kinder stark machen – Resilienz und Interaktionsmaßnahmen
6.1Resilienz
6.1.1Was man unter Resilienz versteht
6.1.2Welche Faktoren der Resilienz zuzuordnen sind
6.1.3Wie Resilienz gefördert werden kann
6.1.4Seelsorge – eine Methode zur Förderung von Resilienz?
6.2Selbstschutz stärken und Interventionsmaßnahmen einleiten
6.2.1Den Selbstschutz des Kindes fördern
6.3Interventionsmöglichkeiten
VI.DEM SCHRECKLICHEN BEGEGNEN – EIN RESÜMEE
1.Seelsorge als Entscheidung des Seelsorgers
2.Seelsorge als ein Umgehen-Können mit belastenden Emotionen
3.Seelsorge als ein Handeln im Machtbereich Gottes
4.Seelsorge als methodische Herausforderung
LITERATURVERZEICHNIS
Heiß brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Die Luft ist erfüllt von dem Rufen, Schreien und Lachen der Kinder. Haus an Haus, Schmutz und Dreck, Abfall, der auf den staubigen Straßen liegt, herrenlose Hunde. Männer sitzen auf dem Boden und dösen in der Mittagssonne oder pfeifen den jungen vorübergehenden Mädchen hinterher. Der Geruch von Schweiß und Urin vermischt sich mit dem Duft von Reis und Bohnen. Selten weht eine sanfte Brise vom Stausee durch die engen verwinkelten Durchgänge und Seitengassen. Fast 3000 Menschen leben in dieser Favela1. Es ist ein Tag wie jeder andere. Bedeutungslos, ereignislos.
In der kleinen, engen Hütte ist es dunkel. Mehrere Betten, teilweise übereinander gestellt, wenige Sitzgelegenheiten und Wäsche, im Raum aufgehängt. Heimat von 18 Personen, drei Generationen mit Großeltern, Eltern und vielen Kindern. Fernando sitzt auf dem Boden und spielt. Sein T-Shirt hat viele Löcher und seine Hose ist abgetragen. An den Schuhen fehlen die Schnürsenkel. Tief ist er in sein Spiel versunken. Plötzlich zerreißt ein lauter Knall die Stille. Und noch ein Knall. Fernando zuckt zusammen. Die Schüsse waren zu nah, viel zu nah, viel zu laut. Erschrocken springt er auf und rennt nach draußen auf die Straße. Er rennt, fast blind, weil die Sonne so grell ist, rennt zu dem Körper, der zusammengesackt auf dem Boden liegt. Blut läuft aus den Schusswunden, während sich der Mann im Todeskampf windet. Fernando fällt neben ihm auf die Knie. Das Gesicht des Mannes erstarrt, sein Körper rührt sich nicht mehr. »Pai. Pai! – Papa, Papa!«, ruft Fernando, ohne zu begreifen, dass sein Vater schon tot ist.
Als ich 2006 das erste Mal in einer Favela in der brasilianischen Millionenstadt São Paulo ein Praktikum absolvierte, lernte ich dort den sechsjährigen Fernando kennen und hörte diese seine Geschichte. Die Begegnung mit ihm hat mein Leben berührt und nachhaltig geprägt, denn das Trauma, das er erlebt hatte und die Art und Weise, wie er versuchte, damit umzugehen, wurden für mich zur Initialzündung meiner wissenschaftlichen Forschung.2Fernando war nicht das einzige Kind, das traumatische Ereignisse erlebt hatte; viele der anderen Kinder, die das sozial-missionarische Programm der in diesem Stadtteil ansässigen Gemeinde besuchten, hatten ebenfalls Schreckliches erfahren: Missbrauch, Vernachlässigung, tägliche Konfrontation mit Alkoholismus und Drogenkonsum durch Familienangehörige und Gewalt und Misshandlung in vielfältiger Form – Traumata haben viele Gesichter. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, musste ich feststellen, dass meine Wahrnehmung sensibilisiert war: Ich nahm plötzlich auch in meinem Umfeld Kinder wahr, die traumatisiert waren. Sie zeigten die gleichen Symptome und Verhaltensauffälligkeiten wie die brasilianischen Kinder. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass allein 2013 8510 Kinder und Jugendliche aufgrund von Vernachlässigung und Misshandlung aus ihren Familien in staatliche Obhut überstellt wurden. 124.213 Verfahren zur Überprüfung von Kindeswohlgefährdungen gab es allein 2014.3 Bei 18.600 Kindern lag eine akute Kindeswohlgefährdung vor, bei 22.400 konnte die Gefährdung nicht ausgeschlossen werden (latente Kindeswohlgefährdung).4 Sowohl Misshandlung als auch Vernachlässigung sind traumatisierende Faktoren. In einer retrospektiven Studie von 2011 wurden Jugendliche und Erwachsene hinsichtlich ihrer Vernachlässigungs- und Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit befragt. Unter Einbezug weniger schwerer Erfahrungen von Misshandlung und Vernachlässigung gaben 50% der Befragten an, als Kind misshandelt und physisch bzw. emotional vernachlässigt worden zu sein.5 Ich wähle bewusst diese Beispiele für Traumatisierungen, weil sie alltäglich sind und von der Mehrheit kaum wahrgenommen werden. Wird ein Kind Zeuge eines Unfalls mit Todesfolge, stirbt unvorhergesehen ein Elternteil o.ä., oder erlebt ein Kind Kriegshandlungen und die Flucht aus der Heimat, dann sind das zwar ebenfalls potentiell traumatisierende Situationen, aber das soziale Umfeld kann sich, wenn es davon erfährt, bewusst auf die Nachwirkungen, die eine solche Erfahrung für das betroffene Kind haben kann, einstellen. Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch, Bindungstraumatisierungen, generationsübergreifende Traumata usw. sind jedoch, insbesondere dann, wenn sie im familiären Kontext und über einen langen Zeitraum hinweg stattfinden, nicht unbedingt leicht zu enttarnen. Die betroffenen Kinder leiden im Verborgenen und suchen eigene Bewältigungswege für das Schreckliche, das ihnen begegnet. Manchmal machen sie durch Verhaltensauffälligkeiten, durch physische und/oder psychische Regression bzw. einen Entwicklungsstillstand auf sich aufmerksam. Andere Kinder passen sich an, sie fallen nicht auf, sie machen sich unsichtbar. Die Frage, die mich seit meiner Begegnung mit Fernando und anderen traumatisierten Kindern beschäftigt, ist: Kann Seelsorge traumatisierten Kindern helfen, und wenn ja, wie ist das möglich?
Diese Arbeit ist die Antwort auf meine Frage. Meiner Meinung nach kann Seelsorge traumatisierten Kindern helfen, und ich möchte in den vier folgenden Kapiteln zeigen, welche Möglichkeiten sich dem Seelsorger dazu bieten:
Das erste Kapitel widmet sich wesentlich den Grundlagen der Traumaforschung: Nach einer Definition des Begriffs ›Trauma‹ wird die Entstehung eines Traumas vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, der Neurowissenschaft, der Lern- und Kognitionstheorie und der Traumaforschung nach Fischer und Riedesser erklärt. Anschließend werden die physischen und psychischen Folgen eines Traumas erörtert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Herausstellung von Traumata im Kindesalter. Nicht nur Besonderheiten von Traumatisierungen bei Kindern werden bedacht, sondern es werden auch konkrete Beispiele (Misshandlung, traumatisierendes Bindungsverhalten und aufgrund der aktuellen Flüchtlingswelle auch Krieg und Flucht) dargelegt. Der Abschluss des Kapitels widmet sich dem Umgang mit dem Trauma, zum einen seitens des Kindes – gefragt wird nach Symptomen und Bewältigungsstrategien, die das Kind anwendet – und zum anderen seitens therapeutischer Stellen – u.a. wird der Verlauf einer Traumatherapie dargestellt. Das erste Kapitel soll damit in die Problematik einführen und ein Überblickswissen über den aktuellen Forschungsstand der Traumaforschung vermitteln. Die weiteren Kapitel knüpfen an die hier formulierten Grundlagen an.
