Fast ein Film - Ralph Henry Fischer - E-Book

Fast ein Film E-Book

Ralph Henry Fischer

0,0

Beschreibung

Die unverblümte Eröffnung des Arztes hatte augenblicklich die verblümte Illusion von Freiheit zerstört, die so lange existiert, wie man über alternative Handlungsoptionen verfügt. Fallen sie weg, gerät man in den unerbittlichen Sog des Schicksals - dann versagen jählings die eingespielten Mechanismen von Small Talk und Komödienstadl, mit denen man sich durch den Alltag rettet, und plötzlich wird es ernst, abgrundtief.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 172

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorweg

Lebensläufe

En détail

Hernach

Anhang

Mensch, wie kam ich dick und wohlgelaunt zur Welt

Hab sie voller Lust und Neugier angebrüllt

Lag zwar nicht als Heiland tief im Stroh

Trotzdem war ich ziemlich engelsgleich und froh

Und schon war das alles aus und vorbei

Wurde dann ein eher blasses Schulenkind

Lernte mich vor lauter Eifer farbenblind

War zwar nicht gebildet, klug und rein

Bildete mir das jedoch sehr ein

Und schon war das alles aus und vorbei

Kam dann in die große, bunte weite Welt

War darin als Mitarbeiter angestellt

Schuftete mich krumm an meinem Fleck

Lieferte den fetten Maden ihren Speck

Und schon war das alles aus und vorbei

Es ging so schnell und glatt und klappte wie geschmiert

Kaum auf der Welt und grad das Nötigste trainiert

Und gleich hinein ins volle Leben bis zum Hals

Und schon hindurch und wieder raus

Ja, das war alles (oder nichts), alles ...

War am Ende nur ne Handvoll Knochenmehl

Das dem lieben Gott wohl überaus gefiel

Hauchte mir ne neue Seele ein

Und ich ließ mich wirklich darauf auch noch ein

Und so ist nun garnichts aus und vorbei

(Aus und vorbei, aus: Songbook, 2024)

Vorweg

Viele SchriftstellerInnen, selbst die bedeutendsten, schöpfen für ihre Arbeiten häufig aus dem Erlebnis- und Erfahrungsschatz ihrer Biografien, und das keineswegs nur in ihren Erstlingen. Der Grund dafür ist banal: Sie schreiben schlicht über das, was sie am besten kennen, und das macht sie glaubhaft und authentisch. Reine Fiktionen sind nur selten ähnlich überzeugend, am ehesten noch in der Kinder-, Fantasy- und Krimiliteratur – um zu funktionieren, brauchen aber auch sie die Verwurzelung im Realen.

Den grundlegenden Rahmen für die eigene Geschichte bildet in der Regel die Familie, der man entstammt und die einen mehr oder minder weit durchs eigene Leben begleitet. Und darin unterscheiden sich die entsprechenden Lebensläufe vermeintlich oder tatsächlich namhafter Personen nicht generell von denen vermeintlich oder tatsächlich anonymer „kleiner“ Leute. Hier wie dort ereignen sich, eingebettet in bestimmte gesellschaftliche und politische Ereignisse und Situationen, Geburten, Tode, Beziehungen, Krankheiten, Karrieren, Niederlagen ... all die gängigen Komödien und Tragödien. Ob und wie weit diese Biografien mitteilenswert sind, hängt nicht allein von der Außerordentlichkeit des Erlebten ab, sondern auch von der Form der Mitteilung, also der Qualität ihrer erzählerischen Gestaltung, ob nun in Text oder Film – und dazu von der Aussagekraft der zur Verfügung stehenden Quellen.

Was letztere angeht, erging es mir wie Vielen, die erst nach dem Tod nah oder fern stehender Familienmitglieder (und anderer) erkennen, dass wichtige Fragen, die sie zu deren Lebzeiten zu stellen versäumten, keine Antwort mehr finden werden. Die hinterbliebenen Informationen, Spekulationen, Ahnungen usf. erscheinen nun hochgradig unzuverlässig und lückenhaft, gehen sie doch lediglich auf Erinnerungen an Bemerkungen, Gespräche oder Erzählungen zurück, deren Glaubwürdigkeit nicht mehr nachprüfbar ist.

