Denk-Bar - Ralph Henry Fischer - E-Book

Denk-Bar E-Book

Ralph Henry Fischer

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Beschreibung

Die Transformation einer beliebigen Sache zur Ware ist die Eucharistie des Kapitalismus. Insofern nimmt an seinem Heil nur der teil, der sich als Ware auf dem Arbeitsmarkt verkaufen lässt, um seinerseits möglichst viele Waren kaufen zu können. Je weniger wir uns als Ware begreifen und je weniger Waren wir verbrauchen, umso weniger gehören wir zu dieser Gesellschaft.

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Inhalt

Essays

Impfen mit Auschwitz (1985)

New Age – Old Age (1988)

Nun singen sie wieder (1989)

Kontinuität, schicksalhaft (1993)

Artenschutz für Minderheiten (1994)

Scheiße! (1996)

Ein Aufklärer aus Fernost – Nam June Paik (1997)

Der kleine Horrorladen (1998)

Kurzgefasster Versuch, die Welt zu durchschauen (2006)

Empört euch, der Himmel ist blau! (2011)

Schleicht euch, ihr Arschlöcher! (2020)

Ex- & Inklusionen, Identitäten & Irrsinn (2021)

Wider die Enge (2021)

Demokratie in Geiselhaft (2022)

Ideen

Essays

IMPFEN MIT AUSCHWITZ

(1985)

1

Eine Mehrheit der Bundesbürger (54 %) ist der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus müde – so das Ergebnis einer Umfrage von INFAS im Januar 1985. Währenddessen nähert sich der 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation seinem umstrittenen feierlichen Begängnis, mit der Brechstange eingeläutet von den vertriebenen Schlesiern und begleitet – unter weit geringerer öffentlicher Beachtung – vom (fiktiven) Tribunal überlebender Auschwitz-Häftlinge gegen den SS-Arzt Mengele in Jerusalem.

Die einen (in ihrer Mehrzahl wohl gute Christen, der CDU nahe) beklagen, nach 40 Jahren, das Unrecht ihrer Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten und erhoffen sich Wiedergutmachung von einer mehr oder minder fernen Zukunft, in der, mit Unterstützung des Freien Westens, die verlorenen Gebiete wieder heim ins Reich zu holen seien. Sie träumen mithin, ohne dies sich und uns einzugestehen, vom KRIEG – so wie dazumal, in der ersten deutschen Republik, Revanchisten und Reaktionäre von der Vergeltung für Versailles träumten ... die ihnen auch, ein paar braune Jahre später, gelang, wenngleich nur für ein Weilchen, das allerdings 60 Millionen Menschenleben kostete. Und auch der Traum ihrer aktuellen vertriebenen Nachfolger würde vielleicht ein Weilchen Realität werden können, eine halbe Stunde lang, die es brauchte, um in einem neuerlichen Versuch Europa letztgültig zu zerstören und damit alle Ansprüche und Forderungen jeder Seite – berechtigte wie unberechtigte – ein für allemal zu erledigen.

Die anderen, das waren sechs Millionen Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Jugoslawen, Griechen, Holländer, Franzosen, Russen, Italiener, Deutsche ..., aus denen man Juden machte, um sie erledigen zu können oder wenigstens an Leib und Seele beschädigen, wie jene 30 Zeugen, die in Jerusalem einem entkommenen SS-„Forscher“ stellvertretend den Prozess machen – stellvertretend für 400 000 Ermordete und Gequälte, für die allein Mengele sich zu verantworten hätte ... stünde nicht auch er nur stellvertretend, für die andere Seite, die der Täter. Deren Ergreifung und Verurteilung mag für die noch lebenden Opfer entscheidend sein, aus Gründen der Gerechtigkeit, die es unerträglich erscheinen lässt, einen Massenmörder irgendwo in dieser Welt so leben zu wissen als sei nichts geschehen. Und Mengele (er ist 73) wird so wenig wie andere Untergetauchte schon durch sein Alter entsühnt, wenigstens nicht, solange Gleichaltrigen (wie Ronald Reagan) und Älteren der Zugang zu öffentlicher Verantwortung nicht verwehrt ist.

Für uns jedoch, die wir dem Volk der Täter entstammen, ist das wesentlichere Ermittlungsobjekt das totalitäre Prinzip selbst, das die Greuel erst ermöglichte und unsere Eltern und Großeltern zu Mördern oder zu Duldern von Mord und Unrecht werden ließ; anders als die mittlerweile von der Zeit überrollten leibhaftigen Schlächter ist es nicht mit dem Galgen aus der Welt zu schaffen – und vielleicht morgen schon der Prüfstein unseres Muts. Die Allerwenigsten sind zum Heldentum geeignet, besser also, man erspart ihnen Situationen, die sie überfordern.

Dass Vertriebene an die ihnen zugefügte Gewalt erinnern, ist nicht zu kritisieren. Empörend jedoch ist, wenn sie diese Gewalt (und deren Voraussetzungen) gänzlich trennen von jener anderen, die sie und das Volk, dem sie sich so stolz zurechnen, anderen Völkern und vor allem denen des Ostens zufügten. Die Opfer deutscher Aggression wurden nicht bloß vertrieben, sondern, wenn möglich, verwertet und ausgerottet. Sie können ihren Regressanspruch (auf Häuschen und Garten und Schlösschen und Land und Konto) nirgends einklagen – sie schweigen.

