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Sascha Regier

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Beschreibung

Gegenwärtige spätmoderne Gesellschaften zeichnen sich durch multiple Krisen aus: Soziale Ungleichheit, Rechtsextremismus und staatlicher Autoritarismus bedrohen die Demokratie, der kapitalistische Wachstumszwang die natürliche Umwelt. Hierauf muss die schulische Politische Bildung reagieren, wenn sie ihren Bildungsauftrag ernst nimmt. Sascha Regier zeigt auf, dass eine Soziopolitische Bildung das Politische wieder in den Bereich der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zurückholen kann. Gegenüber den dominierenden Positionen der Politischen Bildung, die affirmativ auf die Stabilisierung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung orientiert sind, kann sie staatliche Herrschaft differenzierter und in ihrer aktuellen Transformation begreifen.

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Sascha Regier, geb. 1982, ist Soziologe und Lehrer für Sozialwissenschaften, Philosophie, Geschichte und Pädagogik am Heinrich-Mann-Gymnasium Köln sowie Mitglied im Forum kritische politische Bildung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG).

Sascha Regier

Den Staat aus der Gesellschaft denken

Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung

Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im November 2022 angenommen.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Sascha Regier

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839464373

Print-ISBN 978-3-8376-6437-9

PDF-ISBN 978-3-8394-6437-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-6437-9

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung

1.Politikwissenschaftliche Bezüge und Grundlagen der Politischen Bildung

1.1Die Kontroverse um den Politikbegriff in der Politikwissenschaft

1.2Das affirmative Staatsverständnis der dominierenden Politikwissenschaft

2.Kritik des Politik- und Staatsverständnisses der Politischen Bildung

2.1Zwischen Herrschaftssicherung und Emanzipation. Der Doppelcharakter Politischer Bildung

2.2Die institutionenorientierte Politikwissenschaft als zentrale Bezugsdisziplin der Politischen Bildung

2.3Das affirmative Politik- und Staatsverständnis in der Politischen Bildung

2.4Die Dimensionen des Politischen und der Politikzyklus

2.5Das Demokratieverständnis der Politischen Bildung

3.Grundlagen und Bezüge einer Soziopolitischen Bildung als staatstheoretisch erweiterte Kritische politische Bildung

3.1Soziopolitische Bildung als erweiterte herrschaftskritische Politische Bildung

3.2Soziopolitische Bildung als Kritische politische Bildung

3.3Grundlegende Begriffe einer Soziopolitischen Bildung als Kritische politische Bildung

3.4Strukturkonflikte als grundlegendes Thema einer Soziopolitischen Bildung

3.5Emanzipation und Mündigkeit als Ziele einer Soziopolitischen Bildung

3.6Kritische Demokratiebildung als Ziel einer Soziopolitischen Bildung

3.7Kritische Soziologie als grundlegende Bezugsdisziplin für eine Soziopolitische Bildung

4.Zum Desiderat einer gesellschaftstheoretisch fundierten Staatstheorie als Grundlage einer Soziopolitischen Bildung

4.1Kritische Staatstheorie gegen das unterkomplexe Staatsverständnis der Politikwissenschaft

4.2Der Staatsbegriff in der marxistischen Gesellschaftstheorie

4.3Der Gehalt Kritischer Staatstheorie für eine Soziopolitische Bildung

4.4Bezugstheorien einer Kritischen Staatstheorie für eine Soziopolitische Bildung

5.Staatstheoretische Bezugstheorien einer Soziopolitischen Bildung

5.1Der Nationalstaat als institutionalisierter Nationalismus

5.2Zum Verhältnis von kapitalistischer Vergesellschaftung und Staatlichkeit. Politische Ökonomie als Gesellschaftstheorie

5.3Zur Transformation von Staatlichkeit und kapitalistischer Vergesellschaftung. Die Regulationstheorie als dynamische Kapitalismustheorie

5.4Hegemonie und Herrschaft auf nationaler und globaler Ebene. Neogramscianische Internationale Politische Ökonomie

5.5Der Staat als soziales Verhältnis. Poulantzas’ zentraler Beitrag einer kritischen Staatstheorie

5.6Subjektivierung und Macht. Gouvernementalitätsstudien als kritische Analysen neoliberaler Regierungsweisen

5.7Bürgerliche Staatsgewalt unter dem Blickwinkel Kritischer Rechtstheorie und Kriminologie

5.8Geschlecht ist politisch. Zur feministischen Konzeptualisierung von Staatlichkeit

6.Fazit

7.Literaturverzeichnis

Einleitung

»Das Problem unserer Gesellschaft […] ist, dass sie aufgehört hat, sich selbst zu befragen und in Frage zu stellen.« (Bauman 2003: 32)

Der größte Teil des vorliegenden Buches wurde während der globalen Covid-19-Pandemie 2020/21 verfasst. Diese wurde vom UN-Generalsekretär Antonio Guterres als größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet.1 Jedoch verdeckt eine solche Sichtweise, dass neben den Gesellschaften des Globalen Südens, die regelmäßig aus dem ›westlichen Blick‹ fallen, auch die zeitgenössischen spätmodernen Gesellschaften des Globalen Nordens bereits seit Jahrzehnten »unter dem Bann einer multiplen Krise« (Demirović 2013: 194) stehen. Diese zeichnet sich durch überlappende Phänomene aus, die sich aufeinander auswirken und wechselseitig bedingt sind. Hierunter fällt u.a. der Klimawandel, dessen Auswirkungen die Menschen in Europa im Hitzesommer 2021 bewusst erlebt haben, während andere Weltregionen darunter bereits seit Jahrzehnten leiden.2 Die Covid-19-Pandemie und der globale Klimawandel sind allerdings nicht als kontingente Ereignisse, sondern als Folgen einer »instrumentellen Vernunft« (Horkheimer 1967: 32) der menschlichen Naturausbeutung für die industrielle kapitalismusbedingte Produktionsweise auf Grund des unhinterfragten Fetischs des Wirtschaftswachstums zu begreifen.3 Es bestätigt sich, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bereits in den 1940er Jahren als Dialektik der Aufklärung bezeichnet haben: Mit der Naturbeherrschung »schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wusste.« (2003: 44)

Allein die Covid-19-Pandemie zeigt wie unter einem Brennglas die seit Langem bestehenden globalen Verwerfungen der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse. In Deutschland sind es soziale Krisen wie die Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit (vgl. Fratzscher 2016) sowie der Erwerbsarmut durch die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (vgl. Castel 2008), der Abbau der Sicherungsfunktion des Sozialstaates (vgl. Butterwegge 2006), die Verschärfung der Wettbewerbsgesellschaft im sozialdarwinistischen Sinne (Heitmeyer 2012: 21) durch den Neoliberalismus im Allgemeinen (vgl. Schui/Blankenburg 2002) und die Hartz-Reformen im Speziellen (Bontrup 2011: 81ff.). Ferner sind es wirtschaftliche Krisen wie die Finanzkrise von 2007/08 (Streeck 2013: 79ff.), die EU-Schuldenkrise 2010/11 (Stützle 2014: 317ff.) und die ökonomische Stagnationskrise (Nachtwey 2016: 70) sowie politische Krisen wie die Gefährdung der Demokratie (vgl. Manow 2020) durch zunehmenden Rechtsextremismus und Rassismus (Decker u.a. 2016), Lobbyismus und die damit einhergehende Entwertung demokratisch legitimierter Politik (vgl. Crouch 2008) sowie nachlassende demokratische Beteiligung durch die Krise der politischen Repräsentation (Vester u.a. 2001: 13). Hinzu kommt die Rückkehr des Krieges in Europa durch den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022.

All diese divergierenden gesellschaftlichen Entwicklungen hängen unmittelbar zusammen und führen zu einem »Unbehagen in der Gesellschaft« (Ehrenberg 2011). Sie bedrohen ihre »soziale Kohäsion« (Heitmeyer 2018: 23). Andreas Reckwitz verdeutlicht, dass diese Ereignisse nicht durch Kontingenz bestimmt, sondern »letztlich Ausdruck von beziehungsweise Reaktionen auf Widersprüche, Konflikte und Krisenmomente sind, die sich auf der Ebene der Strukturen der spätmodernen Gesellschaft bereits seit längerem herausbilden.« (2019: 11)4 Sie zeigen, dass die gegenwärtigen Gesellschaften nicht nur gelegentlich von einer Krise erschüttert werden, sondern strukturell krisenhaft sind. Oliver Marchart konstatiert: »In der Moderne wird Krise auf Dauer gestellt.« (2013: 31) Dabei kann das genuine Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus als Hauptproblem spätmoderner Gesellschaften begriffen werden (Streeck 2013: 90), aus dem weitere und mannigfaltige soziale sowie politische Ausschließungsprozesse resultieren. Demokratie und Kapitalismus fußen auf widersprüchlichen Funktionslogiken: Demokratie beruht auf gleichen Staatsbürger_innenrechten, Kapitalismus auf ungleich verteilten Eigentumsrechten (Wood 2010: 215), d.h. politische Gleichheit steht sozialer Ungleichheit gegenüber.

Bezüglich der politischen Ebene, die in diesem Buch im Vordergrund steht, konstatieren aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen eine zunehmende Aushöhlung der Demokratie der meisten OECD-Staaten durch die Ausweitung exekutiver Staatsapparate und die Zurückdrängung parlamentarischer Kontroll- und Mitbestimmungsmechanismen (Sassen 2005: 413), die auf neue autoritäre Formen politischer Herrschaft hinauslaufen (Przeworski 2020: 198ff.). Neben staatlichen Reaktionen auf terroristische Bedrohungen, die demokratische Rechtsstaatsprinzipien im Namen des Ausnahmezustandes (vgl. Agamben 2004) aushebeln (vgl. Fauth 2018) und den Ausbau eines Sicherheitsstaates forcieren (vgl. Singelnstein/Stolle 2012), zeigt sich dies u.a. anhand der Politik bestimmter Organe der EU bezüglich der Schuldenkrise ab 2010, die ein technokratisches Regieren verstetigt (vgl. Habermas 2013) und parlamentarische Entscheidungsrechte (u.a. die Budgethoheit der Parlamente) der Nationalstaaten aushebelt. Zudem manifestiert sich im Zuge neoliberaler Herrschaftsformen (Brown 2015: 32) keine neue Freiheit, wie dies die Vertreter_innen des Neoliberalismus regelmäßig behaupten (u.a. Hayek 1976: 23), sondern eine autoritäre Etablierung und staatlich-disziplinierende Aufrechterhaltung einer Marktgesellschaft (Schui/Blankenburg 2002: 79). Dies lässt sich analytisch als »Autoritärer Liberalismus« (Biebricher 2021: 106) fassen. Durch diese politischen Entwicklungen hat sich in den letzten Jahren das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat und damit das von Ökonomie und Politik entscheidend verändert (Kraiker 2011: 65).

Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse der vergangenen Jahrzehnte zeigen sowohl auf nationaler wie auf globaler Ebene, dass die Prinzipien und Leitziele der Moderne – Freiheit, Autonomie und Selbstregierung (Wagner 1995: 14) – nicht für alle Menschen in der Gesellschaft umgesetzt wurden. Diese »erweisen sich heute als Illusionen, das Ergebnis ist Desillusionierung.« (Reckwitz 2019: 9)5 Damit zeigt sich, was Jürgen Habermas bereits seit den 1980er Jahren gegen postmodernen Irrationalismus (u.a. Lyotard 2005)6 unermüdlich hervorhebt: Das Projekt der Moderne ist ein unvollendetes Projekt (Habermas 1988: 7).

Konstatierte Krisenerfahrungen und verdichtungen sowie die Unklarheit darüber, wohin sich die Gesellschaft entwickelt, stellen die Individuen und den sozialen Zusammenhalt vor große Herausforderungen. Jedoch findet hierüber kein gesellschaftlicher Diskurs statt. Es mangelt u.a. an »politischen und öffentlichen Debatten über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus.« (Heitmeyer 2012: 20) Vielmehr werden gesellschaftlich »strukturelle[] Probleme im Wirtschaftssystem […] zu Folgen von individuellem Fehlverhalten erklärt und dadurch buchstäblich ›individualisiert‹.« (Heitmeyer 2018: 177)

Hierauf muss vor allem die Bildung reagieren, indem sie sich den sozialen und politischen Verwerfungen offensiv stellt. Zielt Bildung seit jeher auf die Reflexion des Verhältnisses zwischen Menschen und Natur (vgl. Heydorn 1970: 15), ist an ihre kritische Funktion durch die bürgerliche Aufklärungsphilosophie zu erinnern: »[D]as aufsteigende Bürgertum macht Bildung zu einem organisierten Instrument der Befreiung.« (Heydorn 1980: 95). Jedoch kann die Idee von Bildung nicht auf das neuhumanistische Verständnis der Selbstbildung (vgl. Blankertz 1982: 101) verkürzt werden. Vielmehr hat Bildung auf die Gesellschaft und ihre Strukturenabzuzielen. Allerdings wird Bildung gerade in Deutschland seit Jahrzehnten mehr im Hinblick auf ihre ökonomische Verwertbarkeit im Sinne der globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft als auf ihre Orientierungsfunktion in Krisenzeiten thematisiert (vgl. Pongratz 2008): »Wissen und Bildung«, so heißt es regelmäßig im politischen und medialen Diskurs, sind »die wichtigsten Ressourcen des rohstoffarmen Europas, und wer in die Bildung investiert, investiert in die Zukunft.« (Liessmann 2006: 7)7 Bildung wird diesem instrumentellen und ökonomischen Verständnis nach durch den Einfluss wirtschaftspolitischer Organisationen wie der OECD sowie neoliberaler Akteure und Stiftungen (vgl. Münch 2009) vor allem mit Bildungsabschlüssen verbunden. Dies hat grundlegende Auswirkungen auf die schulische Bildung: Kompetenzen im Sinne von Bildungsstandards haben seit Ende der 1990er Jahre als definierte Zielmarken die Steuerungsfunktion des fachlichen und damit inhaltlichen Lernens ersetzt (vgl. Gruschka 2011: 14). Bildung muss sich hingegen auf die Gesellschaft richten.

Bildung, die auf die Gesellschaft zielt, ist politische Bildung. Ist von politischer Bildung medial die Rede, wird zumeist die formale schulische politische Bildung, folglich die Politikdidaktik gemeint (Sander 2008: 17).8 Auch wissenschaftlich wird die politische Bildung fast nur noch durch die schulische Politikdidaktik repräsentiert (Lösch 2013: 175). Diese ist in demokratisch verfassten Gesellschaften – wenn auch nicht überall als Unterrichtsfach, so doch als Unterrichtsprinzip – durch die staatliche Schule institutionalisiert (Sander 2010: 114).

Die schulische politische Bildung konstituierte sich als didaktische Wissenschaft in den 1960er Jahren durch Kurt Gerhard Fischer, der explizit von der »didaktischen Wende« gesprochen hat (Gagel 1995: 128). Für Wolfgang Sander stellt dies die »eigentliche Geburtsstunde der Politikdidaktik als Wissenschaftsdisziplin« (2010: 129) dar, für Walter Gagel den »Übergang von der politischen Pädagogik zur Didaktik der politischen Bildung« (1995: 134).9 Auch im vorliegenden Buch geht es ausschließlich um die Politikdidaktik, die im Folgenden in Großbuchstaben als Politische Bildung bezeichnet wird(vgl. Sander 2008: 17).

Je nach Bundesland und Schulform variiert die Bezeichnung des Unterrichtsfaches der Politischen Bildung.10 Jedoch ist allen Unterrichtsfächern der Politischen Bildung gemeinsam, dass sie sich auf die zentralen Bezugsdisziplinen Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft beziehen (vgl. Hedtke 2014a), auch wenn die jeweiligen Gewichtungen in den unterschiedlichen Bundesländern unterschiedlich ausfallen.

Gegenwärtig zeigt sich ein zunehmendes politisches Engagement von Jugendlichen, das sich nach aktuellen Krisenerscheinungen ausrichtet und durch Streiks, Klimaproteste und Demonstrationen auf den Straßen sowie durch Aktionen in den sozialen Medien manifestiert. Auch in den Sozialwissenschaften werden die gegenwärtigen Vielfachkrisen verstärkt thematisiert und als Ausgang der Theoriebildung genutzt (vgl. Demirović 2013). Sich den Herausforderungen gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche zu stellen, ist seit jeher Aufgabe der Politischen Bildung (vgl. Gagel 1995: 114).11 Jedoch zeichnen sich die dominierenden Ansätze der Politikdidaktik seit den 1990er Jahren bis in die Gegenwart fatalerweise durch eine Abstinenz der Krisenthematik aus (ebd.: 306f.). Zudem liegt ihnen generell eine verkürzte Sichtweise auf das Politische als zentraler Gegenstand der Politischen Bildung zugrunde. Dies resultiert daraus, dass die dominierenden Ansätze der Politikdidaktik sich nicht mehr als machtkritisch und demokratieorientiert begreifen, sondern sich primär affirmativ auf die gesellschaftliche und politische Ordnung beziehen. Der Staat wird in diesen Ansätzen als ordnungspolitische Institution des gesellschaftlichen Gemeinwohls aufgefasst und vermittelt, wodurch politische Herrschaft nicht mehr thematisiert und problematisiert wird. Die Schwierigkeit eines solchen Politikverständnisses zeigt sich daran, dass von Seiten der Jugendlichen dem Staat nicht mehr zugetraut wird, gemeinwohlorientierte ökologische Politik durchzuführen, sondern ihm unterstellt wird, partikulare Politik u.a. für die fossilen Industrieunternehmen oder die Automobilindustrie zu betreiben.12 Auch durch das Erstarken des Rechtsextremismus und seiner parlamentarischen Institutionalisierung durch die AfD wächst bei Jugendlichen die Distanz gegenüber der bestehenden politischen Ordnung und den staatlichen Institutionen.13

Wie Sander verdeutlicht, entwerfen politikdidaktische Konzeptionen »alternative Gesamtbilder von den Aufgaben der politischen Bildung, sie sind – so gesehen – konkurrierende Theoriemodelle.« (2005: 26) In Abgrenzung zu den dominierenden Ansätzen der Politischen Bildung ist es das Ziel dieses Buches, einen konkurrierenden Ansatz der Politischen Bildung zu begründen, der durch eine soziologische und staatskritische Perspektive auf das Politische dieses in seiner strukturellen Konflikthaftigkeit zu erfassen vermag. Staat, Markt und Gesellschaft sollen in ihrer Vermittlung begreifbar gemacht werden, wodurch das Politische in den Bereich der Gesellschaft zurückgeholt wird. Dieser Ansatz wird als Soziopolitische Bildung bezeichnet und als Desiderat einer herrschafts- und machtkritischen Politischen Bildung begründet und den dominierenden affirmativen Ansätzen der Politikdidaktik gegenübergestellt.

Die Hauptthese ist hierbei, dass in Anlehnung an partikulare politikwissenschaftliche Positionen die meisten Ansätze der Politischen Bildung auf einem unkritischen affirmativen und idealistischen Staatsverständnis basieren, das den modernen Staat im ordnungspolitischen Sinne als neutrale Institution des gesellschaftlichen Gemeinwohls und Regulator gesellschaftlicher Probleme und Konflikte begreift. Unreflektiert bleibt dabei, ob der Staat überhaupt alle Probleme und gesellschaftliche Konflikte lösen kann und will und ob er diese nicht sogar erst hervorbringt und Machtverhältnisse strukturell absichert. Auch der Staat selbstwird in diesen Ansätzen lediglich monolithisch und nicht als Institution begriffen, in der sich bestimmte soziale Auseinandersetzungen gesellschaftlicher Akteure materialisieren. Diesen Ansätzen der Politischen Bildung liegt die naive Vorstellung zugrunde, dass die bestehenden nationalen sowie globalen politischen Institutionen – und damit auch die Staaten – Konflikte und Probleme – von Krisen ist zumeist nicht die Rede – generell ordnungspolitisch bannen könnten. Macht- und Herrschaftsverhältnisse finden hierbei kaum Beachtung.

