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Die Studie diskutiert die Übertragbarkeit der aus der Wissenschaftsgeschichte stammenden Theoriemodelle des Denkstils (Ludwik Fleck) und des Paradigmas (Thomas S. Kuhn) auf den literarischen Wandel. Anhand exemplarischer Untersuchungen, die Gegenstände der Neueren deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart behandeln, werden Linien literarischer Entwicklungsprozesse aufgezeigt, die Strukturen des Zusammenwirkens von kollektiven Denk- und Schreibmustern einerseits sowie Innovation und Individualität andererseits erkennen lassen. Gattungs- und Epochenbegriffe, Autorinnen und Autoren, Texte wie deren Genese und Rezeption werden in den einzelnen Kapiteln im Hinblick auf Wandel und Konstanz im literarischen Feld betrachtet, um idealtypisch signifikante Elemente in der Literaturgeschichte zu konzeptualisieren.
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Seitenzahl: 520
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Hermann Gätje
Denkstile und Paradigmen im literarischen Wandel
DOI: https://doi.org/10.36198/9783381103621
© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 2512-8841
ISBN 978-3-381-10361-4 (Print)
ISBN 978-3-381-10363-8 (ePub)
Was ist Literatur?
Was ist Gattung?
Jedes Lehrbuch der Theorie der Wortkunst, das etwas auf sich hält, beginnt mit der Beantwortung dieser Fragen. Hartnäckig mit der Mathematik wetteifernd, versucht sich die Theorie der Wortkunst in überaus klumpigen und selbstbewußten Definitionen. Sie vergißt, daß die Mathematik zwar auf Definitionen basiert, daß jedoch in der Literaturtheorie Definitionen keineswegs Grundlage sind, sondern ein sich stets veränderndes evolutionierendes literarisches Faktum: eine Folgeerscheinung.1
Mit dieser grundlegenden Feststellung beginnt der programmatische Aufsatz Das literarische Faktum des russischen Formalisten Jurij Tynjanov aus dem Jahr 1924, der in knappen Worten das Konzept der „Evolution in der Literatur“ darlegt und exemplifiziert, welches von ihm in einer Gruppe strukturalistisch orientierter russischer Formalisten mitentwickelt wurde. Diese haben grundsätzlich festgehalten, dass der Begriff der Literatur und die an ihn gekoppelten Definitionen keine statischen Gesetze sind, sondern etwas zeitbedingt Wandelbares im Gegensatz zu den universell gültigen mathematischen Sätzen.
Die Schwierigkeit des Terminus der Evolution spiegelt die wesentlichen Grundfragen, die den Ausgangspunkt meiner Studie bilden. Infolge der Polysemantik und Konnotationen von ‚Evolution‘ signalisiert der in der deskriptiv-faktischen Bedeutungsdimension analoge Begriff ‚Wandel‘ mehr Sachlichkeit. Literatur und Mathematik trennt Tynjanov systematisch voneinander ab, seine Erklärung ist evident und bringt das angesprochene Problem schlüssig zum Ausdruck. Doch zugleich werfen seine Thesen neue Fragen auf, indem sie überkommene Selbstverständlichkeiten der literarischen Praxis wie kanonisierte Literaturgeschichten und Texte grundsätzlich infrage stellen. Auch wenn sein Begriff der Evolution hier als neutral beschreibbar ist und nicht mit den wertenden Implikationen von Weiterentwicklung oder Fortschritt gedeutet werden muss, gibt er – überspitzt gesagt – mehr Rätsel auf, als er auflöst. Eine auf Wertung beruhende Literaturwissenschaft gibt nominalästhetisch vor, was Literatur ist, und schließt dabei Formen wie etwa Kitsch, Kolportage oder Groschenhefte aus. Sie legt den Gegenstand fest, so dass schon ein bestimmter Textträger oder Distributionsweg die Verbannung literarischer Erzeugnisse aus dem Forschungsfeld bedingen kann. Orientiert man sich an Tynjanovs Vergleich, tritt das Paradox zutage, dass die Literaturwissenschaft, je stärker sie dem Anspruch der ‚objektiven‘ Mathematik folgt und Definitionen festlegen will, selbst immer weniger objektiv wird. Sie objektiviert das Subjektive, indem sie die übereinstimmenden Auffassungen bestimmter dominanter Geschmacksträger in einem gewissen Toleranzrahmen zu einer literarischen Norm festlegt. Je enggefasster und damit überschaubarer das kanonisierte literarische System ist, desto kleiner dieser Bewertungsspielraum.
Dieses grundsätzliche Problem beschäftigt in unterschiedlichen Facetten die philosophische Auseinandersetzung mit Literatur respektive Kunst seit der Antike. In allen Kulturen finden sich Zeugnisse, die der Frage nachgehen, ob Eigenschaften eines universellen Ideals fassbar sind oder ob die ästhetische Wertung persönlichkeits-, gesellschafts- oder zeitbedingt ist. Dabei variieren die Antworten und Gewichtungen, die kanonisierten Epochen und Stile zeichnen sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie basale Identitäten von Literatur unterschiedlich akzentuieren. Für die deutsche Literatur erscheint bemerkenswert, dass diese Fragen besonders in Zeiten sogenannter Epochenschwellen oder -wenden aufgegriffen wurden.
Tynjanov bringt in seinem Aufsatz ein damit gekoppeltes Problem zum Ausdruck. Selbst wenn die Geschichte einer Literatur nicht geordnet, also niedergeschrieben ist, so impliziert die Gegenwart sämtliche Vergangenheit, alle bisherigen literarischen Phänomene. Diese Feststellung ist diffus, doch ist am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur eindeutig aufzuzeigen, dass diese die bisherige deutsche Literatur, deren Geschichte und Gattungstheorie in irgendeiner Weise mitdenkt. Jede Zeit der deutschen Literatur hat Adaptionen von als Klassikern anerkannten Werken hervorgebracht, schon wenn eine Autorin oder ein Autor sich als Romantiker charakterisiert, ist eine solche Referenz erkennbar.2 Die klassische Literatur unterliegt dabei einem Wandel, sie wird vom literarischen System einer Zeit immer wieder neu interpretiert und adaptiert. Jeder klassische Text muss vom Horizont seiner Zeit und in der Folge seiner jeweiligen Rezeption in den verschiedenen Gegenwarten betrachtet werden. Auch hier findet eine Evolution statt, die eine Doppelstruktur evoziert. Einerseits ist ein Text als solcher zwar empirisch vorgegeben, doch bereits in den Eingriffen und der Aufbereitung durch einen Editor findet eine Anpassung und damit Deutung statt.
Der Diskurs über und die vielschichtige Problematik um den literarischen Wandel haben verschiedene Modelle seiner Beschreibung hervorgebracht. Diese hinterfragen die tradierte Literaturgeschichte und entwickeln Konzeptionen, die zum Teil nicht vereinbar sind, da sie unterschiedliche Referenzrahmen vorgeben und verschiedene Perspektiven fokussieren. Einerseits ist Literaturgeschichte subjektiv und unzureichend, andererseits braucht man sie und einen Kanon von Texten, um überhaupt systematisch mit Literatur zu arbeiten. Zahlreiche unter dieser Prämisse entstandene alternative Literaturgeschichten und Kanones haben zwar auf der einen Seite für das Problem sensibilisiert, auf der anderen Seite aber das literarische Feld diffundiert und den Diskurs zunehmend erschwert. Je verschiedener das Literaturverständnis und die Leseerfahrung Einzelner sind, umso weniger ist ein Gespräch über Literatur möglich, da eine breite übereinstimmende Leseerfahrung als gemeinsame Kommunikationsbasis fehlt.
Die Literaturwissenschaft befindet sich in einem Dilemma: Je mehr sie diese Bereiche ausdifferenziert, ausmisst und erforscht, umso schwieriger lassen sie sich in eine Ordnung fügen und systematisieren. Das literarische Feld ist in mehrfacher Hinsicht unübersichtlicher geworden.
Die wesentlichen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts haben unter unterschiedlichen Prämissen die Literatur mitbehandelt. Systemtheorie oder Poststrukturalismus haben mit verschiedenen Ansätzen den literarischen Sektor untersucht, wobei die Positionen oft nicht miteinander vereinbar sind, da sie auf strukturell divergenten Ebenen denken oder abweichende Begriffe von Literatur verwenden. So treten in den in immer kürzer werdenden Intervallen erscheinenden ‚turns‘ der letzten fünfzig Jahre alternierend antagonistische Denkmuster hervor.3 Es wechseln Strömungen, die mehr das Ästhetische und den Eigenwert der Literatur akzentuieren, mit solchen, die die Referenz der Literatur zu äußeren Bereichen für unerlässlich halten. Zahlreiche Denkrichtungen prononcieren die Abwesenheit des Autors im literarischen Text, denen stehen Konzeptionen gegenüber, die ihn für unhintergehbar halten. Aus diesen basalen Faktoren bilden sich Identitäten, die innerhalb der literarischen Gemeinschaften zeitlich und räumlich unterschiedliche Wertungen und Nuancierungen erfahren. Literarischer Wandel und Literaturgeschichte bilden nicht die Entwicklung eines völlig Neuen ab, sondern vielmehr die neu formulierte Ausdeutung bestimmter basaler Grundelemente von Literatur.