2

Vielleicht lässt Vergangenheit sich nicht „bewältigen“. 40 Jahre hindurch gab es in der BRD ohnehin nur die zaghaftesten Versuche, dergleichen zu schaffen: finanzielle, juristische, philosophische, theologische, künstlerische. Besonders heikel waren die Unternehmungen der Gerichte, Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen: es gab sie kaum. Und die wenigen Verfahren zeigten vor allem, wie dringend der Justiz selbst eine Beschäftigung mit der eigenen braunen Vergangenheit anstünde. Daneben führten sie zu dem unerfreulichen Effekt, dass die Dingfestmachung und Verurteilung einzelner Täter weniger zur Reinigung des kollektiven Gewissens als zu dessen willkommener Entlastung beitrugen. Einer kleinen Gruppe von Ver-Führern die Rolle der Rattenfänger zuzueignen, erwies sich als die opportunste und einfachste Methode, die schweigende Mehrheit reinzuwaschen – die damit selbst zum Opfer wurde, zum Objekt einer verbrecherischen Clique, und zugleich frei von Schuld wie von der Notwendigkeit, sich vor den eigentlichen Opfern verantworten zu müssen. Die Verfehlungen der exponierten Rattenfänger zu verifizieren, fiel nicht schwer und ließ allzu bereitwillig darauf verzichten, die mühsamer zu greifenden Verfehlungen derer aufzudecken, die die Rattenfänger erst in ihre Positionen hoben. Die Verbrechen – so die Rechtfertigung der Mehrheit – begingen: Der Hitler, Der Goebbels, Der Himmler usf., Tote allesamt, und mit ihrem Tod die deutsche Schuld begleichend und das unappetitliche Kapitel schließend. Zu vermuten ist, dass mit dieser gekränkten Distanzierung von den Protagonisten des terroristischen Wahns weniger die Verbrechen beklagt wurden als der Umstand, dass sie nicht zum erhofften „Erfolg“ führten. Auch daher die breite Gleichgültigkeit oder aggressive Irritation sowohl gegenüber den NS-Prozessen und wiederauftauchenden Nazi-Schergen als auch den immer selteneren Appellen überlebender Opfer. Beide stören die so rasch gefundene Ruhe, rühren an den Schlaf der Welt, Gespenster aus anderer, vermeintlich überwundener Zeit. Merkwürdig genug sind so Täter und Opfer plötzlich wieder auf abstruse Weise vereint, wie einst im Lager, weil ausgeschlossen von einer Öffentlichkeit, die über ihre Köpfe hinweg wie gehabt fortfuhr.

Sich von den Protagonisten des Terrors zu distanzieren, bedeutet nicht, das Phänomen bewältigt zu haben, so sehr man auch überzeugt sein mag (oder es wenigstens bekundet), dass sich dergleichen nicht wiederholen könne. Außer dass in dieser Versicherung eine Menge irrationaler Beschwörung steckt, frommer Wunsch, ist sie nicht mehr als eine simple Plattheit. Denn was, bitteschön, kann sich nicht wiederholen? Die Uniformen? Die Parolen? Der Schnurrbart? Die Weihefeiern? Die Konzentrationslager? Die Rassegesetze? Die gelben Sterne? – Vermutlich nicht, nicht in dieser flugs identifizierbaren Gestalt. Denn auch totalitär inspirierte Figuren lernen aus der Geschichte, wenigstens das eine: keinesfalls in der Maske und mit den Mitteln eines augenfällig gescheiterten Unmenschen ihrem Ehrgeiz zu folgen. Die Kostüme, das Arsenal und die Botschaft der Nazis sind, zumindest in unseren Breiten, vorerst zu sehr diskreditiert, um (außer für hoffnungslos Verblendete) wiederverwendbar zu sein ... auch überholt, unterliegen doch die Techniken der Unterdrückung, des Folterns, des Tötens ebenso wie andere den Gesetzen des Fortschritts: man ist da heute weiter.

Weniger von denen, die sich noch immer mit den bekannten Insignien der Herrenmenschen verunstalten, droht Gefahr, als von denen, die dem gleichen Geist womöglich in anderer, zeitgemäßer Verkleidung huldigen. Nicht die Wiederkehr einer speziellen historischen Erscheinungsform des Totalitarismus ist zu fürchten, sondern die des Prinzips selbst. Sie auszuschließen wäre die eigentliche Aufgabe einer Gesellschaft, die exzessiv wie keine andere Terrorismus auslebte und erfuhr. Wer die NS-Zeit als peinlichen Betriebsunfall der Geschichte in den Aktenschrank schließt, hat nichts begriffen. Entwürdigender noch als die abscheulichen Taten ist es, sie in die dunkle Schmutzecke der Historie zu kehren, ins Abnormitätenkabinett, um sie der rückhaltlosen rationalen Analyse zu entziehen. Ein Volk, das sich zwölf Jahre hindurch als geschichtliche Avantgarde verstand und gebärdete, kann sich anschließend nicht einfach aus der geschichtlichen Verantwortung stehlen, nur weil sich herausstellte, dass es Avantgardistisches lediglich auf dem Gebiet der Zerstörung leistete. Diese Erfahrung – statt sie, weil sie so ungeheuerlich war, zu verdrängen – als Chance zu sehen und zu nutzen, gäbe den Ereignissen einen (teuer erkauften) Sinn: mit dem Aufdecken verfehlter Vergangenheit der Gegenwart kritischer, wachsamer und verantwortlicher zu begegnen; gewissermaßen Resistenz gegen die Verlockungen totaler Lösungen für politische Konflikte zu entwickeln und damit ein moralisches Serum herzustellen, das auch anderen zur Verfügung stünde, die ähnlicher Erfahrung, doch nicht ähnlicher Gefährdung entbehren. Impfen mit Auschwitz.

3

Dem totalen Krieg, den die Deutschen der Welt erklärten, entsprach die totale Niederlage, die sie 1945 erlitten. Nicht physisch, aber politisch verschwanden sie nun gleichsam aus der Geschichte, wurden selbst Objekte neuer Akteure des Weltgeschehens, brüderlich geteilt zwischen Ost und West – was es außerordentlich erleichterte, den braunen Jahren umgehend zu entwischen; rückte doch die rasche Übernahme der politischen Identitäten der Sieger die eigene beschmutzte Identität in den unverbindlichen Hintergrund. Die Alliierten entnazifizierten kaum durch ihre Fragebögen oder ihre Schnellkurse in Demokratie – aber sie entnazifizierten (kosmetisch) durch die Hast, mit der sie den gestrigen Gegner zu einem willkommenen Verbündeten ihrer weltpolitischen Ambitionen machten. Die deutschen Staaten – beide bald Musterknaben ihres jeweiligen Bündnisses – ordneten sich dem US-Kapitalismus hier und dem sowjetischen Kommunismus dort ebenso vollkommen unter wie gerade eben noch ungeteilt dem nazistischen Heilswahn. Hier wie dort ein Embryo-Dasein im warmen Schoß des mütterlichen Blocks, frei von Schuld und Verantwortung, doch teilhabend an Kraft und Herrlichkeit der Macht.

