Schott's Mitteilungen - Ralph Henry Fischer - E-Book

Schott's Mitteilungen E-Book

Ralph Henry Fischer

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Beschreibung

Ein Experiment: habe mich zum ersten Mal auf den anderen Stuhl am Küchentisch gesetzt. Tatsächlich ein Erlebnis: So sah ich die Küche noch nie! Beschloss, in Zukunft gelegentlich den Platz zu wechseln, um mich nicht allzu sehr an den einen oder anderen Anblick zu gewöhnen. Man muss es nur wagen, das Neue. Eben.

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„Die Wahrheit ist nur möglich, wenn ich ganz allein bin – ich kann niemandem etwas sagen. Ich kann nur lügen.“ Jean Genet

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1

Ich weiß nicht, warum ich beginne, diese Geschichte zu erzählen – vielleicht, weil es, wie mir Edith’s Brief sagt, in Italien auch nicht besser klappt als bei mir, vielleicht, weil diese verdammten Beatleslieder, die ich nun schon gottweißwarum den ganzen Tag höre, mich so sehr an die unschuldigen 60er Jahre erinnern; aber wahrscheinlich schreibe ich, weil es wieder einer dieser beschissenen Tage ist, die mir demnächst nur noch ins Haus stehen werden.

Draußen vor der Haustür beginnt Griechenland, tatsächlich, bis zum Unkenntlichsein verstümmelt, denn in Piräus kann man es nur ahnen: widerliche Betonklötze als Wohnungen, dreckige Straßen, Lärm, Nepp in den Geschäften, herausgeputzte Männlein und Weiblein, wenigstens die jüngeren – eine bunte Schale alles in allem, ein schaler Geschmack im Mund.

Was soll ich hier?

Der Job auf Atta’s Schiff ist öde und langweilig: Putzen, Polieren, Flicken, Streichen, zig Kleinigkeiten, die Hafendreck und Seeluft in zwei Tagen wie ungeschehen machen, also wieder von vorn. Ganz davon zu schweigen, wie ungemütlich ein Arbeitsverhältnis innerhalb der Familie sein kann. Das hat die zweiwöchige Reise nach Korfu gezeigt. Traurig, dass Reiche von ihnen Abhängige wie Dreck behandeln müssen, um sich selbst ein bisschen sauberer zu fühlen.

Aber das sind leider Dinge, die sich nie werden klären lassen, denn zuviel hängt daran an gemeinsamen Erfahrungen und Kämpfen, von denen niemand mehr wissen will. Menschen, die repräsentieren, können sich Kritik und Zweifel nicht leisten – allenfalls an anderen, die sich verletzlicher zeigen.

Wenn ich an die großkotzige Euphorie denke beim Umzug! Lachhaft! Erstaunlich, wie bereitwillig man sich immer wieder selbst reinlegt. Hellas! Zwar war alles exakt geplant: von wegen Job fürs Geldverdienen, daneben Arbeit für die Kulturgeschichte: Bilder malen, Bücher schreiben, Lieder machen, ganz seriös! Und trotzdem: eigentlich kam ich her wie einer dieser Neckermänner, antizipierend schon die griechische Sonne im Herzen, das blaue Meer die braunen Gliedmaßen umschmeichelnd, ungeahnte Abenteuer laut Prospekt.

Und die Wirklichkeit: eine ungeliebte Arbeit, Abneigung gegen die Stadt, Verständigungsschwierigkeiten, keine Kontakte, kurz: völlige Unlust und Enttäuschung, die mir nichts und niemandem auch nur einen Hauch von Reiz abgewinnen lassen. Dazu die ergötzliche Perspektive: es wird solange dauern, bis ich mir einen erneuten Umzug erlauben kann. Ohne allerdings zu wissen: wohin?

