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Die öffentlichen und medialen Debatten um gendersensible Sprache vor allem in den Feldern Politik und Unternehmen sowie Bildung und Wissenschaft legen offen, dass normative Sprachregelungen als Eingriff in die individuelle und die gesellschaftliche Freiheit interpretiert werden. Rechtlich sind die Meinungsäußerungs- und die Wissenschaftsfreiheit zwar im Grundgesetz Artikel 5 garantiert, aber das gesellschaftspolitische Verständnis dieser abstrakten Begriffe wird auf der semantischen Ebene beeinflusst von der kognitiven Wirklichkeitskonstruktion auf der einen und den pragmatischen Regeln der Gemeinschaft zur Verwendung in der Kommunikation auf der anderen Seite. Dieser Beitrag startet mit einem kurzen Blick in die Etymologie des Wortes Freiheit und einem Exkurs in dessen gesellschaftspolitische Entwicklung. Im Zentrum stehen aktuelle Beispiele zur Veranschaulichung der Debatten um gendersensible Sprache, um die unterschiedlichen Positionen herauszuarbeiten, die mitunter als verhärtet erscheinen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
[63]
Jahrbuch Wissenschaftsfreiheit, 1 (2024): 63 – 81 https://doi.org/10.3790/jwf.2024.1431201
Denkmuster in unseren Köpfen und die Freiheitsgrade des Sprechens
Von Beatrice Dernbach*
I. Ein Blick zurück: Herkunft und Bedeutung des Begriffs Freiheit
Das Adjektiv frī und das Nomen frituom/friheit kommen im germanischen und althochdeutschen Wortschatz vor; im Neuhochdeutschen (ab dem 15. Jahrhundert) wandeln sie sich zu frei und Freiheit. Eine Belegsuche im Textkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS) ergibt zwischen 1465 und 1969 quer über die Bereiche Belletristik, Wissenschaft, Gebrauchsliteratur und Zeitung hinweg insgesamt 36.261 Treffer1. Aufschlussreich ist es, sich die Verwendungshäufigkeit über die Jahrhunderte hinweg anzusehen. In das sogenannte Frequenzbarometer – eine siebenstufige, logarithmische Skala – aufgenommen werden nur Wörter, die insgesamt mindestens fünfmal in den gegenwartsprachlichen Korpora vorkommen. Ermittelt wird die Frequenz für alle Flexionsformen eines Wortes. Ausschlaggebend für die Berechnung sind sowohl die absolute Häufigkeit (Frequenz) des jeweiligen Wortes als auch das Verhältnis dieser Zahl zur Gesamtgröße des Korpus.
Der Begriff Freiheit wird in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehr häufig verwendet; ein zweiter Peak ist zwischen 1950 und 1969 zu sehen. Dies korreliert mit den Bestrebungen vor allem in Kontinentaleuropa, im Zuge von Revolutionen beziehungsweise nach Kriegen demokratische Strukturen aufzubauen. Gleichzeitig entstand im industriellen Zeitalter die Massenpresse, deren Publikum sich im Zuge von Bildung und Alphabetisierung zunehmend vergrößerte2. Zur Illustration sei an dieser Stelle auf das [64] Buch des Schriftstellers Michael Kunze „Der Freiheit eine Gasse“ verwiesen. Darin beschreibt er das Leben eines deutschen Revolutionärs:
Abb. 1: DWDS: Freiheit – Verlaufskurve3
„Wien, im Sommer 1870. Gustav Struve, Advokat und Journalist, bringt seine Erinnerungen zu Papier. Der radikale Demokrat Gustav Struve war einer der Leitfiguren der Märzrevolution von 1848. Ihm und seinen Mitstreitern ging es um die Freiheit und die Selbstbestimmung des einzelnen und der Völker, das Recht auf Bildung, auf Arbeit und Wohlstand für alle, die uneingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit, die Demokratisierung und Vereinigung Deutschlands von innen her.“4
Freiheit war und ist ein sowohl politisch als auch ideologisch als auch emotional besetztes Wort. Etymologisch und semantisch zu unterscheiden sind zwei (miteinander verbundene) Bedeutungen:
–die Freiheit von etwas, das heißt die traditionelle, im europäischen Denken zentrale Forderung nach Unabhängigkeit und Abwesenheit von Zwang, Unterdrückung und Bevormundung;
–die Freiheit für etwas, das heißt die inhaltliche Bestimmung, die tatsächliche Umsetzung und letztlich die Übernahme der Verantwortung für das, was ohne Zwang und Unterdrückung getan (oder unterlassen) wird5.
Die Phrasen beziehungsweise Wortbildungen mit dem Nomen Freiheit beziehen sich auf eine (individual-)psychologische, eine behavioristische und [65] gesellschaftliche Ebene: die Freiheit des Gewissens, des Handelns, die gesetzlich verankerte Informations-, Meinungsäußerungs- und Presse-/Rundfunkfreiheit. Die Begriffe changieren zwischen den Polen der absoluten Freiheit, dem Freiheitsdrang, sich Freiheiten erlauben/herausnehmen bis zum Gegenteil: der Freiheitsberaubung, des Freiheitsentzugs, der Freiheitsstrafe, der Unfreiheit.
II. Wie Sprache entsteht und verwendet wird