Ist es z.B. meine eigene Erinnerung, dass ich mit zwei Jahren einen Leistenbruch erlitt, der mit einem in einen Gummigürtel gebetteten orangefarbenen Ball behandelt wurde oder erinnere ich mich lediglich an Erzählungen meiner Eltern über den Vorfall? – „... du wolltest ja schon als Kleinkind immer deinen Kopf durchsetzen, typisch Steinbock, und das vor allem mit Geschrei, und das hattest du davon!“

Hinzu kommt, dass es die Familie bereits vor der eigenen Geburt gab, man also die vorausgegangenen Geschichten ihrer Mitglieder nicht miterlebte, sondern nur aus zweifelhaften Überlieferungen kennt – zweifelhaft, weil sich nach deren Tod kaum feststellen lässt, was Legende war, was Wahrheit.

Hatte z.B. meine Großmutter Henny im eisigen Winter 1946/47 tatsächlich mit anderen Kölnern Kohlen von Güterwaggons und Lastwagen „gefringst“, wie sie häufig zum Besten gab?

Und hatte meine leibliche Mutter in den 1930er-Jahren in London wirklich eine Affäre mit einem geldschweren Lord (und Gangster) und in Rio eine Liaison mit einem brasilianischen Großgrundbesitzer, was sie, als ihre Ehe mit meinem Vater zerbrochen war, immer wieder klagend betonte? – „... hätte ich doch nur einen der beiden geheiratet, dann ...“

Ich erinnere mich an ein verblichenes Foto, das sie vor der Kulisse des Zuckerhuts (Pão de Açúcar) im Arm eines Mannes mit Clark-Gable-Schnäuzer im weißen Anzug zeigte – mehr nicht, nichts jedenfalls, das auf eine mögliche lukrative Eheschließung hinwies.

Und traf es zu, dass mein Vater als 19jähriger Besatzungssoldat 1942 in Piräus in heftiger Liebe zu einer Griechin aus bestem Haus entbrannte, die 1944 als Kollaborateurin von Partisanen erschossen wurde? – „... wirklich eine tragische Geschichte!“, wie er einmal ergriffen gestanden hatte; in seinem fragmentarischen Kriegstagebuch war davon allerdings keine Rede.

Usw. usf.

Hinterlassene private und amtliche Text- oder Bilddokumente mögen allzu wilde Spekulationen über eine abgeschlossene Lebensgeschichte einigermaßen eindämmen, aber dass sie deren Essenz wahrhaftiger wiedergeben als die entsprechenden mündlichen Überlieferungen und Legenden, ist zu bezweifeln.

Gleichwie: Wem daran liegt, dass solche Geschichten nicht mit denen, die sie erlebten oder erdachten, für immer aus der Welt verschwinden, der sollte sie erzählen – nicht weil sie (womöglich gar im Vergleich zu anderen) so ungeheuer wichtig wären, sondern einfach weil es sie gab .

Lebensläufe

1

Meine Mutter (Marion) wurde 1913 in Wanne-Eickel geboren. Mit ihrer Schwester arbeitete sie seit den späten 1920er-Jahren als Artistin und Akrobatin (Marion & Irma) in Varieté und Zirkus, gemanagt von ihrem Bruder (Hans Schröer), der durch die Heirat mit einer Althoff-Tochter (Jeanette) Einlass in diese Zirkusdynastie fand.