Demgegenüber verdeutlicht eine Soziopolitische Bildung, dass der moderne Staat keine neutrale, sondern die zentrale umkämpfte Instanz ist, in der sich einerseits die Auseinandersetzungen sozialer Akteure und strukturell bedingte Antagonismen reproduzieren und dadurch gesellschaftlich verstetigt werden. Andererseits können diese Ungleichheitsverhältnisse auch im emanzipatorischen Verständnis abgebaut werden, je nach den herrschenden sozialen Kräfteverhältnissen bedingt, die sich im Staat manifestieren. In einem praktischen Sinne zielt dieser kritische Ansatz der Politischen Bildung auf die grundlegende Ansicht, dass (Politische) Bildung nicht lediglich auf die Affirmation der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Ordnung abzielen soll, sondern auf die (wie auch immer geartete) vernünftige Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Verwirklichung der demokratischen und freiheitlichen Werte der Moderne für alle Subjekte.14

Die Ansätze, gegen die sich eine Soziopolitische Bildung wendet, werden von Klaus Mögling und Gerd Steffens als »Mainstream« der Politischen Bildung(2004: 19) bezeichnet, weil sie den »Hauptstrom« der politikdidaktischen Literatur darstellen. Im vorliegenden Buch werden diese hingegen als »hegemoniale Politische Bildung« begrifflich gefasst,15 weil sie sowohl im politikdidaktischen Diskurs als auch in der Lehramtsausbildung (vor allem des Zweiten Staatsexamens) gegenüber alternativen Ansätzen der Politischen Bildung die dominierenden Positionen einnehmen und (weiterhin) vorherrschend sind.16

Die hegemoniale Politikdidaktik hebt explizit die Politikwissenschaft als zentrale Bezugsdisziplin der Politikdidaktik gegenüber der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften hervor (u.a. Massing 2018: 109), jedoch nicht als kritische Demokratiewissenschaft (vgl. Bleek 2001: 265ff.), sondern in einer lediglich institutionenorientierten Variante (Weißeno u.a. 2010: 25). Kritische politikwissenschaftliche Schulen sowie soziologische Gesellschaftstheorien fallen komplett aus der Betrachtung. Die hegemoniale Politische Bildung zeichnet sich nicht nur durch fehlende Bezüge zu aktueller sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und Gesellschaftsanalyse aus, sondern auch durch ihre starke Selbstbezüglichkeit. Für Mögling und Steffens trägt sie daher »Züge eines geschlossen um sich selbst drehenden Systems« (2004: 19). Damit werden gesellschaftskritisch orientierte Politikdidaktiker_innen, die quer zu den hegemonialen Positionen liegen, ignoriert und aus der politikdidaktischen Diskussion verdrängt. Diese Arbeit versucht, dem entgegenzuwirken.

Das Geschilderte zeigt bereits, dass Politischer Bildung eine ambivalente Funktion zukommt: Neben dem Ziel der Emanzipation aus illegitimen Herrschaftsverhältnissen und der Selbstaufklärung moderner Gesellschaften dient sie auch der Herrschaftslegitimierung und affirmativen Absicherung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, des Status quo (vgl. Sander 2010: 20ff.). Politische Bildung ist folglich politisch.

Dies zeigt sich auch in ihrer jüngeren Geschichte. Durch die zunehmende Orientierung der Politikdidaktik an den modernen theoretischen und empirischen sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen bewirkte die didaktische Wende der 1960er Jahre, dass die naiv harmonisierende Gemeinschaftskunde (vgl. Gagel 1995: 83f.) überwunden und nun »Politik als konfliktreicher und kontroverser Raum verstanden« (Hellmuth/Klepp 2010: 60) wurde. Hieraus entwickelten sich ab den 1970er Jahren gesellschaftskritische Ansätze der Politischen Bildung (u.a. Schmiederer 1972), die auf die Ausweitung der Demokratie und die Analyse illegitimer Macht- und Herrschaftsverhältnissen abzielten. Mündigkeit und Emanzipation prägten ihr Selbstverständnis (Claußen 1981: 74). Jedoch geriet bereits nach 1980 die Zeit neuer didaktischer Konzeptionen an ihr Ende (Gagel 1995: 281). Diese nachkonzeptionelle Phase der Politikdidaktik (ebd.) zeigt sich bis in die Gegenwart durch eine Vielzahl von Ansätzen, bei denen es nicht mehr herrschaftskritisch um strukturelle Konflikte, sondern lediglich die Lebenswelt der Schüler_innen geht (ebd.: 288f.). Passend zur Hegemonie des Neoliberalismus stellt damit der ›subjektive Faktor‹ und nicht mehr die Gesellschaft das Hauptaugenmerk der Politischen Bildung dar. Wie Wolfgang Gagel konstatiert, orientieren sich diese Ansätze »am Modell der Therapiegruppe; im Mittelpunkt des Lernens steht ›die Entwicklung der Ich-Leistungen des Individuums‹« (ebd.: 289). Politische Herrschaft, strukturelle Machtverhältnisse und gesellschaftliche Auseinandersetzungen als Inhalt sowie die Demokratie und Demokratisierung als Ziel der Politischen Bildung sind dadurch in den Hintergrund getreten oder gänzlich verschwunden.

Seit den 1990er Jahren wurden, wie allgemein in der schulischen Bildung (vgl. Gruschka 2011), die Fachinhalte durch sogenannte Bildungsstandards, Kompetenzen und Methodenorientierung ersetzt (Sander 2008: 71ff.). Hierdurch bezieht sich die Politische Bildung nicht mehr auf sozialwissenschaftliche Theorien, sondern verbleibt im selbstreferentiellen Rahmen des Faches der Politikdidaktik (Steffens/Haass 2014: 24). Diese Umstellung wird von der hegemonialen Politikdidaktik hingegen als Beleg für eine »Professionalisierung« der Politischen Bildung gewertet (Sander 2010: 151). Diesbezüglich wird auch weiterhin und regelmäßig auf den Beutelsbacher Konsensvon 1976 (vgl. Ahlheim 2018) und sein angebliches politisches »Neutralitätsgebot« als wesentliches Kriterium der Professionalität der Politischen Bildung verwiesen (u.a. Sander 2010: 148f.), der die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Politischen Bildung stillgelegt habe (ebd.: 161). Jedoch kann Politische Bildung nicht neutral sein, weil sie auf politischen, nicht neutralen Kategorien fußt. Dabei ist das Politische immer interessens- und wertegeleitet (Ahlheim 2018: 24). In demokratischen Gesellschaften gründet die Politische Bildung beispielsweise auf den normativen Grundsätzen der Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Demokratie.

Dass durch die angebliche Professionalisierung die Lerninhaltean Relevanz verlieren und nebensächlich werden, wird zwar von den Befürworter_innen offen zugegeben (Sander 2008: 10), jedoch nicht weiter kritisch beurteilt. Aus der Abwendung von grundlegenden und kontroversen politischen Themen resultiert eine thematische Entkernung, die die gesellschaftlichen Probleme der Arbeit, Ökonomie, Ungleichheit und Krisen ausklammert. Folglich zeichnen sich seit den 1990er Jahren die dominierenden Ansätze der Politischen Bildung durch eine »Entpolitisierung« aus (Gagel 1995: 283). Diese findet ihren Ausdruck zudem darin, dass über ihre Grundsätze und didaktischen Prinzipien in der hegemonialen Politikdidaktik keine kontroversen Auseinandersetzungen mehr geführt werden. Vor allem die Konzepte der Politik um Georg Weißeno, Joachim Detjen und Peter Massing (Weißeno u.a. 2010) haben diese Entwicklung maßgeblich geprägt, da sie die politikdidaktische Diskussion normiert sowie ihren Gegenstandsbereich, das Politische, entpolitisiert haben (Steffens/Haass 2014: 23f.). Allgemein laufen diese Entwicklungen der Politischen Bildung auf den Verlust eines Begriffs von Gesellschaft und des Politischen hinaus, wodurch auch die normative Dimension Politischer Bildung – die Demokratie – an Bedeutung verliert. Es ist paradox: Politische Bildung wird unpolitisch.17

Gerade dies ist auf Grund der Vielzahl von Krisen in der Gegenwartsgesellschaft verheerend. Diese zeigen deutlich, dass die Aufgabe der Befreiung der Menschen aus illegitimen Macht- und Herrschaftsverhältnissen nach wie vor ansteht. Anders als von der hegemonialen Politischen Bildung behauptet (u.a. Sander 2013) ist Politische Bildung nicht per se kritisch. Dies zeigt sich anhand mehrerer Beispiele: Erstens wird in der Schule politische Bildung durch den Einfluss von Unternehmerverbänden18 zunehmend durch ökonomische Inhalte verdrängt (vgl. Hedtke/Gökbudak 2019). In NRW liefen diese Entwicklungen darauf hinaus, dass das Lehramtsstudienfach Sozialwissenschaften durch das Fach Wirtschaft/Politik ersetzt wurde. In Zukunft soll Sozialwissenschaften dann auch in der Sekundarstufe II durch Wirtschaft/Politik ersetzt werden.19 Die CDU und FDP waren hierbei federführend als Exekutoren der Unternehmerlobby. Zweitens erfolgt verstärkt ein staatlicher Zugriff auf die außerschulische politische Bildung, der die demokratische Bildungsarbeit nach bestimmten Vorstellungen formiert und einengt. Dies zeigt sich u.a. an staatlichen Vorgaben zur »Extremismusprävention« (vgl. Rhein 2020). Das der politischen Bildung zugrundeliegende Demokratieverständnis wird hierbei immer restriktiver und autoritärer ausgelegt, wodurch staatlich bestimmt wird, was politische Bildungsarbeit darf und was nicht. Fragen weiterreichender Demokratisierung, die über die repräsentativ-parlamentarische Form hinausgehen, werden ausgeblendet. Dies hat auch Auswirkungen auf die schulische Politische Bildung, da hier ebenfalls die Demokratie lediglich auf die staatlichen Institutionen beschränkt gelehrt und nicht als »inhaltliche[s] Prinzip der gesamten Gesellschaft« (Abendroth 1975: 32) debattiert wird. Weiterhin wird durch den zu kritisierenden Bezug auf die Extremismustheorie (vgl. Kopke/Rensmann 2000) die Bedrohung der parlamentarischen Demokratie als lediglich von den Rändern des politischen Spektrums ausgehend den Lernenden vermittelt. Damit einher geht drittens, dass die hegemoniale Politische Bildung im affirmativen Sinne lediglich auf die Aufrechterhaltung, nicht die emanzipatorische Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zielt und daher einen konservativen Charakter hat. Den Lernenden sollen primär die Verfassungswerte und Inhalte der bestehenden politischen Ordnung im Sinne einer Institutionenkunde vermittelt werden, damit sie zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Die dominierenden politikdidaktischen Ansätze zeichnen sich durch eine »überzogene Stabilitätsorientierung« (Eis/Salomon 2014: 13) aus. Damit wird allerdings das Ziel verfehlt, über das Politische in einem offenen und gestaltbaren Sinne zu bilden. Hierdurch reproduziert sich im Bereich der Politischen Bildung das, was auch für den gesellschaftlichen Diskurs im Allgemeinen zu konstatieren ist: Es gibt ein schwindendes Interesse an Fragen der guten Gesellschaft sowie hieran anschließend ein nachlassendes Bedürfnis nach sozialen Veränderungen (vgl. Bauman 2003: 35).