Erst in den letzten Jahren wird auch die Kehrseite dieser Selbstentmündigung zunehmend deutlicher: die Gefahr, als verzichtbarer Appendix zwischen den Interessen der Supermächte zerrieben zu werden – woran das gefällige Vokabular nichts ändert, das die immerwährende Freundschaft und Partnerschaft zwischen den Verbündeten beschwört. Spätestens seit Ronald Reagan weiß man, wer im sogenannten Freien Westen die Richtlinien der Politik bestimmt, dass also das Verhältnis der Führungsmacht USA zu den ihr untergeordneten Mächten nicht prinzipiell von dem verschieden ist, das die Beziehungen der UdSSR zu ihren Satelliten kennzeichnet. In beiden Fällen ist die Idee der gleichberechtigten Partnerschaft zwischen dem Riesen und den Zwergen eine naive Illusion.

Faktisch ist es so, dass das gesamtglobale Schicksal gegenwärtig in den Händen jener Regierungsmannschaften liegt, die in den Schaltstellen Washingtons und Moskaus die Welt verwalten – ohne für diese Aufgabe (das sei ausdrücklich bemerkt) je ein weltweites Mandat erhalten zu haben. An die Spitze gebracht durch alte nationale Herrschaftsstrukturen, verfügen sie über durchaus neuartige internationale, unstrukturierte Macht. Die Funktion des US-amerikanischen Präsidenten ist dabei ebensowenig demokratisch legitimiert wie die des sowjetischen Politbüros. Beide Systeme operieren jenseits ihrer staatlichen Grenzen in einem rechtlichen Vakuum, da sie ihre globalen Aktivitäten gegenüber keiner übergeordneten Kontrollinstanz verantworten müssen1. Beide sind also in der glücklichen Lage, die eigenen politischen Schritte stets ihrer internen Moral gemäß rechtfertigen zu können: die einen, wie sie es selbst verstehen, im Minnedienst der Freiheit, die anderen für die gute Sache sozialer Gerechtigkeit – Pauschalwerte, die geeignet sind, jede Sünde abzudecken.

Die Krisen, in denen sich diese Sünden heute niederschlagen, sind global dimensioniert, sie umfassen die Totalität der uns betreffenden Lebensumstände: der mögliche nukleare Geozid, der zu erwartende ökologische Kollaps, der abzusehende Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die fortschreitende kulturelle Einebnung. Eine Art Endzeit entstand, insofern gerade jene wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Impulse, die bislang der menschlichen Geschichte Zukunft erschlossen, diese heute auszuschließen scheinen. Ein Existenzmodell, das in seiner letzten Konsequenz die Existenz selbst aufzuheben in der Lage ist, überzeugt nur noch Unbelehrbare und Untergangssüchtige; das unverdrossene Fortschreiten auf dem bisherigen Weg propagieren nur die Ignoranten noch. Eine Grenzsituation, deren Qualität sich auf die totalitäre Alternative reduzieren lässt, dass Sein oder Nichtsein einer ganzen Welt zur Disposition stehen. Günther Anders formulierte: Es geht nicht länger darum, die Welt zu verändern, sondern darum, sie zu erhalten – treffend symbolisiert im „Freeze“, dem Wunsch nach Einfrieren der nuklearen Rüstung, der sich auch deuten lässt als jähes Erstarren vor dem sich öffnenden Abgrund.

Auch hieraus lässt sich die konservative WENDE erklären, die weltweit den politischen Zustand der 80er-Jahre charakterisiert: sich kaum mehr zu bewegen wagend, scheint es naheliegend, ein paar Schritte vom Abgrund fortzutreten, als verschwände er so, jedenfalls in vertraute Regionen zurück, da er noch nicht bestand. So begreiflich diese Reaktion auf eine Krise ist, deren Konsequenzen kaum vorstellbar sind, so irrig und gefährlich ist sie auch, bedeutet sie doch (abgesehen davon, dass es in der Geschichte kein Zurück gibt), gerade jenen Kräften und Strukturen die Lösung der Probleme anzuvertrauen, die sie herstellten.

Das nukleare Massaker droht ja nicht darum, weil es auf der Welt zu wenig Waffen gäbe, und das Verteilungsdesaster zwischen verhungernden und übersättigten Gesellschaften rührt nicht daher, dass der Weltmarkt zu wenig liberal wäre, und die Umweltzerstörung hat ihren Grund nicht darin, dass unser Leben zu wenig industrialisiert wäre, sowenig der kulturelle Identitätsverlust durch einen Mangel an technischen Medien verschuldet ist.

Interessanterweise jedoch erklärt das rechtskonservative Lager die gegenwärtige Krise gerade mit einem solchen Zuwenig: einem Zuwenig an unternehmerischer Freiheit, einem Zuwenig an technologischer Innovation, einem Zuwenig an Rüstungsbemühung, einem Zuwenig an Leistungsbewusstsein, Patriotismus, Familiensinn, Glauben und Moral. Als Ursache dieser Mängel sieht man dort die Politik der linken Kontrahenten, Sozialdemokraten, Linksliberale, Sozialisten, die in den 70er Jahren zu großen Teilen das politische Geschehen bestimmten und durch ein Zuviel an sozialen Reformen, staatlichen Leistungen und sittlicher wie militärischer Abrüstung die innere und äußere Stabilität der westlichen Demokratien geschwächt hätten.

So ist aus konservativer Sicht die aktuelle Massenarbeitslosigkeit die Folge überzogener betrieblicher Mitbestimmung der Arbeitnehmer, überhöhter Löhne, überspannter sozialer Absicherung durch den Staat, einer sozialistischen Schul- und Bildungspolitik, die zugunsten der Massenbildung den Elitegedanken aufgegeben habe, und (nicht zuletzt) eine Folge der Auflösung des herkömmlichen Familienverbands durch die Freisetzung der Frau für den Arbeitsmarkt.

Die konservative Lösung des Problems besteht folglich darin, die Wirtschaft weitestgehend aus sozialer Verantwortung zu entbinden, gewerkschaftlichen Einfluss zurückzudrängen, Löhne und Gehälter einzufrieren oder zu senken, das soziale Netz zurückzuschneiden, den Massenzugang zu höherer Bildung zu bremsen und Frauen mit der Honorierung von Mutterschaft wieder aus dem Arbeitsprozess zu entfernen.