Die Schwestern waren in den 1930er-Jahren Stars auf den großen Varietébühnen Europas sowie Süd- und Nordamerikas. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs waren ihre Tourneen auf die Achsenmächte beschränkt, wobei sie zuletzt der deutschen Soldateska als Truppenbetreuer folgten. Letzte Station 1941–45: Prag, wo Marions Artistenkarriere infolge eines schlecht behandelten Armbruchs endete. Sie brachte dort 1942 meinen Bruder zur Welt, Frucht der Beziehung mit einem deutschen Besatzungsoffizier, der sich 1945 kurz vor der Befreiung der Stadt auf Nimmerwiedersehen mit ihrem Schmuck und Geld aus dem Staub machte. Marion gelang mit meinem Bruder die Flucht zu den Amerikanern. Nach einer langen Odyssee kamen sie schließlich 1946 oder '47 nach Köln, zu Zirkusverwandten (der Schwester von Jeanette: Carola Williams). Marion arbeitete im sogenannten „Williamsbau“ (dem ersten größeren Veranstaltungsort im Nachkriegs-Köln) als Kartenverkäuferin und Bedienung (ein immenser beruflicher Absturz), bis sie dort 1949/50 meinen Vater kennenlernte und wenig später heiratete.

Mein Vater (Manfred) kam 1923 in Köln zur Welt, als einziges Kind einer Lebensmittel-Einzelhändlerin mit ländlichen Wurzeln (Henny) und eines Tabakwaren-Kaufmanns. Er sollte ein für damalige Verhältnisse „großer“ Mann werden (1,93 m) und wollte das auch im übertragenen Sinn, wobei seine Träume dem Aufbau eines Wirtschaftsimperiums galten. Dem stand Verschiedenes entgegen, zunächst der Krieg, der ihn als Gebirgsjäger bis nach Griechenland und 1945 verwundet und desillusioniert zurück nach Köln führte; dann das Provisorium des Nachkriegs, in dem er wie viele Überlebende zunächst die verlorene Jugend nachzuholen bemüht war, ein sentimentaler Träumer und extravertierter Entertainer (der sich an jedes Musikinstrument wagte), zugleich voller Pläne für die Zukunft. Er versuchte sich, nach Notabitur und Kaufmannsdiplom, in verschiedenen unrentablen Berufen, unterstützt von seiner dominanten Mutter Henny (der Vater, schon im Ersten Weltkrieg Soldat, war 1940 an der Westfront während der Drôle de guerre versehentlich zu Tode gekommen).

Die Ehe mit der zehn Jahre älteren früheren Artistin (Mutter und Geliebte in einer Person) stieß bei den Angehörigen beider Gatten zunächst auf Ablehnung. Für die einen zählte Marion zur Bohème, für die anderen Manfred zu den bürgerlichen Spießern. Meine Geburt 1952 brachte immerhin die Anerkennung durch Großmutter Henny.

Die Ehe allerdings glückte nicht, wohl auch darum, weil Marion nicht mehr bereit oder in der Lage war, als ehemaliger Bühnenstar nun an einer weit banaleren Karriere mitzuarbeiten, der eher leichtlebige Manfred jedoch gerade eine ihn disziplinierende (und organisierende) Partnerin an seiner Seite benötigte, um seinen ehrgeizigen beruflichen Zielen näher zu kommen.

1958 lernte er meine spätere Stiefmutter (Margret) kennen, eine gut geerdete attraktive 20-Jährige, die ein Jahr später mit meiner Schwester niederkam1, woraufhin er meine Mutter (und mich) verließ und die Scheidung einreichte. Marion kämpfte dagegen noch ein Jahr lang an, dann gab sie auf und griff nach erfolgter Scheidung zur Flasche – ein umständlicher Suizid, denn erst nach einem Jahr war sie gesundheitlich so ruiniert, dass sie 1962 an einer Lungenentzündung starb.

Margret (die dann für 52 Jahre meine „eigentliche“ Mutter wurde), 1938 geboren, verlor schon mit dreizehn ihren Vater, einen kleinen Bauunternehmer. Durch dessen frühen Tod war ihr und ihren beiden Geschwistern der weitere Besuch der höheren Schule nicht länger möglich, sie machte stattdessen eine kaufmännische Lehre und wurde auch dadurch diejenige, die mein Vater für seine Karrierepläne benötigte.

