Demokratie einfach machen - Gregor Hackmack - E-Book

Demokratie einfach machen E-Book

Gregor Hackmack

0,0

Beschreibung

Unsere Demokratie steckt in einer Vertrauenskrise. Aus einem einfachen Grund, sagt Gregor Hackmack, Demokratieaktivist und Mitbegründer der Plattform abgeordnetenwatch.de: Parlamente bilden gesellschaftliche Mehrheiten nicht mehr ab. Unsere Abgeordneten treffen zu viele Entscheidungen zugunsten einer gesellschaftlichen Elite. Über manche Fragen herrscht längst ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Doch warum lassen Vermögenssteuer oder ein Gesetz gegen Kapitalflucht so lange auf sich warten? Warum werden große Bauprojekte immer wieder über die Köpfe der Bürger hinweg beschlossen - und fehlgeplant? Hackmack stellt ein probates Mittel gegen Intransparenz, Entfremdung und Oligarchiebildung vor: mehr direkte Demokratie. In Hamburg setzt er die bereits mit durchschlagendem Erfolg um: Vier Volksentscheide und zwei Verfassungsänderungen haben er und seine Mitstreiter initiiert. Mit vielen Beispielen belegt Hackmack, wie die Bürger durch ein konsequentes Transparenzgesetz, bundesweite Volksentscheide und ein personalisiertes Wahlrecht, das es erlaubt, Menschen und nicht Listen zu wählen, die Kontrolle über politische Entscheidungsprozesse zurückgewinnen können. So wird Demokratie wieder wirklich repräsentativ!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 138

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Demokratie einfach machen

Vor genau 65 Jahren wurde unsere heutige Demokratie im Grundgesetz festgeschrieben und hat sich seitdem bewährt. Das Grundgesetz ist ohne Frage ein Erfolgsmodell, und viele Länder beneiden uns darum. Wir können uns jedoch nicht auf den Leistungen unserer Gründerväter ausruhen, sondern müssen unsere Demokratie entsprechend den veränderten Bedürfnissen in unserer Gesellschaft weiterentwickeln, wenn wir sie nicht verlieren wollen.

Seit ziemlich genau einem Jahrzehnt engagiere ich mich deshalb für eine Verbesserung unserer Demokratie, ganz konkret kämpfe ich für mehr Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf unsere Politik. Ich bin davon überzeugt, dass in dem ständig wachsenden Vertrauensverlust unserer Bevölkerung in die Demokratie eine große Gefahr steckt, der wir begegnen müssen und vor allem: können! Denn es gibt eine Vielzahl an Lösungen. Vieles lässt sich heute schon anpacken, im Kleinen wie im Großen. Dabei ist jede und jeder Einzelne gefragt.

Mit der gemeinsam mit Boris Hekele gegründeten und seit 2004 stetig weiterentwickelten Internetplattform abgeordnetenwatch.de habe ich eine Vielzahl guter Erfahrungen gemacht, die ich in diesem Buch weitergeben möchte. Mir geht es darum, Bewusstsein zu wecken für ein Engagement, das jede und jeder von uns umsetzen kann, sofort und ohne viel Aufwand. Ich werde meine persönlichen Beweggründe daregen und möchte auf Missstände und Gefahren aufmerksam machen – auch, indem ich sie sehr deutlich beim Namen nenne. Vor allem möchte ich aber all jenen Mut machen, die unzufrieden sind, mit unseren Politikern und deren Politik, die sich einmischen und engagieren wollen, aber nicht recht wissen, wie und womit. Meine Antwort ist so einfach wie effektiv: Wir alle können »Demokratie einfach machen«.