4

Das rückwärtsgewandte Demokratiebild der Konservativen, statisch und eng, reicht bis zu jener Grenze, jenseits derer, in ihrem Verständnis, Sozialismus begänne, ihnen ein Synonym für Unfreiheit, Gleichschaltung und staatliche Allmacht. Diesseits hingegen, wie sie es sehen, liegt das köstliche Reich der Freiheit und der individuellen Bedeutung – wobei ihre Freiheit die des wirtschaftlich Stärkeren ist und die individuelle Bedeutung sich im freien Wettbewerb der Kräfte konstituiert, der jedem, seiner Leistung (seinem Wert) gemäß, seinen Platz innerhalb der sozialen Hierarchie zuweist, zwischen den beiden Polen Oben und Unten. Sie können sich eine soziale Organisation ohne dieses obrigkeitliche Gefälle nicht vorstellen, denn woher sonst sollte der entscheidende Impuls zum Leben kommen, wenn nicht aus dem ewigen Bestreben, nach Oben zu gelangen? – so vergeblich es für die allermeisten naturgemäß auch bleiben muss.

In ihrer „Demokratie“ dominiert das Ordnungselement, das, gemäß der patriarchalischen christlichen Vorgabe, Ruhe verlangt und Einschwörung auf die Goldene Mitte bürgerlicher Normalität: Leben als Zustand, nicht als Prozess, als Ankunft, nicht als Weg – wobei die Stabilität dieses Zustands gesichert ist, solange ein jeder an dem Platz, an den ihn die heiligen Gesetze der Geburt und der Konkurrenz stellten, seine Arbeit tut.2 Experimentelle, risikofreudige Bewegung ist nur für den naturwissenschaftlichen, ökonomischen und militärischen Bereich gestattet, ja, dort wird sie gefordert, weil sie für die Erhaltung des konservativen Weltbilds Voraussetzung ist – bedarf es doch des fortschreitenden wirtschaftlichen Wachstums, dieser expansiven Karriere des Ganzen, um den staatserhaltenden Glauben der Menschen an die Möglichkeit eigener kleiner Karrieren aufrechtzuerhalten und damit die fundamentale Ungerechtigkeit der sozialen Hierarchie verschleiern zu können.

Der permanente Zwang zu solcher Verschleierung, die seine Eliten vor dem Zugriff der Benachteiligten schützen soll, macht andererseits den rechtskonservativen Staat ungemein verletzlich, kann er sich doch keine Infragestellung oder gar Veränderung seiner Bedingungen leisten. Er befindet sich in fortwährender Verteidigungsbereitschaft. Auch daher forciert konservative Politik die Stärkung des Staats im Bereich innerer und äußerer Sicherheit, während sie zugleich seinen Rückzug aus der Verantwortung für Wirtschaft und Sozialpolitik betreibt – eine subversive Manipulation des demokratischen Prozesses: denn das einzige Instrument, mit dem der Souverän (das Volk) sich politisch zu Wort melden kann, sind die Wahlen, durch die er die Wahrnehmung seiner vielfältigen Interessen befristet an die Abgeordneten und damit an die Staatsführung delegiert. Sie übernimmt somit aktive Verantwortung für die Interessen aller, d.h. der demokratische Staatsapparat ist nicht nur berechtigt, sondern ausdrücklich beauftragt, jeden Bereich des sozialen Lebens demokratisch zu regeln, um einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen.

Der konservative Rückzug staatlichen Wirkens aus den Gebieten Wirtschaft und Soziales entdemokratisiert also diese Gebiete und überlässt sie den Interessen der dort Stärkeren, deren ohnehin immenser politischer Einfluss sich damit nicht allein vergrößert, sondern auch der öffentlichen Kontrolle entzogen wird – obschon ein wesentliches Instrument demokratischer Praxis gerade die öffentliche Zugänglichkeit aller öffentlichen Bereiche ist. Doch ebenso wie die noch aus anderen Zeiten stammende Geheimdiplomatie (auch sie undemokratisch bis zur Wurzel) oder die dem Blick des Publikums entzogenen Unternehmungen der Nachrichtendienste bleiben auch die geschäftlichen Aktivitäten der Konzerne und Banken dem demokratischen Tageslicht weitgehend fern, finden also, in ihren wesentlichen Teilen, unter Ausschluss des Souveräns statt, obgleich sie ein Grundelement der staatlichen Organisation bilden. Und nur selten und zufällig geraten die Folgen dieser typischen Affinität zwischen Kapital und konservativen Politikern so entlarvend an die Öffentlichkeit wie im Fall der Flick-Spenden. Diese Affäre, das sollte deutlich sein, war keine peinliche Ausnahme, sondern nur versehentlich publik gewordenes Beispiel der gängigen Symbiose zwischen obrigkeitsstaatlichen Formaldemokraten und Hochfinanz.

Es liegt im Wesen dieser Allianz von rechtskonservativer Politik und kapitalistischer Expansionswirtschaft, soziale, politische, ökonomische Krisen zu produzieren, weil sie in ihrer ideologischen Intention einen unlösbaren Widerspruch birgt: einerseits ist ihr oberstes Interesse die Aufrechterhaltung der gottgegebenen hierarchischen Sozialordnung (national wie international), die Bewahrung der Statik also, die ihrem wirtschaftlichen und politischen Machtstreben zugutekommt ... Andererseits liefert der ökonomische Expansionszwang ein Bewegungselement, das Unruhe schafft und die Statik gefährdet. So entwickelt diese Allianz zweifache Aggression: nach außen und innen, denn die Notwendigkeit, die Unversehrtheit des Systems zu gewähren, bedarf strikter sicherheits- und ordnungspolitischer Maßnahmen, die jede Veränderung ausschließen sollen.