Es hat natürlich viel damit zu tun, dass Lena abgesprungen ist; wodurch mir erst klar wurde, wie sehr ich auf sie gebaut habe. Andererseits bin ich auch froh, dass sich so (wenn auch reichlich aufwendig) unsere Beziehung klärte. Wie das klingt: Beziehung klärte! Wie eine amtliche Mitteilung. Obwohl an dieser Kälte etwas Wahres ist. Ich denke viel darüber nach, über Lena, über uns beide.

Seltsam, dass mir zu ihr nie ein Wort wie „Liebe“ in den Sinn käme. Immer war es etwas anderes. Aber was? Und was ist Liebe? Gibt es sowas? Oder tauft nur jeder schlicht das Beliebige so, das er dafür hält: Geilheit, Gewöhnung, Abhängigkeit, Bequemlichkeit? Vielleicht gibt es garkeine Liebe, hat es sie nie gegeben, vielleicht gab es nie etwas, für das das Wort stand, ganz speziell und ausdrücklich. Ein leeres Wort. Aber vielleicht war man auch schon immer froh, wenigstens ein Wort zu haben, wenn schon das Gefühl nicht bestand, oder allenfalls als Idee.

Ich habe Lena oft versichert: Ich liebe dich, ja, und meinte immer etwas anderes, unterschiedliches, spezielleres: Ich mag deine Hüften, mir gefällt dein Kinn, ich bin froh, dass du da bist (was hieß: ich bin froh, nicht allein zu sein), es ist schön, in dir zu stecken, du fühlst dich gut an, ich rede gern mit dir (um keine Selbstgespräche führen zu müssen und gelegentlich mal meine Stimme zu hören) und und und. Gesagt aber habe ich: Ich liebe dich, und gefragt: Liebst du mich? und war froh, es zu hören, ebenso wie Lena drängte, zu erfahren, ob ich sie liebe, und, seltsam, mit der bejahenden Antwort zufrieden war. Diese unehrliche Zufriedenheit! Noch dazu mit soviel Leere, die nur einen hehren Namen besitzt! Warum ist das andere, das Mögen, das Gefallenfinden soviel weniger und so wenig erwünscht? Nur weil sein Gegenstand konkreter ist?

„Zuneigung“ etwa, das drückt schon mehr Wirklichkeit aus, nur, wer sagt schon: Ich bin dir zugeneigt?, außer im Ulk, wenn ein lockeres, aufgeklärtes Paar mit den Werten einer untergegangenen Epoche spielt, so zum Spaß, versteht sich, zur Auflockerung, wenn das Aufgeklärte so öde wird, dass man verlegen „Liebe, Glaube, Hoffnung“ mimt, selbstredend mit ironischem Unterton, damit die insgeheime Sehnsucht danach nur ja nicht offenbar werde. Das wäre mal ein Thema für die verbeamteten Revolutionäre, hätten sie nicht so viel Schiss davor, zuzugeben, dass alles immer weitaus komplizierter ist als sie zu glauben wünschen. Dafür mag ich Marcuse so (den Ludwig), dass er gerade das immer wieder betonte. Na ja, Woody Allen tut’s auch. Obgleich: soviele wie ihn sehen und hören, können ihn gar nicht verstehen, sonst wäre die Welt sicher anders, oder?

Manchmal frage ich mich, ob ich je wieder eine Frau kennenlerne, eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen, ich wüsste nicht: wie. Es gibt viele hübsche Mädchen hier, die eine oder andere betrachte ich mir gelegentlich genauer, und später wichs ich mir dann einen. Das ist alles. Die Menschen sind mir so fremd. Und es ist nicht nur die Sprache, die ich nicht beherrsche; obwohl sie mein wichtigstes Mittel ist, mich verständlich zu machen (worauf’s mir noch immer ankommt, warum bloß?). Eher so ein Gefühl, dass die anderen ein Stück Boden unter den Füßen haben, auf dem sie sicher zu gehen vermögen. Mir fehlt beides. Ich scheine mir so unvereinbar mit anderen. Außerdem graut mir vor den ganzen Mühen des Kennenlernens: man tauscht vielsagende Blicke, umschnuppert sich ein bisschen, später ergeben sich Rede und Antwort über die jeweiligen Lebensläufe, Interessen, Pläne, man verabredet sich, zum Tanzen, zum Essen, zum Einkaufsbummel, zum Museumsbesuch, für einen Ausflug, und währenddessen kommt man sich selbstverständlich auch körperlich näher, behutsam, zaghaft, Schritt für Schritt, obgleich von vornherein feststeht, wohin die Schritte führen, denn nur zu diesem Zweck werden sie unternommen, immerhin bin ich keine 15 mehr; dann endlich kann man beginnen, gemeinsame Erfahrungen zu machen, die meisten im Schützen und Verteidigen.