Kapitel II wendet sich von der psychologisch geprägten Seite der Traumaforschung zur theologisch begründeten Seelsorge. Auch an dieser Stelle folgt zunächst, mittels einer historischen Skizze zur Entwicklung der Seelsorge in den vergangenen Jahrhunderten, eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Seelsorge. Schließlich wird eine eigene für diese Arbeit zu gebrauchende Definition von Seelsorge erarbeitet und reflektiert. Eine eigene Definition ist deshalb von Nöten, weil sie Aspekte betont und Schwerpunkte setzt, die für die Interaktion mit einem traumatisierten Kind entscheidend sind, in den geläufigen Seelsorgemodellen jedoch bisweilen eine untergeordnete Rolle spielen. In einem weiteren Schritt werden die Vorteile der psychologisch fundierten Traumaforschung und der Seelsorge zusammengebracht. Mir ist es wichtig zu betonen, dass in dieser Arbeit beide Fachgebiete gleichrangig nebeneinander stehen, denn wenn sie aufeinander bezogen werden, erweitern sie die Möglichkeiten des Seelsorgers. Auch wenn mein Ansatz sich auf die Basis und das Wissen psychologischer Konzepte stützt, sind sowohl die Grundvoraussetzungen als auch das Grundverständnis von Seelsorge und teilweise ebenso die praktischen Umsetzungen theologisch geprägt, weshalb Psychologie und Seelsorge nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Mit dem Abschluss des Kapitels wird der Seelsorger als Hauptakteur meiner Seelsorgekonzeption eingeführt, denn an dieser Stelle wird gefragt, welche Voraussetzungen er mitbringen muss, will er einem traumatisierten Kind helfen.
Kapitel III knüpft an die Aussagen über den Seelsorger an und ist als Hauptstück dieser Arbeit zu verstehen. Da ich in der Interaktion mit traumatisierten Kindern beobachten konnte, dass die m.E. größte Herausforderung für das betroffenen Kind und sein Umfeld die mit dem Trauma verbundenen Emotionen sind, habe ich das emotionspsychologische Interaktionsmodell entwickelt, welches die verschiedenen Emotionen, die dem Seelsorger in der Gemeinschaft mit einem traumatisierten Kind begegnen können, in einem Schema hinsichtlich ihrer gegenseitigen Beeinflussung darstellt und erklärt. Meine These ist, dass der Seelsorger mit den einzelnen Emotionen, seien sie lähmender, aktionistischer oder ablehnender Natur, genauso gut umgehen können muss wie mit annehmenden, handlungsvorbereitenden und tragenden Emotionen. Ist er in der Lage, diese Emotionen zu erkennen, zu benennen und adäquat mit ihnen umzugehen, dann kann er einem traumatisierten Kind helfen, ebenfalls einen gesunden Umgang mit seinen mit dem Trauma verbundenen Emotionen zu finden. Passiert dies in einem Interaktionsgeschehen, dann wird das Kind entlastet und wesentlich in seinem Trauma-Verarbeitungs-Prozess unterstützt. Genau darin besteht meiner Meinung nach das Ziel der Seelsorge mit einem traumatisierten Kind. Aus diesem Grund wird zunächst der Begriff ›Emotion‹ definiert. Anschließend werden einzelne Emotionsmodelle erörtert, die Entwicklung von Emotionen bei einem Kind betrachtet und die Bedeutung der Emotionen bei einem traumatisierenden Geschehen dargestellt. Daraus ergeben sich für den Seelsorger verschiedene Herausforderungen für das Interaktionsgeschehen, die erläutert werden und die Ursache für das bereits erwähnte emotionspsychologische Interaktionsmodell bilden.
Im Anschluss an die Darstellung des Modells erfolgt in Kapitel IV eine Explikation der für die Seelsorge relevanten Emotionen. Dieses bietet nicht nur einen Überblick über den Forschungsstand hinsichtlich der jeweiligen Emotionen, sondern zeigt dem Seelsorger auch Wege auf, wie mit ihnen adäquat umzugehen ist.
Kapitel V bietet schließlich praktische Handlungsüberlegungen für den Seelsorger. Ausgehend von dem Basiswissen zu Traumatisierungen, über das Verständnis der Seelsorge und Voraussetzungen, die der Seelsorger für das Interaktionsgeschehen mitbringen muss, bis hin zum persönlichen Erlernen eines gesunden Umgangs mit Emotionen, rückt an dieser Stelle die in der Praxis vorfindliche Situation in den Mittelpunkt. Welche Möglichkeiten bieten sich dem Seelsorger in der Interaktion mit einem traumatisierten Kind? Da Seelsorge in einem solchen Kontext meist nicht in festen Settings stattfindet, normalerweise keine Termine zum Gespräch vereinbart werden und das Kind u.U. nicht in der Lage oder willig ist, seine Geschichte zu erzählen, bedarf es anderer Techniken, um dem Kind in seiner Emotionalität helfen zu können. Hier greife ich sowohl auf therapeutisch angewandte Methoden (z.B. Rituale, Rollenspiele, kreatives Gestalten, Geschichten) als auch auf explizit geistliches Handeln wie Gebet und Segen zurück, um die Bandbreite an Möglichkeiten der Interaktion zu verdeutlichen. Das Kapitel schließt mit der Frage, in wieweit Seelsorge einen Resilienz-Faktor für Kinder darstellen kann.
Da diese Arbeit in einem wissenschaftlichen Kontext geschrieben wurde, jedoch hinsichtlich ihrer Leserschaft an eben die Menschen gerichtet ist, die als Lehrer, Erzieher, Pfarrer, Sozialassistenten, Kinder- und Jugendreferenten, Pflegeeltern usw. täglich mit traumatisierten Kindern arbeiten, stellt sie sich einer doppelten Herausforderung: Einerseits soll sie dem wissenschaftlichen Anspruch einer Dissertation genügen. Aus diesem Grund werden die eigene praktische Arbeit, das persönliche Seelsorgeverständnis und das seelsorgliche Handeln auf der Grundlage von psychologischen und theologischen Modellen verschiedener Strömungen, durch Seelsorgeprotokolle und Fallbeispiele und durch die Entwicklung eines eigenen Seelsorgemodells verortet und reflektiert. Andererseits soll diese Arbeit eine praktische Hilfestellung für die genannten Personengruppen darstellen. Daher war ich im Sinne Schulz von Thuns um eine verständliche und erklärende Sprache bemüht, die mittels vieler Beispiele auch komplexe Sachverhalte zu verdeutlichen vermag.6 Da es zudem den Lesefluss vereinfacht, habe ich mich für das generalisierte Maskulinum entschieden.
Auf weitere Besonderheiten sei an dieser Stelle kurz hingewiesen:
1. Fallbeispiele und Seelsorgeprotokolle: Alle in dieser Arbeit genannten Fallbeispiele und Protokolle sind anonymisiert dargestellt. Dies geschah einerseits durch die Verwendung anderer Namen und andererseits durch bewusste Veränderung der für das Interaktionsgeschehen unwichtigen Begleitumstände, der handelnden Personen usw. Die relevanten Details der einzelnen Geschichten sind jedoch wahrheitsgetreu wiedergegeben.
2. Bezeichnungen: Generell ist in dieser Arbeit vom Seelsorger die Rede, im Sinne der generalisierten Form. Bei den Fallbeispielen findet sich jedoch die Bezeichnung »die Seelsorgerin«. Dies liegt darin begründet, dass die Fallbeispiele aus meiner eigenen praktischen Interaktion mit traumatisierten Kindern stammen, ich jedoch als Autorin dieser Arbeit einen wissenschaftlichen Abstand zu den einzelnen Fällen einnehmen möchte. Die vom generalisierten Maskulinum abweichende Bezeichnung »die Seelsorgerin macht zugleich deutlich, dass es sich in diesen Abschnitten um meine eigenen Erfahrungen als Seelsorgerin handelt.
3. Die Frage der Interkulturalität: Viele der Fallbeispiele stammen aus Brasilien. Das wirft die Frage auf, in wieweit diese Erfahrungen auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind. Meiner Beobachtung nach können die Ursachen oder die Umstände eines Traumas kultureller Natur sein (z.B. die Beschneidung eines Mädchens in Afrika), die mit dem Trauma verbundenen Emotionen sind jedoch kulturübergreifend zu beobachten, obwohl ihre Handhabung wiederum kulturabhängig ist. Der in dieser Arbeit angeratene Umgang mit den einzelnen Emotionen und das daraus resultierende seelsorgliche Verhalten entsprechen der westlichen bzw. deutschen Kultur. Das liegt in meiner kulturellen Herkunft als Deutsche begründet. In Fallbeispielen, in welchen kulturelle Faktoren für die Interaktion mit dem betroffenen Kind wichtig sind, sind diesbezüglich Anmerkungen in den Fußnoten zu finden.7
4. Altersspanne: Diese Arbeit beschäftigt sich mit traumatisierten Kindern. Dazu zählen nach meinem Verständnis Kinder der Altersklasse 0-10. Da bereits Säuglinge Traumatisierungen aufweisen können (beispielsweise, wenn sie nach der Geburt von der Mutter getrennt werden oder wenn sie, aufgrund von Alkohol-/Drogen-/Zigarettenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft, nach der Geburt einen kalten Entzug erleben mussten, u.a.), ist es mir wichtig, auch sie in dieser Arbeit in den Blick zu nehmen. Die Altersgrenze nach oben begründet sich mit dem Beginn der Vorpubertät. Da die beginnende Pubertät mit stark schwankendem emotionalem Befinden einhergeht, möchte ich diese Altersspanne in dieser Arbeit ausklammern, um die Aufmerksamkeit auf die durch das Trauma beeinflussten Emotionen und das dadurch ausgelöste Verhalten lenken zu können.