Meine Studie diskutiert diese Fragen auf der Basis zweier theoretischer Ansätze, für die ich thesenhaft annehme, dass sie als Modelle heuristisch systematisch viele dieser disparaten Positionen relativierend, ausgleichend und vermittelnd erfassen können. Thomas Kuhns (1922 bis 1996) in seinem Hauptwerk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) dargelegte Theorie besagt, dass sich wissenschaftlicher Fortschritt nicht allein durch kontinuierliche Veränderung und Wissensakkumulation ergibt, sondern dass jeder praktizierten Wissenschaft temporär statisch gültige Erklärungsmodelle zugrunde liegen, die in einem revolutionären Prozess abgelöst werden.4 Kuhns Thesen wurden in der wissenschaftlichen Gemeinschaft breit und kontrovers diskutiert. Seine Grundannahmen fußen in wesentlichen Teilen auf den Arbeiten von Ludwik Fleck (1896 bis 1961), insbesondere dem Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935).5 Flecks wissenschaftstheoretische Arbeiten blieben außer in engen Fachkreisen weitgehend unbeachtet, bis sie durch den Diskurs um Kuhn wiederentdeckt wurden.6 Fleck geht von der These aus, dass eine wissenschaftliche Tatsache nicht rein empirisch sein kann, sondern immer mehr oder weniger subjektive Implikationen hat. Er postuliert die Unmöglichkeit der Erfassbarkeit einer absoluten Objektivität, da die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit allein schon eine Grenze setzt. Für Fleck wird wissenschaftliche Arbeit durch einen bestimmten Denkstil geprägt, der Grundannahmen und Erklärungsmuster impliziert. Auch wenn beide Theorien ausgewiesen auf den Wissenschaftsbereich fokussiert sind, lassen sie sich in ihren wissenssoziologischen und denktheoretischen Grundsätzen auf den literarischen Sektor übertragen. Vereinfacht ausgedrückt stellt sich die Frage, ob literarische Strömungen, ästhetische Wertungen, literarische Gattungsdefinitionen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten literarischen Gemeinschaften aus bestimmten Erklärungsmustern heraus definiert werden. Die Wahrnehmung von etwas als ‚schön‘ unterliegt nicht nur dem persönlichen Geschmack eines Einzelnen, sondern ergibt sich auch aus seinen sozialen Beziehungen und internalisierten Werten.
Thomas Kuhns Schrift Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen entfaltete seit ihrem Erscheinen 1962 bis in die Siebziger und Achtziger Jahre eine immense Wirkung und wurde im Wissenschaftsbetrieb ausgiebig thematisiert. Auf den literarischen Wandel speziell bezogen fand sie relativ geringe Resonanz, auch wenn mit Hans Robert Jauß, Hans Ulrich Gumbrecht, Norbert Groeben oder Franco Moretti namhafte Literaturwissenschaftler in der Übertragung des Paradigmawechsels auf Literatur- und Kulturwissenschaften eine Sinnhaftigkeit und Anwendung des Modells für die Literatur andeuteten.7 Kuhns Schrift nimmt in essenziellen Aspekten die Gedanken von Ludwik Fleck auf und führt diese weiter im Hinblick auf einen historischen Prozess. Die Anwendbarkeit von Kuhns Ideen auf die Geisteswissenschaft und die Kunst ist umstritten und es ist nicht Ziel dieser Studie, dies zu hypostasieren. Doch vor allem unter Berücksichtigung der basalen Ideen Flecks lässt sich aufzeigen, dass viele strukturelle Elemente der Theorie Kuhns als Modelle Skalierungsmöglichkeiten für Prozesse des literarischen Wandels generieren. Anhand von Flecks Definition des Denkstils sowie Kuhns Begriffen des Paradigmas und der wissenschaftlichen Revolution lassen sich bestimmte Aspekte des literarischen Wandels erkennen. Da Literatur und Denken miteinander verknüpft sind, ist es evident, dass es in der Literatur Denkstile und Paradigmen gibt, die kollektive Gültigkeit besitzen und Wirkung entfalten. Um dies zu belegen, nimmt meine Studie zwei Perspektiven ein. Wegen der Schwierigkeiten mit den Theorien im Bereich der Geisteswissenschaft widmet sie sich der Diskussion und Kritik dieser Ansätze und stellt methodische Möglichkeiten vor, die eine erkenntnisgewinnende Anwendung in der Literatur eröffnen. Die Untersuchungen einzelner Texte, Epochen, Gattungen oder Stilmittel sollen mit den Theorien korrespondierende Phänomene herausarbeiten.
Flecks Ansatz spiegelt auf den Leser als Teil der literarischen Kommunikation bezogen das wesentliche Moment, dass jedes Buch anders verstanden wird. Gleichzeitig ist ein Text auf der primären Wahrnehmungsebene eine empirische Realität. Tynjanov gebraucht den Begriff des literarischen Faktums, der verschiedene Implikationen hat. Bei aller Mehrdeutigkeit lässt sich diese Feststellung auf ein zweifelsfreies Merkmal reduzieren: Bestimmte Teile des literarischen Feldes sind als Tatsachen zu begreifen. Ein literarischer Text ist eine Realie, bestimmte formale Gestaltungsmerkmale wie das Metrum oder der Reim sind empirisch fassbar. Die Autorin oder der Autor eines Buches ist eine existierende Person und bei aller Diskussion um den „Tod des Autors“ ist dieser somit auf bestimmten Ebenen unhintergehbar. Doch auch aus der Sichtweise einer Textrealität ist Literatur bereits ambivalent, denn in ihr drückt sich in der Spannung aus eigentlichem und uneigentlichem Sprechen die semantische Diversität der Sprache exzeptionell aus. Dieser Grenzbereich lässt sich durch die Theorien von Fleck und Kuhn spiegeln, denn sie stellen basal die These auf, dass eine wissenschaftliche Tatsache subjektive Implikationen hat, sinnliche Wahrnehmung und Deutung bereits ineinanderfließen können. Ein literarischer Text kann als Tatsachendokument angesehen werden. Dies wird in der Praxis besonders evident, wenn ein fiktionaler Text gerichtlich wegen als zweifelsfrei erachteter Persönlichkeitsverletzungen verboten wird. Ein Beispiel bildet hier die Diskussion um Thomas Bernhards Roman Holzfällen im Jahr 1984. Auch wenn die Figuren verschlüsselt sind, wurden die Anspielungen von Gerichten zu faktisch eindeutigen Referenzen auf reale Personen und damit zu Tatsachen erklärt.8
Tynjanov differenziert systematisch zwischen Literatur und Mathematik. Typologisch ist dies einleuchtend, die Mathematik beruht auf logisch fassbaren Sätzen und die Literatur auf Ideen. Doch die Arbeit eines Mathematikers kann auch ästhetische Komponenten implizieren, wenn etwa die Schönheit bestimmter Funktionen herausgestellt wird. Ebenso denken Literaten rational, nicht nur wenn sie eine Realität abbilden wollen, sondern auch wenn sie z. B. Texte nach mathematischen Strukturen entwickeln. Systematisch heuristisch kann man die Perspektiven trennen, aber man muss auch den Zusammenhang erkennen, Schnittmengen festlegen und somit auch beide Ebenen gemeinsam in den Kontext des Denkens allgemein stellen. Fleck und Kuhn haben diesen gemeinsamen Punkt in der Wahrnehmung von Tatsachen beschrieben und Faktoren umrissen. Fleck greift mit seinem Terminus Denkstil das Moment auf, dass sich das Denken nicht völlig in rational und irrational, bewusst und unbewusst, von außen beeinflusst und aus innerem Antrieb heraus aufteilen lässt.
Diese Fragen gewinnen vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Diskurses, der den literarischen mitprägt, eine große Bedeutung. Zunehmend spielen subjektive Wirklichkeiten eine hervorgehobene Rolle. Solche Erscheinungen gewinnen unabhängig davon, ob sie real sind, eine große Bedeutung, weil sie oftmals als Tatsachen angesehen werden.
Die Frage nach faktischer Wirklichkeit und subjektiver Wahrheit ist spätestens seit der Moderne eine der Kardinalfragen der Literaturwissenschaft, die sich besonders im Diskurs um die Literarizität autobiographischen Schreibens niederschlägt. Zunehmend wurde das Paradigma der faktischen Richtigkeit von Autobiographien angezweifelt, aber niemals wurde die Referenz vom Text zu einer Wirklichkeit als solches völlig infrage gestellt. Unabhängig von bewusster Veränderung von Tatsachen und kunstvoll intendierter literarischer Stilisierung wurde zunehmend die Frage thematisiert, wie persönliche Erlebnisse in ihrer faktischen Dimension von der Wahrnehmung und der Erinnerung bereits verklärt werden. In der privaten Lebensdeutung können sie dann symbolisch überladen werden, indem die singulären biographischen Fakten kontextualisiert und neu bewertet werden. Darin weist der literarische Diskurs eine bemerkenswerte Affinität zu Flecks Thesen zur Subjektivität einer Tatsache auf.
In der Literatur unserer Gegenwart ist die Frage nach Wirklichkeit und Wahrheit ein häufig wiederkehrendes Motiv. Indem dies in Texten selbst thematisiert wird, gewinnen diese eine autoreferentielle Dimension, da der Wirklichkeitsdiskurs der Literatur generell poetisiert wird. Z. B. spielt Iris Hanikas vielbeachteter Roman Echos Kammern aus dem Jahr 2020 in der Referenz auf den Mythos von Echo und Narziss unter anderem auf die „Echokammern“ respektive Meinungsblasen der Gegenwart an und lässt in der Fokalisierung die Wahrnehmung von Realitäten bei den beiden Protagonistinnen und eine Tatsächlichkeit in der Diegese bewusst im Unklaren. Wiederkehrend kontrastiert die adverbiale Bestimmung „in Wirklichkeit“ deren Gedanken, und lässt die eine resümieren: „Die Wirklichkeit war ihr Wahn, die Wahrheit aber, daß er ihr vollkommen bewußt war und sie darum einen Weg fand, sich aus ihm zu befreien, ihn aufzulösen.“9
Doch nicht nur auf der Ebene der Diegese bzw. ihrer Inhalte ist die Literatur als Faktum ein grundlegendes Problem der Literaturwissenschaft, auf das die zugespitzten Diskussionen der Gegenwart rekurrierbar sind. In der Tatsache, dass literarische Texte existent sind, sich jedoch einer verbindlichen Definition in der Art mathematischer Sätze entziehen, liegen die mannigfaltigen Diskurse begründet, die das Zeitgemäße und Wandelbare des Ästhetischen ausdiskutieren. Thesen von der völligen Ablösung des Texts vom Verfasser, von der Unmöglichkeit der Literaturgeschichte, von der Unvereinbarkeit von Literatur und Faktum haben in ihren Verzweigungen dazu geführt, dass eine Diskursspirale entstanden ist. In zahlreichen ‚turns‘ wurden im Wesentlichen bekannte Gegensätze immer wieder neu austariert, in griffigen Topoi wie dem „Tod des Autors“ zwar pointiert vereinfacht, aber in der Sache zunehmend ausgeweitet und in immer kompliziertere Bedeutungskontexte eingebettet.
