2,49 €
Dieses Herzklopfen, dieses Kribbeln im Bauch! Vergeblich versucht Olivia, professionelle Distanz gegenüber Ethan Hunter zu wahren. Doch obwohl der attraktive Schönheitschirurg schon einmal ihre Liebe verriet, schmilzt sie unter seinem verlangenden Blick erneut dahin …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 196
IMPRESSUM
Denn das Herz kennt die Wahrheit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2014 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „200 Harley Street: The Tortured Hero“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 81 - 2015 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Michaela Rabe
Umschlagsmotive: GettyImages/GeorgeRudy
Veröffentlicht im ePub Format in 10/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733719579
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de
Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.
Ethan Hunter brauchte einen Drink.
Und zwar dringend.
Nach fünf Stunden hoch konzentrierter Arbeit am OP-Tisch taten ihm höllisch die Beine weh, und Schmerzmittel kamen für ihn nicht infrage.
„Wir gehen ins Drake’s, Ethan“, sagte jemand mit unverkennbar schottischem Akzent hinter ihm. „Willst du mit?“
Im Umkleideraum herrschte plötzlich Stille, als Ethan sich zu dem Anästhesisten Jock umdrehte. Die anderen vier Männer, die sich bis eben entspannt unterhalten hatten, waren verstummt. Anscheinend war keiner von ihnen besonders scharf darauf, dass er mitkam.
Auch Jock wirkte nicht begeistert.
Ethan konnte es ihnen nicht verdenken. Je länger die Operation gedauert hatte, umso mehr hatten ihn seine Beine gequält. Seine Laune war entsprechend. Als er versehentlich ein Instrument fallen ließ, verlor er die Beherrschung. Wütend trat er gegen die Klemme, sodass sie über den Boden schlitterte und geräuschvoll gegen die metallene Stoßleiste an der gegenüberliegenden Wand prallte. Nicht gerade ein rühmlicher Moment seines Chirurgenalltags.
Er verabscheute Kollegen, die sich wie Primadonnen aufführten, und er konnte sich denken, welchen Eindruck er beim Team hinterlassen hatte. Ein Grund mehr, die pflichtschuldige Einladung abzulehnen.
Außerdem trank er lieber allein.
„Nein danke, Jock, ich muss zurück in die Klinik.“
Was auch stimmte. Auf Leos Schreibtisch lag eine Akte zu einem wichtigen Fall, in den Ethan sich einarbeiten musste. Und in der schweren Kristallkaraffe auf dem Walnussholztischchen wartete ein vorzüglicher alter Whisky auf ihn.
Er blickte in die Runde. „Danke an alle, das war gute Arbeit.“
Allgemeines Gemurmel, man wünschte ihm Gute Nacht, und dann war Ethan allein. Erleichtert sank er auf die Bank, streckte die Beine aus, versuchte, die verkrampften Muskeln zu lockern. Er schloss die Augen und saß einfach nur da.
Aber er konnte hier nicht ewig bleiben. Die Arbeit rief. Widerstrebend öffnete er die Augen und griff nach seiner Kleidung.
Das schwarze Taxi hielt vor dem beeindruckenden Gebäude aus viktorianischer Zeit. Wie so viele andere Privatkliniken und Arztpraxen in der berühmten Harley Street wirkte die Hunter Clinic so exklusiv und elegant, wie man es bei dieser Adresse erwartete.
Ethans Vater, der bekannte plastische Chirurg James Hunter, hatte sie vor über drei Jahrzehnten gegründet. Heute war sie in der ganzen Welt nicht nur für ihre karitative Arbeit an zivilen und militärischen Opfern aus Krisengebieten bekannt, sondern auch für ihre schillernden prominenten Klienten.
Was sie im Wesentlichen Ethans Bruder Leo verdankte.
Vor allem nach dem Skandal, den ihr Vater vor zehn Jahren losgetreten hatte. Als der dann plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte Leo die Hunter Clinic vor dem Ruin gerettet.
Ethan verdrängte die Gedanken. Er konnte kaum noch aufrecht stehen, da waren die Erinnerungen an seinen Vater und an die schwierige Beziehung zu seinem Bruder unwillkommen wie nur etwas.
Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus, was ihm nur mit äußerster Willenskraft gelang, und humpelte in die Klinik. Mit schmerzverzerrter Miene suchte er Halt an den Handläufen aus poliertem Edelholz, die an den Wänden der Flure montiert waren. Seine lädierten Oberschenkel schienen ihm jeden Moment den Dienst zu versagen. Seine Muskeln waren gefordert, und unter der Anstrengung brach ihm der Schweiß aus.