Jedoch zeigen die gegenwärtigen vielfältigen Krisenphänomene, die den sozialen Zusammenhalt bedrohen sowie die politische Partizipation großer Teile der Bevölkerung gefährden,20 dass eine kritische Beurteilung der Gegenwartsgesellschaft dringlicher ist denn je und für die Politische Bildung wieder im Vordergrund stehen muss. Politische Bildung in einem kritischen Verständnis begreift die Welt durch ihre epochalen Umbrüche und akuten und multiplen Krisen (Steffens 2018: 72), zumal diese Krisen immer auf das Transformationspotenzial von Gesellschaft verweisen. Antonio Gramsci versteht Krisen als gesellschaftliche Wendepunkte, die darin bestehen, »dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann« (2012: GH 3, 354). Damit etwas Neues zur Welt kommen kann, sollte Politische Bildung die gegenwärtigen gewaltigen Umbrüche nutzen, die sich in der Welt und den Gesellschaften vollziehen, als Grundlage der

»Eröffnung eines neuen Lernzyklus, einer Vertiefung und Vervielfältigung der politischen Bewusstseinsbildung, in der Sachwissen und Orientierung unabdingbar miteinander verknüpft sind. Diese politischen Lernprozesse haben an der Strukturveränderung der Weltbilder anzusetzen.« (Negt 2010: 65)

Dabei können, wie Steffens hervorhebt, die gesellschaftlichen Krisen als »Lerngelegenheit« genutzt werden, in die politische Bildungsarbeit einzusteigen (vgl. 2010). Hierfür muss den Lernenden neben dem Grundlagenwissen über Sinn und Funktionen der staatlichen und politischen Institutionen ein Verständnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge ermöglicht werden, durch das gesellschaftliche Problemlagen, politische Ausschließungsprozesse, Krisenerscheinungen, soziale Interessenskonflikte, Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie demokratische Gefährdungen der Gegenwartsgesellschaft eingeordnet, beurteilt und praktisch bearbeitet werden können. Als Grundlage der Analytik und Kritik einer Soziopolitischen Bildung dient dabei keine subjektive moralische oder politische Einstellung der Lernenden. Es geht immer um immanente Kritik, die sich an den Prämissen der Moderne (Freiheit, Mündigkeit und Autonomie für alle) orientiert, um daraus Emanzipation aus illegitimen, eben nicht demokratisch gerechtfertigten, Herrschaftsverhältnissen zu ermöglichen. Soziopolitische Bildung ist emanzipatorische Bildung. Dabei soll die gesellschaftliche und politische Ordnung in einer intersektionalen Perspektive auf soziale Ungleichheit dahingehend überprüft werden, welche gesellschaftlichen Subjekte von den demokratischen Partizipationsprozessen strukturell ausgeschlossen werden. Es geht diesem Verständnis Politischer Bildung eben nicht um individuelle Verhaltensweisen der Lernsubjekte, wie es in der Demokratiepädagogikals Erziehung zur bestehenden Demokratie in ihrer repräsentativ-parlamentarischen Form erfolgt (vgl. Kap. 2.2.1), sondern um die Thematisierung von Macht, Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen, die Mündigkeit und Emanzipation verhindern. Gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge sollen verstanden und gesellschaftliche Strukturen bezüglich ihrer Potenziale für Demokratisierung hinterfragt werden, sodass sich die Lernenden die politischen Verhältnisse selbst aneignen können. Diesbezüglich liegt einer Soziopolitischen Bildung eine kritische Demokratietheorie zugrunde, die sich nicht auf die parlamentarische Demokratie beschränkt, sondern auf die Ausweitung der Partizipationschancen auf weitere gesellschaftliche Ebenen zielt.

Durch die transformierten gesellschaftlichen und politischen Grundlagen ändern sich auch die Ziele, Inhalte und fachdidaktischen Zugänge einer zeitgemäßen Politischen Bildung. Eine Soziopolitische Bildung richtet sich daher auf die grundlegenden Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sowie Demokratie und Kapitalismus. Antworten hierfür gibt vor allem die Soziologie im Sinne einer kritischen Gesellschafts- und Krisenwissenschaft, weshalb eine Soziopolitische Bildung die sozialwissenschaftliche Bezugsdisziplin der Soziologie gegenüber der Dominanz der (institutionenorientierten) Politikwissenschaft der hegemonialen Politikdidaktik wieder stärkt. Diesbezüglich soll kein neuer Streit über die Gewichtung der Bezugsdisziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften evoziert werden, sondern vielmehr die unhinterfragte hegemoniale und dominante Perspektive der Politikwissenschaft mit allen damit einhergehenden idealistischen Verkürzungen einer affirmativen Sicht auf den modernen Staat zurückgewiesen werden. Eine Soziopolitische Bildung, die ihren Begriff des Politischen nicht lediglich auf die Sphäre des Staates und ein problemlösungsorientiertes Handeln beschränkt, sondern gesamtgesellschaftlich ausweitet und die strukturellen Konflikte sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft fokussiert, bezieht sich auf Ansätze der Politischen Soziologie und Kritischen Staatstheorie. Gerade diese begreifen den Staat dialektisch als Herrschaftsinstanz, die Herrschaftssicherung sowie Emanzipation ermöglicht. Damit ist eine Soziopolitische Bildung gegenüber der hegemonialen Bildung staatstheoretisch fundiert.

Hierdurch kann ein kritisches Verständnis des Politischen eingeholt werden, das bestimmte Dimensionen strukturell bedingter sozialer Ungleichheit und politischer Ein- und Ausschließungsprozesse in einem intersektionalen Sinne verdeutlicht. Für eine Soziopolitische Bildung steht im Vordergrund, wie der Staat u.a. ethnische, klassenspezifische und geschlechtliche Ungleichheit produziert. Sie bezieht sich hierbei auf die drei Kategorien der Triple-Oppression-Theorie »race«, »class« und »gender« (vgl. Klinger/Knapp 2007), da diese (weiterhin) soziale Ungleichheit in nationalstaatlich verfassten bürgerlich-kapitalistischen androzentrischen Gesellschaften darstellen. Für eine Politische Bildung in demokratischer Absicht ist soziale Ungleichheit analytisch zu erfassen, um diese durch politisch-emanzipatorisches Handeln tendenziell aufheben zu können.

Eine Soziopolitische Bildung versteht sich hingegen nicht als komplett neuer didaktischer Entwurf, sondern verortet sich explizit im Diskurs einer Kritischen politischen Bildung, wie er 2010 durch die Herausgabe des gleichnamigen Sammelbandes durch Bettina Lösch und Andreas Thimmel (2011) re-aktualisiert wurde (u.a. Eis/Salomon 2014).Dieser schließt an kritische politikdidaktische Konzeptionen der 1970er Jahre an (u.a. Schmiederer 1972), die unter dem Einfluss der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (vgl. Wiggershaus 1987) begründet wurden. Hierbei handelt es sich nicht um einen zusammenhängenden Großentwurf eines didaktischen Modells, sondern um divergierende Ansätze, die das Ziel einer emanzipatorischenschulischen wie außerschulischen politischen Bildung und den Bezug auf aktuelle Strömungen kritischer Gesellschaftstheorie der letzten Jahrzehnte eint (Lösch 2013: 171). Wie die Bezeichnung bereits verdeutlicht, wird der Begriff der Kritik, der seit jeher zum Selbstverständnis einer an der Idee der Aufklärung orientierten Bildung gehört (Koselleck 1973: 6), für die zeitgenössische Politikdidaktik geschärft und ins Zentrum gestellt (vgl. Kap. 3.3.1). Politische Bildung soll sich wieder ihrer am Ziel der Emanzipation orientierten normativen Grundlagen bewusst werden und sich nicht am Glossar der Betriebswirtschaftslehre oder des gegenwärtigen Methodenfetischismus orientieren.

Der Staat stellt die zentrale politische Institution der Gesellschaft dar.21 Moderne Gesellschaften des Globalen Nordens sind zugleich bürgerlich, kapitalistisch, verrechtlicht, nationalistisch, rassistisch, androzentrisch und heteronormativ. Dabei ist der Staat mit den herrschenden Verhältnissen tief verwoben, generiert und strukturiert diese, kann sie allerdings zu Teilen auch aufheben. Um emanzipatorische Errungenschaften durchzusetzen, muss folglich der Staat zum Inhalt der politischen Reflexion gemacht werden. Daher sollte er auch grundlegend für die Politikwissenschaft und die Politische Bildung sein. Allerdings ist gerade der Staat in der Politikwissenschaft seit den 1970er Jahren als zentrale Kategorie für die Politikwissenschaft durch den Begriff des politischen Systems ersetzt und seine empirische Existenz als Nationalstaat in den 1990er Jahren durch Globalisierungsprozesse und die Hegemonie des Neoliberalismus in Frage gestellt worden. Sowohl die Finanzkrise von 2007/08 als auch die Covid-19-Pandemie von 2020/21 haben gezeigt, dass der Staat kein Anachronismus, sondern weiterhin die zentrale gesellschaftliche Instanz und der Akteur des politischen Geschehens ist.22 Auch die Whistleblower-Enthüllungen über die staatliche Überwachung der Bevölkerung durch diverse Nachrichtendienste (vgl. Leisegang 2013) sowie auf globaler Ebene die systematische Anwendung militärischer Gewalt im Zusammenhang mit geopolitischen Praktiken (vgl. ten Brink 2008) verdeutlichen, dass keineswegs ein Niedergang des Staates, sondern vielmehr eine »Renaissance der Nationalstaaten« (Deppe 2016: IX) zu konstatieren ist. Diese Entwicklungen zeigen auch, dass sich die Positionen liberaler und linker Kosmopoliten nicht bewahrheitet haben, die in den 1990er Jahren von einem »Regieren jenseits des Nationalstaates« (Zürn 1998) und von einer möglichen Weltordnung in einer »postnationale[n] Konstellation« (Habermas 1998: 95) gesprochen hatten, »die eher durch globale Rechtsordnungen und Institutionen (z.B. internationale Gerichtshöfe) reguliert wird als durch die Interessen und die Macht großer Staaten.« (Deppe 2016: IX) Der Nationalstaat ist nicht verschwunden, sondern bleibt weiterhin zentraler Akteur im politischen Prozess.

Dennoch unterliegt der Staat seit dem Ende der 1970er Jahre in seiner Struktur, seinen Interventionsformen, Leitbildern und Funktionen vielfältigen Transformationsprozessen (vgl. Jessop 2002). Daher ist der OECD-Staat nicht mehr durch das traditionelle Staatsverständnis der Sozialwissenschaften in Bezug auf Georg Jellinek eines nach innen hierarchisch organisierten und nach außen souveränen Staates mit einheitlichem Staatsgebiet, Staatsvolk und einheitlicher Staatsgewalt – wie er im 19. Jahrhundert Bestand hatte (vgl. Reinhard 1999: 406ff.) – begreifbar (Ziltener 1999: 17). Die Grenzen sind unscharf geworden, sowohl bezüglich des Verhältnisses von privaten und staatlichen Akteuren als auch von nationalen und supranationalen Institutionen. Der Staat restrukturiert sich. Es finden Grenzverschiebungen zwischen Politik, Wirtschaft und der (Zivil)Gesellschaft statt. Dies betrifft neben seiner Souveränität auch seine Herrschaftsfunktion. Diese ändert sich nach innen und nach außen. Gerade in Krisen setzen sich neue Leitbilder des Staates durch, wenn etablierte Ideen und Ordnungen an Zustimmung verlieren.