Die Dekonstruktion der Literaturgeschichte in ihre unauflöslichen Widersprüche zwischen Ästhetik und Geschichte darf nicht ignoriert werden. Ein Text aus dem 16. Jahrhundert kann heute kaum ohne das Wissen um sein historisches Umfeld verstanden werden. Das Denken und die Ästhetik seiner Gegenwart können jedoch nicht völlig rekonstruiert bzw. erfasst werden. Die Kategorien Denkstil und Paradigma bieten heuristisch Möglichkeiten, diese Diskrepanzen relativierend zu erfassen und Darstellungs- und Interpretationsräume zu eröffnen.
Schon allein der Begriff Literatur weist eng- und weitgefasste Dimensionen auf, die sich nicht mit der faktischen Eindeutigkeit eines mathematischen Satzes begreifen lassen. Zunehmend problematisch wird dies bei den Erklärungsmodellen von Literaturgeschichtsschreibung und Gattungen, da jede Zuordnung sich einen bestimmten Literaturbegriff ableitet, der umstritten sein kann. Es gibt zwar in Regelpoetiken festgelegte Strophenformen, doch aus diesen klärt sich nicht das Wesen des Lyrischen. Zur Literaturforschung gehört der Versuch, aus anthropologischer Perspektive Formen der Literatur als naturhaft fundierte Ausdrucks- bzw. Erzählformen des Menschen zu betrachten. Dies ist einleuchtend, wenn man z. B. in Lebens- oder Erlebnisberichten bestimmte für Literatur charakteristische Formen der Stilisierung erkennt. Literatur ist sicher mehr als das geplante Verfassen von Texten mit einem Kunstanspruch. Schon die Legenden und Sagen der ersten Zivilisationen werden heute retrospektiv in ihrer kompensatorischen psychologischen und sozialen Funktion gedeutet. Diese Interpretation akzentuiert die Literatur in Dependenz zu den kollektiven Denkmustern einer Zeit. Tynjanov kritisiert die seiner Ansicht nach weitverbreitete Annahme vom substanziellen Konnex zwischen Poesie und Denken, denn „Poesie ist nicht Denken, das Denken in Bildern nicht Poesie.“10 Doch ohne Denken kann keine Poesie entstehen. Einerseits kann man Literatur nicht mithilfe dieser Formel definieren, wie Tynjanov richtig formuliert, doch kann man sie andererseits nicht von Denkstilen trennen, da aus ihnen Gattungsdefinitionen und literarische Paradigmen entstanden sind.
Jean-François Lyotard prägte in seinem Entwurf der „Postmoderne“ den Topos vom „Ende der großen Erzählungen“.11 Auch wenn dieser Gedanke vielfach dahingehend kritisiert wurde, dass lediglich die alten großen Erzählungen durch neue ersetzt wurden,12 ist es meines Erachtens angesichts des heutigen Diskurses und seiner Verzweigungen plausibel, analog von einem ‚Ende der großen Theorien‘ zu sprechen.13 Ein Problem stellt die wachsende Menge an Erklärungsmodellen und literarischen Produkten dar, die mit verursacht, dass Menschen zunehmend unterschiedliche Texte lesen und immer mehr soziale Echoräume entstehen. Daraus entwickelt sich ein Dilemma: Zu Recht fragt man sich, ob ein literarischer Kanon gerechtfertigt ist und wer die Legitimation hat, ihn zu erstellen. Andererseits kann es ohne Kanon keinen Austausch, keine sinnvolle Auseinandersetzung über die Frage nach Literatur geben, da eine gemeinsame Lektüre die Basis der Diskussion ist. Zunehmende literarische Produktion und wissenschaftliche Publikation haben möglicherweise dazu geführt, dass Diskurse vereinfacht werden. Die Diskussionen sind weniger fundiert, werden oberflächlicher und zugespitzter. Das Defizit an gemeinsamen Erfahrungen führt dazu, dass Meinungen sich stärker an einem vorgefassten Paradigma orientieren. Je weniger man die Möglichkeit hat, sich von den Dingen selber ein Urteil zu bilden, desto eher ist man in einem vorgegebenen Denkraster verhaftet. Wenn Lyotard in gewissem Sinne zu Recht vom Ende der ‚großen‘ Erzählungen spricht, der Geschichtsschreibung der Feldherren und Staatsmänner, so hat sich jedoch erwiesen, dass die pluralistische Informationsgesellschaft nicht die erhoffte Diversität gebracht hat, sondern nur eine Vielfalt neuer Erzählungen, die kategorisch vertreten werden und untereinander unvereinbar sind. Doch bietet die Literatur die Möglichkeit, diese Situation zu spiegeln, mit ihren Mitteln darzustellen und im Gedankenbild zu poetisieren oder in der Fiktion zu simulieren.
Zahlreiche kontingente Faktoren spielen bei der Entstehung und Rezeption von Texten eine Rolle, doch liegt ihnen immer eine zumindest informelle Einstellung von dem zugrunde, was man unter Literatur versteht. Das schöpferische Individuum steht nie isoliert von seiner Gesellschaft. Der äußere Einfluss auf das Textschaffen kann bewusst wie unbewusst erfolgen. Desgleichen verhält es sich bei Leserinnen und Lesern, ihre ästhetische Wahrnehmung des Texts ist eine Koinzidenz individuell-psychologischer wie sozial bedingter Faktoren.
Die Grundgedanken der russischen Formalisten lassen sich mit denen von Fleck und Kuhn verbinden. Die Formalisten haben die Wandlungen der Literatur in der Form sehr eingehend beschrieben. Tynjanov illustriert in dem angesprochenen Aufsatz grundlegend die Konstanz und Verschiebung einer Gattungsnorm. Dabei legt er dezidiert dar, dass der Wandel nicht stetig, sondern eher in einer „gebrochenen Linie“ abläuft. Ein strukturelles Merkmal eines literarischen Textes ist für ihn ein „literarisches Faktum“. Literarische Fakten sind variabel, sie wandeln sich, verschwinden oder tauchen neu auf. Idealtypisch kann Literatur auf der synchronen Ebene als die Gesamtheit der literarischen Fakten gefasst werden. Doch diese ändern sich und damit wandelt sich der Gesamtbegriff von Literatur. Meine Studie greift als heuristisches Modell den von Tynjanov gebrauchten Begriff der „gebrochenen Linie“ des Verlaufs solcher Wandlungsprozesse auf und versucht an Beispielen aus mehreren Zeitphasen jeweils konkret solche Linien auf mehreren Ebenen zu beschreiben:
Die Person des Autors ist kein statisches System; es ist dynamisch wie die literarische Epoche, mit der und in der er sich bewegt. Sie gleicht nicht einem in sich geschlossenen Raum, der dieses und jenes enthält, sondern eher einer gebrochenen Linie, deren Brüche und Richtungen die literarische Epoche bestimmt [sic!].14
Ein literarisches Werk ist Teil einer Linie, einerseits beruht es auf Dagewesenem, andererseits ist es etwas Neues und wirkt weiter. Das Ziel dieser Arbeit ist es, diesen Prozess der literarischen Produktion und Rezeption aus mehreren Perspektiven zu erfassen.
Die Begriffe Evolution und Revolution tauchen im Diskurs um den literarischen Wandel häufig auf und bedürfen einer terminologischen Klärung. Sie unterliegen einer ausgeprägten Polysemantik, was häufig zu Missverständnissen bei ihrer konkreten Anwendung führt, wie die Rezeption von Kuhns wissenschaftlichen Revolutionen prägnant belegt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass beide Begriffe mit einer starken Metaphorik und Symbolik behaftet sind. Vor allem im Terminus Revolution schwingen seine Ästhetisierung und Emotionalisierung mit. Er ist bis heute im kulturellen Bereich zumeist positiv besetzt im Sinne einer Erneuerung, der Ablösung des Alten und Überkommenen. Friedrich Schlegel sprach von der „ästhetischen Revolution“, in Johann Gottfried Herders Schriften taucht der Begriff häufig auf als konstituierendes Element eines historischen Wandels. Leo Trotzki formulierte in seinem programmatischen Buch Literatur und Revolution (1923) die Funktion der Literatur im totalitären Entwurf der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft.