Damit macht konservative Politik die Herstellung von Konflikten zum Prinzip, insofern sie nicht auf dynamischen, gerechten Ausgleich der verschiedenen Interessen zielt, sondern darauf, den Antagonismus zugunsten der Teilinteressen der Stärkeren aufrecht und offen zu erhalten. Sie ist also, ihrem inneren Charakter nach, eine Kampfideologie, die sozialen und politischen Unfrieden impliziert. Ihre kalten und heißen Kriege gegen innere wie äußere Gegner dienten und dienen der Eroberung oder Sicherung der Märkte, was nötig ist, um die Amoralität der undemokratischen Herrschaftsstrukturen zu verschleiern, die mit dem Glauben an Fortschritt und Wachstum stehen und fallen. Mit der technischökonomischen Überwindung aller früheren regionalen Grenzen wurde die Welt in ihrer Gesamtheit diesem Eroberungswillen erschlossen, das interne staatliche Herrschaftsmodell auf das Verhältnis zwischen den industriellen Riesen und den unterentwickelten Zwergen übertragen, der soziale Konfliktstoff also in die globale Dimension potenziert – mit dem bekannten Ergebnis des unter der kühlen Formel vom Nord-Süd-Konflikt verborgenen täglichen Sterbens, Hungerns, Darbens der einen (der Mehrheit), der täglichen Übersättigung, Völlerei und Verschwendung der anderen.3

In diesen ökonomischen Konflikt (der unsolidarischen Verteilung von Wohlstand auf diesem Stern) reicht übergreifend ein anderer, nicht minder geläufiger, hinein: der ideologische Wettstreit zwischen Ost und West, der Glaubenskrieg zwischen zwei konträren Staats- und Gesellschaftsdoktrinen: dem kommunistischen Volksdemokratismus auf der einen, dem kapitalistischen Elitedemokratismus auf der anderen Seite, an vorderster Front geführt von den Speerspitzen beider Lager, den Supermächten, deren immense Schatten zu teilen der Rest der Welt verurteilt ist. Beide Doktrinen sind, ihrem Anspruch wie ihrer Praxis nach, totalitär, nimmt doch jede für sich in Anspruch, die bestmögliche Gestaltung menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Beide schließen einander aus, denn jede sieht sich als weltweit gültig und ist folglich gezwungen, die jeweils andere für unwahr anzusehen. Ganz logisch ergibt sich aus dieser Ausgangslage ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein jeder Seite, der Zwang zur Missionierung der anderen. Der Freie Westen wie der Gleiche Osten versprechen der Welt das absolute Heil, die Erlösung von allen Übeln, und sehen im ideologischen Gegner, ob nun jenseits oder innerhalb des eigenen Machtbereichs, den Verhinderer der globalen Beglückung.

Ronald Reagan ist sich sicher: „Moskau ist das Böse (evil) schlechthin!“, und weiter: „Wir präsentieren die bessere Hälfte der Welt, und es wäre nicht schlecht, wenn die andere es ebenso gut hätte!“ Wer so denkt, schließt jede Alternative aus und verspricht die Ankunft in einer heilen, d.h. letztgültig geordneten, einwandfreien Welt. Hier beansprucht Politik den Rang einer universellen Religion, die ihren Totalitätsanspruch mit missionarischer Aggressivität Andersgläubigen gegenüber anmeldet, die sich vor die radikale Entscheidung des Entweder/Oder gestellt sehen und für den Fall der „falschen“ Wahl mit ihrer Verdammnis zu rechnen haben. Gustav Mensching, Christentum und Islam vor Augen, schrieb: „In der Universalreligion wird allenthalben ein universales Heilsangebot der bestehenden Unheilssituation gegenüber verkündet. Von der Annahme dieses Angebots hängt daher das Heil und also die Existenz des Menschen ab.“

Der Weg von solcher Überzeugung bis zur Errichtung von Scheiterhaufen und Gaskammern (in diesem Verständnis Techniken der Schädlingsbekämpfung) ist nicht weit. Doch bedarf es gar nicht solch augenfälliger Demonstrationen, um die zugrunde liegende Gesinnung zu diskreditieren. Die in Deutschland bisweilen zu hörende Erwägung: Hätte Hitler doch nicht den Krieg begonnen ... oder doch wenigstens nur die Sowjetunion angegriffen ... und natürlich die Sache mit den Juden unterlassen ..., dann: wäre er womöglich ein großer „Staatsmann“ gewesen, ist eine ungeheure Verkennung des Systems, das der Mann nur darstellte. Der Nationalsozialismus wäre auch ohne seine besonders barbarischen Auswüchse lebensfeindlich gewesen; sie sind in jedem Totalitarismus zwangsläufig angelegt. Die Annahme, die totalitäre Lebensordnung sei nur anderen als den eigenen Volksgenossen abträglich, bestätigt lediglich die totalitäre Einteilung der Welt in Gut und Böse – und verkennt darüber hinaus, wie sehr sie sich vor allem über ihre Feindbilder definiert. Sie bedarf für ihre Erhaltung der bösen Gegenspieler, die die Einlösung des Heilsversprechens verhindern, ja, damit sie sie verhindern. Vor den Eintritt ins Paradies stellt jeder Totalitarismus (ob religiöser oder politischer Art) die große apokalyptische Entscheidungsschlacht, das letzte hehre Gefecht gegen das Böse, wobei es um endgültigen Sieg oder Untergang geht. Man liebt sehr die großen, pompösen Gesten, um die Dürftigkeit und Fadenscheinigkeit der eigenen Botschaft zu verschleiern. Die interne totalitäre Überzeugungskraft entstammt gerade der Dynamik der hohlen kriegerischen Gesten, dem irrationalen, archaischen Kinderwunsch, mit einem einzigen gewaltigen, gewalttätigen Schritt das Paradies zu erzwingen. Ihr Fundament ist bedingungsloser Glaube daran, dass die Welt tatsächlich so einfach ist, schwarz und weiß, gut und böse, beide Seiten unzweifelhaft gekennzeichnet. Gelbe, rosa, blaue, grüne Sterne, an Menschen befestigt: schon weiß man, woran man ist, wenigstens der, der glaubt, der Blinde also, der das Sehen anderen überlässt, Führern durch das Dickicht des Lebens. Der Verlust der Wirklichkeit, der eigenen Erfahrung von Wirklichkeit – ersetzt durch den Wahn der Erlösung.

Um ihn aufrecht zu erhalten, ist jeder Totalitarismus, so sehr er die letztliche Ordnung einer Ankunft verspricht, zum dauernden Unterwegssein verpflichtet, um nicht den Beweis antreten zu müssen. Er bedarf, um in Bewegung zu bleiben, seiner Feinde. Mit der Ankunft bewiese er seine Irrigkeit und verlöre seine Glaubwürdigkeit (und der Führer seine Funktion). Darum zieht er womöglich den totalen Untergang vor, um den Beweis schuldig bleiben zu können, auf immer, und der entlarvenden Konfrontation mit der Wirklichkeit zu entgehen.