Nach innen zeichnet sich die Transformation des modernen demokratischen OECD-Staates durch eine Neukonfiguration des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft aus, wodurch deutlich wird, dass die auch von linksliberalen Denker_innen konstatierte Gegenüberstellung von Staat und Ökonomie (u.a. Habermas 1998: 121) sowie von öffentlich und privat analytisch verkürzt ist. Der Staat wandelt sich seit einigen Jahrzehnten tendenziell erstens durch einen Machtzuwachs der Exekutive und dem Abbau demokratisch-parlamentarischer Rechte zu einem autoritären Staat, zweitens im Zuge einer zunehmenden staatlichen Überwachung durch die Nachrichtendienste zu einem Sicherheitsstaat, drittens durch eine repressivere Strafjustiz zu einem Strafrechtsstaat, viertens durch den zunehmenden Einfluss von Wirtschaftseliten auf die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen, was über den ›gewöhnlichen‹ Lobbyismus hinausgeht, zu einem marktkonformen Staat, fünftens durch die Umgehung parlamentarisch-demokratischer Bestimmung der Wirtschaftspolitik durch die Festschreibung von Eigentumsrechten und Austeritätspolitik in die staatlichen Verfassungen zu einem disziplinierenden Staat, sechstens durch neue staatliche Regierungstechniken, die dem ökonomischen Leitbild des New Public Managements entnommen sind und einen veränderten staatlichen Zugriff auf das Arbeitsvermögen der gesellschaftlichen Subjekte zur Folge haben zu einem aktivierenden Staat, siebtens durch die Privatisierung und Auslagerung von Kernbereichen nationalstaatlicher Souveränität (u.a. Gefängnisse, Sicherheitsdienste, Infrastruktur) an private Akteure im Zuge von Public-Private-Partnership-Abkommen zu einem neoliberalen schlanken Staat.

Nach außen überträgt der moderne OECD-Staat durch ökonomische Verflechtungen und politische Integration zwischen den Staaten vielfältige Staatsfunktionen und nationalstaatliche Kompetenzen auf trans- und supranationale Institutionen wie den IWF, die Weltbank und die EU, wodurch eine Transnationalisierung von Staatlichkeit und bestimmter Staatsapparate stattfindet. Auch das Recht wird diesbezüglich teilweise internationalisiert und durch supranationale Institutionen wie die WTO und den Ministerrat der EU bestimmt.

Damit wird das »›[t]raditionelle[] Regieren‹ als politische Norm in Form einer trennscharfen Unterscheidung von Regieren und Regiert-Werden […] der politischen Praxis schon lange nicht mehr gerecht.« (Eis/Salomon 2014: 7) Die Transformation von Staatlichkeit und der politischen Steuerung stellen die traditionellen Wege der demokratischen Willensbildung und Legitimation, die Grundlagen des demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaates sowie die traditionelle Einheit von Territorialität, Souveränität und nationaler Zivilgesellschaft in Frage (ebd.). Jedoch haben weder die allgemeinen gesellschaftlichen, noch die staatlichen Transformationsprozesse in der hegemonialen Politischen Bildung eine Bedeutung. Sie begreift diese nicht und geht weiterhin vom souveränen Nationalstaat aus, was Ulrich Beck bereits für die Politikwissenschaft als »Container-Theorie der Gesellschaft« (1998: 13f.) bezeichnet hat. Diese geht von staatlich abgegrenzten und beherrschten Räumen sowie von Einheiten territorialer Souveränität aus (ebd.). Beck spricht diesbezüglich vom »Territorial-Bias der Sozialwissenschaften« (ebd.: 17).23

Eine Soziopolitische Bildung begreift den Staat hingegen nicht statisch in seiner Form als moderner Nationalstaat. Neben der Sichtweise auf den Staat als zentrale umkämpfte politische Institution, in der sich die sozialen Kräfteverhältnisse der Gesellschaft reproduzieren, wird gerade seine Transformation sowie der Wandel politischer Herrschaft in die Analyse des Politischen mit einbezogen. Deshalb kritisiert eine Soziopolitische Bildung auch die weiterhin in den Sozialwissenschaften dominante liberale Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft/Markt, denen angeblich getrennte Funktionslogiken zugrunde liegen und fasst den Staat der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft demgegenüber im dialektischen Sinne in seiner strukturellen Vermittlung mit der Gesellschaft und dem Markt. Der Begriff des Staates steht folglich im Vordergrund dieses Buches, das eine Soziopolitische Bildung begründet.

Gerade politische Begriffe sind Gegenstände der politischen Kontroverse. Dabei sind diese Auseinandersetzung auch Kämpfe um die Aneignung von Wörtern: »Kein Begriff der Sozialtheorie, der nicht zugleich Gegenstand sozialer Kämpfe wäre.« (Marchart 2013: 23) Dies spricht gegen den Traum der analytischen Philosophie, dass der Sinn von Begriffen unmissverständlich definiert wird, indem alle Mehrdeutigkeiten beseitigt werden. Sprache im Allgemeinen und sozialwissenschaftliche Begriffe im Besonderen sind vielmehr »Träger gesellschaftlicher Normierung« sowie »Instrument gesellschaftlicher Kontrolle« (Greiffenhagen 1980: 12). Dies zeigt sich auch am Begriff des Staates und seiner Konnotation der Gemeinwohlorientierung. Was Pierre Bourdieu aus soziologischer Perspektive an der Funktion der staatlichen Schule verdeutlicht, kann auch als Kritik einer Soziopolitischen Bildung an der hegemonialen Politikdidaktik gelten: Diese produziert »Staatsdenken« (2014: 325), übernimmt und reproduziert unhinterfragt die Kategorien, Ansichten sowie Ideologien des bürgerlichen Staates. Bourdieu konstatiert:

»Der Staat strukturiert die soziale Ordnung als solche – den Stundenplan, das Zeitbudget, unsere Terminkalender; unser ganzes Leben wird vom Staat strukturiert – und zugleich unser Denken. Diese Art von Staatsdenken ist kein Metadiskurs über die Welt, sondern konstitutiv für die soziale Welt, sie ist in die soziale Welt eingeschrieben.« (ebd.)

Eine Soziopolitische Bildung versucht diesem Staatsdenken zu entgehen und vielmehr macht- und herrschaftskritisch den Staat zu denken. Liegt der hegemonialen Politikdidaktik der Konstruktivismus als dominante erkenntnistheoretische Position zugrunde (Sander 2008: 162ff.),24 bezieht sich eine Soziopolitische Bildung auf die Dialektik als erkenntnistheoretische Position, die entgegen dem Denken in starren Verstandeskategorien und Substanzen auf das Denken in Relationen und Beziehungen gesellschaftlicher Objekte und politikwissenschaftlicher Kategorien ausgerichtet ist. Gerade hierdurch können Staat, Markt und Gesellschaft in ihrer Vermittlung begriffen werden. In diesem Buch soll folglich für eine herrschafts- und machtkritische Politische Bildung in emanzipatorischer Absicht begründet werden, was Wolfgang Benz für die Politikwissenschaft fordert:

»Es ist im Sinne der politischen Aufklärung notwendig, die Funktionsweise des modernen Staates zu erforschen und verständlich zu machen. Nur auf dieser Grundlage kann eine kritische Politikwissenschaft die Grenzen des Staates ausloten, seine Defizite ermitteln und über Reformen wie alternative Lösungen für gesellschaftliche Probleme reflektieren.« (2008: 324)

Das Buch ist wie folgt strukturiert:

In Kapitel 1 werden die politikwissenschaftlichen Grundlagen dargestellt, auf die sich die hegemoniale Politische Bildung bezieht. Es geht hierbei um das Politik, Demokratie- und Staatsverständnis der institutionenorientierten Politikwissenschaft.

Kapitel 2 stellt das Politik, Demokratie- und Staatsverständnis der hegemonialen Politischen Bildung dar und unterzieht es einer kritischen Überprüfung hinsichtlich seiner Plausibilität sowie seiner Kapazität, das Politische zu erfassen. Dabei werden unterschiedliche Ansätze der Politischen Bildung dargestellt und es wird verdeutlicht, dass Politische Bildung stets ein politisch umkämpftes Feld ist (Kap. 2.1). Kapitel 2.2 zeigt auf, auf welche sozialwissenschaftlichen Leitdisziplinen sich die hegemonialen Ansätze der Politischen Bildung beziehen und welche Probleme damit verbunden sind. Kapitel 2.3 arbeitet das Staatsverständnis der hegemonialen Politischen Bildung sowie die damit einhergehenden Probleme für die Erfassung des Politischen heraus. Kapitel 2.4 stellt das heuristische Modell des Politikzyklus dar, das von der hegemonialen Politischen Bildung für die konkrete Unterrichtsgestaltung vermittelt wird und erläutert, welche Verkürzungen für die Politische Bildung daraus resultieren. Das Demokratieverständnis der Politischen Bildung ist Inhalt des Kapitels 2.5 und wird bezüglich der konkreten gesellschaftlichen Gefährdungslagen und den Aufgaben Politischer Bildung beurteilt.

In Kapitel 3 wird die Soziopolitische Bildung als herrschafts- und machtkritische Alternative zur hegemonialen Politischen Bildung begründet. Hierbei werden die gesellschaftstheoretischen Grundlagen und Bezüge zur Kritischen politischen Bildung dargestellt (Kap. 3.2). Kapitel 3.3 klärt die grundlegenden politikdidaktischen Begriffe »Kritik«, »das Politische« und »Bildung« aus Sicht einer Soziopolitischen Bildung. Kapitel 3.4 verdeutlicht, warum gesellschaftliche Strukturkonflikte das grundlegende Thema einer Soziopolitischen Bildung darstellen, um Herrschafts- und Machtverhältnisse begreifen und Emanzipation, Mündigkeit und Freiheit ermöglichen zu können (Kap. 3.5). Hierbei wird die These begründet, warum vor allem das strukturelle Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus grundlegend für die Gegenwartsgesellschaft, ihre Krisen und mannigfaltigen Formen der sozialen Ungleichheit ist und damit für eine emanzipatorische Politische Bildung Thema sein muss. Kapitel 3.6 zeigt daran anschließend, warum eine Kritische Demokratiebildung gerade im Zeitalter bedrohter Demokratie das Ziel einer Soziopolitischen Bildung sein muss. In Kapitel 3.7 wird argumentiert, warum die Soziologie als kritische gesellschaftsorientierte Sozial- und Krisenwissenschaft der Moderne die zentrale Bezugsdisziplin einer Soziopolitischen Bildung ist.