Die Verwendung dieser beiden Begriffe spielt in meinen Ausführungen eine wesentliche Rolle, denn Tynjanov und die russischen Formalisten machen die „literarische Evolution“ zu einer essenziellen Kategorie, Thomas Kuhn prononciert die „wissenschaftliche Revolution“ bereits im Titel seiner basalen Schrift. Kuhn hebt mit dem Begriff die Abgrenzung von der Vorstellung hervor, dass die Geschichte der Wissenschaft eine stetige Akkumulation von Wissen darstellt. Wenn man Evolution als einen langsamen stetigen Prozess im Gegensatz zu einem Umsturz versteht, grenzt sich der Begriff wesenhaft von dem der Revolution ab. Tynjanov gebraucht beide Begriffe nicht kontradiktorisch. Auch wenn die Theorie der literarischen Evolution in anderen Schriften weitergeführt wurde, fungiert der Terminus in dem hier angeführten basalen Aufsatz zur sachlichen Charakterisierung des temporären Entwicklungsablaufs. ‚Revolution‘ drückt in dem Beitrag eine Art und Weise innerhalb dieses Prozesses aus. Deutlich wird dies, wenn Tynjanow schreibt, dass „manch alternde[r] Zeitgenosse […] mehr als eine literarische Revolution überlebt hat“.15 Meine Studie fragt nach Strukturen literarischer Evolution im sachlichen Sinn. Die Literaturhistorie legt den Eindruck nahe, dass es sowohl Tendenzen des Umsturzes wie die zahlreichen Avantgarden, aber auch auf Bewahrung bei gleichzeitiger Weiterentwicklung beruhende Prinzipien gab. Es gab intendierte programmatische Entwicklungen in der Literatur wie auch unbewusste, an zeitbedingte Faktoren gekoppelte Reaktionen im literarischen Feld. In diesem Spannungsfeld, einem Kontinuum aus Zufall und Notwendigkeit lassen sich typische, wiederkehrende Strukturen und Linien erkennen, die strukturelle Elemente literarischer Entwicklung aufzeigen.
Es stellt sich die Frage, ob man von einem Fortschritt in der Literatur sprechen kann und wie man diesen definiert. In dieser Hinsicht können die wissenschafts- bzw. denktheoretischen Ansätze von Fleck und Kuhn Perspektiven eröffnen, da sie auf die Frage nach Literatur und Wissen projizierbar sind. Gesellschaftlicher kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt wird seit dem Ende des Mittelalters mit Bildung und damit auch Lesefähigkeit assoziiert. Welche Implikationen bringt das für die Literatur mit sich? Stellt Literatur eine Wiederkehr des Gleichen dar oder entwickelt sie sich stetig weiter? Hierin zeigt sich eine signifikante Mehrdeutigkeit. Einerseits ergibt sich Literatur immer aus dem, was schon geschrieben ist. Autorinnen und Autoren sind durch ihre Lektüren so beeinflusst, dass sie eine Vorbildung haben, aus der eine Intertextualität resultiert, die mittelbar auf allem, was je an Literatur geschrieben wurde, beruhen muss. Weiterhin gibt es gewisse Schreibstile oder formale Regeln, die konstant sind und sich von Zeit zu Zeit nur in ihrer Akzentuierung ändern. Und schließlich existiert eine Vorstellung des Neuen, der Innovation, die mit Literatur verbunden ist. Wie definiert man dies, ist es eine subjektive Größe, kann es nichts wirklich Neues geben, ist das Neue eine Kombination und Kompilation von schon Dagewesenem in einer noch nicht vorgekommenen Zusammenstellung? Die Frage nach dem Neuen betrifft auch die Frage nach der literarischen Wertung, so konnten sich nach Auflösung starrer Regeln und Unterteilungen wie der Hoch- und der Trivialliteratur neue Formen herausbilden. Die ästhetische wie die historische Komponente spielen hier eine Rolle. Z. B. die sogenannte Epigonenliteratur des 19. Jahrhunderts wurde zu ihrer Zeit als Vollendung einer Form gelobt, heute wird sie als Kopie und Rückschritt kritisiert.
Ich möchte mich all diesen Fragen in ausgewählten Analysen von charakteristischen Texten bestimmter historischer Phasen annähern. Es ist der Versuch, eine Linie zu ziehen, die sich mit den von Kuhn und Fleck geschilderten Prozessen des Denkstilwandels und Paradigmenwechsels assoziieren lässt. Texte sollen mit Epochen in Verbindung gebracht werden. Sie sollen jedoch nicht auf gängige Epochenbegriffe fixiert werden. Es soll ausdifferenziert werden, wie sie einerseits in Denkstilen und Paradigmen ihrer Gegenwart verankert sind, und wie sie andererseits etwas Individuelles oder Neues aufweisen. Diese Prozesse sind von vielen zufälligen Faktoren mitbestimmt und verlaufen zu unterschiedlich, um sinnvoll in eine strukturelle Gesetzmäßigkeit gefasst zu werden. Dennoch finden sich gewisse Konstanten und signifikante Kontingenzrahmen, die sich beschreiben lassen. In jeder der Analysen wird versucht, ein Zusammenwirken von individuellen Faktoren und strukturellen Bedingungen von Literatur in einer Zeit zu erfassen.
Meine Abhandlung stellt exemplarisch Untersuchungen von Autoren, Texten, Epochen- bzw. Gattungsparadigmen, Denkrichtungen und ihrer Zusammenhänge vor, die einen Zeitraum vom frühen 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart umfassen. Dabei sollen auf mehreren Ebenen konstituierende Elemente einer Evolution in der Literatur typologisch entwickelt werden. Lineare Strukturen solcher Wandlungsprozesse können sich in einer literarischen Gemeinschaft öffentlich im Diskurs vollziehen, aber auch in einzelnen Texten und ihrer Entstehungsgeschichte sowie Rezeption lassen sich Signale erkennen, die sie markieren. Die Beobachtungen werden in Referenz zu den Grundgedanken von Fleck und Kuhn gesetzt, indem zu ihnen signifikant affine Momente und Entwicklungslinien im Hinblick auf Genese, Inhalt oder Rezeption exemplarisch dargelegt werden.
Die erste Textuntersuchung widmet sich Theobald Hock, einem weitgehend unbekannten Schriftsteller des Frühbarocks. In seiner Lieder- und Gedichtsammlung Schönes Blumenfeld (1601) zeigen sich in literarischer Ausführung wesentliche Momente eines markanten kollektiven Denkstilwandels bzw. Paradigmenwechsels. In den Texten fließen Kritik am Überkommenen und Forderungen nach Erneuerung mit der Adaption überlieferter Muster wie des Petrarkismus und Gedanken des Humanismus zusammen. Zugleich stellt Hock mit seinen Texten ein poetisches Prinzip in deutscher Sprache vor. Er positioniert sich explizit für die deutsche Sprache als Literatursprache und entwickelt durch die Ausführung bereits vor Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) mögliche formale literarische Paradigmen.
Das darauf folgende Kapitel widmet sich Johann Gottfried Herder. Sein Leben fällt in eine Zeit manifester politischer, sozialer und kultureller Wandlungsprozesse. Herder hat diese Umbrüche selbst wahrgenommen und thematisiert. Der Entwurf seiner Geschichtsphilosophie weist in der Formulierung von Strukturen des historischen Wandels einige Affinitäten zu den Ideen von Thomas Kuhn auf. Indem er die räumliche und zeitliche Bedingtheit von Literatur unter diesen Prämissen postuliert, bettet er sie in den allgemeinen Geschichtsprozess ein. Herder hat sich ebenso intensiv mit der Wissenschaftsgeschichte beschäftigt. Die Frage nach der Subjektivität wissenschaftlicher Tatsachen taucht bei ihm häufiger auf, denn er stellt für seine Zeit heraus, dass es zahlreiche Phänomene gebe, die noch nicht naturwissenschaftlich erklärt werden können und daher transzendenten Deutungsmustern unterliegen. Für Herders diesbezügliche Gedanken ist seine Rezeption des Philosophen Baruch de Spinoza signifikant. Daran lässt sich Herders Denken im Spannungsfeld zwischen Altem und Neuen, Gefühl und Vernunft, Theologie und Naturwissenschaft, Idealismus und Empirismus vermessen.
Karl Marx und die sich auf seine Ideen berufenden unter dem Sammelbegriff „Marxismus“ firmierenden sehr disparaten Denkstile haben trotz aller politischen Umbrüche und Wandel bis heute Präsenz im literarischen Diskurs. Die Betrachtung skizziert ausgehend von Karl Marx’ Literaturverständnis Wandlungsprozesse vor dem Hintergrund der sozialistischen und kommunistischen Auslegungen seiner Programme. Der totalitäre Gesellschaftsentwurf muss ein Verständnis von Literatur implizieren und ordnet ihr eine Funktion im Zuge der teleologischen Vorstellung von der Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft zu. Normative Paradigmensysteme wie der sozialistische Realismus zeigen auf, wie sich die Auslegung von Marx in poetologischen Formeln niederschlägt. Dabei sind jedoch sehr unterschiedliche literarische Formen entstanden. Aktuelle literarische Strömungen wie der Postmarxismus berufen sich zwar auf Marx, doch hinterfragen sie statische gesellschaftliche und literarische Normen. Das Kapitel stellt die literarische Evolution unter der Prämisse des Marxismus als Wandel eines Denkstils und fundamentaler Paradigmenwechsel dar, in denen dennoch ein konstanter Kern und eine bestimmte traditionelle Überlieferung enthalten sind. Die im Sinne Tynjanovs „gebrochenen Linien“ dieser Entwicklungen zeigen auf, wie diffizil solche Prozesse ablaufen.
Das literarische Verständnis der Studentenbewegung von 1968 steht in Korrespondenz zu Karl Marx, da sie in dem diffusen Feld des unter ‚links‘ subsumierten politischen Spektrums verortet wird. Das Kapitel greift das in diesem Kontext bedeutsame Phänomen auf, dass Klassiker jeweils nach den literarischen Paradigmen ihrer Zeit neu gedeutet werden. Die markanten Zeugnisse der Rezeption und Adaption von Heinrich von Kleist und Georg Büchner stellen dies exemplarisch dar. Vor allem ist es bemerkenswert, dass bei den Literaten der 1968er selbst ein Paradigmenwechsel stattfand, der sich auch in Projektionen auf Klassiker vollzog.
Der Terminus „Postmoderne“ beschreibt keine Denkrichtung als Entität, sondern ist vielmehr als Sammelbegriff für eine Kohärenz aus teilweise sehr unterschiedlichen Ideen und Strömungen zu verstehen. Auch wenn seine Definition umstritten und diffus ist, assoziiert er tiefgehende Wandlungsprozesse in der Literatur wie etwa die Auflösung bestimmter Gattungsnormen und die Etablierung von Elementen der Unterhaltungsliteratur in Texten mit literarischem Anspruch. Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1980) gilt hier als stilbildend und paradigmatisch. Ausgehend von diesem Text werden einige Entwicklungslinien bis in die heutige Gegenwart skizziert.