5

Die Grenze jedes totalitären Ehrgeizes deckt sich mit den Grenzen der Welt – nur so lässt sich jede Alternative ausschalten. In dieser Situation sehen sich heute die beiden Supermächte. Jede von ihnen besitzt die militärischen Mittel, um tatsächlich über die gesamte zugängliche Welt zu verfügen, aber keine ist, dank der Parität der Kräfte, in der Lage, sie zu diesem Zweck einzusetzen. Jenes fatale Gleichgewicht des Schreckens zwingt beide durch das unkalkulierbare Risiko des gemeinsamen Untergangs zur unfreiwilligen Koexistenz – ohne dass sie allerdings hieraus die Konsequenz zögen, auf ihre globalen Optionen zu verzichten, hieße das doch, die Grundlagen der eigenen Doktrin in Zweifel zu ziehen, sprich die Statik ihrer Systeme aufzulösen und sich demokratischen Experimenten zu überantworten, deren Richtwerte lauten könnten: von der Konkurrenz zur Kooperation, von Klassenkampf und Kreuzzug zu aktiver Solidarität zu gelangen. Dazu jedoch sehen sich die Vertreter beider Systeme außerstande, vermutlich, weil von solcher Veränderung auch ihre eigenen Positionen nicht unberührt blieben.4 Stattdessen spinnen sie die vertrauten imperialen Pläne weiter, unberührt und unbewegt (nicht nur darin einander merkwürdig ähnelnd), so als müsse die Geschichte endlich zu einem Schluss gebracht werden, so oder so. Die Koexistenz sehen sie offenbar befristet, bis zu jenem Tag X, da mithilfe neuer militärtechnischer Errungenschaften der einen oder anderen Seite ein Krieg womöglich doch gewinnbar (oder wenigstens überlebbar) erscheinen mag.

In diesem Licht sollte man die aktuellen US-amerikanischen Star-War-Pläne sehen, denn die offizielle Argumentation, die kosmischen Defensivwaffen, die die Unangreifbarkeit Amerikas sichern sollen, würden das nukleare Vernichtungspotential überflüssig machen, ist so unglaubwürdig wie absurd; wenn das Interesse tatsächlich die atomare Abrüstung wäre, könnte man damit schon morgen beginnen, ohne zuvor noch ein technisch wie finanziell gigantomanisches Verteidigungssystem zu installieren – das allerdings, sofern die Sowjets (mangels Kapital) nicht Schritt halten, womöglich diesen winzigen Vorsprung relativer Sicherheit verschaffen könnte, der es erlaubte, einen Versuch zu wagen ...

Ohnehin wird die US-amerikanische Politik seit der reaktionären Wende in halsbrecherischem Maß von Irrationalität und Emotionalität geprägt. Da ist eine Gesellschaft, die nicht erwachsen werden mag, zugange, den Bezug zur Wirklichkeit zu kappen, sich von der lästigen Bindung an Realien zu befreien. Immer wieder bemüht, die eigene geschichtliche Hypothek des Völkermords (an den Ureinwohnern), der Sklaverei, des Bürgerkriegs, Vietnams und Watergates zu verdrängen, träumt sie sich zwanghaft zu den Wurzeln zurück, vielleicht ins Goldene Zeitalter der Pioniere, die, wenig geplagt von Selbstzweifeln und moralischen Vorbehalten, mit Colt und Pferd, Gott auf ihrer Seite, einen vorgeblich barbarischen Kontinent eroberten und mit der ungeheuren Vehemenz dieser Eroberung die Alte Welt in ratloses Erstaunen versetzten – die archetypische Karriereleistung einer Nation, die nichts so schätzt wie unerwartete, allen (auch moralischen) Widerständen abgetrotzte Karrieren.

Aber vermutlich meint der amerikanische Traum vom ewigen Westward Ho! gar nicht so sehr die reale Vergangenheit, sondern zielt vielmehr auf eine eher mystische, archaische Urwelt, vor aller Zeit, deren Bild, in Hollywood entworfen, in des amerikanischen Helden Kopf sitzt und worin er, als muskelbepackter Conan der Barbar, der Zerstörer, unbehindert durch gesellschaftliche Normen und Zwänge, schalten und walten kann, ohne je Gefahr zu laufen, „böse“ zu sein, Böses zu tun. Denn dieser Traum aus der geschichtlichen Verantwortung heraus projiziert eine Welt vor dem Sündenfall (der Gesetzgebung, der Staats- und Sozialverträge), noch jung und blank, denn nur dort ließe sich der Zustand der verlorenen Unschuld (und uneingeschränkten Freiheit) wiederherstellen.

Analogien zur biblischen Rückführung des Volkes Israel ins Gelobte Land drängen sich auf, auch die eine reinigende, entsühnende Wanderung zum Ort der Bestimmung und zugleich eine Art evolutionären Ausleseprozesses: nur die Stärksten kommen an, ausersehen zur messianischen Rettung der Welt. Die spätere Korrektur durch das Christentum und den Sozialismus, die Einführung von Mitleid und Solidarität als Regulativ zur Stärke, zur Arroganz der Macht der Ellbogen, schlug sich in der amerikanischen Wirklichkeit weit weniger nieder als das alttestamentarische Kampfdogma des Auge um Auge, Zahn um Zahn. Auch die Amerikaner sehen sich ja gern (in ihren chronischen Phasen extremen Patriotismus) als Erwähltes Volk der ewig Jungen, Gesunden, Guten, nahezu Unsterblichen. Selbst ihre Greise und Greisinnen haben sich in einer Weise herzurichten und aufzuführen, die Gedanken an Gebrechlichkeit und Sterblichkeit nicht aufkommen lassen soll. Das Unterwegssein zum Tod, mit allen Stadien des Verfalls und der Bedürftigkeit, das letztliche „Scheitern“ allen Lebens also findet ins amerikanische Bewusstsein kaum Einlass, und nichts irritiert es mehr als die Konfrontation mit dem Unvermeidbaren, weil sie den Wert der nationalen Erfolgs-Religion so radikal in Frage stellt.5

Erinnert sei an die Freitode zweier nationaler Erfolgsheroen, Hemingways und Marilyn Monroes, und an die Schwierigkeiten der Amerikaner mit derlei Gebrauch individueller Freiheit ... aber vor allem an die Katastrophe des Vietnam-Kriegs: Amerikaner dürfen einfach nicht sterben, nicht für eine verlorene, falsche, unrechte Sache. Die hysterisch eskalierende Kriegsführung der USA hatte ihren Grund auch in dem psychopathischen Ehrgeiz, das Sterben der eigenen Soldaten durch einen wie auch immer erzwungenen Sieg gleichsam aufzuheben, um den Glauben an die Unsterblichkeit, Unbeflecktheit und Unfehlbarkeit der jungen Nation zu erhalten.