Kapitel 4 zeigt, dass eine Soziopolitische Bildung gegenüber der hegemonialen Politischen Bildung staatstheoretisch zu erweitern ist und welche Gründe hierfür sprechen. Es werden die Ansätze der Kritischen Staatstheorie vorgestellt und ihr Gehalt für eine macht- und herrschaftskritische Politische Bildung dargelegt. In Kapitel 5 werden die für eine staatstheoretisch fundierte Soziopolitische Bildung zentralen kritischen Staats- und Gesellschaftstheorien dargestellt und herausgearbeitet, warum sie für ein differenziertes politisches Verständnis des Zusammenhangs zwischen Staat und Gesellschaft/Ökonomie obligatorisch sind. Diese Theorien bieten die Grundlage für eine herrschafts- und machtkritische Politische Bildung, die sowohl die Formen sowie die oben genannten Transformationen staatlicher und politischer Herrschaft erfassen und damit das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Staat und Individuum differenzierter und dynamischer begreifen, als es in der hegemonialen Politischen Bildung erfolgt.

All diese Theorien geben der Politischen Bildung nicht nur analytische Impulse, sondern auch praktische, sich nicht lediglich affirmativ auf das Bestehende als das zu Verteidigende zu begrenzen, sondern auf Demokratisierung als das zu Verwirklichende zu beziehen.

1Vgl. UN-Generalsekretär Guterres: »Größte Herausforderung seit Weltkrieg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.2020 [Autor_in inbekannt]; vgl. auch William Davies: Die Krise, die die Welt verändert?, in: Der Freitag, 27.03.2020.

2Vgl. Agnès Sinai: Dürre und Gewalt, in: Le Monde Diplomatique, 10.09.2015.

3Durch die wachstumsbedingte Abholzung werden zunehmend natürliche Lebensräume der Tiere zerstört, wodurch Viren von Tieren leichter auf Menschen übertragen werden. Vgl. Maike Rademaker: Krankheiten durch Abholzung, in: die tageszeitung, 01.04.2021.

4Andreas Reckwitz verwendet für die Bezeichnung der Gegenwartsgesellschaft den Begriff der Spätmoderne, der ausdrückt, »dass wir einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel erleben, in dessen Verlauf sich in den letzten dreißig Jahren die klassische, die industrielle Moderne, in eine neue Form der Moderne verwandelt« (2019: 17). Die Spätmoderne »ist unter anderem durch eine radikale Globalisierung gekennzeichnet, in deren Verlauf die für die industrielle Moderne so typische und klare Trennung zwischen ›Erster‹, ›Zweiter‹ und ›Dritter Welt‹ sich aufhebt und die Grenzen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden immer stärker verschwimmen.« (ebd.: 18)

5Hervorhebungen in Zitaten finden sich als solche im Original und werden im Folgenden nicht extra angegeben. Werden Begriffe in Zitaten hervorgehoben, ist dies hingegen vermerkt. Englischsprachige Zitate sind ins Deutsche übersetzt.

6Für Jean-François Lyotard zeichnet das postmoderne Zeitalter aus, dass »[d]ie große Erzählung […] ihre Glaubwürdigkeit verloren [hat], welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation.« (2005: 112)Zur Diskussion bezüglich der Frage, ob sich die Gegenwartsgesellschaft als Moderne oder Postmoderne bezeichnen lässt vgl. Habermas 1988; Wagner 1995: 38f.

7Vgl. u.a. Thomas Straubhaar: Bildung. Diese Schicksalsfrage entscheidet über Deutschlands Wohlstand, in: Die Welt, 23.07.2018.

8Da politische Bildung an unterschiedlichen Lernorten stattfindet, hat sich die begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen der formalen Bildung, die in der Schule vollzogen wird, sowie der non-formalen Bildung, die die außerschulische Bildung beinhaltet, eingebürgert (Widmaier 2007: 39).

9Zur Geschichte der schulischen Politischen Bildung in Deutschland vgl. Gagel 1995; Sander 2010.

10»Sozialkunde«, »Sozialwissenschaften«, »Gemeinschaftskunde«, »Politische Bildung« oder »Politik/Wirtschaft« sowie in der Grundschule »Sachunterricht« sind die gängigsten Bezeichnungen für die Fächer der Politischen Bildung. Vgl. Pohl, Kerstin (2009): Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern?, https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/politische-bildung/304314/sozialwissenschaftliche-bildung [abgerufen am 15.04.2021]). Die Vielfalt der Fachbezeichnungen hat ihren Ursprung in einer Empfehlung der Kultusministerkonferenzzur bundesweiten Einführung des Faches aus dem Jahr 1950, die den Ländern dessen Benennung freistellte (Sander 2010: 114).

11Dies verdeutlicht bereits der Begriff der Krise selbst, der aus dem griechischen Wortstamm »krino«/»krisis« stammt, was ent- und unterscheiden beziehungsweise beurteilen und klären bezeichnet (Negt 2010: 169).

12Vgl. Marc Hagedorn: Gesundes Missvertrauen, in: Weser Kurier, 19.09.2019.

13Allerdings konstatiert die 18. Shell-Jugendstudie von 2019: »Nicht zu übersehen ist […] die Affinität einiger Jugendlicher [25 Prozent; S.R.] zu populistischen Positionen. Die Kritik, die viele dieser Heranwachsenden dabei zugleich am sogenannten Establishment in Politik und Gesellschaft üben, ist auch davon beeinflusst, dass sich junge Menschen generell nicht hinreichend gefragt und einbezogen fühlen.« (Zusammenfassung, https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study/_jcr_content/root/main/containersection-0/simple/simple/call_to_action/links/item0.stream/1642665739154/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf [abgerufen am 12.06.2021]).

14Die Verwirklichung dieser Werte der Moderne bezeichnet Étienne Balibar als »Gleichfreiheit« (2012: 18). Der Begriff soll den notwendigen Zusammenhang von sozialer Gleichheit und politischer Freiheit ausdrücken.

15Zum Begriff der Hegemonie vgl. Kap. 5.4.3.

16Für Mögling und Steffens wird der »Hauptstrom« der Politischen Bildung durch eine »Vernetzung von 15-20 Politikdidaktiker/-innen repräsentiert [und auf diese reduziert; S.R.], die sich in den letzten Jahren als personeller Kern einschlägiger Fachveranstaltungen und politikdidaktischer Publikationen darstellten.« (2004: 19) Auch wenn sich das Feld in der Politischen Bildung seit 2004 gewandelt und erweitert hat (vgl. Eis/Salomon 2014), werden diese Autor_innen in der Lehrer_innenausbildung des Zweiten Staatsexamens weiterhin als zentrale Referenzen verwendet und sind daher am wirkmächtigsten (Hedtke 2014a: 47f.). Zudem haben sie zentralen Einfluss auf die Schulbuchgestaltung. Exemplarisch wird dies im vorliegenden Buch an den einflussreichen Schulbüchern Blickpunkt Sozialwissenschaften 1 (Detjen u.a. 2019) und Blickpunkt Sozialwissenschaften 2 (Detjen u.a. 2021) für die gymnasiale Oberstufe des Faches Sozialwissenschaften in NRW gezeigt, die u.a. Joachim Detjen mit herausgegeben hat und auch in anderen Bundesländern adaptiert Verwendung finden. Reinhold Hedtke (2014a: 47f.) sieht die hegemonialen Ansätze vor allem um die stark männlich geprägte Autor_innengruppe der Konzepte der Politik (Weißeno u.a. 2010) gruppiert. Diese umfasst Georg Weißeno, Joachim Detjen, Ingo Juchler, Peter Massing und Dagmar Richter. Auch Wolfgang Sander kann zur hegemonialen Politischen Bildung gezählt werden, auch wenn er selbst nicht der Gruppe um die Konzepteangehört, jedoch vor allem durch seine Geschichtsschreibung der schulischen Politischen Bildung in Deutschland (2010) sowie Grundlagenwerke der Politikdidaktik (u.a. 2008) einflussreich innerhalb des dominierenden fachdidaktischen Diskurses und der Lehrer_innenausbildung ist.

17Gegen die These, Politische Bildung wird unpolitisch, lässt sich hingegen einwenden, bei der gegenwärtigen Politischen Bildung geht es um die Affirmation der vorherrschenden politischen und sozialen Ordnung, wodurch Politische Bildung sehr wohl politisch ist. Diese Sichtweise liegt vorliegender Arbeit zugrunde. »Politische Bildung wird unpolitisch« bezieht sich im oben genannten Kontext vielmehr darauf, dass keine kontroversen Debatten mehr in den dominierenden Ansätzen der Politischen Bildung erfolgen.

18Vgl. Anja Krüger: Wirtschaft macht Schule, in: die tageszeitung, 04.05.2016.

19Vgl. https://www.schulministerium.nrw/zur-aktuellen-debatte-um-die-lehramtsstudiengaenge-sozialwissenschaften-und-wirtschaft-politik[abgerufen am 10.10.2022].

20Dies zeigt sich beispielsweise durch den Zusammenhang zwischen zunehmender (Erwerbs)Armut und zunehmender Wahlabstinenz. Vgl. Ulrich Schulte: Wer arm ist, bleibt zuhause, in: die tageszeitung, 06.09.2015.

21Wenn im vorliegenden Buch vom Staat gesprochen wird, ist immer der moderne demokratische Nationalstaat der OECD-Länder gemeint (vgl. Benz 2008).

22Vgl. Gero von Randow: Der Staat war nie weg, in: Die Zeit, 19.01.2021.

23Die hegemonialen Ansätze der Politikdidaktik beziehen sich höchstens auf die naiven technokratischen und machtblinden Global-Governance-Konzepte (vgl. Kap. 4.3.3), um veränderte Staatsfunktionen im Zeitalter der Globalisierung zu erfassen.

24Verkürzt ausgedrückt geht der Konstruktivismus von der Annahme aus, dass die Wirklichkeit beobachterabhängig sei und die Menschen sich ihre je eigenen subjektiven Wirklichkeiten konstruierten. Zur Kritik am Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage der Politikdidaktik vgl. Rodrian-Pfennig 2011: 159; zur Kritik am Konstruktivismus als wissenschaftstheoretische Position vgl. Knoll/Ritsert 2006: 48f.

1.Politikwissenschaftliche Bezüge und Grundlagen der Politischen Bildung

1.1Die Kontroverse um den Politikbegriff in der Politikwissenschaft

»Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.« (Arendt 1993: 9)

1.1.1Die Pluralität von Gesellschaft und die Unbestimmtheit von Politik

Von der Politischen Bildung verwendete Begriffe sind zumeist unscharf. Dies trifft u.a. auf solche wie Demokratiebewusstsein und politische Partizipation, aber auch auf den der Politischen Bildung selbst zu (vgl. Kap. 2.1). Wer sich mit Politischer Bildung und ihren Aufgaben auseinandersetzt, muss daher ihre grundlegenden Kategorien wie Politik, Staat und Demokratie analytisch bestimmen, um eine Beliebigkeit und Vagheit ihrer Begriffe – und damit der Politischen Bildung selbst – zu vermeiden.