Die letzte Untersuchung betrachtet literarische Diskurse unserer Gegenwart im Hinblick auf literarische Evolution. Drei Themenbereiche werden aufgegriffen. Seit Jahren spielt der Coming-of-Age-Roman in der deutschen Literatur eine maßgebliche Rolle. Anhand von Wolfgang Herrndorfs Romanerfolg Tschick (2010) soll aufgezeigt werden, wie ein Gattungsparadigma und Romanvorbilder einfließen und zugleich etwas Neues entsteht, das wiederum weiterwirkt. Einige Betrachtungen zum Thema „Fotografie und Literatur“ beleuchten den Bereich der Intermedialität und strukturelle Entwicklungen im Zusammenspiel von Literatur und anderen Medien. Die Diskussion um „Identität“ ist derzeit dominierend im Literaturbetrieb. Am Beispiel zweier Romane der Gegenwart (Reinhard Kaiser-Mühlecker Enteignung und Raphaela Edelbauer Das flüssige Land), die den Heimatbegriff akzentuieren, wird untersucht, wie ein mit Stereotypen behaftetes Gattungsparadigma neu definiert und bewertet wird, aber einige Grundmerkmale dennoch erhalten bleiben.
Die unter dem Begriff des literarischen Wandels oder Paradigmenwechsels zusammengefassten Aspekte und Beziehungen sind Teil eines übergeordneten allgemeinen Diskurses über Denken, Wissen und Erkenntnis. Die Frage nach dem Werden, Wandel und Vergehen von Ideen schwingt zwar in allen wirkungsreichen philosophischen und soziologischen Lehren und Theorien mit, doch Untersuchungen, die auf dieses Problem in seinem Wesen allgemein und nicht in einem speziellen Fachkontext Bezug nehmen, sind relativ selten. Der Grund dafür liegt in dem genuin transdisziplinären Charakter der Materie, die in ihren anthropologischen Implikationen grundlegend Wissen und Erkenntnis und damit alle Wissenschaften betrifft, seien es empirische oder verstehende Disziplinen. Die wissenschaftstheoretischen Ansätze von Fleck und Kuhn, die beide von Haus aus Naturwissenschaftler waren, haben solche Phänomene ins Zentrum ihrer Ausführungen gestellt und bieten sich als methodische Grundlage für Untersuchungsmodelle literarischer Fragen an. Ludwik Fleck versucht, kollektiv gültige Ideen bzw. Denksysteme zu erfassen, die das Handeln der Mitglieder einer Gemeinschaft maßgeblich mitbestimmen. Thomas Kuhns Thesen postulieren einen durch revolutionäre Umwälzungen bestimmten Entwicklungsprozess in der Wissenschaft, der das in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung verbreitete Narrativ des linearen Fortschritts durch Wissensakkumulation kritisch hinterfragt.
Fleck entwickelt und systematisiert grundlegend die wissenssoziologischen Kategorien des Denkstils und des Denkkollektivs. Kuhns Arbeiten bilden eine Weiterführung von Flecks Theoremen, indem sie dessen Ideen und Kategorien aufgreifen, begrifflich modifizieren, um daraus die zu stehenden Wendungen gewordenen Begriffe vom „Paradigmenwechsel“ und der „wissenschaftlichen Revolution“ abzuleiten.
Kuhn fokussiert auf die Frage nach der Etablierung und Ablösung solcher Denkmuster, er nennt sie Paradigmen. Fleck diskutiert deren Wandel nicht in solch exponierter und systematisierter Weise. In dieser Frage deutet sich eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Ansätzen an. Während Fleck einen im Ganzen eher evolutionären schrittweisen Wandel durch „Denkstilmutationen“ postuliert,1 sieht Kuhn strukturell Revolutionen vergleichbare Prozesse am Wirken.
1935 veröffentlichte der Immunologe Ludwik Fleck seine Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Das Werk hat seitdem eine wechselvolle Rezeption nach sich gezogen, die zum Teil bedingt ist durch Flecks Biographie.1 Fleck wurde 1896 im galizischen Lemberg (damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine) geboren und entstammte einer jüdisch-polnischen Familie. Er studierte Medizin und spezialisierte sich auf Serologie und Bakteriologie. Nachdem Lemberg 1941 in die Hände der Deutschen geriet, musste Fleck im jüdischen Getto der Stadt leben, wo er seine Forschungen fortsetzte und an einem Impfstoff gegen Typhus arbeitete. Die SS wurde auf ihn aufmerksam, verhaftete und deportierte ihn und seine engere Familie. Er musste in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald an der Herstellung eines Typhusimpfstoffs arbeiten, konnte jedoch die Arbeit geschickt sabotieren. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrte er zunächst nach Polen zurück und lehrte als Mediziner an mehreren Universitäten, 1956 wanderte er, gesundheitlich bereits stark angeschlagen, nach Israel aus, wo er 1961 verstarb.
Flecks Theorie basiert auf den Erfahrungen seiner medizinischen Arbeit und stellt die theoretische Reflexion seiner eigenen Forschungen dar. In Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache fasst er seine Beobachtungen und Schlüsse zusammen und entwickelt ein komplexes Modell seiner Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Neben dieser Monographie von 1935 hat Fleck bereits vorher einige seiner Thesen in zahlreichen kleineren Schriften dargelegt, verteidigt, konkretisiert und auf andere Felder übertragen sowie auf kritische Reaktionen geantwortet. Die Herausgebenden der Neuausgaben seiner Werke heben hervor, dass Flecks innovative Entwürfe zu Lebzeiten des Autors keine große Rezeption erfahren haben. Dies sei zu einem signifikanten Teil auf äußere Umstände zurückzuführen: Flecks Wirkungsstätte Lemberg lag fernab von den Zentren des Wissenschaftsbetriebs, die politischen Verhältnisse lähmten den wissenschaftlichen Diskurs und Fleck wurde zum Opfer des NS-Terrors. Seit den 1980er Jahren bis heute erlebt die Rezeption Flecks eine zunehmende Renaissance im Wissenschaftsbetrieb. Dies ist eine unmittelbare Folge der großen Wirkung der Schriften Thomas Kuhns, der Fleck explizit im Vorwort seines Buches Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen als maßgebliche Inspiration anführt.2
Die relativ geringe Wirkung Flecks ist jedoch nicht allein durch äußere und zeitimmanente Widrigkeiten begründet. Die Thesen sind schwer zugänglich, vor allem das Hauptwerk stellt Leserinnen und Leser durch seine Terminologie vor Probleme. Dies ist meiner Meinung nach dadurch bedingt, dass Fleck in der Gesamtdarstellung in Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, die seine Beobachtungen in eine zusammenhängende Struktur fassen will, bisweilen Unübersichtlichkeit erzeugt. In der auf das Gesamtkonzept ausgerichteten Perspektive kommt häufig die Fokussierung und präzise Erläuterung eines einzelnen Gesichtspunkts zu kurz. Viele Aspekte lassen sich anhand einiger kleinerer Texte Flecks schlüssiger erläutern, da manches Moment, in diesen für sich isoliert, konkreter und verständlicher zum Ausdruck kommt. Die folgende Darstellung von Flecks Theorie wird dies im Kontext darlegen und in Einzelaspekten einige seiner Aufsätze und Vorträge heranziehen. Seine Untersuchungen sind zwar auf die Naturwissenschaften bezogen, doch inkludiert sein Wissenschaftsbegriff in der Abkehr vom reinen Empirismus mitredend Geisteswissenschaften. Doch da beide Wissenschaftstypen andere Denkstile pflegen, entsteht das Paradox, dass sich Flecks Theorie in manchen inneren Widersprüchen auf einer anderen Begriffsebene zugleich bestätigt.
Flecks schon im Titel der Monographie mitschwingender Grundgedanke besagt, überspitzt ausgedrückt, dass eine naturwissenschaftliche Tatsache keine Objektivität besitzt, sondern eine einer kollektiven Denkart entspringende intersubjektive Konstruktion darstellt. Er berührt damit grundsätzliche Fragen der Philosophie im Hinblick auf die Existenz von Wirklichkeit und die Möglichkeit ihrer Konstitution durch sinnliche Wahrnehmung. In seinem bereits 1929 veröffentlichten Aufsatz Zur Krise der Wirklichkeit formuliert er seine Zweifel am empiristisch begründeten Wirklichkeitsbegriff. Mit dieser Grundannahme stellte sich Fleck gegen die seinerzeit einflussreichen Auffassungen des vor allem durch den Wiener Kreis repräsentierten logischen Empirismus. Flecks Thesen sind vor allem in ihrer praktischen Dimension innovativ, weil sie die im Wissenschaftsbetrieb allgemein akzeptierte systematische Trennung zwischen empirischen Naturwissenschaften und geisteswissenschaftlicher Metaphysik kritisch hinterfragen und auflösen, indem sie prononcieren, dass ersteren eine phänomenologische Komponente inhärent ist.
Es ist offensichtlich, dass Flecks Prämissen grundsätzliche polarisierende Standpunkte des philosophischen Diskurses berühren wie die Wirklichkeitsfrage oder den Nominalismusstreit. Er vertritt ontologische Positionen, die anderen Denkrichtungen diametral gegenüberstehen, was auf einer Metaebene seinen Ausführungen jedoch Plausibilität verleiht. Unabhängig davon, ob man seine Grundprämissen teilt, hat sein Ansatz unter mehreren Aspekten einen hohen epistemischen Wert, wenn man ihn operativ als Modell oder Analogie begreift und heuristisch anwendet.