Zunächst allerdings war die finanzielle Lage der neuen Familie durch mehrere Pleiten und Schulden äußerst prekär. Der Erfolg stellte sich erst ein, als beide Eltern 1965 in eine sich gerade in Europa etablierende US-Firma einstiegen, dort schließlich hohe internationale Manager-Posten einnahmen und in kurzer Zeit sehr viel Geld verdienten. Schon 1985 konnten sie sich in dem kleinen Dorf Mierscheid nahe Eitorf, 65 km von Köln entfernt, aus dem Großmutter Henny stammte, zur Ruhe setzen; den schlichten kleinen Wohnsitz der Familie bauten sie zu einem großen luxuriösen Anwesen aus, in dem sie bis zu ihren Freitoden (2013 und 2014) lebten. Ihr erhebliches Vermögen hatten sie am Ende nahezu aufgebraucht.

2

Bis zu Marions Tod im März 1962 hatte ich mich in der Welt zu Hause gefühlt. Ich galt als aufgeweckt und fantasievoll und zählte in der Volksschule mühelos zu den Besten, ohne ein Streber zu sein. Folgerichtig wurde ich zum Anführer bei den diversen kindlichen Aktivitäten, für die es in den 50er-Jahren noch sehr viel wilden Raum gab – in der Stadt wie auf dem Land, wo ich die Ferien bei Oma Henny verbrachte.

Seit mein Vater uns verlassen hatte, nötigte mich meine ständig alkoholisierte und mit ihrem Los hadernde Mutter, die Nächte bei ihr im Ehebett zu verbringen. Eines abends jedoch verbannte sie mich, fiebernd und delirierend, handgreiflich daraus, mit dem hasserfüllten Vorwurf, ich trüge die Schuld an all ihrem Elend, weil Manfred sie nicht verlassen hätte, wenn es mich nicht gäbe. Als sie schließlich zu toben begann, holte ich Nachbarn herbei, die einen Arzt riefen, der sie in ein Krankenhaus einwies. Als sie fort war, war ich erleichtert.

Drei Tage später, an Karnevalsdienstag, klingelte das Telefon, ich nahm ab und eine barsche Krankenschwester teilte mir mit, dass meine Mutter gerade gestorben sei. In diesem Augenblick war meine Kindheit vorüber.

Man schaffte mich gleich zur neuen Familie meines Vaters. Am nächsten Tag erschienen dort Onkel Hans und Tante Jeanette vom Zirkus, die ich nur aus übelwollenden Erzählungen kannte (es hieß, Netty, die Dressurreiterin, würde ihre Kinder mit der Reitpeitsche erziehen) – ich sollte mich entscheiden, bei wem ich künftig leben wolle. Mir war klar, dass ich eine Partei verletzen musste, aber ich entschied mich für meinen Vater, seine neue Frau und meine kleine Schwester.

Damit änderte sich auch mein Wohnort (statt einer großen Wohnung in Köln-Bickendorf nun eine winzige in Nippes), einen Monat später folgte der Wechsel aufs Gymnasium, sodass ich die meisten meiner Freunde verlor, die auf der Volksschule zurückblieben.

Das Verhältnis zu Margret, der Stiefmutter, war ein Jahr lang extrem schwierig und angespannt. Sie hatte keinen Augenblick gezögert, mich (und auch meinen 20-jährigen Bruder) aufzunehmen, kam aber mit dem vernachlässigt-verwahrlosten 10-Jährigen, der ich war, nicht zurecht, torpedierte ich doch ihre Sehnsucht nach einer ordentlichen, sicheren, wohlorganisierten Existenz. Ich begriff nicht, was sie wollte, nur, dass ich ihr das ohnehin nicht leichte Leben noch zusätzlich erschwerte. Es gab lautstarke Kräche, auch Prügel, bis ich, mit elf, eines Nachts aufstand und ein paar kräftige Schlucke Essig-Essenz nahm, um zu sterben. Doch in jäher Panik neutralisierte ich die Säure mit Unmengen Wasser und überlebte. Von nun an funktionierte ich in der Familie einwandfrei. Da ich weiterleben wollte, gab es keinen anderen Ort. Von meinem Selbsttötungsversuch erfuhr niemand. Fortan aber neutralisierten die beiden Personen, die ich war, einander, sodass ich mich wie eine Null fühlte.