5. Die Bedeutung für Erwachsene: Zwar ist diese Arbeit über traumatisierte Kinder geschrieben, doch ist immer wieder zu beobachten, dass Erwachsene in starken Stresssituationen wie Kinder reagieren. Dies geschieht meist in solchen Momenten, die sie bereits als Kind als bedrohlich empfanden. Erwachsenen, die ein solches Verhalten bei sich selbst beobachten, kann diese Arbeit ebenfalls weiterhelfen, da ihnen hier Handlungsweisen aufgezeigt werden, wie sie mit ihrem inneren Kind in als bedrohlich wahrgenommenen Situationen umgehen können.
Seelsorge mit traumatisierten Kindern will dem Schrecklichen begegnen, das eine Situation zum Trauma werden lässt: dem Verlust von Sicherheit und Geborgenheit, von Vertrauen und Hoffnung, von Autonomie und Kontrolle, von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung. Sie will den Emotionen begegnen, die lähmen, die in Aktion flüchten lassen oder die ablehnend sind. Sie will das Kind unterstützen, es tragen und es aushalten. Seelsorge mit traumatisierten Kindern beginnt aus diesem Grund beim Seelsorger selbst. Diese Arbeit kann ihn dabei unterstützen.
Als am 11. September 2001 die Fernsehbilder der einstürzenden Twin Towers des World Trade Centers um die Welt gingen, hielten die Menschen den Atem an. Tief schockiert und wie gelähmt verfolgten sie auch noch Tage und Wochen danach das Geschehen auf den Bildschirmen. Der Schrecken über die Brutalität des in den Bildern festgehaltenen Geschehens brannte sich selbst in Deutschland den Menschen ins Gedächtnis und zwar so deutlich, dass in einem Seminar zum Thema »Mächte und Gewalten«1, das erst fünf Jahre später stattfand, die Teilnehmer noch genau sagen konnten, was sie bis kurz vor dem Anschlag und direkt danach getan und sogar gedacht hatten. Nun würde ich nicht behaupten, dass die Seminarteilnehmer durch das Geschehen traumatisiert worden waren, denn trotz der Nähe der Fernseh- und Zeitungsbilder war man in Deutschland zu weit entfernt und die Seminarteilnehmer waren, da sie keine Freunde oder Verwandte durch den Terroranschlag verloren hatten, nicht direkt betroffen. Und dennoch wurde dieses Ereignis als »prägend« und als »Einschnitt« im Gedächtnis gespeichert. Schockierende und erschreckende Erlebnisse werden demnach, so zeigt es dieses Beispiel, nachhaltig vom Menschen wahrgenommen und behalten, selbst wenn dieser durch das Geschehen nicht traumatisiert ist. Es lässt sich erahnen, wie weitreichend und lebensverändernd eine schockierende Erfahrung wie ein Trauma für eine direkt betroffene Person sein muss.
Die Schwierigkeit, ein psychologisches bzw. medizinisches Phänomen sowohl so genau und spezifisch wie nötig als auch gleichzeitig so offen und allgemein wie möglich zu beschreiben, ist nicht neu und gilt auch beim Versuch, den Begriff des Traumas hinlänglich zu definieren. Da die verschiedenen Definitionen jeweils eigene Schwerpunkte setzen und immer nur einzelne Aspekte des Traumabegriffs betonen, werden im Folgenden die aus meiner Sicht zentralen Gesichtspunkte herausgearbeitet. Ausgehend von einer sehr allgemeinen Beschreibung, über die bekannten Klassifikationssysteme, bis hin zu der Definition zweier für die Traumaforschung zukunftsweisender deutscher Psychologen (Fischer und Riedesser) wird anhand der jeweiligen Grundgedanken ein möglichst umfassendes Bild des Traumabegriffs zu zeichnen versucht.
Der Begriff ›Trauma‹ kommt aus dem Griechischen (τραύμα) und bedeutet übersetzt ›Verletzung‹ oder ›Wunde‹. Diese erste Übersetzung findet sich auch im Standardlexikon der Psychologie, dem Dorsch, allerdings ergänzt um den Zusatz, die Verletzung könne physischer oder psychischer Art sein.2 Daraus ergibt sich eine erste Abgrenzung: Ein Trauma kann, wie bei einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schleudertrauma, eine körperliche Verletzung sein, aber ebenso eine Verletzung der menschlichen Psyche meinen. Der erstgenannte Aspekt ist für diese Arbeit zweitrangig, daher meine ich, wenn von einem ›Trauma‹ die Rede ist, immer ein psychisches Trauma, ein sogenanntes ›Psychotrauma‹.3 Da nun jedoch nicht gesagt werden kann, dass jede seelische Verletzung den Tatbestand einer Traumatisierung erfüllt, bedarf es an dieser Stelle weiterer Eingrenzungen.
Wendet man sich dem international anerkannten Klassifikationssystem für Krankheiten, dem ICD-10,4 zu, so erfährt man, dass ein Trauma ein »[…] kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder eine Situation von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß [ist], die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.«5 Diese Definition trifft also Aussagen über die Ursache und die Folgen des traumatischen Geschehens: Der Betroffene ist einer (als lebensbedrohlichen) wahrgenommenen Gefahr ausgesetzt (Ursache), was in ihm Verzweiflung hervorruft (Folge), wobei es nicht entscheidend ist, wie lange die Bedrohung anhält.
Im amerikanischen Klassifikationssystem DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) werden bei der Beschreibung von ›Trauma‹ weitere relevante Aspekte bedacht. So wird in Betracht gezogen, dass auch Menschen, die lediglich Beobachter eines bedrohlichen Geschehens waren und nicht unmittelbar selbst betroffen wurden, traumatisiert sein können.6 Dieses Phänomen lässt sich u.a. bei Ersthelfern an Unfallorten, wie beispielsweise Verkehrsunfällen oder Zugunglücken, finden. Obwohl den Polizisten, Ärzten, Sanitätern oder der Feuerwehr bei ihrer Ankunft meist keine Gefahr mehr droht, kann das Ausmaß des Unfalls (viele Tote, entstellte Körper usw.) für sie traumatisierend wirken. Ebenfalls bedeutsam ist für diese Definition die Kumulation des bedrohlichen Geschehens. Demnach kann ein einmaliges Ereignis, wie etwa eine Naturkatastrophe, ähnlich traumatisierend wirken wie eine Vielzahl von entsetzlichen Erfahrungen (anhaltender sexueller Missbrauch). Entsprechend wird definiert: »Eine Person erlebt, beobachtet oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr einer körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltet. Die Reaktion der Person umfasst intensive Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen.«7 Was im ICD-10 lediglich mit »Verzweiflung« umschrieben ist, wird an dieser Stelle im DSM-IV um die für ein Trauma grundlegenden Emotionen Angst und Hilflosigkeit ergänzt.8
Gottfried Fischer und Peter Riedesser, zwei für die Psychotraumatologie wegweisende Psychologen, setzten in ihrer Definition den Schwerpunkt auf die Fähigkeit des Menschen, traumatische Erfahrungen verarbeiten zu können. Ein ›Trauma‹ sei ein »[…] vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.«9 Die Autoren setzen mit dieser Definition voraus, dass der Mensch mit Bewältigungsstrategien für schwierige Erfahrungen ausgestattet ist. Erlebt der Betroffene nun allerdings eine Situation, die von ihm nicht bearbeitet werden kann, in der die Bewältigungsstrategien also nicht greifen, dann wird dieses Erlebnis, das von Emotionen der Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit bestimmt ist, für ihn zum Trauma. Angemerkt sei, dass in dieser Definition nicht die Situation an sich traumatisierend wirkt, sondern das »Versagen« der Bewältigungsmechanismen. Damit wird auf eine wichtige Auffälligkeit hingewiesen: Nicht jedes Geschehen, das traumatisierendes Potential in sich birgt, muss sich für die betroffenen Personen auch traumatisierend auswirken. Der Grund dafür liegt u.a. in der sogenannten Resilienz des Menschen, also in Faktoren, die seine seelische Gesundheit stärken und ihn widerstandsfähiger sein lassen gegenüber stressbelasteten Situationen mit dem Ergebnis, dass er in der Lage ist, einigermaßen unbeschädigt aus der Krisensituation hervorzugehen. Die Fähigkeit zur Bewältigung ist nur ein möglicher Faktor und auch sie wird beeinflusst von verschiedenen Aspekten, die im letzten Abschnitt des vierten Kapitels betrachten werden sollen. Kann das Erlebte nicht verarbeitet werden und wird deshalb zum Trauma, dann ändert sich, auch das wird in der Definition deutlich, das bisherige Leben des nun Traumatisierten.