Fleck als Naturwissenschaftler nähert sich dem Gegenstand aus der Perspektive eines Empirikers und Praktikers, der seine eigenen Methoden hinterfragt. Dies formuliert er bereits 1927 in einem Vortrag Über einige spezifische Merkmale des ärztlichen Denkens:
Ich bitte Sie, sich nur bewußt zu machen, wie gesondert, wie anders der Naturwissenschaftler im Vergleich mit dem Geisteswissenschaftler denkt, selbst wenn der Gegenstand im Grundsatz derselbe ist: wie anders, in einem anderen Stil, ohne Möglichkeit, sie unmittelbar zu verbinden, sieht z. B. die Psychologie aus, wenn man sie entweder als Natur- oder als philosophische Wissenschaft betrachtet.3
Für Fleck sind die empirische Wahrnehmung und die Herausbildung von Wissen immer mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen des Umfelds, in dem dieser Erkenntnisprozess stattfindet, verbunden und dadurch mitbestimmt. Er legt dar, dass „unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen“.4 Kritik erfuhr er dafür vor allem von Vertretern des Neopositivismus, die ihm vorhielten, dass er die Existenz einer Wirklichkeit anzweifelt. Doch ist Flecks Theorie niemals derart intendiert, dass sie durch Intersubjektivität bestätigte Fakten anzweifelt, vielmehr relativiert er den Begriff der Tatsache im Hinblick auf subjektive Implikationen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren können. So lässt sich aus seiner Theorie unabhängig von der Akzeptanz gewisser Annahmen ein heuristisches Modell bilden, dass zwischen Empirismus und Konstruktivismus moderiert und die objektiven und subjektiven Aspekte einer Tatsache typologisch erfasst und Analogien bilden kann.
Auf der Basis seiner Auffassungen zur Konstitution von Wirklichkeit entwirft er in der Monographie ein wissenschaftstheoretisches und -historisches System. Schlüsselbegriffe und Ausgangspunkte seines Theoriemodells sind zwei Kategorien: Denkstil und Denkkollektiv. Flecks Grundprämisse ist, dass Denken nie als rein individuell zu begreifen ist, jegliches Denken des Menschen ist von seiner sozialen Umgebung geprägt. Ein Denkstil wäre konkret, vereinfacht gesagt, ein in gewissen Eigenschaften gemeinsames, kollektives Denken. Dessen potentielle Inhalte bilden ein sehr inhomogenes Feld, das z. B. Wertvorstellungen, soziale Vorgaben, politische Ansichten, Weltanschauungen, ästhetische Muster enthalten und kombinieren kann. Bezieht man diese Termini auf die Literatur, ist schon die Vorstellung, was Literatur überhaupt ist, Teil eines Denkstils. Wenn beispielsweise eine Autorin einen Roman schreibt, schwingt eine kollektive Vorstellung von dem, was ein Roman ist, mit. Fleck bezieht seine Ausführungen auf einen naturwissenschaftlichen Gegenstand, die Geschichte und Erforschung der Syphilis. Er definiert seine Begrifflichkeiten nicht a priori, sondern entwickelt sie jeweils aus dem von ihm gewählten Beispiel.
Die Definition der beiden Kategorien stellt zugleich eines der Hauptprobleme in seiner Theorie dar, weil schon der Ausgangsbegriff Denkstil verschiedene Assoziationen erweckt und auf unterschiedlichen Ebenen begriffen werden kann: Sind die eingeführten Kategorien als Wesenheiten oder Entitäten zu verstehen?
Flecks Vorgehensweise ist dadurch gekennzeichnet, dass er diese Frage zunächst ungeklärt lässt und seine Ausführungen einen Erkenntnisprozess zur Formulierung des Begriffs abbilden. Er entwickelt in seinem Buch erst relativ spät eine systematische Definition, doch führt er den Terminus Denkstil grob umrissen am Anfang ein. Dies entspricht seiner Argumentationslinie, dass er seine Thesen an Beispielen entwickelt und die Definitionen seine Schlüsse sind. Dadurch entsteht eine gewisse Begriffsunklarheit, die jedoch bei differenzierter und relativierender Betrachtung aufgelöst werden kann. Fleck definiert Denkstil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“.5 Diese Beschreibung gibt dem Begriff eine passive Dimension, indem sie das Denken auf den Aspekt des Wahrnehmens richtet. Erst unter dieser Prämisse ist eine Übertragung der Theorie auf den Bereich der Literatur sinnvoll. Literarische Denkstile sind nicht an objektive Wirklichkeiten gekoppelt, ihre Akzeptanz ist subjektiv. Dennoch ist die Erkenntnis einer wissenschaftlichen Tatsache psychologisch mit der Anerkennung eines literarischen Paradigmas vergleichbar. Bestimmte Werke oder Autoren werden kollektiv in einer solchen Weise ohne Widerspruch als Literatur anerkannt, dass dies auf der Wahrnehmungsebene mit der Akzeptanz einer unumstößlichen Tatsache vergleichbar ist. Ein Leser eines Buches nimmt dieses mit einer bestimmten sozial bedingten Vorstellung von Literatur wahr, diese beeinflusst unterbewusst sein ästhetisches Empfinden. Seine individuellen Gedanken und Erwartungen bilden sich als Konglomerat unterschiedlichster Faktoren. Persönliche Wertvorstellungen orientieren sich häufig an vorgegebenen Rastern, haben ihren Ursprung nicht allein in der individuellen Sphäre.
Manche Grundannahme von Flecks Theorie bedarf weiterer Differenzierung, vor allem die Annahme gemeinschaftlichen Denkens. Auf der empirischen, physiologischen Ebene ist Denken ausschließlich als ein individueller Akt beschreibbar. Kollektives Denken hingegen ist eine abstrakte Größe. Menschliches Denken in gemeinsamen Eigenschaften wie Denkmustern oder Ideen ist nur abstrahierend typologisch beschreibbar.
Flecks Arbeit lässt sich als eine Theorie der Theorie verstehen, die das ‚Bild im Bild‘ (‚mise en abyme‘) evoziert, weil sie zum Gegenstand ihrer selbst wird. Sie ist autoreferentiell, denn aus der Logik der Ausführungen ergibt sich, dass die Beschreibung des Denkstils selbst von einem Denkstil beeinflusst sein muss. Flecks Theorie ist geprägt von einem allgemein gültigen naturwissenschaftlichen Forschungsverständnis, dessen Grundethos seit der Aufklärung auf Empirismus und Objektivität basiert. Seine eigene Theorie impliziert die Relativität, die er der Wissenschaft grundsätzlich unterstellt. Fleck selbst hat sich konsequenterweise gegen Hypostasierung und Substanzialisierung seiner Kategorien positioniert. Denkstil und Denkkollektiv müssen als Abstraktion bzw. Idealtyp und nicht als Entität bzw. Realtyp begriffen werden. Im Verlauf des Texts ist Flecks Terminologie bisweilen jedoch unpräzise, was die eindeutige Trennung von Entitäten und Wesenheiten betrifft. Dies erschwert das Verständnis seiner Gedanken. Am Beispiel der zentralen Kategorie des Denkkollektivs lässt sich dies veranschaulichen. In dem Kapitel Einführende Bemerkungen über das Denkkollektiv heißt es:
Definieren wir ‚Denkkollektiv‘ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.6
Genau gelesen lässt sich diese Aussage Flecks als vorläufig gemeinte Definition erkennen. Doch erweckt sie den Eindruck, dass ein Denkkollektiv im empirischen Sinn als Personengruppe gefasst werden kann.
Das Denkkollektiv beschreibt Fleck in der späteren Definition als „[d]en gemeinschaftlichen Träger des Denkstils“7. Er verweist nun ausdrücklich darauf, dass es sich beim Denkkollektiv, auch wenn es als Entität der sozialen Bedingtheit des Denkens gesehen wird, nicht um eine fest umreißbare Personengruppe oder Gesellschaftsklasse handele. „Es ist sozusagen mehr funktioneller als substanzieller Begriff, dem Kraftfeldbegriffe der Physik z. B. vergleichbar.“8 Diese Kategorie erinnert an die soziale Beziehung in Max Webers Terminologie des sozialen Handelns. Der Denkstil lässt sich als soziales Denken klassifizieren, er bestimmt den Zusammenhang individuellen Denkens bzw. eines individuellen Denkakts mit dem Denken anderer. Das Denkkollektiv ist die soziale Beziehung, es ist die Abstraktion, die gemeinsame Elemente dieser individuellen Denkakte bzw. -zustände typologisch fasst. Die von Fleck eingeführte Kategorie des Denkstils impliziert lediglich die Annahme einer typologischen Beschreibbarkeit des Denkens einer oder mehrerer Personen und nicht die Bildung einer sozialen Gruppe.
Flecks Ausführungen mögen auf den ersten Blick nicht für eine geisteswissenschaftlich orientierte Untersuchung geeignet sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Sein Ansatz ermöglicht die Reduktion auf wesentliche Elemente wissenschaftlicher Arbeit, die alle Disziplinen tangieren. Die von ihm entwickelten Kategorien und die daraus ableitbaren Analogien bilden ein heuristisches Modell für eine systematische Betrachtung kollektiven Denkens.
Ein Naturwissenschaftler unterliegt psychischen oder ethischen Dispositionen, wie auch ein Geisteswissenschaftler in seiner Arbeit empirische Verfahren nicht völlig ignorieren darf. Der von Fleck ausgewählte konkrete Gegenstand, die Syphilis, ist exemplarisch, da diese sexuell übertragbare Infektionskrankheit einerseits ein Naturphänomen darstellt, andererseits als Sinnbild mythisch verklärt wird und in der Literatur eine tropische Rolle einnimmt, z. B. in Thomas Manns Dr. Faustus. Fleck beobachtet und führt sehr hellsichtig aus, wie diese beiden Deutungssphären sich gegenseitig beeinflussen. Der Mediziner, der sich mit Syphilis beschäftigt, kann von den Mythen entsprechend beeinflusst sein, seine Arbeit ist davon mitbestimmt und er verrichtet diese daher mit einer anderen Motivation, als wenn er sich z. B. der Grippe widmen würde. Auch wenn er dies nicht expliziert, hat Fleck die Syphilis als Exempel für seine Darlegungen wohl auch unter dieser Prämisse gesehen. Aus seinen Schilderungen wird ersichtlich, wie Wertvorstellungen und Legenden das Bild von dieser Krankheit und damit auch die Entstehung von Tatsachen beeinflusst haben.