Im Alltag wird der Begriff »Politik« in der Regel mit unterschiedlichen Phänomenen bezeichnet: Erstens werden hierunter bestimmte Institutionen wie Staat, Parlament und Parteien subsumiert,1zweitens gelten soziale Phänomene wie Macht, Konflikt und Allgemeinwohl als Elemente von Politik. Neben der institutionellen und gesellschaftlichen Dimension wird Politik drittens auch als das verstanden, was Politiker_innen und politische Akteur_innen handelnd vollziehen (Massing 1974: 8) – folglich als soziale Praxis.

Obwohl bereits in der Antike durch Aristoteles eine systematische Erörterung des Begriffsder Politik2angestrebt wurde (vgl. Meier 1983), findet sich in der zeitgenössischen Politikwissenschaft (vgl. Münkler 2006) kein einheitliches Verständnis sowie keine allgemeingültig anerkannte Definition von Politik (vgl. Münkler/Straßenberger 2020: 27f.).3 Konsens besteht lediglich darin, dass sich der Begriff der Politik einer endgültigen Definition entzieht (Marchart 2010: 15). Daher zeichnen sich auch die Politikwissenschaft und die politische Theorie (vgl. Münkler/Straßenberger 2020) – die »das Vokabular für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung« (Schaal 2016: 513) liefern – durch die Verwendung einer Vielzahl von unterschiedlichen und konkurrierenden Politikbegriffen aus.4 Dabei ist bereits höchst umstritten, »[w]elchen Gegenstand der Begriff ›Politik‹ überhaupt zu fassen beansprucht, was Politik von anderen sozialen Gegenständen wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion unterscheidet« (Brodocz/Schaal 2016: 13).

Begründen lässt sich dies damit, dass sich einerseitsdie gesellschaftliche und politische Wirklichkeit so mannigfaltig darstellt, dass sie nicht in einfache Definitionen einzufangen ist, weil »die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen« (Adorno 1973: 17). Begriffe schneiden immer das Besondere des zu Bezeichnenden ab und verallgemeinern es (ebd.). Andererseitssind Auffassungen über das Wesen und die Aufgabe von Politik immer durch ein bestimmtes Gesellschaftsverständnis, durch zugrundeliegende Menschenbilder und hieran anschließend durch die politischen Ansichten der Sozialwissenschaftler_innen selbst bestimmt. Wie Wissenschaft im Allgemeinen sind damit auch die Sozialwissenschaften im Besonderen – obwohl oft postuliert (Weber 2002a: 358ff.) – nie objektiv und wertfrei (Adorno 1980: 87), sondern stets subjektiv geprägt und interessensgebunden (Habermas 1981: 13). Dies zeigt sich bereits am der Politikwissenschaft zugrundeliegenden Politikbegriff.

Dem einflussreichen Verständnis Hannah Arendts zufolge geht es bei Politik um die Artikulation und Durchsetzung divergierender Interessen der Mitglieder einer Gesellschaft (1993: 11). Dass sich eine Gesellschaft überhaupt mit Politik beschäftigt, beruhe »auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.« (ebd.: 9)5 Politik ist diesem Verständnis zufolge eine menschliche Praxis, die die unterschiedlichen Interessen der Individuen der Gesellschaft organisiert und miteinander in Einklang bringt. Sie bedeute die maßgebende Entscheidung über das allgemein Verbindliche(Meyer 2000: 69).In Anlehnung an dieses republikanische Politikverständnis (vgl. Münkler/Straßenberger 2020: 151ff.) begreifen viele politikwissenschaftliche Ansätze Politik als einen Prozess, »in dem lösungsbedürftige Probleme artikuliert, politische Ziele formuliert, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt und schließlich als verbindliche Festlegung gewählt werden« (Fritz Scharpf zit.n. nach Blum/Schubert 2018: 157).

Üblicherweise wird der Staat als die zentrale gesellschaftliche Regelungsinstanz und als Zentrum der Politik verstanden. Diesem in der Politikwissenschaft dominierenden Politikbegriff zufolge wird »Politik […] vom Staat her bestimmt« (Brodocz/Schaal 2016: 13). Politik bezeichnet demnach »das Handeln des Staates und das Handeln in staatlichen Angelegenheiten« (Blum/Schubert 2018: 9). Dennoch wird diesem Politikverständnis zufolge nicht nur der Staat als alleiniges Subjekt der Politik begriffen, sondern zudem gesellschaftliche Akteure. Politik sei »ein aktives [gesellschaftliches] Handeln, das auf die Beeinflussung staatlicher Macht, den Erwerb von Führungspositionen und die Ausübung von Regierungsverantwortung zielt.« (ebd.) Dennoch verbleibt diesem Politikverständnis zufolge der Staat der zentrale Akteur der Politik. Er wird hierbei in seiner modernen demokratischen Form als die legitimierte gesellschaftliche Organisation institutionalisierter Herrschaft verstanden, in der und durch die um gesellschaftliche Macht gerungen wird.6

Der Bezug auf den Staat als umkämpfte Herrschaftsorganisation zeigt, dass es bei Politik nicht lediglich im Sinne Arendts um die Pluralität gesellschaftlicher Interessen geht, sondern zudem um soziale Phänomene wie Herrschaft und Macht. In politikwissenschaftlichen Standardwerken (u.a. von Beyme 2017) wird Politik regelmäßig im Sinne eines solchen Herrschaftsverständnisses definiert, wenn es u.a. heißt: »Politik ist das Streben nach Herrschaft im Staat« (Probst 2016: 109).

Allgemein können die kontroversen Politikbegriffe nach drei Dimensionen eingeteilt werden: erstens regierungszentriert versus emanzipatorisch, zweitens normativ versus deskriptiv und drittens konfliktorientiert versus konsensbezogen (Reheis 2014: 13). Allerdings – so die hier vertretene These – werden in den meisten politikwissenschaftlichen Ansätzen Politik und Staat nicht differenziert und nicht machtanalytisch als umkämpfte Phänomene bestimmt, die sowohl Herrschaft als auch Emanzipation ermöglichen, sondern einseitig im idealistischen und affirmativen Sinne als auf die Durchsetzung des gesellschaftlichen Gemeinwohls abzielend dargestellt (vgl. Kap. 2.3).

1.1.2Zur formalen Kontroverse um einen engen und weiten Politikbegriff

Zwar zeigt bereits der etymologische Ursprung des Begriffs der Politik (vgl. Meier 1983)7 seine theoretische Verbindung zum Staat, jedoch geht er nicht in sämtlichen Politikdefinitionen im Staat auf und wird auch durch den Bezug zur Gesellschaft verstanden. Im politikwissenschaftlichen Diskurs wird diesbezüglich formalzwischen einem engen und einem weiten Politikbegriff unterschieden und um deren Gewichtung für die politische Analyse gestritten (Breuer 1998: 14). Diese Kontroverse hat weitreichende Bedeutung, berührt sie die für dieses Buch grundlegende sozialwissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft (vgl. Benz 2008: 75ff.).

Es geht darum, ob Politik lediglich mit der institutionellen Ordnung des Staates identifiziert werden soll (enger Politikbegriff) oder zudem die über die Institutionen des Staates hinausgehende Dimension des gesellschaftlichen Handelns, das die generell als privat geltenden Lebensbereiche sowie gesellschaftlichen Auseinandersetzungen umfasst, mit einbezieht (weiter Politikbegriff). Der enge Politikbegriff begrenzt Politik in einem etatistischen Sinne auf das »politisch-administrative System« (Meyer 2000: 67), d.h., u.a. den bürokratischen Staatsapparat, das Parlament und die Regierung. Diesem Verständnis nach steht Politik abgrenzend der Gesellschaft gegenüber, wodurch der durch die liberale politische Theorie konstituierte Dualismus von Staat und Gesellschaft (vgl. Kap. 5.8.3) sowie von Öffentlichkeit und Privatheit konstituiert und reproduziert wird (u.a. Benz 2008: 75). Der weite Politikbegriff beinhaltet demgegenüber zudem die generell als ›staatsfern‹ geltenden (zivil)gesellschaftlichen Akteure wie Verbände, Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen (Kreisky/Sauer 1997a: 16) sowie private Personen und Familien. Hierdurch wird die Dimension der Politik auf den gesellschaftlichen und privaten Bereich ausgeweitet und damit »kein gesellschaftlicher Bereich von vornherein als unpolitisch« ausgeschlossen (Hellmuth/Klepp 2010: 88). Dies hat vor allem für die feministische Diskussion Relevanz (vgl. Kap. 5.8).

Die meisten politikwissenschaftlichen Ansätze gehen hingegen von einem engenPolitikbegriff aus (Meyer 2000: 67), wonach der Staat den »Gegenstand der Lehre und Forschung von der Politik« bilde (Bleek 2001: 29). Damit wird jedoch Macht – obwohl zentrale Kategorie der Politikwissenschaft – lediglich »auf staatliches Handeln reduziert« (Rudolph 2015: 41), wodurch der Zusammenhang von politischer Macht und Gesellschaft der theoretischen Reflexion entzogen wird (Kammler 1968: 9). Somit können politische Zusammenhänge und gesellschaftliche Macht- sowie strukturelle Herrschaftsverhältnisse außerhalb der Institutionen des Staates (Hebekus/Völker 2012: 64f.), die sich u.a. auch in der Wirtschaft (vgl. Kap. 5.2), der Zivilgesellschaft (vgl. Kap. 5.4), im Privaten und in den Geschlechterverhältnissen (vgl. Kap. 5.8) manifestieren, nicht begriffen werden. Da Herrschaft zumeist als institutionalisierte Macht begriffen wird (Rudolph 2015: 41), befasst sich die Politikwissenschaft auf Grund ihres eindimensionalen Politikbegriffs »öfter mit Herrschaft als mit Macht« (ebd.). Hierdurch wird Herrschaft allerdings nicht problematisiert und kritisiert, sondern durch den Einfluss der Pluralismustheorie (vgl. Kap. 1.2.4) als etwas Neutrales aufgefasst und als dasjenige dargestellt, was Interessensgruppen ergreifen sollten, um ihre Anliegen durchzusetzen. Gerade gesellschaftliche Konflikte und Machtverhältnisse sowie Herrschaftsausübung und Demokratiegefährdung durch staatliche Herrschaft wird somit jedoch fatalerweise ausgeblendet. Es geht bei einer solchen Sichtweise folglich nicht um den Abbau von Herrschaft, da diese durch ihren affirmativen Staatsbezug vielmehr legitimiert wird (Rudolph 2015: 42). Nach Otwin Massing ist diese

»ontologisierende Modellanalyse von Politik kaum noch in der Lage, emanzipatorischen Impulsen Rechnung zu tragen, weil sie a priori von der de facto absoluten, nicht nur historisch-relativen Konstanz von Macht und Herrschaft sowie den dazu korrelativen Ordnungsbedürfnissen und ihrer Befriedigung ausgeht.« (1974: 21)

Aus der fehlenden analytischen Differenzierung zwischen den herrschaftssoziologischen Kategorien »Macht«, »Herrschaft« und »Gewalt« (vgl. Imbusch 2012) resultiert das zentrale Manko der meisten Ansätze der Politikwissenschaft: Sie verfügen über »keine Antworten auf (die Il-Legitimität der) Ungleichheitsverhältnisse, wie sie sich entlang der gesellschaftlichen Hauptachsen class, race, gender manifestieren.« (Rudolph 2015: 42)

Zudem kann durch einen lediglich engen Politikbegriff auch nicht die Transformation von staatlichen Regierungstechnologien (vgl. Kap. 5) als Element des Politischen erfasst werden. Auch die hegemonialen Positionen der Politischen Bildung beziehen sich auf einen engen Politikbegriff (vgl. Kap. 2), wodurch sie sich ebenfalls die damit einhergehenden theoretischen Probleme und analytischen Kurzschlüsse einholen.