Das Scheitern dagegen kam einer Verletzung des höchsten Tabus gleich, das den Amerikanern ihr Altern, ihre Schuld, ihre Verantwortlichkeit verbergen soll. Für eine Weile zerbrach so der törichte Mythos der Auserwähltheit, Amerika bekam Narben und Falten, seine Stimme brach, die nationale Identitätskrise (eine Pubertätserscheinung) brachte hinter den glatten Rücken der Antworten plötzlich Fragen zutage, die einen schwierigen, ermutigenden Weg der Selbstfindung und Wirklichkeitserfahrung eröffneten. Dass man ihn bald wieder verließ, zugunsten der Rückkehr in alte Ignoranz, bedeutet nicht mehr als einen Aufschub. Auch die USA kommen nicht um sich herum, so lärmend auch kurzfristig der Aufbruchstaumel die Schatten zu vertreiben scheint. Einmal wird die Freiheitsstatue ohne Schminke dastehn und sich als welkes, lädiertes, doch menschliches Fräulein entpuppen, das nicht der Vergötzung, wohl aber mitfühlender Sympathie bedarf – die nicht aufzubringen ist für die Inbrunst, mit der die Amerikaner heute in Ronald Reagan einen Patriarchen vom Schlag des Moses zu sehen wünschen, eines amerikanisch gestylten Moses (versteht sich), eine Karikatur also: der stets um optische Jugendlichkeit bemühte Greis, nach den infantilen DIN-Maßen hergerichtet, schaut her, er reitet noch, treibt Sport, hat Lebensstil, versteht zu reden, unser aller Cowboy, mit dem Colt schießt er uns den blauen Horizont frei, wahrlich, das Rote Meer wird sich vor uns teilen und die ideologischen Verfolger verschlingen, und dann nur noch ein Schritt bis ins Heilige Land des Goldenen Kalbs der Freiheit – so lautet die Vision, das Paradies als Disneyland, beschützt von den laserspeienden Roboterengeln im All, in jedem Haushalt ein Sternenbanner, jeder Haushalt mit Lautsprechern bestückt, die die Hymne ausspucken, zu der ein jeder Amerikaner, aufrecht in den Sonnenuntergang blickend, seine rechte Faust aufs bewegte Herz presst.

Da bleibt kein Raum für den langen, tiefen Atem kulturellen Selbstzweifels und introspektiver Besinnung, die vor das kopflose Handeln die differenzierende Skepsis stellen. Kultur, in Europa, Afrika, Südamerika und Asien moralisches Regulativ zur Politik, hat hier die Funktion einer Art geistigen Hot Dogs, den man kaufen, verzehren, ausscheiden kann, der für ein paar Stunden sättigen mag, vor allem jedoch attraktiv genug sein muss, um neben der Konkurrenz ähnlicher Produkte bestehen zu können. Die Verpackung ist wichtiger als der Inhalt und stets zugeschnitten auf die Erfordernisse des Markts, überwältigend und aufschneiderisch. Wo nur das Käufliche zählt, lässt sich alles verkaufen, und alles verliert dabei seinen Wert, auch die Begriffe, selbst der allerhöchste des amerikanischen Denkens: der der Freiheit. Er verkam zu einem Popanz, zum Totem der herrschenden Minorität der Unternehmer, Politiker, Generäle, der Meinungsmacher und Traumfabrikanten; die Freiheit der Manipulateure und Inquisitoren.

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„Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache. Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise ...“ Diese programmatische Stellungnahme, mit der Hitler 1925 instinktsicher den Charakter totalitärer Herrschaftsstrategie schilderte, beschreibt ein Muster, das (unausgesprochen) auch der rechtskonservativen Staatsidee zugrunde liegt und die gegenwärtige US-amerikanische Politik so plastisch illustriert – weitaus eindeutiger und ungebrochener als die entsprechenden Bemühungen der europäischen Epigonen. Europas Konservative (selbst sie) sind vorsichtiger, weil verunsichert durch die Erfahrung des 2. Weltkriegs und des Totalitarismus, wenn ihnen auch entgeht, dass letzterer als extremistischer Exzess ursächlich in ihnen angelegt ist. Ihr vergeblicher Traum von der Umkehr zu den alten, goldenen Werten der Ordnung und Stärke, des Glaubens und des Wachstums, kurz der bürgerlichen Normalität, meint ja, in absonderlicher Ahistorizität, eine Zeit vor der totalitären Entgleisung.

Doch gerade die Unterschlagung des inneren Zusammenhangs zwischen kapitalistischer Klassendemokratie und völkischem Totalitarismus erhöht die Gefahr eines erneuten Exzesses – zumal unterdessen die praktische Umsetzung autoritärer Intentionen dank fortgeschrittener Techniken der Manipulation ungemein erleichtert wurde. Das der elektronischen und gentechnischen Forschung zu verdankende Instrumentarium eröffnet neue, unblutige und saubere Perspektiven totaler Herrschaft. Die physische Vernichtung von Menschen wird im Sinn solcher Ökonomie der Macht womöglich unproduktiv, vernichtet sie doch auch Arbeitskraft und, vor allem, potentielle Konsumenten. Tunlicher ist es, sie umzupolen, lediglich ihre psychische und intellektuelle Substanz zweckgerecht zu formen, wenn nicht aufzuheben, um die physische umso verfügbarer zu machen. Auch die Nazis verfolgten dieses Ziel. Sie scheiterten, weil sie, wie wir heute wissen, die falschen Mittel benutzten.6 Totalitäre Herrschaft, um ihrer selbst sicher zu sein, bedarf der totalen Kontrolle der Beherrschten, kann keinen ihrer Lebensbereiche davon ausnehmen, Objekt obrigkeitlicher Aufmerksamkeit zu sein. Sie darf ihren Opfern keinen privaten, individuellen Rückzugsraum gestatten, keine Ruhe, bergen sie doch die Gefahr, durch ein Fortfallen der Spannung, des Eingespanntseins, zur Besinnung zu kommen. Die Nazis versuchten, dieser Gefahr zu begegnen, indem sie gleichsam die Mauern der Privatburgen einrissen, um deren Innenleben zugänglich und kontrollierbar zu machen – zwangsläufig ein gewalttätiger und blutiger, darum letztlich vergeblicher Akt.