Die Betrachtung der verschiedenen Definitionen lässt folgende Zusammenfassung zu, die als Traumadefinition für diese Arbeit gilt:
Ein Trauma ist eine psychische Verletzung, die verursacht wird durch eine als (lebens )bedrohlich wahrgenommene10Situation, die von dem Betroffenen (mit allen Sinnen bewusst und intensiv) wahrgenommen wird, u.a. Angst und Hilflosigkeit auslöst und nicht verarbeitet werden kann, so dass sie sich in der Folge auf das gesamte Leben, Denken und Fühlen auswirkt. Beeinflussende Faktoren sind u.a. das Wie und Was des Geschehens, die Persönlichkeit des Betroffenen und die Dauer bzw. Häufigkeit der traumatisierenden Situation.
Markus A. Landolt und Thomas Hensel eruieren, dass es eine große Spannbreite von Erlebnisse gebe, die die einzelnen Bestandteile potentiell traumatischer Geschehnisse enthielten. Die Spannbreite reiche von körperlicher und sexueller Gewalt, Unfällen und lebensbedrohlichen Krankheiten bis hin zu Naturkatastrophen.11 So gesehen erlebt fast jeder Mensch in seinem Leben Ereignisse, die potentiell traumatisierend sind. Nach Gaby Gschwend liegt die Wahrscheinlichkeit, im Leben eine traumatische Situation zu erfahren, zwischen 50–80%.12
Traumata werden in der Psychologie nach verschiedenen Schwerpunkten klassifiziert:
1. Dauer: Eine Möglichkeit der Unterscheidung liegt in der Dauer, die ein Mensch der potentiell traumatisierenden Situation ausgesetzt ist. Hier unterscheidet man zwischen zwei Typen: Typ I bezeichnet ein Geschehen, welches einmalig, plötzlich und von kurzer Dauer und eindeutig abgegrenzt ist durch einen deutlichen Beginn und ein deutliches Ende. Dies ist z.B. bei Unfällen, einmaligen Vergewaltigungen, Naturkatastrophen oder auch bei Schusswechseln der Fall.13 Nach Jo Eckardt herrscht in diesen kurzen Trauma-Momenten die Angst vor, das eigene Leben könne vernichtet werden. Die Erfahrung, dass sich das Schicksal von dem einen Augenblick zum anderen gegen einen selbst wendet, bedrohe das Vertrauen, dass der Mensch in seine Umwelt, in sich selbst und seine Mitmenschen setzte, fundamental.14 Gerade weil diese Ereignisse nur von verhältnismäßig kurzer Dauer sind, ist ihnen die Möglichkeit zu eigen, dass sie nicht traumatisierend sein müssen, sondern verarbeitet werden können. Als Trauma-Typ II hingegen bezeichnet man sich wiederholende traumatisierende Erfahrungen, z.B. durch wiederkehrenden sexuellen Missbrauch oder Misshandlung, Kriegserfahrungen, Mobbing, Folter etc.15 Das traumatisierende Geschehen hat also nicht unbedingt einen deutlichen Anfang und für die Betroffenen auch kein absehbares Ende. Teilweise ist das Handeln der Täter vorhersehbar, was es jedoch nicht weniger schrecklich macht. »Vielleicht fängt es sogar ganz ›harmlos‹ an, doch im Laufe der Zeit verliert man auch in dieser Art des Traumas das Vertrauen in die Welt und in sich selbst.«16 Eine mögliche Entwicklung könnte sich wie folgt ergeben: Der Vater hat Stress an seiner Arbeitsstelle und als sein Sohn an diesem Abend mit einer schlechten Mathenote nach Hause kommt, rastet der Vater aus und gibt ihm eine Ohrfeige. Aufgrund der sich nicht verändernden Situation im Beruf beginnt der Vater abends einen Entspannungstrunk zu nehmen, was sich über Wochen und Monate zu regelmäßigem Alkoholkonsum steigert. Immer öfter geht der Vater direkt von der Arbeit in die Kneipe und kommt betrunken nach Hause. Als seine Frau ihn schließlich zur Rede stellt, ohrfeigt er auch sie. In der folgenden Zeit reichen Kleinigkeiten aus, um den Vater aus der Fassung zu bringen. Er beginnt zu prügeln, erst den Sohn, dann die Mutter. Was vermeintlich harmlos mit dem Stress am Arbeitsplatz begann, steigert sich für die Familie des Mannes zum Martyrium und damit zu einer anhaltenden traumatischen Erfahrung, denn die Mutter schafft es nicht, sich von ihrem Mann zu lösen und mit dem Jungen zu gehen, zumal der Vater, wenn er nicht unter Alkoholeinfluss steht und keinen Stress hat, sich stets ausgiebig entschuldigt und verspricht, dass so etwas nie wieder vorkommen werde. Das Verhalten des Vaters wird für die Mutter und den Sohn vorhersehbarer und trotzdem ist es traumatisierend, denn beide fühlen sich in der Anwesenheit des Vaters zunehmend unsicherer, eingeschüchtert, ängstlich, ohnmächtig und hilflos. Die Wahrscheinlichkeit, durch ein solches anhaltendes traumatisierendes Geschehen nicht traumatisiert zu werden, ist meiner Meinung nach mehr als gering. Vielmehr ist mit Anpassungsreaktionen seitens der Opfer zu rechnen, die den Versuch darstellen, die traumatisierende Situation emotional und gedanklich für die Betroffenen erträglicher zu machen. In dem beschriebenen Beispiel könnte eine Anpassung darin bestehen, dass sich der Sohn, wenn der Vater ihn schlägt, einredet, dass er es mit Sicherheit verdient habe und der Vater schon im Recht sei. Oder aber er könnte sich einreden, der Vater zeige seine Liebe zu seiner Familie durch körperliche Gewalt.
2. Ursachen: Eine weitere Möglichkeit der Trauma-Klassifizierung erfolgt anhand ihrer Ursachen. Jo Eckardt unterscheidet diesbezüglich 1. Erlebnisse, die von Menschen verursacht wurden, sogenannte »man made disaster« (Mord, Raub, Vergewaltigung, Missbrauch, Mobbing, Entführungen, Sadismus),17 2. Unfälle, Naturkatastrophen und Krieg18 (der Unterschied zur ersten Kategorie bestehe darin, dass die Opfer zufällig seien und eben nicht bewusst ausgesucht), 3. Lebensgefährliche Krankheiten19 und 4. Verlust eines Angehörigen.20 Allein in dieser Klassifizierung wird deutlich, wie viele unterschiedliche Kategorien potentiell traumatisierender Ereignisse es gibt.
3. Opfer: Eine dritte Unterscheidungsmöglichkeit orientiert sich an den Betroffenen. Hierbei unterscheidet man zwischen Primäropfern, also solchen Personen, die von dem traumatischen Geschehen unmittelbar betroffen sind,21 und den Sekundäropfern. Bei letzteren handelt es sich um Menschen, die physisch nicht direkt betroffen sind, aber das Geschehen mit angesehen haben, so z.B. Ersthelfer und Einsatzkräfte bei einem Unglück.22 Zu sogenannten Tertiäropfern hingegen werden oft Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Kollegen, die bei dem traumatisierenden Geschehen selbst nicht anwesend waren, auch nichts gehört und gesehen haben, aber durch die Erzählung dessen, was passiert ist, und die auch für sie spürbaren Folgen traumatisiert werden.23
Gleichgültig, welcher Klassifikation man folgen mag, für alle Traumaopfer wesentlich ist, dass für sie das alltägliche Leben, so wie sie es bisher kannten und gestalteten, zumindest teilweise nicht mehr existiert. Oft geht durch das Geschehen das Vertrauen in andere Menschen, in die Welt, in das eigene Selbst und die eigene Kraft, in das Schicksal oder auch in Gott verloren. Betroffene Personen fühlen sich durch die traumatisierenden Ereignisse aus dem Leben gerissen, auf sich allein gestellt, ohnmächtig, verängstigt und oft auch hoffnungslos.