Ich verabscheue diesen Fahrplan und kenne doch keinen Weg um ihn herum, wenn ich den misslichen Eindruck der Ausbeuterei vermeiden will, so als ginge es mir nur ums Bett. Darum geht’s mir nicht (nicht nur). Eher um so etwas wie Vertrautheit, unmittelbare, direkte, die auf den Reiseführer zum anderen verzichten kann. Die pubertäre Verliebtheit ist ein verspätetes Kinderspiel. Ich aber suche eine Gefährtin. Das ist ernst. Mir ist nicht zum Spielen zumute.

Gelegentlich versuche ich, mit kühlem Kopf meine Zukunft in die Hand zu nehmen. Eine Art Bestandsaufnahme, ganz ehrlich: Gelernt habe ich nichts als Schreiben, Malen, Gitarrespielen, jedoch so gut, um damit Geld zu machen, offenbar nicht. Ich schreibe, male, musiziere wie ich es eben kann. Will’s auch gar nicht anders, da bin ich ziemlich kompromisslos. Oder nur verbohrt, wer weiß. Trotzdem ist es keine Frage von Prinzipien, dass ich nicht, wie Simmel (Atta’s Lieblingstip), Romane nach einem Muster stricke, das Erfolg verspräche – ich kann’s einfach nicht, mir fehlt die Phantasie dazu. Ebensowenig wie ich mich auf dem Kunstmarkt umsehen kann (Marketing), um womöglich eine Lücke zu finden, die sich durch gezielte Arbeit stopfen ließe, etwa (im Bewusstsein der Eitelkeit jedes Eigners) weiße Yachten malen, wie Atta vorschlug. Und wenn ich meine Lieder anhöre, weiß ich auf Anhieb auch kein Publikum dafür. Trotzdem: was ich mache, sind Bilder, Texte, Lieder, das ist meine Arbeit, die, die ich (nicht im Vergleich mit anderen) am besten kann und am liebsten tue.

Zwar verheimliche ich mir nicht, dass in dieser herrlichen Zeit (oder seit jeher) nie die Arbeit zählt, die einer tatsächlich verrichtet, sondern nur die, die sich verwerten, sprich verkaufen lässt. Ich weiß, das geht jedermann so, nur habe ich leider nie gelernt, mich damit abzufinden. Meist tut es mir leid, diesen Mangel zu spüren, manchmal jedoch bin ich auch ganz sicher, dass ich Recht habe. Von diesen Momenten lebe ich, ein Glück, dass ich reichlich stur bin.

Irgendwo vermute ich bei mir auch etwas wie eine schlummernde, wahnwitzige Zuversicht auf plötzlichen Ruhm, und sei es posthum. Andernfalls könnte ich mir nicht erklären, wieso auf meine Zukunftsrechnungen, die nie aufgehen, nichts folgt. Wie jetzt: nichts spricht dafür, dass ich mit meinem Kram in absehbarer Zeit Geld verdienen werde. Dennoch will ich ihn nicht aufgeben. Also muss ich auf lange Sicht immer wieder Jobs nehmen, die sich mir gerade anbieten – dank meiner nichtvorhandenen Ausbildungen meist die undankbarsten, wie der auf dem Schiff. Wenn ich spare, kann ich vielleicht in zwei Jahren wieder hier weg. Aber dort wo ich hinkomme, werde ich mich wieder nach Arbeit umsehen müssen, die ich nicht mag, und so weiter, immer so weiter. Eine Vorstellung, bei der ich mich zusammenkrümme. Ich will sie nicht weiterspinnen, zu Ende denken. Vielleicht kommt ja etwas dazwischen. Tatsächlich, zuzeiten glaube ich noch an Wunder. Ein Zeichen von Lebensmut oder von Dummheit?