1.1.3Die politische Differenz zwischen der Politik und dem Politischen

Sowohl im Alltagsverständnis als auch in weiten Teilen der politikwissenschaftlichen Theorie wird der Begriff der Politikdem Staat als das Öffentliche (als Verwaltungsangelegenheit) zugeordnet, das sich vom Privaten (dem nicht-öffentlichen Bereich) unterscheidet und abgrenzt (vgl. Rudolph 2015: 99). Auf das Private – so der allgemeine Konsens politisch liberaler Positionen (ebd.: 102) – soll die Regulation des Staates möglichst nicht abzielen.8 Dieser Ansicht nach ist politisch damit sowohl im analytischen als auch normativen Sinne das, was vom Staat und seinen Institutionen handelnd vollzogen beziehungsweise auf diese bezogen wird (Benz 2008: 1).

Im Zuge der zweiten Welle der feministischen Bewegung in den 1970er Jahren (Gerhard 2020: 112) hat der Schlachtruf »das Private ist politisch« dazu geführt, den Blick dieses verkürzten Politikverständnisses von der Sphäre des Staatlichen auf die des gesellschaftlichen Alltagslebens und damit des Privaten zu erweitern (vgl. Kap 5.8). Damit sollten die dortigen Macht- und Unterordnungsverhältnisse analytisch erfasst und kritisch beurteilt werden (Marchart 2010: 298). Bereits der konservative und spätere NS-Staatsrechtler Carl Schmitt polemisierte Anfang der 1930er Jahre gegen die Gleichsetzung von Politik und dem Politischen mit dem Staat (2015: 19) und begründete die für die zeitgenössische politische Theorie zentrale Differenz zwischen der Politik und dem Politischen (Bedorf 2010: 8). Hieran schließt die relativ neue sozialwissenschaftliche Diskussion9 über das Verhältnis zwischen der Politik und dem Politischen an, die Oliver Marchart als »politische Differenz« (2010: 9) begreift und vor allem durch die akademische Linke vertreten wird (vgl. Bedorf 2010). Wird der Begriff der Politikin der Politikwissenschaft in der Regel staatszentriert (Benz 2008: 1) oder als das institutionalisierteSpiel der Kräfte und Interessen bezüglich der Verteilung und Ausübung von Macht verstanden (Hebekus/Völker 2012: 25), bleibt die Kategorie des Politischen zumeist analytisch unbestimmt oder wird lediglich unter den Begriff der Politik beziehungsweise des Staates subsumiert (Breuer 1998: 14).10

Entgegen dem Verständnis des Politischen im republikanischen Sinne Hannah Arendts (1993), das das Politische als einen Raum der Freiheit, der durch gemeinsames Handeln und öffentliche Deliberation als Auseinandersetzung um das Gemeinwesen fasst (vgl. Bedorf 2010: 17f.), verstehen konkurrierende Ansätze das Politische als das innerhalb der Gesellschaft vorhandene Konflikthafte, den Widerstreit (Laclau: 1999: 112f.), der sich gegen die bestehende Ordnung richtet (Rancière 2002: 46). Mit diesem Begriff des Politischen wird die durch die liberale Theorie und die meisten Ansätze der Politikwissenschaft gezogene Trennlinien zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen (vgl. Kap. 5.8.5) zurückgewiesen und Politik in einem gesamtgesellschaftlichen Verständnis begriffen, wodurch soziale Konflikte innerhalb der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse fokussiert werden. Dennoch verbleiben sowohl die hegemonialen Positionen der Politikwissenschaft als auch der Politischen Bildung (vgl. Kap. 2.3) auf die Sphäre der Politik begrenzt und holen somit analytisch das Politische als das Konflikthafte der Gesellschaft nicht ein. Ihrem Verständnis zufolge blieben politische Konflikte und Prozesse regelmäßig auf den Staat zentriert, der zudem fähig und gewillt sei, diese auch zu lösen. Die Spezifik gesellschaftlicher Herrschaftskonflikte und struktureller Machtasymmetrien wird dadurch jedoch gerade nicht erfasst, weswegen das Politische als »generische[s] Prinzip der Konfiguration der Gesamtgesellschaft« (Lefort zit.n. Hebekus/Völker 2012: 64f.) in Bestimmungen der Politik nicht aufgeht und in einem erweiterten Verständnis zu erfassen ist (vgl. Kap. 3.3.2).

1.1.4Macht oder Gemeinwohl als Ziel von Politik? Zur zentralen inhaltlichen Kontroverse politischer Theorie

Neben der formalen Kontroverse, welche gesellschaftlichen Bereiche der Begriff der Politik überhaupt umfasst, findet sich innerhalb der Politikwissenschaft auch kein Konsens bezüglich der Frage, was Politik inhaltlich eigentlich konkret auszeichnet (Meyer 2000: 17). Hierbei lassen sich im idealtypischen Sinne zwei konträre Positionen dieser zentralen Debatte der politischen Theorie bestimmen. Die erste Position begreift das Wesen von Politik als an der Durchsetzung des gesellschaftlichen Gemeinwohls orientiert, die zweite als auf die Durchsetzung von Partikularinteressen bestimmter sozialer Akteure ausgerichtet (Münkler/Straßenberger 2020: 28).

Die erste Position fasst Politik als einen kollektiv geführten Streit über die Gestaltung der Gesellschaft und die Verallgemeinerung von Interessen.11 Hierbei wird im idealistischen beziehungsweise normativen Sinne nicht die Durchsetzung von Partikularinteressen, sondern das gesellschaftliche Gemeinwohl als inhaltliches Ziel von Politik verstanden (ebd.). Das Finden von Lösungen gesellschaftlicher Probleme und Konflikten sowie das Erzielen von Konsens (Habermas 1995: 128) und Kompromiss zeichne demnach Politik sowohl in ihrer normativen als auch in ihrer praktischen Dimension aus. Thomas Meyer zufolge ist »Politik […] die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugutekommender Entscheidungen.« (2000: 15) Es zeigt sich hier deutlich die affirmative Schlagseite einer solchen Definition, da Politik lediglich als am Gemeinwohl orientiert dargestellt, während die zentrale Rolle von gesellschaftlichen Konflikten, Macht- und Herrschaftsverhältnissen kaum beleuchtet wird. Dass auch in modernen Gesellschaften nicht alle sozialen Akteure an Konsens und Gemeinwohl, sondern (auch) an der Durchsetzung von Partikularinteressen und der Akkumulation von Macht interessiert sind, bleibt außerhalb der Betrachtung.

Genau hier setzt die zweite Position an. Gegenüber dem konsensorientierten Ansatz wird die Rolle von Macht und Herrschaft als Inhalt von Politik in den Mittelpunkt gerückt. Demnach ist nicht das Allgemeininteresse, sondern die Verwirklichung von Partikularinteressen hauptsächliches Ziel von Politik (Münkler/Straßenberger 2020: 27f.).12 Politik wird definiert als soziales Handeln, das

»sich auf Machterwerb und Machtgebrauch richtet, um bestimmte Interessen und Ziele von einzelnen Gruppen in geschichtlich-gesellschaftlichen Situationen im Öffentlichen Bereich gegen den Willen und die Zielsetzung anderer Personen und Gruppen im Kampfe oder mit Hilfe von Vereinbarungen durchzusetzen« (Sebaldt/Straßner 2004: 17).

Aus diesen beiden konträren inhaltlichen Betrachtungsweisen von Politik resultieren idealistische (Gemeinwohl) sowie realistische, beziehungsweise materialistische (Partikularinteressen) politische Theorien, die sozialwissenschaftlichen und politikdidaktischen Ansätzen immer – explizit oder implizit – zugrunde liegen. Wie in Kapitel 2 gezeigt wird, zeichnet sich die hegemoniale Politische Bildung durch eine unhinterfragte idealistische Sichtweise auf Politik und staatliche Herrschaft aus. Damit wird Herrschaft gerade nicht problematisiert, sondern affirmiert.

Allgemein entwickeln sich politische Theorien und ihre grundlegenden Annahmen »nicht abgelöst von der Wirklichkeit aus reiner Freude am Denken, sondern aus konkretem Bedarf an der intellektuellen Bewältigung instabiler Machtverhältnisse, sei es in legitimatorischer oder in kritischer Absicht.« (Reinhard 1999: 101) Daher geht es politischer Theorie nicht nur um die Stärkung der politischen Urteilskraft (Arendt 1993: 19). Vielmehr kommt ihr eine gesellschaftliche Doppelfunktion zu, »sowohl Herrschaftsinstrument als auch Kritik politischer Machtverhältnisse zu sein.« (Lenk 1968: 27f.) Folglich hat sie gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Ordnung eine affirmative (konservative) und eine kritische (verändernde) Ausrichtung. Nach der zugrundeliegenden politischen Theorie ist daher auch der Politikbegriff »kontrovers [zu verstehen], weil […] [er] auf Herrschaftserhaltung oder Herrschaftsaufhebung gerichtet ist.« (Abendroth 1967: 11)13 Politische Theorien resultieren dabei immer aus der jeweiligen materiellen sozioökonomischen Wirklichkeit (vgl. Röhrich 1979),14 die sie theoretisch zu analysieren versuchen.

Auch die sozialwissenschaftliche Diskussion agiert demnach »