Traumatisierungen sind kein neues Phänomen, wenngleich erst in der Folge des Vietnamkriegs die Forschung in diesem Bereich aktiver vorangetrieben wurde. Die jeweiligen Erkenntnisse und Ergebnisse sind jedoch abhängig von den unterschiedlichen psychologischen Strömungen und ihren an das Thema angelegten Leitlinien und Voraussetzungen. Im Folgenden soll anhand ausgewählter Modelle ein kurzer Überblick über die Traumaforschung gegeben werden. Das Trauma wird daher zunächst aus psychoanalytischer, aus neuropsychologischer, aus lerntheoretischer und kognitionstheoretischer Sicht betrachtet, bevor das Trauma-Verlauf-Modell der Psychotraumatologie nach Fischer und Riedesser vorgestellt werden wird.24
Der Traumabegriff hat im psychoanalytischen Verständnis eine wechselvolle Geschichte. Nachdem Freud zunächst von der Annahme ausgegangen war, dass zumindest in einigen Fällen die Möglichkeit realer Traumatisierungen denkbar war, rückte er später davon ab und postulierte, dass es sich vielmehr um innerseelische Fantasien handle. Dennoch wurden bereits damals Hypothesen zur innerseelischen Dynamik traumatischen Erlebens entwickelt, die sich in modernen Konzepten zumindest teilweise wiederfinden. Der Psychoanalytiker Werner Bohleber gibt in seinem Aufsatz »Die Traumatheorie in der Psychoanalyse« einen guten Gesamtüberblick über das Forschungsfeld, weshalb ich mich wesentlich an ihm orientiere, jedoch auch andere Quellen hinzuziehe.25 Freud und Breuer betrachteten in ihrem Werk »Studien über Hysterie« die Erinnerung an ein traumatisches Geschehen, so Bohleber, als einen Fremdkörper, der sich in der Psyche des Menschen festsetze und dort seine Wirkung entfalte. Dies sei so lange möglich, bis die betroffene Person den Fremdkörper bearbeite, indem sie ihn erinnere und die »[…] eingeklemmten Affekte […]« abreagiere.26 Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch schreibt dazu: »Die Herkunft Freuds aus der Physiologie und Neuroanatomie lässt ihn – zusammen mit Breuer – eine Abfolge von traumatischen Reizen auf das Nervensystem annehmen, eine adäquate Abreaktion des Reizes bzw. eine Hinderung dieser Abreaktion und dadurch Verursachung von Symptomen, die in ihrer ursächlichen Qualität vorerst verschlüsselt bleiben.«27 Die Symptome (Freud meint damit noch die Hysterie) sind also die Folge einer nicht möglichen bzw. nicht gelingenden Abwehr von traumatischen Reizen durch die menschliche Psyche. Diese würden dann, so Bohleber nach Freud, als Fremdkörper in der Psyche gespeichert. Wenig später jedoch revidierten Freud und Breuer ihre These dahingehend, dass sie feststellten, dass es sich bei diesen abgespaltenen Erinnerungen nicht um einen isolierten Fremdkörper handle, sondern um ein »Infiltrat«, das, so Bohleber, nur bearbeitet werden könne, indem man es gerade nicht isoliere, sondern, vereinfacht gesagt, integriere.28 Hirsch fasst zusammen:
»Hier lassen sich bereits die Wurzeln moderner Traumatheorien erkennen: Das überwältigend traumatische Ereignis ist nicht bewusstseinsfähig, nicht symbolisch repräsentiert, es ist verdrängt […]. Freud bemerkte bereits, dass der Traumatisierte zu einer adäquaten Reaktion unfähig ist, dass er dem traumatischen Ereignis ohnmächtig gegenübersteht. ›Abreagieren‹ und ›erledigen‹ ersetzen wir heute durch ›verarbeiten‹ und ›integrieren‹, oft genug, ohne eine genaue Definition dieser Begriffe zu geben.«29
Folgt man Hirschs Überlegungen zu Freud, dann müssen traumatische Reize, die als Infiltrate in der Psyche ihre Wirkung entfalten, »aufgelöst« werden.
Freud entwickelte seine Gedanken zum Trauma weiter, nachdem er, so Bohleber, durch die Ereignisse des ersten Weltkriegs mit sogenannten Kriegsneurosen konfrontiert wurde. Als Fazit dieser Zeit kann zusammengefasst werden, dass Freud seine Ideen zur Entstehung des Traumas mit dem Konzept des Reizschutzes weiterentwickelte.30 Freud konzipierte, so Hirsch, das Ich des Menschen als Schaltstelle zwischen den eigenen Triebansprüchen und den Forderungen der sozialen Umwelt. Den psychischen Apparat, dessen Aufgabe darin bestehe, das Selbst des Menschen vor einer Überschwemmung mit traumatischen Reizen zu schützen, nannte er einen Reizschutz.31 Der Reizschutz jedoch würde im traumatischen Erleben durchbrochen, da die Reizmenge zu groß und zu stark sei.32 In der Folge bezeichnete Freud solche Erregungen, die von außen kommen und stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, als traumatisch.33
Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgte in Freuds Schrift »Hemmung, Symptom und Angst«, in welcher er, nach Bohleber, zu folgendem Ergebnis kam: »Die übergroße Erregungsmenge in der traumatischen Situation erzeugt eine massive automatische Angst, die das Ich überflutet und es absolut hilflos macht. Die automatische Angst hat einen unbestimmten Charakter und ist objektlos.«34 Diese auftretende automatische Angst, so Bohleber, werde nach Freud zunächst vom Ich in Signalangst umgewandelt, um anstelle der Hilflosigkeit eine Erwartung zu setzen. »Diese Signalangst hat den Zweck, eine möglicherweise eintretende Gefahr und damit gerade eine automatische Angst und Traumatisierung zu vermeiden.«35 Das Ich wiederhole dann in abgeschwächter Form die traumatische Situation, mit dem Ziel, den Ablauf selbstständig leiten und die traumatische Situation als abschätzbare Gefahrensituation verinnerlichen zu können.36 Bohleber weist außerdem darauf hin, dass für Freud eine traumatische Situation nicht nur durch äußere Reize hervorgerufen werden könne, sondern auch durch übermäßige Trieberregungen.37 »Entscheidend ist ein Zuviel an Erregung und ein gelähmtes hilfloses Ich, das außerstande ist, den seelischen Spannungszuwachs abzuführen und psychisch zu binden.«38
Ferenczi widmete sich in seiner Forschung, so Bohleber, hauptsächlich dem Trauma des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Er fand heraus, dass ein Kind, das dem Erwachsenen, insbesondere wenn es Vater (oder Mutter) ist, vertraut, von ihm Sicherheit und Schutz erwartet und durch den Missbrauch in einen unüberwindbaren Konflikt gestürzt wird. Es müsse das Bild des wohlsorgenden Erwachsenen aufrechterhalten, wolle es überleben, und sei deshalb gezwungen, sich mit dem Täter zu identifizieren.39
»Es ist eher eine Unterwerfung, ein Akzeptieren des traumatischen Systems, ein introjektives Hineinnehmen des Täters, dessen Bild dadurch – weil er ja als lebensnotwendig gebraucht wird - ›gut‹ bleiben kann, als liebender Vater zum Beispiel, während das Böse, das in der traumatischen Gewalt enthalten ist, und die Schuld des Täters in das Kind bzw. das Opfer gelangt. Dort wirkt es fortan selbstwerterniedrigend und regelmäßig Schuldgefühle verursachend – das Opfer empfindet das Schuldgefühl, das der Täter nicht haben kann.«40
Identifikation mit dem Täter bedeutet: Das Kind ordnet sich diesem vollkommen und ohne Gegenwehr unter. Um das Bild des liebevollen Vaters aufrechterhalten zu können, eben weil das Kind glaubt, ohne ihn nicht überleben zu können, nimmt es das traumatische Geschehen als Introjekt nach innen und bewahrt sich so das Bild des liebenden Vaters. Außerdem komme ein weiteres hinzu: Das Kind erfahre keinerlei Unterstützung oder Hilfe seitens der Mutter.41 Da diese nicht eingreift oder das Kind beschützt (weil sie von der Gewalt des Vaters gegen das Kind nichts weiß oder nichts wissen will), kann das Kind das traumatische Geschehen nicht abwehren. »Das nicht assimilierte Introjekt verschmilzt mit dem Selbst in einer primären, globalen Identifikation […].«42 In der Folge richtet sich die internalisierte Gewalt entweder gegen das eigene Selbst (etwa durch selbsterniedrigende Gedanken und Emotionen von Selbsthass und Schuld oder Selbstverletzungen) oder sie richtet sich durch Aggressionen gegen andere, insbesondere Schwächere.43
Hirsch beschreibt, dass die neueren Untersuchungen in der Psychoanalyse hinsichtlich des Trauma-Begriffs die menschlichen Beziehungen zum Forschungsgegenstand hätten.44 Er trifft u.a. die Unterscheidung zwischen Akuttraumatisierungen und chronisch-familiären Traumata. Die Psychoanalyse habe sich, seiner Auffassung nach, hauptsächlich mit der zweiten Kategorie, deren Betroffene er auch als komplex traumatisiert bezeichnet, zu beschäftigen. Er verweist auf die Relevanz sogenannter sequentieller Traumata, etwa dann, wenn eine Person eine akute traumatische Erfahrung mache, jedoch in der Vergangenheit bereits familiäre Traumatisierungen erlebte und nun beide Traumatisierungen kumulierten. Nur das Akut-Trauma zu behandeln, greife in diesem Fall zu kurz. Vielmehr müsse auch das komplexe Trauma aufgearbeitet werden. Das Problem sei generell folgendes: »›Komplex‹ Traumatisierte entwickeln oft keine lautstarken, der traumatischen Situation entsprechenden Symptome, eher Beziehungs- und Selbstwertstörungen, Arbeitsstörungen, Depressionen, Suizidalität.«45 Werde ein vergessenes Kindheitstrauma im Erwachsenenalter jedoch plötzlich wiedererinnert (und wiedererlebt), dann könnten durchaus Symptome einer typischen Traumafolgestörung auftreten.46
Des Weiteren beschäftigt sich die Psychoanalyse vor dem Hintergrund des beschriebenen Traumaverständnisses mit Transgenerationaler Weitergabe und mit Dissoziationen.