1. Demokratie in der Vertrauenskrise

Während meines Studiums in London wurde mir das eigentlich Offensichtliche klar. Am 15. Februar 2003 erlebte Großbritannien die größte Demonstration seiner Geschichte. Mehr als zwei Millionen Menschen forderten an diesem Tag ihre Regierung auf, nicht an der Seite der USA in den Krieg gegen den Irak zu treten. Sie schenkten den Behauptungen des damaligen britischen Premierministers Tony Blair und des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, keinen Glauben. Und sie sollten recht behalten. Doch das eigentlich Schockierende war für mich etwas anderes: Nur zwei Wochen nach der Millionendemonstration stimmte eine überwältigende Mehrheit im britischen Parlament für den Krieg. Und das, obwohl sich in repräsentativen Meinungsumfragen eine deutliche Mehrheit der Briten gegen den Kriegseintritt ausgesprochen hatte.

Mir wurde sofort klar: Wenn ein Parlament in einer so wichtigen und entscheidenden Frage wie Krieg und Frieden die gesellschaftliche Mehrheit nicht abbildet, dann stimmt mit der parlamentarischen Demokratie etwas nicht. Denn wenn ein Parlament den Anspruch hat, Volksvertretung zu sein, dann sollte es auch den Willen des Volkes abbilden. Nun könnte man annehmen, dass nur in Großbritannien parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheiten so weit auseinander liegen können, schließlich blieb der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ein erklärter Kriegsgegner. Allerdings war er im Jahr davor vor allem aufgrund seines Versprechens wiedergewählt worden, nicht in den Irakkrieg zu ziehen.

Aber auch in Deutschland gibt es viele politische Entscheidungen, die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprechen. Für den Atomausstieg gab es seit dem Reaktorunfall im russischen Tschernobyl 1986 eine Mehrheit in der Bevölkerung.1 Auch Themen wie Mindestlohn, strengere Datenschutzregelungen oder die Einführung des bundesweiten Volksentscheids sind seit Jahren in der Bevölkerung mehrheitsfähig. Doch deren Umsetzung erfolgt entweder mit jahrelanger Verspätung (Atomausstieg) oder nur halbherzig (Mindestlohn), vor allem deshalb, weil mächtige Lobbyinteressen ihr entgegenstehen.

Die Durchsetzung von Interessen einzelner Wirtschaftssektoren gelingt dagegen oft sehr schnell. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Bankenrettung auf Kosten der Steuerzahler. Laut repräsentativen Meinungsumfragen aus dem Jahr 2011 waren 78 Prozent der Bundesbürger dagegen, dass der Staat Steuergelder einsetzt, um Banken zu retten, die sich verspekuliert hatten.2 Trotzdem wurden in Deutschland infolge der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 ganz selbstverständlich mit einer großen parlamentarischen Mehrheit und vielen Steuermilliarden Banken gerettet. Während die meisten fünf Jahre später bereits wieder große Gewinne machen, trägt die Allgemeinheit weiterhin die Verluste durch die Übernahme der sogenannten Bad Banks.3 Eine Rückzahlung ist nicht vereinbart worden.

Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr sind in der Regel nicht mehrheitsfähig. So sprachen sich in den Jahren 20114 und 20125 jeweils 66 Prozent der Befragten für einen schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aus. Und auch 2014 stellt das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in einer eigenen Bevölkerungsumfrage fest, dass nur noch 38 Prozent der Bevölkerung hinter der Mission in Afghanistan stehen.6 Trotzdem ist die Bundeswehr weiterhin am Hindukusch aktiv.

Vor allem aber, wenn große wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, bildet sich der Mehrheitswille der Bevölkerung immer seltener im Parlament ab. Und weil das so ist, verlieren die Bürger zunehmend das Vertrauen in unsere Politiker, aber auch in unser parlamentarisches System. Laut einer Umfrage aus dem Februar 2013 haben nur 34 Prozent der Befragten Vertrauen in die Regierung. Politischen Parteien bringen sogar nur 16 Prozent der Befragten Vertrauen entgegen.7 Immer mehr Menschen fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert. Gleichzeitig steigt der Drang in der Bevölkerung nach mehr Transparenz und stärkerer Beteiligung. Dieser Ruf wird lauter, er wird aber, zumindest auf Bundesebene, nicht erhört.