3

So angepasst ich nun zu Hause war, so widerständig agierte ich in der neuen Schule, zunächst nicht vorsätzlich, sondern aus dem Elend meiner lädierten Seele heraus. Das Überflieger-Image der Volksschule war dahin, auf dem Gymnasium schaffte ich in den ersten Jahren kaum die Versetzungen, gehörte zu den fortwährend bestraften Störenfrieden.

Für diese Rolle (gegenüber einer elitären, autoritären Institution, damals eine reine Jungenschule mit noch viel Nazi-Geist) fand ich (gewissermaßen verhaltensgestörte Avantgarde) erst einen Rahmen, als die Jugendrevolte der 1960er-Jahre sie legitimierte. Insbesondere die Musik (plus Kleidung und Frisur) schien einen Ausweg aus der Misere zu bieten, und das nicht nur mir. 1966 gründete ich eine Beatband, die bis 1970 in Jugendheimen, auf Parties und in Kneipen aufspielte. Diese Bühne erlaubte mir, (ein wenig bewundert) bei meinesgleichen, vor allem den wunderschönen Mädchen, zu sein, ohne durch zu große Nähe meine Null- und Nichtigkeit zu offenbaren. Die ersten Liebschaften mit dreizehn, vierzehn (noch sexfrei) endeten rasch – ich verhielt mich wie ein tumber Tor, der nichts zu sagen und zu tun wusste.

Die Konsequenz: Rückzug. Und in der Schule zunehmende Opposition, in moralischer Rigorosität – schienen sich doch meine opportunistischen Mitschüler nach kurzer Revolte schon wieder den Gegebenheiten anzupassen, um weiter zu kommen. Ich hingegen, heroisch, stieg immer weiter aus und verließ schließlich 1970 nach der Unterprima die Anstalt, ohne Pläne für die Zukunft. 1971 verweigerte ich den Wehr- und den Ersatzdienst, und um dem Gefängnis zu entgehen, zog ich mit Schwester und Eltern nach Belgien, wohin sie aus beruflichen Gründen übersiedelten. Mein Bruder, mittlerweile verheiratet, blieb in Köln.

4

Spätestens seit 1968 (Zufall?) wollte ich dreierlei: herausfinden, wie die Welt beschaffen ist und was mein Leben darin so schwierig machte, sowie nebenher möglichst ein „guter“ Mensch werden. Den Weg dahin sollte mir vor allem die Literatur ebnen, als Leser wie als Autor. Meine „Bildung“ nahm ich nun in die eigenen Hände, endlich befreit von der eindimensionalen schulischen Vermittlung verwertbaren Wissens, an dessen Stelle ein schillernder Kosmos lebendiger Wechselbeziehungen trat. Dieses autodidaktische „Studium“ und das eigene Schreiben bildete nach und nach die Basis für eine instabile Identität, die mich fortan trug und am Ende (in den Jahren 2023/24) zu der merkwürdigen Hinterlassenschaft von sieben schmalen Bänden führte: erzählende Prosa, Lyrik, Songs, Essays.

Drei Jahre lebte ich noch bei meiner Familie in Belgien, betätigte mich dort, neben meiner Lese- und Schreibarbeit, als Gärtner und Chauffeur. 1974 zog ich ins nahe Aachen, wo ich in einem antiautoritären Kinderladen, den linke Eltern betrieben, als Helfer mitarbeitete – ein verspätetes Erwachsenwerden, das neben dem ersten Geldverdienen auch den ersten Sex mit sich brachte. Endlich war ich in der Lage, halbwegs selbstbewusst zu kommunizieren und Liebesbeziehungen einzugehen, wenngleich stets unter der Gewissheit des Scheiterns.