Oder ich sehne mich nach Ruhe. Auf den Inseln hier gefallen mir gerade die abgelegensten Häuser, diese kleinen, dürftigen weißen Klötze, weitab von jedem Ort, an dem Menschen sind, durch keine Straße erreichbar. Da möchte ich wohnen. Geld brauche ich nicht viel, mit sechshundert Mark könnte ich an jedem Fleck der Erde ausreichend leben. Aber selbst diese paar Mark gibt mir niemand schon dafür, dass ich ein netter Mensch bin, viel nachgedacht habe, kluge Sätze schreiben, bunte Bilder malen und düstere Lieder singen kann. Selbst für sechshundert Mark muss man sich mit Leib und Seele verkaufen! Ermutigend, zu sehen, wie wenig wert jemandes Glück ist (speziell meines). Atta etwa könnte mir, auch ohne dass ich für ihn arbeite, die Summe zur Verfügung stellen, die ich benötige: er verdient soviel, dass er es nicht spüren würde, auf nichts müssten er und Mom darum verzichten. Aber schon jetzt erscheine ich ihnen, die sich ihre Hobbies, ihren Luxus, ihr Wohlleben Unsummen kosten lassen, wie die Ausgeburt der Unbescheidenheit. Mom rechnet mir bisweilen vor, wieviel die Joghourts kosten, die ich in einer Woche verzehre; wenn mir so sehr an einer anderen Gesellschaftsordnung gelegen sei, müsste ich doch darauf verzichten können; sonst sei es mir offensichtlich nicht allzu ernst damit.

Joghourt und Gesellschaftsveränderung! Von der spreche ich ohnehin nicht mehr, ich rede allenfalls von mir! Frage mich, was sie eigentlich von mir wollen. Offenbar ist in ihren Augen jemand, der Kritik übt – und dennoch weiterhin isst und trinkt, sprich am Leben bleibt –, schuldig. Er verdient nicht, gehört zu werden, geschweige unterstützt, geschweige gar durch etwaige Zahlung von sechshundert Mark ohne Gegenleistung als der, dass er seine Arbeit tut, auch noch belohnt zu werden.

Das Geld ist der einzige sichere Punkt, an denen ihnen ohne Zweifel nichts wehtut, sei es eine Fehlinvestition oder ein Geschenk. Aber nur in diesem Punkt beklagen sie sich über die gewaltigen Schmerzen, die ihnen, speziell von den Kindern, zugefügt würden, all diese Enttäuschungen, die ihnen nicht erspart blieben, obgleich doch wohl gerade sie eine Wiedergutmachung verdient hätten, nach allem, was sie für uns getan haben.

Atta erzählt gern die Geschichte von dem bedeutenden iranischen Maler, für dessen Bilder viele Interessenten Traumsummen zahlen würden, würde er sie nur nehmen. Doch er verkauft nichts, nicht ein einziges Bild. Stattdessen sorgt seine äußerst finanzschwache Familie für sein Auskommen, vielleicht nur, weil sie ihn mag, also auch seine Verrücktheit selbstverständlich akzeptiert. Ich frage mich, wieso Atta diese Geschichte so gefällt. Versteht er sie? Und warum erzählt er sie mir, nicht sich? Oder geht es tatsächlich nur ums Geld, ist Geld selbst dann schon entscheidend, wenn es nur als Möglichkeit existiert? Und macht schon diese Möglichkeit allein jemanden zu einem Menschen, den man achten kann – Atta wenigstens?