Die Folgen sind uns bekannt: Immer mehr Menschen gehen nicht mehr zur Wahl, vor allem sozial benachteiligte Bürgerinnen und Bürger wenden sich von der Politik und ihren Einflussmöglichkeiten ab und gehen nicht mehr wählen.8 Denn es sind ihre Interessen, die zunehmend unberücksichtigt bleiben. Und auch für junge Wählerinnen und Wähler ist der Politikbetrieb immer weniger attraktiv. Kein Wunder. Sie sind mit dem Internet und dem Gedanken der Transparenz aufgewachsen. Für sie wirkt der Politikbetrieb geradezu wie aus der Zeit gefallen. Sie wollen von der Politik Klarheit, Transparenz und Offenheit. Sie wollen ernst genommen werden und bereits getroffene Entscheidungen nicht einfach hinnehmen. Das ergab jüngst eine umfangreiche Konsultation des Deutschen Bundesjugendrings unter Jugendlichen.9 Schon heute liegt das Durchschnittsalter der Mitglieder in den großen Volksparteien bei 59 Jahren.10 Die Folge: Immer mehr Menschen sehen keinen Sinn mehr in der Stimmabgabe alle vier Jahre, verabschieden sich komplett von der politischen Teilhabe und verstärken somit den Trend, dass ihre Stimme im Parlament kein Gewicht bekommt. Denn bei stetig sinkender Wahlbeteiligung müssen Politiker den Bürgerwillen bei den nächsten Wahlen immer weniger fürchten.

Nun könnte man sagen: Sollen die Leute das Vertrauen in die Politik eben verlieren. Doch so leicht können wir es uns nicht machen, denn jedes politische System lebt vom Vertrauen, auch und vor allem die Demokratie. Akzeptiert die Bevölkerung immer weniger die Entscheidungen ihrer Regierung, verliert die Demokratie an Macht. Vertrauensverlust und Unzufriedenheit machen es dann extremen Kräften leicht, politischen Einfluss zu gewinnen – eine große Gefahr für die Demokratie. Europaweit sind rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch. Ob Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden oder die Goldene Morgenröte in Griechenland: Sie alle profitieren von der Vertrauenskrise der Politik.

Demokratie im Sinne der Umsetzung des Mehrheitswillens ist also kein Selbstzweck. Demokratie ermöglicht den friedlichen Ausgleich sich widersprechender Interessen in einer Gesellschaft. Zwar ist die Demokratie nicht die vollkommenste Regierungsform, aber die beste, die wir haben. Das sehen auch die meisten Deutschen so. Laut aktuellen Umfragen findet die Demokratie als Regierungsform eine Zustimmung von 90 Prozent. Mit ihr sind wir in Westdeutschland seit Gründung der Bundesrepublik und in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung sehr gut gefahren. Wir hatten stabile Regierungen und zählen weltweit zu den demokratischsten Ländern. Laut Demokratie-Index des renommierten Wirtschaftsmagazins The Economist belegt Deutschland Rang 14 hinter den skandinavischen Ländern, Australien und Neuseeland.11 Die geringste Wertung erhielten wir dagegen im Bereich der politischen Teilhabe. Hier liegen wir noch hinter Ländern wie Slowenien oder Südafrika. Doch genau dieser Wunsch nach politischer Teilhabe wächst in der Bevölkerung seit Jahren. Das lässt sich beispielsweise an der immer größeren Anzahl von Bürger- und Volksbegehren in den Bundesländern und Kommunen messen.12 Es verwundert daher nicht, dass 44 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind.13

Ursachen für die Vertrauenskrise der Politik

Das Vorurteil, Politik sei zum Selbstbedienungsladen für Politiker geworden, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben, ist weitverbreitet. Doch wir machen es uns zu leicht, wenn wir die Verantwortung für den Zustand unserer Demokratie allein auf unsere Politiker abwälzen. Denn es gibt Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die alle Bereiche und damit auch die Politik beeinflussen. Eine negative Entwicklung ist das stetig wachsende Arm-Reich-Gefälle. So besitzen aktuell in Deutschland 10 Prozent der Bevölkerung 61 Prozent des Gesamtvermögens, während 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über gar kein Vermögen verfügen oder sogar verschuldet sind.14 Wer viel Geld hat, kann leicht in Versuchung kommen, dieses für den eigenen politischen Vorteil einzusetzen. Und leider ist unser derzeitiges politisches System sehr anfällig für finanziell gut ausgestattete Einzelinteressen.