5

Von solchem Scheitern nicht ausgenommen war auch die Landkommune, die wir 1978 zu sechst nahe Stolberg gründeten: ein Paar aus dem Kinderladen, meine damalige Partnerin und ich, ein alternativer Psychotherapeut mit seiner Lebensgefährtin. Letzterer, in der Aachener Szene ein angesagter Guru, bot ein eklektisches Konglomerat verschiedenster Therapieformen an, das nicht einzelne Leiden beseitigen sollte, sondern den Patienten (oder Jünger) komplett (totalitär) von seiner bisherigen verfehlten Geschichte befreien. Dazu gehörte auch, dass diejenigen, die unter ernsten psychischen Störungen litten und bislang konventionell (von der ignoranten „Schulmedizin“) behandelt wurden, ihre Medikamente absetzen mussten, um endlich „frei zu werden“. Derart frei wurde auch einer unserer Mitbewohner, seit Jahren wegen starker manischer Depression medikamentös eingestellt, der nach dem Absetzen seiner Mittel in eine nicht enden wollende manische Phase geriet und zuletzt, da seine Umgebung seine freudlose Euphorie nicht teilen konnte, eines Nachts das Haus über unseren Köpfen anzündete. Ende der Kommune.

Zeitgleich löste sich auch der Kinderladen auf. Ich wurde arbeitslos und zog, da ich dort eine günstige Wohnung fand, wieder nach Köln – ein falscher Schritt, denn sogleich erreichte mich ein Einberufungsbefehl der Bundeswehr. Ich beschloss, mich mit meiner Gefährtin nach Griechenland abzusetzen, unterstützt von meinen Eltern, die mittlerweile aus beruflichen Gründen in Piräus lebten – sie suchten gerade einen neuen Bootsmann für ihre Yacht und wollten meiner Partnerin einen Job in der deutschen Kolonie Athens verschaffen.

Ich reiste allein voraus, bezog eine Wohnung in der Nähe des Yachthafens und richtete sie mit unseren aus Deutschland eingetroffenen Habseligkeiten ein. Nach vier Wochen teilte mir meine Gefährtin mit, dass sie, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt habe, in Deutschland bleibe.

6

1981 kehrte ich nach Köln zurück, nachdrücklich gedrängt durch ein heftiges Erdbeben am 24. Februar – vor allem aber hatte ich mir mit dem Bootsmanns-Job und Aufträgen von einer Athener Werbeagentur zunächst das Geld für den Umzug verdienen müssen und natürlich sicher sein wollen, dass mich das Militär nicht länger behelligen würde.

Nach Köln brachte ich ein Bühnenstück mit, einen Comic-Strip in Szenen und Songs („Romy & Julian“), der durch die Vermittlung meiner Schwester 1982 an der Studiobühne aufgeführt wurde und dem dort ein Jahr später eine Bearbeitung und Inszenierung von Brechts „Happy End“ folgte. Parallel erschien zum ersten Mal ein Text von mir, in der Suhrkamp-Anthologie „Liebesgeschichten“. Daneben und in den folgenden Jahren arbeitete ich in wechselnden Jobs, als Lagerarbeiter, Raumausstatter-Hilfskraft, Assistent eines Architekten und sechs Jahre lang als freiberuflicher Sachbearbeiter in einer großen EDV-Firma. Nebenbei half ich Freunden und Bekannten bei ihren Diplom-, Magister- und Doktorarbeiten, eine von ihnen wurde Lektorin (und später „Editing Manager“ oder „Managing Editor“) in einem Kölner Verlag und bat mich bald um Hilfe bei der Verbesserung von Texten – woraus sich meine eigene selbstständige Lektorentätigkeit ergab, mit der ich in den folgenden 25 Jahren mein Geld verdiente.

7

Seit meine Eltern sich 1985 auf dem Land niedergelassen hatten, fuhr ich in der Regel zweimal in der Woche zu ihnen, um einige Stunden in ihrem ausgedehnten Garten zu arbeiten – ein willkommener Ausgleich für das naturferne Stadtleben.