Transgenerationale Weitergabe: Vor dem Hintergrund der bereits dargestellten Vorgänge zur Entstehung eines Introjekts verweist Hirsch darauf, dass solche Introjekte, eben weil sie sich gegen das eigene Selbst oder Schwächere, also auch die eigenen Kinder, richteten, über die Generationen hinweg weitergegeben werden könnten. »Die sadistische Form der Identifikation ahmt den Täter nach, gibt ihm nachträglich Recht (›Mir haben die Prügel nicht geschadet, also prügele ich mein Kind auch!‹), das Resultat ist Verminderung des Schuldgefühls, Wendung der verinnerlichten Gewalt gegen Schwächere – die wiederum Opfer werden.«47 Gleichzeitig finde eine Aneignung der kindlichen Lebendigkeit statt. Die narzisstisch bedürftigen Eltern nähmen sich von ihrem Kind, was ihnen nützte, und seien wütend, wenn es sich entferne oder verweigere.48 Aus diesen Beobachtungen Hirschs lässt sich schließen, dass das Kind gleich auf zweierlei Weise leidet: Es internalisiert die Gewalt in Form eines Introjekts und leidet unter diesen Folgen. Gleichzeitig wird ihm seine kindliche Lebendigkeit ›abgezapft‹, was den Verlust von Leichtigkeit, Freiheit und Lebensfreude bedeutet. Einen weiteren damit einhergehenden Vorgang beschreibt Hirsch als Verschmelzungsvorgang: »Die Kinder versetzen sich in die Eltern hinein und versuchen, in der Fantasie das Trauma der Eltern wiederzubeleben, was die Projektion von Trauer und Aggression der Eltern auf die Kinder erleichtert.«49 Die Kinder stünden unter dem Zwang, sich stets empathisch in die Eltern einzufühlen, um ihre ungelebten Emotionen zu empfinden. Sie würden gleich einer Rollenumkehr fürsorglich den Defekt der Eltern auszufüllen versuchen.50 Eine Frau, die von ihrer Stiefmutter immer wieder vermittelt bekam, dass sie nichts tauge und nichts, was sie tue oder sage, perfekt und richtig sei, gibt diese Erfahrung an ihre Tochter weiter, die den Anspruch der Stiefgroßmutter, perfekt zu sein, unbewusst für ihre Mutter erfüllen will, damit das Schicksal der eigenen Mutter gemildert und erfüllt wird. Weitere Beispiele ließen sich anführen, etwa sexueller Missbrauch in der Familie, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, weil aus ehemaligen Opfern aufgrund des Introjekts Täter werden, bzw. Frauen, die Partner wählen, die die eigenen Kinder ebenfalls missbrauchen usw.
Hirsch beschreibt dagegen Dissoziationen als Abspaltungszustände, bei denen der betroffene Mensch, hauptsächlich dann, wenn er Gewalt gegen seinen Körper erfährt, den Körper von der Psyche abspaltet, um das Selbst zu retten.51 Dissoziation werde aus diesem Grund auch als eine der Hauptabwehrreaktionen gegen traumatische Gewalt verstanden. Außer als Abspaltung könne Dissoziation auch als nicht gelingender Bewältigungsversuch einer traumatischen Erfahrung beschrieben werden.52 Solche Momente sind von veränderten Bewusstseinszuständen, etwa von Trance und Amnesie bis hin zur Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen, geprägt.53 Ein Beispiel aus eigener Beobachtung beschreibt den Zustand der Dissoziation eindrücklich:
Für ein Familienfest mit Pflegefamilien hatte eine Pflegefamilie ein Spiel vorbereitet. Alle Personen saßen in einem Stuhlkreis, während der Spielleiter in der Mitte stand. Jeder hatte eine farbige UNO-Karte in der Hand. Der Spielleiter zog nun jeweils eine Karte und hielt sie sichtbar für alle in die Luft. Hielt er eine rote Karte hoch, dann durften alle Personen, die eine rote Karte hatten, einen Stuhl weiterrutschen. War dieser Stuhl besetzt, setzte man sich auf den Schoß der dort sitzenden Person, was diese wiederum am Weiterrutschen hinderte. Ziel war es, möglichst schnell eine komplette Runde von Stuhl zu Stuhl zu rutschen und seinen eigenen Sitzplatz wieder zu erreichen. Das Spiel begann und Kinder und Erwachsene lachten und jubelten, während sie von Stuhl zu Stuhl rutschten. Plötzlich jedoch bemerkte eine Pflegemutter, dass ihr Junge fehlte. Sie fand ihn zusammengekauert unter einem Stuhl. Er wirkte abwesend und war nicht ansprechbar. Der Junge befand sich in einem dissoziativen Zustand. Er war mehrfach sexuell missbraucht worden und das Sitzen auf dem Schoß eines anderen hatte in ihm die Dissoziation ausgelöst. Zwar hatte er sich noch unter einen Stuhl ›retten‹ können, doch von dem Geschehen um ihn herum nahm er jetzt nichts mehr wahr.