Man könnte natürlich versuchen, die Vermögenskonzentration zu stoppen und damit »Druck aus dem Kessel zu nehmen«. Vorschläge, wie das möglich wäre, reichen von der Vermögenssteuer bis hin zur Abschaffung des Zinsgeldsystems. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer wird Umfragen zufolge von 77 Prozent der Deutschen unterstützt.15 Eine parlamentarische Mehrheit hierfür ist jedoch nicht in Sicht. Schon meine Großmutter hat immer gesagt: »Der Teufel scheißt auf den größten Haufen.«

Der große Unterschied zu früher besteht darin, dass meine Oma ohne Internet aufgewachsen ist. Denn um Einfluss nehmen zu können, benötigt man vor allem eins: Wissen. Dabei hilft uns ein positiver Trend in unserer Gesellschaft. Noch nie hatten wir die Möglichkeit, uns so schnell, günstig und umfassend zu informieren wie heute. Während man früher seine politischen Informationen lediglich der Tagesschau oder der Tageszeitung entnehmen konnte, ist es heute ohne größeren Aufwand möglich, sich rund um die Uhr, stets aktuell und durch viele unterschiedliche Quellen zu informieren. So gut wie jede Tageszeitung hat ein eigenes Internetportal. Fast jeder Fernsehsender hat eine Online-Mediathek. Hinzu kommen soziale Medien wie Twitter und Facebook, die Newsletter von Organisationen und Parteien, für die man sich interessiert. Der YouTube-Nachrichtenkönig »LeFloid« erreicht mit 1,4 Millionen Abonnenten schon jetzt mehr junge Menschen als so manche etablierte Nachrichtensendung im Fernsehen. Wissen ist Macht, wusste schon 1598 der englische Philosoph und Aufklärer Francis Bacon. Erstmals in der Menschheitsgeschichte steht dieses Wissen fast allen Bürgern in bisher nie gekannter Form zur Verfügung. Damit nähern wir uns dank des Internets der demokratischen Idealvorstellung an, dass wirklich alle Macht vom Volke ausgehen könnte.

Kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage: Warum bilden unsere Parlamente bei den großen und wichtigen gesellschaftlichen Fragen den Mehrheitswillen der Bevölkerung nicht ab, obwohl dies der Anspruch einer Demokratie sein sollte? Warum gelingt es finanziell gut ausgestatteten Einzelinteressen, die Entscheidungen der Legislative zu ihren Gunsten zu beeinflussen?

Aus meiner Sicht gibt es dafür drei wesentliche Ursachen. Erstens: Intransparenz, d.h., politische Entscheidungen können immer weniger nachvollzogen und geprüft werden, weil die entsprechenden Informationen nicht zur Verfügung stehen und auch nicht zur Verfügung gestellt werden. Zweitens: Über Lobbyismus, Nebeneinkünfte der Abgeordneten und Parteispenden gelingt es finanzstarken Interessen, großen Einfluss auf parlamentarische Entscheidungen zu nehmen. Drittens: Politiker entfremden sich von ihren Wählerinnen und Wählern und entfernen sich von ihren Wahlversprechen und dem Willen der Bürger, deren Interessen sie vertreten sollten.