Ab 2009, nachdem mein Vater zunehmend gebrechlicher und depressiver wurde, fiel es vor allem mir zu, den beiden in dieser dramatischen Lage beizustehen – dramatisch auch darum, weil sie schon lange zuvor vereinbart hatten, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, wenn er 90 und sie 75 Jahre alt wäre oder einer von ihnen unheilbar erkrankte. Tatsächlich zog sich mein Vater 2013 (mit 89) bei einem schweren Sturz inoperable Brüche zu, sodass sein Tod infolge Organversagens nur noch eine Frage der Zeit war. Das Krankenhaus entließ ihn zum Sterben nach Hause, worauf die Eltern uns ankündigten, dass sie sich in einer bestimmten Nacht umbringen würden – an den Tagen davor konnten wir uns von ihnen verabschieden.

Mein Vater starb in besagter Nacht, meine Mutter allerdings überlebte – um sich ein Jahr später mit dem Insulin meines Vaters (und ohne Vorankündigung) zu töten. Eine Nachbarin fand sie bewusstlos, aber noch lebend, doch acht Stunden später verschied sie auf der Intensivstation des Eitorfer Krankenhauses; meine Schwester und ich waren dabei. Das Ende unserer Familie.

8

Mein eigener Lebenslauf bewegt sich, seit ich 60 wurde, beschleunigt auf sein Ziel, den Tod, zu, dessen Termin selbst zu bestimmen ich mir vorbehalte – in der kommenden Woche werde ich mit meiner Hausärztin über Sterbehilfe sprechen.

1 Was, wie schon in meinem Fall, Henny mit dem Ehebruch ihres Sohnes versöhnte.

En détail

Am frühen Abend des 11. November 1958 folgte wie in jedem Jahr auf den Köln-Bickendorfer Martinszug das große Martinsfeuer im Stoppelfeld jenseits der kleinen Rochus-Kapelle. Dank meiner von Batterien betriebenen Laterne, die mein Vater konstruiert hatte, bedachten mich meine Freunde, die unentwegt die Kerzen in ihren Laternen erneuern oder immer wieder anzünden mussten, mit neidvollen Blicken; allerdings verschwieg ich ihnen, dass meine innovative Leuchte durch die Batterien so schwer war, dass ich sie kaum zu tragen vermochte.

Das große Feuer brannte bereits, als wir ankamen, und wir postierten uns in der zweiten oder dritten Reihe hinter älteren Kindern. Ein Junge, der ganz nah am Feuer stand, warf unter dem Gejohle seiner Freunde irgendetwas in die lodernden Flammen. Einen Augenblick später gab es ein Knallen wie von Schüssen und lautes Geschrei. Ein paar Erwachsene drängten uns von der Feuerstelle weg, zwei Polizisten, die den Zug begleitet hatten, kümmerten sich um einige laut weinende Kinder.

Meine Freunde und ich machten uns schnell auf die Runde durch die Häuser, um im Namen St. Martins Geld und Süßigkeiten zu ersingen – das hilfreiche Lied endet:

„Hier wohnt ein reicher Mann,

der uns was geben kann.

Viel soll er geben,

lange soll er leben,

selig soll er sterben,

das Himmelreich erwerben.

Lasst uns nicht so lange stehn,

denn wir müssen weitergehn.“

Am folgenden Morgen teilte uns der Klassenlehrer mit, dass in dem Martinsfeuer Munition aus irgendeinem Trümmergrundstück explodiert sei und mehrere Kinder verletzt habe, ein Junge aus der nächsthöheren Klasse, Konrad, hatte gar ein Auge verloren.

Vier Wochen später war dieser Konrad wieder in der Schule, er hatte nun ein Glasauge, das wir fasziniert musterten. Vor allem rätselten wir, wie es dahinter aussehen mochte. Gut gelaunt bot er an, das künstliche Auge herauszunehmen, wenn jeder ihm dafür 10 Pfennig zahlte. Natürlich bezahlten wir und schauderten dann vor der grausigen leeren Augenhöhle zurück, ohne doch den Blick von ihr abwenden zu können.