Mit Bohleber lässt sich zusammenfassen, dass die menschliche Psyche im Sinne eines Notfallmechanismus die Strategie der Dissoziation anwendet, um sich vor Schmerz und Angst zu schützen.54
In der Therapie von traumatisierten Klienten ist die Psychoanalyse gefordert, einen von ihren üblichen Methoden abweichenden Weg einzuschlagen. So postuliert u.a. Luise Reddemann: »Eine Psychotherapie für Patientinnen, bei denen Traumatisierungen im Vordergrund stehen, erfordert unserer Überzeugung nach andere technische Vorgehensweisen, als sie zur Behandlung von Patientinnen mit Konfliktpathologien oder auch mit ich-strukturellen Störungen beschrieben wurden.«55 Dies sei deshalb der Fall, weil ein sogenanntes »Normal-Ich« nicht vorausgesetzt werden könne und die Anwendung von »strukturbezogenen Methoden« den traumatisierten Patienten nicht gerecht werde. Sie schlägt deshalb vor, auch andere Techniken in die Therapie mit einzubeziehen, auch wenn sie von anderen Therapieschulen stammen. Ziel sei es, die Selbstheilungskräfte des Menschen zu fördern, die Abwehrmechanismen der Dissoziation, der Spaltung, der Verleugnung und der Externalisierung in der Therapie bewusst zu nutzen und besonders imaginative Techniken, wie u.a. auch die Hypnotherapie, auf die im Folgenden kurz genauer eingegangen werden soll, einzusetzen.56
Die Methode der Hypnose, wie sie in der Hypnotherapie eingesetzt wird, hat das Ziel, dem Patienten zu helfen, seine eigenen Ressourcen zu finden. Die Psychotherapeutin Agnes Kaiser Rekkas beschreibt, wie das gelingen kann:
»Der hypnotische Zustand entkrampft physisch und psychisch. Durch Tiefenentspannung mit vegetativer Umstellung bzw. Harmonisierung wird somatische Heilung unterstützt. Psychisch wird mehr Freiraum gewonnen, mental werden innere Bezugsrahmen erweitert und Handlungsspielräume vergrößert. Insgesamt können wir von einer Stärkung der Persönlichkeit im positiven Sinne ausgehen, womit die Autonomie des Patienten gefördert wird. Traumata können aufgefunden und bearbeitet werden. Hypnose verändert innere Bilder.«57
Die Autorin beschreibt Hypnose als einen entspannten und damit auch entängstigenden Zustand, der für den Patienten erholsam sei. Hier geschehe Neuorientierung und Lernprozesse gingen vonstatten.58 Die Therapie selbst vollzieht sich nach ihrem Begründer Milton H. Erikson in drei Grundschritten: In der Vorbereitungsperiode werde der Patient auf eine Neuorientierung vorbereitet. Dies schafft in dem Patienten eine Erwartungshaltung, die wichtig ist für den Therapieprozess. In der zweiten Phase, der therapeutischen Trance, werden die »[…] Beschränkungen der eigenen gewohnten Bezugsrahmen und Überzeugungen vorübergehend aufgehoben […], so daß der Betreffende für andere Assoziationsmuster und psychische Funktionsweisen empfänglich ist, die ihn einer Problemlösung näher bringen.«59 Die Trance-Erfahrung selbst kann nicht bei jedem auf die gleiche Weise induziert werden, sondern ist personenabhängig und bedarf daher verschiedener Zugänge.60 Im dritten und abschließenden Schritt, der Ratifizierung des therapeutischen Prozesses, wird versucht, den Patienten auf seinen veränderten Zustand hinzuweisen. Der Patient soll im Anschluss an die Trance die minimalen Veränderungen, die in diesem Zustand erlebt wurden, erkennen und auch bewerten können, damit sie auch nachhaltig Einfluss auf sein alltägliches Leben haben können.61
Auch in der Hirnforschung gewannen traumatische Erfahrungen zunehmend an Bedeutung. Die neurobiologische Forschung widmete sich dabei hauptsächlich der Frage, wie ein Trauma vom Gehirn verarbeitet werden kann.62 Ich folge in meiner Darstellung im wesentlichen Ilka Lennertz, werde jedoch andere Autoren ergänzen. Die Autorin verweist zunächst auf Studien, die sich besonders mit neurobiologischen Untersuchungen beschäftigten. Diese ließen den Schluss zu, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung möglicherweise zu Veränderungen im Gehirn führen könne.63 Menschen, die darunter litten, wiesen demnach einen verkleinerten Hippocampus auf.64 Der Hippocampus ist für die Verarbeitung von Erlebnissen, die Gedächtnisspeicherung und u.a. die Regulierung des Stresshormons Cortisol zuständig.65 Vermutlich wirke sich der veränderte Cortisolspiegel negativ auf den Hippocampus aus, so die ersten Erklärungen. In der Folge eines Traumas sei die Regulierung der Cortisolausschüttung im Sinne einer »Übersteuerung« gestört, was die Schädigung im Gehirn zur Folge haben könne.66 Diese ersten Erklärungsversuche werden inzwischen in Teilen kritisiert. So verweisen Psychologen wie Peter Klaver auf neuere Untersuchungen, die zeigen konnten, dass Volumenunterschiede beim Hippocampus auch schon vor einem Trauma vorliegen können.67
Eine andere Forschungsrichtung innerhalb der Hirnforschung beschäftigt sich mit dem Gedächtnis. Mit diesem Thema befindet sie sich an der Schnittstelle zwischen Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften, denn in beiden Forschungsrichtungen spielt das Gedächtnis eine entscheidende Rolle.
Aus diesem Grund finden sich Abhandlungen zum Gedächtnis und zu verschiedenen Gedächtniskonzepten in den Handbüchern der Kognitionspsychologie. Einzelne Autoren hingegen (z.B. Lennertz und Streeck-Fischer) betrachten ihre Abhandlungen zum Gedächtnis unter dem Aspekt der Neurobiologie. Ich folge ihrem Beispiel.
Nach Lennertz besteht eine der wichtigsten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse in der Feststellung, dass es im Gehirn nicht den einen Gedächtnisort gibt, sondern dass verschiedenen Gehirnarealen verschiedene Gedächtnisleistungen zugeordnet werden können.68 Generell unterscheide man zwei verschiedene zeitabhängige Gedächtnissysteme, deren Namen bereits Aussagen über die Dauer der in dem Gedächtnis zur Verfügung stehenden Informationen geben: das Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis (beim Kurzzeitgedächtnis bleibt die Information dementsprechend kürzer gespeichert als beim Langzeitgedächtnis).69 Das Langzeitgedächtnis unterteilt man wiederum in ein explizites und ein implizites Gedächtnis.70 Die letztere Unterteilung beziehe sich dabei auf den Akt des Abrufens von Informationen.71 Das explizite Gedächtnis sei die Beschreibung dessen, was man im Alltag unter Erinnerung verstehe: Das bewusste Abrufen von Erfahrungsinhalten.72 So berichtet man Freunden Anekdoten aus dem Urlaub, an die man sich in dem Moment erinnert, in dem man sie erzählen möchte. Auch das Ziel, nach dem Mittagessen noch Brot und Milch einkaufen zu gehen, kann bereits während des Mittagessens abgerufen werden.
Als implizit werden hingegen Gedächtnisleistungen bezeichnet, die nicht durch ein bewusstes Erinnern abgerufen werden, sondern durch Handlungen, Fertigkeiten, Gewohnheiten oder durch klassisches bzw. operantes Konditionieren etc. Diese Form des Erinnerns könne auch als reflexiv bezeichnet werden, da sie sich nur langsam und durch viele Wiederholungen herausbilde.73 Eine Person, die Fahrrad fährt, erinnert sich nicht bewusst daran, wie sie mit dem Fahrrad umgehen muss, damit es fährt, ohne umzustürzen. Der Fahrradfahrer hat durch viele Versuche (wahrscheinlich bereits als Kind) gelernt, wie man mit einem Fahrrad fährt. Jetzt denkt er darüber nicht mehr bewusst nach, sondern setzt sich auf den Sattel und tritt in die Pedale.74 Lennertz fasst daher zusammen: »Der Abruf impliziten Wissens erfolgt durch Handeln, der von explizitem durch Denken.«75 Nach Annette Streeck-Fischer werden traumatische Erlebnisse im impliziten Gedächtnis (sie nennt es prozedurales Gedächtnis) abgespeichert.76 Man nehme an, so die Autorin, dass die Erlebnisinhalte eines Traumas als Prägung gespeichert und mit Konditionierung verbunden seien, so dass äußere Auslöser diese sofort reaktivieren können.77 Aus diesem Grund neigten Kinder und auch Jugendliche dazu, ihre traumatischen Erfahrungen zu inszenieren. Es handle sich dabei um ein reflexhaftes Verhalten.78 »Durch äußere Trigger, die die ursprüngliche traumatische Belastungserfahrung reaktivieren, kommt es zu den primären Antwortmustern wie Kampf, Flucht, Erstarrung, die als selbstschützende, vorbewusste Verhaltensweisen anzusehen sind.«79 Streeck-Fischer orientiert sich mit dieser Vorstellung an dem Traumaforscher Bessel van der Kolk. Dieser entwickelte, entsprechend der Hypothese eines narrativen Gedächtnisses, also eines Gedächtnisses, in welchem die autobiographischen Erfahrungen abgespeichert werden, die These eines Trauma-Gedächtnisses bei Traumapatienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung.80 Seine Überlegungen fußen auf der Beobachtung, so Lennertz, dass diese Betroffenen die traumatischen Erlebnisse anfangs oft nicht narrativ erinnern können. Stattdessen führten äußere sensorische Reize, wie Gerüche, Lärm, Farben u.ä. zu starken Erinnerungseinbrüchen an das Geschehen.81 »Our interviews with traumatized people, as well as our brain imaging studies on them, seem to confirm that traumatic memories come back as emotional and sensory states with little verbal representation. […] According to Janet, traumatic memory consists of images, sensations, affective states, and behaviors that are invariable and do not change over time. He suggested that these memories are highly state-dependent and cannot be evoked at all. They also are not condensed in order to fit social expectations. In contrast, narrative (explicit) memory is semantic and symbolic; it is social and adapted to the needs of both the narrator and the listener; and it can be expanded or contracted, according to social demands.«82 Erklärt werden könne dieses Phänomen mit der Hypothese, dass traumatische Erfahrungen im Gehirn auf einer niedrigeren (phylogenetisch älteren) Verarbeitungsebene abgespeichert und verarbeitet werden.83 Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass ein traumatisches Ereignis im Gehirn nur fragmentarisch erhalten wird und nur bruchstückhaft im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden kann.84
Dieser Tatsache versucht die Therapiemethode EMDR (Eye movement desensitization and reprocessing) zu begegnen. Die Grundlage dieser Therapie bildet die Annahme, dass in jedem Menschen ein Mechanismus zur Traumaverarbeitung, ein sogenanntes »adaptives System zur Verarbeitung von Informationen«, angelegt ist.85 Dieses wurde jedoch durch das traumatische Geschehen überschwemmt und war deshalb, wie die Darstellung der neurophysiologischen Abläufe zeigen konnte, nicht in der Lage, das Geschehen ordnungsgemäß zu verarbeiten. Mittels EMDR wird das adaptive System nun zur Verarbeitung angeregt.86 »EMDR wirkt vor allem, weil es zunächst die traumatischen Erinnerungen mit all ihren verschiedenen – visuellen, emotionalen, kognitiven und physischen (den körperlichen Empfindungen) – Komponenten aufruft und dann das ›adaptive System zur Informationsverarbeitung‹ anregt, dem es bis dahin nicht gelungen ist, die störende Prägung zu ›verdauen‹.«87 Dies geschieht, in dem der Therapeut den Patienten zuerst bittet, sich die belastende Situation ins Bewusstsein zu rufen. Anschließend wird der Betroffene aufgefordert, mit den Augen der Handbewegung des Therapeuten zu folgen, der diese schnell von rechts nach links und wieder zurück bewegt. »Damit sollten schnelle Augenbewegungen ähnlich jenen angeregt werden, die spontan (während des so genannten REM-Schlafs […]) im Traum stattfinden.«88 Diese Augenbewegung, so die Vermutung, stelle einen Weg zu all jenen Assoziationen her, die mit dem Trauma verbunden sind und ermögliche es, diese mit den kognitiven Netzen zu verbinden.89 Die neuronale fragmentarische Abspeicherung der einzelnen Reize wird auf diesem Weg zu einem Ganzen verbunden, mit der Gegenwart verknüpft und kann damit auch emotional verarbeitet werden.