Fleck pointiert seine Ausführungen, indem er einer „Tatsache“ nicht unbeschränkte Faktizität verleiht, sondern auch sie als denkstilgebunden klassifiziert. Dass Forschungstätigkeit und -ziel zahlreichen individualpsychologisch und sozial bedingten Faktoren unterliegen, ist nachvollziehbar, doch die Realität von Tatsachen als solches in Frage zu stellen, ist weniger evident. Aber auch dieses Moment lässt sich erklären, wenn man die eigentliche Tatsache von der angenommenen Tatsache unterscheidet. Fleck zweifelt das Faktische nicht an, sein Modell akzentuiert weniger die Tatsache als solches, sondern stellt ihre Wahrnehmung, den Weg ihrer Ermittlung und ihre subjektive Akzeptanz in den Mittelpunkt. Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob sie real ist. Fleck zeigt, dass es auch angenommene Tatsachen gibt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, aber als solche gelten. Dieser Aspekt ist in Bereichen wie der Literatur schlüssiger, gibt es doch hier Vorgaben, wie Literatur zu sein hat, manche Norm wird einer Tatsache gleich wahrgenommen. In unserem literarischen Denkstil gilt Goethe als der Klassiker schlechthin, selbst Kritiker seiner Person oder seiner Schriften akzeptieren dieses als Faktum. Im literarischen Feld werden solche ‚Tatsachen‘ gewissermaßen durch Denkkollektive geschaffen.
Denkkollektive lassen sich nicht exakt umreißen und beschreiben. Es gibt übergeordnete Denkstile; Untergruppen, Personen können sozial an mehreren und in unterschiedlicher Ausprägung partizipieren, die Beschreibung und Formulierung erfasst oft divergente Ebenen. Am Beispiel der Übertragung auf literarische Phänomene lässt sich dies illustrieren, dabei zeigt sich, wie hilfreich die Kategorien Flecks für die Deutung und Einordnung literarischer Texte sein können.
Eine Tatsache als solches ist noch keine Tatsache, erst in der Wahrnehmung des Menschen wird sie dazu. Es mag viele Tatsachen geben, die noch nicht bekannt sind, aber sie werden nicht als solche wahrgenommen. Solche Tatsachen spielen in Flecks Ausführungen keine Rolle, denn er entwickelt keine Lehre der Tatsache an sich, sondern eine der Bewusstwerdung von Tatsachen, und stellt fest, dass ihrer Wahrnehmung und Ermittlung Auswahlprozesse zugrunde liegen und dass es Tatsachen geben kann, die zwar als solche wahrgenommen werden, aber eventuell z. B. durch neuere Forschungen auch wieder revidiert werden können. Fleck stellt naturwissenschaftliche Tatsachen nicht in Frage, er weist lediglich auf ihre Relativität hin.
Die Kritik an Flecks Theorie ist meines Erachtens zu einem großen Teil in einem Missverständnis seiner Auffassungen begründet, z. T. auch in einer unklaren und bisweilen mehrdeutigen Verwendung bestimmter Kernbegriffe zu sehen. Fleck verwendet in der Studie Begriffe, bevor er sie systematisch definiert, zugleich bleiben einige Begriffe völlig unerklärt. Da die basalen Kategorien bereits abstrakt sind, erscheinen die von ihnen abgeleiteten Kategorien in besonderem Maße problematisch. So bleibt beispielsweise die im Grunde schlüssige Unterscheidung in aktive und passive Koppelungen unscharf. Unter passiven Koppelungen (an einen Denkstil) sind die allgemein anerkannten Tatsachen zu verstehen, während aktive Koppelungen neue Gedanken bezeichnen, die sich aber in irgendeiner Weise an dem Denkstil orientieren. Doch diese Zuordnung ist bereits zu konkret, grundsätzlich kann man von einer aktiven und einer passiven Komponente eines Denkstils sprechen, wie sie sich in der Literatur im Verhältnis Autor-Leser zeigt. Dass es hier auch Zwischenformen gibt und dialektische Prozesse, zeigt sich in der Existenz von Literaturwissenschaft, Literaturkritik und vielem mehr. Die von Fleck gezogene Grenze zwischen esoterischem (innerem) und exoterischem (äußerem) Kreis eines Denkkollektivs ist die abstrakte Typisierung einer abstrakten Kategorie.
Diese Schwierigkeiten sind vermutlich auch der Grund, warum die Herausgeber der Neuausgabe dem eigentlichen Text Flecks eine umfangreiche Einleitung vorangestellt haben, die neben der Biographie eine Zusammenfassung der Theorie umfasst. Die relativ spät im Text erscheinende systematische Definition der Schlüsselbegriffe, die viele Missverständnisse klärt, begründet sich aber auch in der Schwierigkeit der Materie. Flecks Theorie ist auf unterschiedlichen Denk- und Begriffsebenen wirksam, die jeweils unterschiedliche Qualitäten haben. In dem Text wird nicht explizit dargelegt, dass „Tatsache“ zwei grundsätzlich verschiedene Komponenten beschreibt. Auf der einen Ebene haben wir die eigentliche Tatsache, auf der anderen das, was als Tatsache angesehen wird. Fleck verweist zu Recht darauf, dass Tatsache ein relativer Begriff ist. Vertreter des Positivismus und Empirismus haben seine Ausführungen dahingehend kritisiert, dass er die Existenz naturwissenschaftlicher Tatsachen prinzipiell abstreite. Dies tut Fleck allerdings nicht, in seiner Terminologie ist die Tatsache vielmehr als kollektive subjektive Vorstellung zu verstehen, die in einem sozialen Kontext entsteht. Die Anwendung von Flecks Theorie führt aber nicht in eine Beliebigkeit, die grundsätzlich die Existenz einer Tatsache anzweifelt und einen radikalen Konstruktivismus vertritt. Vielmehr ist sein Verweis für die wissenschaftliche Arbeit essentiell, wenn man das eigentlich Faktische von der Gültigkeit einer Tatsache typologisch differenziert. Er weist zu Recht daraufhin, dass nicht alle als Tatsachen geltenden Sachverhalte auch wirklich solche sind, denn eine Tatsache entsteht auch in der Wahrnehmung. Die Existenz Gottes wurde von gewissen Denkkollektiven als unbestreitbare Tatsache angenommen. Für den einzelnen Teilhabenden an diesem Denkkollektiv hat dieser Sachverhalt die gleiche Gültigkeit wie ein naturwissenschaftlich bewiesenes Faktum oder eine Formel, da er im Rahmen der sozialen Intersubjektivität und menschlichen Wahrnehmung als real gilt. Die große erkenntnisfördernde Bedeutung von Flecks Theorie liegt darin, dass sie stichhaltig darauf verweist, dass die Grenze zwischen Glauben und Fakten fließend ist und subjektiven Faktoren unterliegt.
Dass sie nicht auf allen Bezugsebenen systematisierbar sind, heißt nicht, dass Flecks Ansätze falsch sind. Er zeigt an Beispielen, die unterschiedliche Aspekte betreffen, wie subjektive und sozial bedingte Momente die naturwissenschaftliche Erkenntnis beeinflussen. Er verweist darauf, dass schon die Auswahl des Forschungsgegenstandes subjektiv ist. Diese Erkenntnis hat nichts mit der eigentlichen Tatsache zu tun, sondern beschreibt den Weg, wie man zu deren Erkenntnis gelangt. Man muss in diesem Kontext bedenken, dass Tatsachen existieren, die noch nicht ermittelt wurden, weil sie nicht wahrgenommen wurden bzw. kognitiv nicht wahrnehmbar sind. Auf einer anderen Ebene, aber ebenso erhellend, ist Flecks Darstellung, wie die Wissenschaftsgeschichte Legenden schreibt: Aus einem langwierigen Forschungsakt wird eine einmalige Idee, eine im Team und Zusammenwirken entstandene Erkenntnis wird in einer Entdeckerfigur personifiziert. In diesem narrativ-verdichtenden Moment der Wissenschaftsgeschichtsschreibung liegt eine Affinität zur Literatur.
Thomas Samuel Kuhn wurde 1922 in Cincinnati/Ohio geboren und studierte an der Harvard-Universität Physik, entwickelte aber auch großes Interesse an wissenschaftstheoretischen Fragen und belegte Kurse in Philosophie und Literatur. Er war seit 1956 Professor für Wissenschaftsgeschichte an mehreren renommierten Universitäten der USA. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 1991 wurde er emeritiert, 1996 ist er verstorben.