Intransparenz

In jeder großen Stadt gibt es sie, Prestigebauten, deren Kosten aus dem Ruder laufen. Ob Berliner Flughafen, Stuttgart 21 oder die Hamburger Elbphilharmonie. Bei Vertragsabschluss für das neue Wahrzeichen der Hansestadt war das Projekt mit Kosten in Höhe von 77 Millionen Euro für die Stadt veranschlagt. Sechs Jahre später beziffert Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz die Kosten bereits auf 789 Millionen Euro – eine Verzehnfachung.16

Experten führen diese enorme Kostensteigerung vor allem auf das mangelhafte Vertragswerk zurück. Zwischen Architekten, Stadt und dem Baukonzern Hochtief waren offenbar keine festen Verantwortlichkeiten und Budgets geklärt. Darüber entbrannte zwischen allen Beteiligten ein sich lang hinziehender Streit. Der damals verantwortliche Bürgermeister Ole von Beust kümmerte sich viel zu spät um die Details.17 Schließlich blieben die Verträge unter Verschluss. Die Öffentlichkeit konnte nicht nachvollziehen, wer was mit wem vereinbart hatte. Die Hamburger Bürger wurden zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe über die tatsächlichen Kosten zumindest im Unklaren gelassen.

Wenn solche Entscheidungen möglich sind, ohne dass sie jemand kontrolliert und sich dafür insgesamt verantwortlich zeigt, läuft etwas gewaltig schief. Dann liegt sogar der Verdacht der Korruption nahe. Denn mit falschen Kalkulationen und Zahlen, oder auch gleich ganz ohne, lassen sich natürlich leicht parlamentarische Mehrheiten organisieren. Wer nimmt nicht gerne eine Elbphilharmonie zum Schnäppchenpreis? Im Hamburger Parlament hat sich vor Vertragsabschluss scheinbar niemand die Mühe gemacht, die Verträge genau zu prüfen. Zwar gab es Kritik an dem Kostenplan, aber am veranschlagten und, wie sich später herausstellte, viel zu niedrigen Eigenanteil von 77 Millionen Euro hat niemand gezweifelt. Letztlich hat man sich auf das Wort des Bürgermeisters verlassen und schließlich den Bau der Elbphilharmonie sogar einstimmig beschlossen.

Dass ein Parlament seinen Kontrollpflichten bei einem so wichtigen und teuren Vertrag nicht nachkommt, ist leider kein Einzelfall. Selbst bei milliardenschweren Entscheidungen wie der Einrichtung des Eurorettungsschirms EFSF im Jahr 2011 war dies der Fall. Obwohl viele Parlamentarier ein stärkeres Mitspracherecht forderten und angemahnt hatten, dass die Regierung eine solche Entscheidung nicht allein treffen könne, hatten viele Bundestagsabgeordnete offenbar den Text der Gesetzesvorlage nicht gelesen. Vor laufender Kamera konnten sie jedenfalls noch nicht einmal die Höhe der Bürgschaftssumme nennen, über die sie entscheiden mussten.18 Nun ließe sich anführen, dass nicht alle Parlamentarier die Möglichkeit haben, komplexe Vertragswerke wie die zur Elbphilharmonie oder zum EFSF-Vertrag genau zu prüfen. Das stimmt! Wir könnten darüber diskutieren, ob wir nicht die Anzahl der Bundestagsabgeordneten reduzieren und sie im Gegenzug besser ausstatten. Jedem Abgeordneten sollte es, ähnlich wie in den USA, möglich sein, einen Stab von hoch qualifizierten Mitarbeitern einzustellen.

Ich bin aber vor allem der Meinung, dass sich die Abgeordneten in solchen Fällen auch von der Öffentlichkeit helfen lassen müssen. Das geht allerdings nur, wenn die Öffentlichkeit frühzeitig Zugang zu solchen Verträgen hat. Denn dass sich im Hamburger Parlament, der Hamburgischen Bürgerschaft, die aus 121 Abgeordneten besteht, niemand findet, der die Fehler und Risiken in den Verträgen entdeckt, verwundert zwar, ist aber vielleicht noch nachvollziehbar. Wären die Verträge zur Elbphilharmonie jedoch vor Vertragsabschluss veröffentlicht worden, hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest die Experten der bei der Vergabe unterlegenen Konkurrenzunternehmen vor den Verträgen gewarnt. Denn diese waren mit der Materie vertraut und hatten ein natürliches Interesse daran, Missstände aufzudecken, um den Auftrag vielleicht doch noch selbst zu erhalten. Außerdem wäre den Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft nicht erst Jahre später im Rahmen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses aufgefallen, dass mit 957 Euro veranschlagte Papierhandtuchspender oder Toilettenbürsten für 291,97 Euro pro Stück vielleicht zu teuer sind.19 In jedem Fall wäre bei Kenntnis der tatsächlichen Kosten eine Mehrheit im Parlament sehr viel schwerer organisierbar gewesen.