Allerdings gibt es kein Anrecht auf Glück, das ist mir klar, für dessen Verwirklichung andere gefälligst zu sorgen hätten, wenn sie es können. Schön wärs. Der Satz in der Bill of Rights hat nur soviel Bedeutung, wie sich Leute finden, die das Glück anderer in ihren Händen halten – und sie dann auch noch öffnen. Obwohl es Situationen gibt, in denen ich mir dieses Anrecht fast zubillige, beispielsweise wenn Mom darauf besteht, dass ich, wenn ich nur wollte, schon könnte, auch Glücklichsein. Mich trifft die Unbekümmertheit und Ignoranz, mit der hier das Unglück dem Unglücklichen auch noch in die Schuhe geschoben wird, als würden die eigenen nicht drücken.

Frage mich bisweilen, ob Mom tatsächlich vergessen hat, dass das wesentliche Ziel ihrer Erziehung darin lag, meinen Willen zu brechen – damit ihr eigener Raum genug habe. Ich entschuldige damit nicht die Unterlassungen, die ich selbst zu verantworten habe, seitdem ich weiß, woran es mir fehlt. Doch meine Unterlassungen machen auch nicht Moms Erziehung und Atta’s Abwesenheit dabei bedeutungslos oder ungeschehen. Es geht mir überhaupt nicht um Fragen nach Schuld, nur darum, Bescheid zu wissen, weshalb ich so bin wie ich bin, vielleicht hilft es, mal anders zu werden.

Bloß wenn man aus Gründen des eigenen Wohlbefindens versucht, mir die Alleinschuld zuzuschieben, für meine „Lebensuntauglichkeit“, wie Atta es strafend nennt, dann allerdings platzt mir (symbolisch wenigstens) der Kragen. Aber es ist unmöglich, mit ihnen darüber zu sprechen, denn sie vermuten in allem, was ich vorbringe, eine Anklage, der sie prompt mit einer großen Rechnung begegnen, über Leistungen und Entbehrungen ihrerseits, derzufolge sie auf meiner Seite nur ein riesiges Soll erblicken, das sie mich getrost auch weiterhin verurteilen lassen kann. In solchen Momenten bin ich nahe daran, ihnen meine Rechnung zu präsentieren – und erschrecke vor dem Zorn und der Trauer in mir.

2

Heute war ich in Athen, um Menschen zu sehn. Hat mich erschreckt, dass es so viele gibt. Ein wahnsinniges Gewühl, Gekrabbel, Schubsen, Stoßen, Laufen, Rennen und zwischen allem Autos, Staub, Getöse. Am verwunderlichsten war, einen jeden überaus beschäftigt zu sehen, zielstrebig und voller Interesse gingen alle ihres Wegs, taten etwas, redeten miteinander, im Gehen, im Café, im Geschäft, alles durchaus hingegeben und ernsthaft, was nicht heißt: ernst, denn offenbar gibt es unter Menschen auch viel zu lachen.

Wie fremd mir das ist. Es bedrückte mich, es mitzuerleben, das Gehen fiel mir schwerer und schwerer, die Schuhe drückten, Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich fragte mich, wie ich da je hinein kommen sollte, in dieses Leben. Ich fand keine Antwort, konnte mir keine Brücke vorstellen. Obwohl ich, wenigstens heute, gern dazu gehört hätte. Ob dieses Leben der anderen zufriedener macht als meines? Kann man auf Dauer als Zuschauer leben?