Seine Thesen gehören zu den einflussreichen wissenschaftstheoretischen Ansätzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies belegt die große Menge an Literatur, die sich mit seiner Theorie auseinandersetzt und deren Schlüsselbegriffe zu stehenden Wendungen geworden sind, die über den eigentlichen Wissenschaftskreis hinaus gebraucht werden. Ihre schlagwortartige Verwendung im populären Diskurs steht im Gegensatz zu den differenten und komplizierten Implikationen von Kuhns Thesen. Sein wissenschaftshistorischer Ansatz besagt, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht linear verlaufe. Das Modell basiert auf einer Kritik an der Vorstellung, dass sich Wissen kumulativ vermehre und so eine stetige Erweiterung von Erkenntnis stattfinde. Kuhn postuliert dagegen ein zyklisches Prinzip. Eine Wissenschaftsgemeinschaft einer Zeit unterliege in ihrem Denken und ihrer Forschungsarbeit einem Leitbild, das bestimmte Prinzipien, Grundannahmen, Methoden und Denkmuster vorgebe. Dieses Kontinuum bezeichnet er mit dem Begriff Paradigma. Der Terminus stammt von dem griechischen Wort parádeigma ab, das ein Bedeutungsspektrum von einem singulären Ding oder einer Idee als Muster bis hin zu einer Weltanschauung impliziert. In der Neuzeit geht die Verwendung des Begriffs auf Georg Christoph Lichtenberg zurück, er fand in seiner Folge mit differenten Bedeutungen in zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen Verwendung. Die unter diesem dominierenden Leitbild praktizierte Forschung nennt Kuhn Normalwissenschaft, sie wird in Lehrbüchern und Universitäten dem Nachwuchs vermittelt. Die Aufgaben und Probleme werden durch das Paradigma vorgegeben und begrenzt. Kuhn räumt jedoch ein, dass diese Paradigmen nicht unbeschränkte Gültigkeit haben. Er formuliert dies so, dass ihnen ein „Element der Willkür“ innewohne.1 Ein herrschendes Paradigma kann in eine existentielle Krise geraten, wenn die Normalwissenschaft nicht mehr funktioniere, z. B. auftauchende Probleme mit deren Mitteln nicht mehr gelöst werden können oder angenommene Prämissen widerlegt werden. Die Ablösung eines Paradigmas analogisiert Kuhn mit dem Begriff der Revolution. Erweist sich das vorherrschende Paradigma als falsch, wird es in einem umsturzartigen Vorgang abgelöst. Kuhn impliziert in diesem Kontext irrationale Elemente wie Beharrungstendenzen bei den Vertretern des alten Paradigmas.2 In seinem wissenssoziologisch geprägten Denken gibt es keine relevante Wissenschaft ohne Paradigma, so verschwindet das alte erst, wenn sich ein neues etabliert hat. Als idealtypische Beispiele für solche Revolutionen nennt Kuhn fundamental von vorherigen Grundannahmen abweichende bahnbrechende Forschungsergebnisse wie die von Nikolaus Kopernikus, Isaac Newton, Antoine Laurent de Lavoisier oder Albert Einstein. Dabei darf man jedoch die eigentliche Entdeckung nicht mit der Etablierung des von ihnen abgeleiteten Paradigmas gleichsetzen. In diesem Kontext ist Kuhns Kritik am Verständnis einer kumulativen Erweiterung von Wissen evident, mit der Ablösung eines Paradigmas werden bislang gültige Grundannahmen verworfen, in dem sie völlig durch neue ersetzt und nicht um sie ergänzt werden. Dies führt zu einem weiteren zentralen Begriff von Kuhns Terminologie. Er spricht von einer Inkommensurabilität zwischen konkurrierenden Paradigmen, d. h. gewisse Grundinhalte sind nicht miteinander vereinbar, oft haben sie unterschiedliche Verständnisse von Begriffen. Diese Annahme mag im Hinblick auf die von Kuhn angeführten Musterbeispiele plausibel erscheinen: Das ptolemäische geozentrische Weltbild ist mit Kopernikus’ heliozentrischem Weltbild nicht vereinbar. Doch in vielen Einzelfällen und in einer detaillierten Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Verzweigungen und Verwicklungen erscheint es problematisch, Kuhns Modell kategorische Gültigkeit zuzusprechen.
Kuhns Thesen wurden heftig diskutiert und kritisiert, er hat sie zeit seines Lebens immer wieder erklärt, differenziert und modifiziert.3 Diese Studie greift seine Gedanken auf und versucht zu hinterfragen, ob die von ihm skizzierten Kategorien und Prozesse sich als Hypothesen auf die Literatur und ihre Geschichte übertragen lassen. Es geht hier ausdrücklich nicht darum, Kuhns Thesen als richtig oder falsch zu beurteilen, sondern aus seinen Kategorien ein systematisches Untersuchungsmodell zu entwickeln, das die Frage erörtert, inwieweit diese Prozesse auf das literarische Feld anwendbar sind, sei es textinterpretatorisch, rezeptionsästhetisch, literaturgeschichtlich bzw. literatursoziologisch.
Die Fokussierung von Kuhns Ansatz auf die Literatur eröffnet aus mehreren Perspektiven Untersuchungshorizonte. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in den Geisteswissenschaften von zahlreichen „turns“ bzw. „Wenden“ geprägt. In diese Zeit fällt das vielzitierte „Ende der Moderne“ und die Etablierung des Begriffs der Postmoderne, der als Ordnungskategorie widersprüchlich scheint, denn er versucht gattungstypologisch eine zeitgemäße Stil- und Formenvielfalt zu fassen. In dieser „neuen Unübersichtlichkeit“4 nimmt die Frage nach Ordnung und Kontingenz einen zentralen Raum ein. Kollektive Denkmuster vom Streben nach Sinn, Funktionalität und Ordnung prägten im Wesentlichen den Diskurs der Moderne seit der Jahrhundertwende. Nach dem Chaos der sozialen und politischen Experimente und zweier Kriege stand die Frage im Raum, ob sich das Streben nach Ordnung in einer negativen Dialektik entfaltet hat. Im philosophischen Diskurs stellte sich das Problem, ob die vom Strukturalisten Ferdinand de Saussure entwickelte Darstellung der Sprache als schlüssiges System von Syntax und Semantik dem Forschungsgegenstand adäquat ist, denn die Rhetorik wurde im Herrschaftsdiskurs von totalitären Strömungen in einer Weise genutzt, die unter der Prämisse einer systematischen linguistischen Trennung von Form und Bedeutung kaum erfassbar ist. Die Debatten um die Literatur sind nachhaltig geprägt von dem Poststrukturalismus nahestehenden Denkern wie Michel Foucault und Jacques Derrida, die die philosophischen Ordnungsmodelle und das Wesen der Sprache kritisch hinterfragen. Kuhns Theorie ist seit ihrem Erscheinen Anfang der 1960er Jahre integraler Bestandteil dieses Theoriediskurses und allein ihre generelle Wirkmächtigkeit im interdisziplinären Diskurs über das Denken lässt die Problemstellung dieser Studie plausibel erscheinen, um nach möglichen Zusammenhängen im kollektiven Denken zu fragen. All diese hier nur knapp umrissenen Prozesse, Bedeutungen und Begriffe spielen im Diskurs um seine Theorie eine wesentliche Rolle.
Der skizzierte Kontext des aktuellen Theoriediskurses lässt sich zu Flecks Begriffen in Beziehung setzen. Da die von Kuhn umrissene Bedeutungsdimension des Paradigmas typologisch vorherrschende Denkmuster impliziert, die sich in ihrer Summe als „Denkstil“ begreifen lassen, liegt es nahe, dass Kuhns Modell sich in vielen Punkten mit Flecks Ausführungen parallelisieren lässt. Flecks Thesen sind strukturalistisch nicht so weit systematisiert wie Kuhns Modell, doch seine Grundannahmen bilden gewissermaßen ein „Paradigma“ für Kuhns Theorie. Eine Reduktion Kuhn’scher Theoreme auf Flecks zentrale Thesen ist daher heuristisch fruchtbar und erleichtert das Verständnis von Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ im diskursgeschichtlichen Kontext.
Im Vorwort seiner Monographie schreibt Kuhn, dass Flecks „fast unbekannte Monographie […] viele meiner eigenen Gedanken vorwegnimmt.“1 Diese Erwähnung Flecks in Kuhns Vorwort wird in der Forschung häufiger angeführt und die Herausgebenden der Neuausgaben der Texte Flecks verweisen auf den originären Beitrag des ‚vergessenen‘ Fleck zu den verbreiteten Thesen Kuhns. In der Abhandlung selbst geht Kuhn jedoch an keiner Stelle weiter auf Fleck ein, so dass er keinen konkreten Bezug zwischen dessen Werk und seiner eigenen Studie herausstellt. In einem Vorwort zur englischen Übersetzung von Flecks Monographie 1976 skizziert er sein Verhältnis zu diesem ausführlicher und begründet auch, warum er in seiner Monographie nicht auf ihn eingegangen ist:
Reading the citation, I immediately recognized that a book with that title was likely to speak to my own concerns. Acquaintance with Fleck’s text soon confirmed that intuition and inaugurated my never-very-systematic campaign to introduce a wider audience to it. One of those to whom I showed it was James Bryant Conant, then President of Harvard but shortly to become the U.S. High Commissioner for Germany. A few years later he reported with glee the reaction of a German associate to his mention of the title: “How can such a book be? A fact is a fact. It has neither genesis nor development.” That paradox was, of course, what had drawn me to the book.
I have more than once been asked what I took from Fleck and can only respond that I am almost totally uncertain. Surely I was reassured by the existence of his book, a nontrivial contribution because in 1950 and for some years thereafter I knew of no one else who saw in the history of science what I was myself finding there. Very probably also, acquaintance with Fleck’s text helped me to realize that the problems which concerned me had a fundamentally sociological dimension. That, in any case, is the connection in which I cited his book in my Structure of Scientific Revolutions. But I am not sure that I took anything much more concrete from Fleck’s work, though I obviously may and undoubtedly should have.2
Gemeinsam ist Fleck wie Kuhn die basale Auffassung, dass wissenschaftliches Denken und Arbeiten nicht unabhängig ist von vorgeprägten Denkmustern, sondern sogar maßgeblich von ihnen beeinflusst wird. Im Unterschied zu Fleck fällt auf, dass Kuhn in der Monographie nicht die eigentliche anthropologische Frage thematisiert, ob es überhaupt möglich ist, eine objektive Wirklichkeit wahrzunehmen. Dass er sich dessen bewusst ist, dass Tatsachen insofern relativ sind, als sie auf Wahrnehmung beruhen, bringt er in der oben zitierten Passage des Vorworts zur englischen Ausgabe von Flecks Monographie jedoch deutlich zum Ausdruck.