Lobbyismus – gekaufte Politik

Allein in Berlin, so schätzt man, arbeiten über 5000 hauptberuflich tätige Lobbyisten, meist im Auftrag von Großunternehmen, Verbänden oder anderen finanziell gut ausgestatteten Interessengruppen.20 Das bedeutet, auf jeden Bundestagsabgeordneten entfallen fast zehn Lobbyisten. In Brüssel sollen es sogar insgesamt mehr als 20.000 sein.21 Lobbyismus bedeutet, dass gesellschaftliche Interessengruppen versuchen – meist durch die Pflege von persönlichen Kontakten zu Vertretern der Exekutive, also der Regierung, und der Legislative, des Parlaments –, die für sie wichtigen politischen Entscheidungen zu beeinflussen. Das sind vor allem Unternehmen und Konzerne, Wirtschafts- und Finanzverbände. Auch Umweltverbände wie Greenpeace oder Verbraucherschutzorganisationen sind Interessenvertretungen, denn auch sie werben in der Politik für ihre Positionen. Doch Organisationen, die Mehrheitsinteressen vertreten, suchen in aller Regel die Öffentlichkeit. Mir geht es hier um jene Form von Lobbyismus, die mit zum Teil großem finanziellem Mitteleinsatz versucht, die eigenen Belange durchzusetzen, auch auf Kosten der Interessen der Mehrheit.

Hauptberufliche Lobbyisten überzeugen bei ihrer Arbeit nicht nur mit Argumenten. Im Gegenteil, Abgeordnete werden von Lobbyisten regelrecht umworben. Die sogenannten parlamentarischen Abende, die meist von Großunternehmen wie z.B. der Deutschen Bank u.a. ausgerichtet werden, finden ganz selbstverständlich in schicken Hotels oder Restaurants statt.

Der derzeitige Europaabgeordnete Hans-Peter Martin aus Österreich macht sich die Mühe und veröffentlicht all diese schriftlichen Einladungen. Die Liste der Angebote reicht von Gratis-Luxusreisen und Galadiners bis zu Autotests und zum Gruselwandern. Ein Blick auf seine Homepage lohnt sich.22 Offiziell informieren sich die Abgeordneten auf solchen Events natürlich nur über die Argumente der Interessengruppen und betrachten dabei die Annahme von Einladungen als Teil ihrer politischen Arbeit. Tatsächlich werben die Gastgeber aber auch ganz unverhohlen für ihre politischen Interessen. So entpuppen sich vermeintlich neutrale Expertisen auf den zweiten Blick als Auftragsstudien. Auch der deutsche Europaabgeordnete der Grünen, Sven Giegold, listet auf seiner Homepage zumindest einige Angebote von Lobbyisten auf. So wurde er im September 2013 von der Commerzbank zu einer exklusiven Kreuzfahrt auf dem Potomac River in Washington, D.C., eingeladen23 oder bekommt zu Weihnachten einen Dresdner Christstollen vom Deutschen Bäckerhandwerk zugeschickt.24

Das Prinzip funktioniert. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Professor Ulrike Malmendier von der University of California, Berkeley, und Professor Klaus Schmidt von der LMU München haben in einer im November 2012 vorgelegten Studie gezeigt, dass selbst kleine Geschenke das Verhalten der Beschenkten beeinflussen und Lobbyisten helfen, sich Politiker gewogen zu machen.