Die Forschungsmodelle der Lern- und Kognitionstheorien beschäftigen sich im Wesentlichen mit den Folgen des Traumas, insbesondere mit dem Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung. Ich folge in meiner Abhandlung dem Klinischen Psychologen Andreas Maercker.
Die Grundlage allen lerntheoretischen Forschens zu den Themen Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung bildet die These, dass durch das traumatische Geschehen zentrale Gedächtnisinhalte hinsichtlich Struktur und Funktion nachhaltig verändert würden.90 Zu einer bedeutsamen Erkenntnis gelangten Edna B. Foa und Michael J. Kozak, welche die durch das Trauma veränderten Gedächtnisstrukturen als Furchtstrukturen bezeichneten.91 Diese bildeten sich, so Maercker, während des Traumas heraus, weil ein starker emotionaler Stimulus, meist sei dies Todesangst, sowohl mit kognitiven Elementen als auch mit körperlichen Reaktionen gekoppelt werde.92 Insgesamt bestehe die Furchtstruktur deshalb aus drei verschiedenen Elementen: 1. einem kognitiven Stimulus (u.a. das Trauma mit seinen Merkmalen), 2. physiologischen Reaktionen (Herzrasen, steigender Blutdruck, stockender Atem usw.) und 3. der emotionalen Bedeutung (Angst vor dem Verlassen-Werden, Todesangst, Ohnmacht und Hilflosigkeit usw.).93 Sei diese Furchtstruktur einmal ausgebildet, so sei sie leicht durch Schlüsselreize zu aktivieren, wie etwa Bilder und Fakten (aus den Nachrichten), Körperreaktionen oder Emotionen. Je mehr Elemente die Furchtstruktur beinhalte, desto mehr verschiedene Schlüsselreize könnten sie aktivieren. Allerdings, darauf verweisen die Autoren Foa und Kozak, sei der Aufbau einer Furchtstruktur nach einem traumatischen Geschehen ein natürlicher Vorgang und kein pathologischer Prozess. Pathologisch werde der Prozess jedoch, wenn die Furchtstruktur nicht wieder in den ersten Tagen oder Wochen nach dem traumatischen Ereignis zurückgebildet werde, sondern verhaltensrelevant bleibe.94 Weise die Furchtstruktur einen pathologischen Charakter auf, dann könne dem nur therapeutisch begegnet werden, indem alle Elemente (Fakten, Körperreaktionen und Emotionen) therapeutisch reaktiviert und bearbeitet würden, so dass schließlich eine Angstrückbildung eintrete.95 Der Vorteil dieses Modells sei, so Maercker, dass es alle Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (auf die noch einzugehen sein wird) erklären könne und gleichzeitig durch wichtige Studien habe belegt werden können.96
Mardi Horowitz baut seine Forschung auf der Prämisse der kognitiven Schemata im Gedächtnis auf. »Kognitive Schemata sind als im Gedächtnis repräsentierte Informationsmuster definiert, die die Wahrnehmung und das Verhalten steuern und organisieren.«97 Ein solches Schema sei u.a. das Selbstschema zu dem beispielsweise Elemente wie Selbstbilder und Rollen zu zählen seien. Auch Weltanschauungen stellten ein solches Schema dar.98 Maercker erklärt diese These mit zwei Beispielen, von denen ich nur das zweite zur Verdeutlichung wiedergebe. Er beschreibt darin einen Menschen, dessen Selbstbild durch das Trauma erschüttert wurde. Hatte die Person vorher das Selbstbild als eigenständige, selbstbewusste und kraftvolle Person, so könnten die traumatischen Ereignisse das Selbstbild dahingehend verändern, dass sich die Person nun als schwach und unsicher erlebe. Ihr Selbstbild stelle dann dar: Ich bin verletzlich.99 Demnach führe ein Trauma zur Veränderung des Selbstbildes. Nach Horowitz blieben diese durch das Trauma veränderten Schemata so lange im Gedächtnis aktiviert, bis sie durch weitere Informationen und deren Verarbeitung zu den früheren Schemata passten. Die neuen Schemata würden demnach integriert.100 So lange die neuen Schemata nicht integriert werden könnten, leide der Mensch u.a. unter starker emotionaler Belastung. Um diese wiederum zu lindern, gebrauche der Betroffene sogenannte Kontroll- und Abwehrprozesse, die sich in Vermeidung, Verleugnung und emotionaler Taubheit äußern könnten.101 »Wann immer die kognitive Kontrolle nicht vollständig gelingt, wird das Trauma intrusiv wiedererlebt, was wiederum zu starken emotionalen Belastungen und somit zu erneuter Vermeidung oder Verleugnung führt.«102 Um die Schemata integrieren zu können, müssten die betroffenen Personen diese intensiv durcharbeiten. Da dabei jedoch die Kontrolle und Abwehrsysteme aktiviert würden, könne es notwendig sein, das neue Schema in einer Psychotherapie durchzuarbeiten. Die Psychotherapie verfolge daher zwei wesentliche Ziele: a) die Veränderung des kognitiven Schemas und b) die Bearbeitung der Kontroll- und Vermeidungsprozesse.103
Eine Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen, bietet die der kognitiven und lerntheoretischen Schule zugehörige Verhaltenstherapie. Diese zeichnet sich m.E. besonders durch zwei wesentliche Merkmale aus: 1. »Verhaltenstherapie versucht eine Veränderung derjenigen Bedingungen eines Problems zu bewirken, die als aufrechterhaltende Faktoren identifiziert werden.«104 Man versucht also nicht zuerst das Problem zu lösen oder die Folgen des Problems zu lindern, sondern fragt nach den Aspekten, die für die Aufrechterhaltung der Situation zuständig sind und versucht, diese zu verändern. 2. »Ziel einer Intervention ist es, die Funktionsfähigkeit der Person zu optimieren und ihre Selbstkontrolle und Eigensteuerung zu verbessern.«105 Der Mensch soll folglich u.a. wieder in die Lage versetzt werden, seine (verloren gegangene) Selbstwirksamkeit zu reaktivieren. Dies geschieht, indem der Therapeut seinem Patienten Fertigkeiten (sogenannte Skills) an die Hand gibt, damit dieser besser in der Lage ist, seine Schwierigkeit zu bewältigen. Dabei liege, so der Psychologe Hans Reinecker, der Fokus der Intervention nicht auf den vergangenen, sondern auf den zukünftigen Erfahrungen und Erlebnissen des Patienten.106