In einem Café am Syntagma ruhte ich mich aus. Die Tasse Kaffee befriedete mich wieder, da bin ich Zuhause: sitzend, kaffeetrinkend, zigaretterauchend, schweigend, um mich schauend. Ein wunderschönes Mädchen ging vorbei, schulterlange, dicke schwarze Haare, das Gesicht einer Madonna, schmale lange Glieder, eine Art zu gehen, die auf mich wirkte, als hätte sie den mystischen Einklang mit der Welt, den in vorhistorischer Zeit Menschen vielleicht empfanden, ohne Aufhebens in sich bewahrt: die Fußspitzen leicht nach außen gedreht glitten ihre Schritte über den Boden, gleichmäßig, gelassen, weich. Ein bisschen erinnerte es mich ans Ballett, ohne dessen Bemühtheit. Ich fand es ausgesprochen erotisch, ihr mit den Blicken zu folgen. Wenigstens das. Denn ich merkte, dass ich ihr am liebsten hinterher gelaufen wäre. Aber jemand in mir fragte laut: Wie soll das denn gehen? Wie stellst du dir das vor? Wie macht man sowas überhaupt? Ich blieb sitzen, natürlich. Und wünschte, es gäbe soetwas wie ein parapsychologisches Zueinanderfinden, das die ganzen Umwege, die vielen Worte erübrigte. Stattdessen kaufte ich mir auf dem Heimweg den Playboy.

In der U-Bahn sah ich dann noch den missmutigsten Menschen, dem ich je begegnet bin, dagegen erschien ich mir selbst als wahre Frohnatur: ein dünnes, altes Männlein mit dem ausdrucksvollsten Gesicht: das saure Leben hatte ihm die Mundwinkel bis zum Kinn herabgezogen, wodurch die Unterlippe fast die Nasenspitze berührte. Der einzige Ausdruck, den diese drastischen, abweisenden Züge vermittelten, war: Das ganze Leben ist ein einziges, umfassendes Ärgernis. Die Philosophie als Gesicht, optische Summe eines Lebens. Das kann mir nicht passieren, schoss mir durch den Kopf. Hoffe ich jedenfalls. Hätte den Alten gern aufgemuntert. Aber welche Philosophie lässt das schon zu? Und womit auch?

Die Idee, am völlig falschen Ort zu sein. Nur – welcher ist der richtige? Das Haus auf den Inseln, die naturverbundene Eremitage kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich mich deplaciert fühle. Obwohl ich dann auch denke: Das darf doch nicht wahr sein, mit 27 sehnst du dich nach Ruhe und Ordnung und Ungestörtheit! Tatsächlich, manchmal wünschte ich mir ernsthaft, schon an die 60, 70 zu sein. Dann hätte ich’s wenigstens hinter mir. Was? Die Ungewissheit vielleicht. Außerdem verbinde ich mit Altsein die Hoffnung: unbehelligt zu bleiben, nichts mehr leisten zu m ü s s e n. Man erwartet das von den Alten ja nicht mehr, darin haben sie es gut. Ich möchte außen alt sein, innen jung, denn um die Senilität möchte ich gerne herumkommen. Aber immer allein, ich weiß nicht ...

Sara und Lotte kamen gestern an. Drei Wochen Urlaub. Sara wohnt drüben, bei Atta und Mom, Lotte bei mir. Mit ihr rede ich gern, sie meint bisweilen, was ich denke. Dass wir jetzt, nachdem wir uns schon zwei Jahre kennen, zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, macht alles schwieriger, urplötzlich. Bumsen, ohne verliebt zu sein, aus purer Geilheit, ist sehr unbefriedigend, wenn nicht mehr: der Schritt bis zum Ekel, das spüre ich, ist nicht groß. So macht man sich das Leben kompliziert. Ich bin froh, dass Lotte ein paar Tage weg ist. Wie ich ihr dann allerdings beibringen kann, dass sie anschließend woanders wohnen soll, ist mir ein Rätsel. Einen Moment lang empfand ich sie fast wie eine Schwester, mit der man auch ins Bett gehen kann. Irrtum, mit einer Schwester geht man nicht ins Bett, das ist das Wertvolle daran. Womöglich kann man, wenn man sich so ausgiebig kennengelernt hat wie wir beide (und zwar nicht im Gerüst einer Beziehung), garnicht mehr verliebt sein. Statt des oberflächlichen Reizes, der immer auch durch Blindheit entsteht, stellt sich eine Art innere Begegnung ein, die vielleicht dauerhafter ist. Erstaunlich nur, wie wenige Menschen in dem Netz hängenbleiben, mit dem man Begleiter fischt. Obwohl man so viele erwischt.