Heute weiß man, dass es zweckdienlicher und erfolgversprechender ist, die Privatburgen unangetastet zu lassen, ja, sie gar immer aufwendiger und vermeintlich individueller auszustatten, andererseits jedoch ihre potentiell subversive Uneinsehbarkeit dadurch aufzuheben, dass man auf Schleichwegen, unauffällig, sanft, doch unerbittlich und umfassend die öffentlichen, die herrschenden Werte in sie hinein befördert. Die stille, schmerzlose Gewalt des Brainwashing, die den allgegenwärtigen elektronischen Medien eigen ist, erreicht viel wirksamer als der physische Terror das Ziel, das unwägbare psychische und intellektuelle Potential im Sinn der Hörigkeit umzugestalten. Wer die Uniform erst innen trägt, braucht zum Funktionieren nicht geprügelt zu werden.

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Wir verdanken die zentralen Begriffe unserer politischen Gegenwart der Französischen Revolution von 1789; sie formulierte Ziele und Werte, die weit über ihre eigenen Möglichkeiten hinausreichten. Sie entdeckte die allgemeinen Menschenrechte auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Orientierungspunkte, die seither weder revidiert noch entscheidend ergänzt werden konnten – allerdings auch nicht annähernd verwirklicht wurden. Das ideelle Modell, das die drei Schlagworte umreißen, war von seinen Schöpfern als unlösbare Einheit begriffen worden; die Trinität der Werte war ihnen nicht Ausdruck getrennter Zutaten einer sozialen Rezeptur, sondern Bild aufeinander bezogener und voneinander abhängiger Aspekte der einen Sache des menschenwürdigen Zusammenlebens.

Damit geriet jener (allen Konservativen so überaus anstößige) emanzipatorische Stein ins Rollen, der letztlich zielt auf die Überwindung jeder Form der Entmündigung von Menschen durch Menschen, darauf, den Einzelnen und Alle aus der Sklaverei von Unfreiheit und Ungleichheit in brüderliche Gemeinsamkeit zu entlassen, die jeden zum Subjekt der Geschichte macht. Nähe oder Ferne dieses Ziels ändern nichts an der einzuschlagenden Richtung. Dieses Jahrhundert demonstrierte zur Genüge, was geschieht, wenn der historische „Auftrag“ aus den Augen verloren wird: die kümmerlichen Enkel der Revolution, die kapitalistischen Freiheitsapostel auf der einen, die kommunistischen Gleichheitsfanatiker auf der anderen Seite, setzten immerhin u.a. Hitler und Stalin in die Welt, Figuren, die lediglich bis zur Grenze ausschöpften, was die politischen Systeme, denen sie entstammten, an Möglichem schon in sich bargen: die Perversion von Freiheit und Gleichheit. Europa, und Deutschland vor allem, erfuhr, wozu Politik imstande ist, wenn sie den moralischen Maßstab der Solidarität aus ihrem Gesichtskreis verbannt. Mit solcher Erfahrung sollte eine Art moralischer Hypothek entstehen, die zu einer wachsamen, unbestechlichen Position gegenüber jeder politischen Amoralität verpflichtet, und verpflichtet ebenso zum Schutz und zur Förderung des emanzipatorischen Impulses, der erst Freiheit und Gleichheit als Einheit in Solidarität lebbar macht. Es trifft zu: heute geht es zuallererst darum, die Welt zu bewahren, ihr Überleben zu sichern – doch gewiss nicht im Sinn jener rechtskonservativen, reaktionären Rückwärtsverführer, die bloß ihre Welt zu bewahren trachten und ihren Stand darin, obschon gerade sie das Überleben erst zu einer Frage machten.

Sie unterschlagen den dialektischen Schluss aus Günther Anders’ These: dass wir, um die Welt bewahren zu können, sie und uns verändern müssen, geimpft mit Auschwitz, resistent gegen die unwahrhaftigen Meister der eindimensionalen Festschreibung des totalitären Laufs der Dinge.

1 Die UNO ist, solange die Supermächte jede Entscheidung mit ihrem Veto verhindern können, selbst keine neutrale Größe, sondern Schauplatz der Teilung der Welt.

2 Ein Grund, weshalb es keine rechts-konservative Intellektualität, Kunst, Literatur von Belang gibt – wer schon alle Antworten hat, kann nicht kreativ werden.

3 a) Dass die Sattheit dabei ihre speziellen Krankheiten und Tode herstellt, entbehrt zwar nicht sinniger Ironie, entschuldigt sie aber nicht.

b) Gegen Marx wird häufig ins Feld geführt, dass seine Voraussage der Verelendung des Proletariats (als Auslöser des Revolutionsautomatismus) sich nicht bewahrheitet habe: die Wohlstandsgesellschaft, in der auch jeder Arbeiter eine wohlausgestattete bürgerliche Existenz findet, bewiese das Gegenteil. Aber Marx konnte nicht ahnen, dass in einer vernetzten Weltgesellschaft der Klassengegensatz sich international, zwischen Kontinenten, etabliert. „Unser“ verelendetes Proletariat ist die 3. Welt.

4 Eine Veränderung wird wohl eher von der UdSSR ausgehen als von den USA. Zuviel Wohlstand macht arrogant und ignorant. Dem Mangel daran verdankt die Sowjetunion gewiss ein gewaltiges Potential an Phantasie und Mut. Es muss nur freigesetzt werden.

5 Ein Grund, weshalb die USA, trotz ihres Wohlstands, kein wirklich tragendes Netz sozialer Absicherung für Alte, Kranke, Arbeitslose zustandebringen. Würden sie es, käme das dem Eingeständnis gleich, dass auch Amerikaner leiden und scheitern können.

6 Ironische Randnotiz: Hätten die Nazis jüdische Physiker in ihren Dienst gestellt statt sie zu ermorden oder zu vertreiben, hätten sie womöglich als erste die Atombombe zur Verfügung gehabt und den Krieg gewonnen.

NEW AGE – OLD AGE

(1988)