Jetzt bereute Ethan, dass er seine Krankengymnastik vernachlässigt und nicht auf Lizzie gehört hatte. Lizzie, die Frau seines Bruders, war früher seine Krankenschwester gewesen. Wie oft hatte sie ihn aufgefordert, eine Gehstütze zu benutzen. Aber er hasste den verdammten Stock und die unvermeidlichen Fragen, die jeder mitfühlend ihm glaubte stellen zu müssen. Außerdem fand er keine Zeit für Physiotherapie. Sein Terminplan war auch so schon voll genug.
Reue half ihm jedoch nicht weiter. Das Einzige, was ihm Linderung verschaffen konnte, wartete hinter Leos Tür. Ethan war noch nie so froh gewesen, das Büro seines Bruders zu betreten. Früher gehörte es seinem Vater. Wie oft hatte der ihn dorthin zitiert, schäumend vor Wut wegen nichtiger Anlässe. Auch das ein Ausdruck der alkoholbedingten Depression, in die James Hunter immer mehr verfallen war.
Zum Glück waren diese Zeiten längst vorbei, aber die Karaffe mit dem teuren schottischen Malt stand dort noch heute – auch wenn sie selten angerührt wurde.
Die letzten zehn Schritte waren eine Tortur, die er nur ertrug, weil die Belohnung nahe war. Ethan goss zwei Finger breit Whisky ins Glas und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Rauchig und samtweich wärmte er ihm die Kehle. Gleich ein zweites Glas hinterher, und die Schmerzen ließen ein bisschen nach.
Ethan schenkte sich einen dritten Drink ein, schnappte sich die Karaffe und ließ sich in den bequemen Ledersessel hinter Leos Schreibtisch sinken. Aufstöhnend schloss er die Augen und legte den Kopf zurück, die Flasche und das Glas gegen seine Brust gepresst. Sanft wippte er mit dem Sessel vor und zurück und genoss das wohltuende Brennen, das sich langsam in ihm ausbreitete, zusammen mit der Erleichterung, endlich seine Beine entlasten zu können.
Er war nicht sicher, wie lange er dort so saß, mit Muskeln, die sich wie Pudding anfühlten, jetzt, da sie völlig entspannt waren.
Paradiesisch!
Aber er war nicht nur wegen des Whiskys hier. Ethan gab sich mental einen Ruck. Er konnte es nicht länger vor sich herschieben.
Auf Leos Schreibtisch lag die Patientenakte eines Mädchens, das Ethans Hilfe brauchte.
Der Fall war kompliziert, in mehr als einer Hinsicht. Amas Zustand verlangte mehrere Eingriffe, jeder einzelne schwierig. Was nicht das Problem war. Ethan liebte Herausforderungen.
Wären da nicht gewisse Begleitumstände gewesen. Seine Vergangenheit drohte ihn einzuholen und damit die Erinnerung an Taten, auf die er nicht gerade stolz war. Daran, was er in einem Anfall jugendlicher Selbstsucht getan hatte, nur um seinen Bruder zu treffen.
Olivia Fairchild.
Ihre Hilfsorganisation Fair Go hatte Ama an die Hunter Clinic vermittelt und die Reise des Mädchens samt Mutter und Dolmetscherin von Afrika nach London organisiert.
Olivia würde auch hier sein. Schon morgen.
Olivia, die ihn geliebt hatte. Die er zutiefst verletzte, als er sie dazu benutzte, Leo zu zeigen, dass er sie nicht haben konnte.
Der Ausdruck in ihren Augen ging ihm bis heute nicht aus dem Sinn. Ethan schauderte es, wenn er nur daran dachte – an den fürchterlichen Streit zwischen Leo und ihm und daran, dass Olivia unfreiwillig jedes einzelne hässliche Wort mit angehört hatte. Wie er Leo an den Kopf warf, dass er nur an der sexy Ärztin interessiert war, weil Leo sie wollte.
Es war noch nicht einmal die Wahrheit gewesen. Anfangs vielleicht, doch nicht zu dem Zeitpunkt. Ethan genoss ihre Nähe, zumal er in ihren Armen vieles vergessen konnte: die düsteren Schatten seiner Teenagerjahre, den Kummer nach dem frühen Tod seiner Mutter, das schwer belastete Verhältnis zu seinem Vater. All das verlor an Gewicht, wenn er bei Olivia war.
Trotzdem hatte er sie verraten, sein Verhalten war unverzeihlich. Gestört, ja, so hatte sie die Beziehung zu seinem Bruder beschrieben, bevor Olivia abgereist war, zurück nach Australien. Sie hatte recht gehabt, und die größte Schuld daran trug er.
Damals war er unbeschreiblich wütend gewesen. Auf seine Mutter, die den Skandal mit ihren amourösen Abenteuern ins Rollen gebracht und sich davongemacht hatte. Auf seinen schwachen Vater, der nach ihrem Tod sein Heil im Alkohol suchte, und auf seinen Bruder Leo, der den Beschützer spielte.
Leo schützte James vor sich selbst, statt ihm deutlich vor Augen zu führen, was für ein erbärmlicher Trinker er geworden war. Er schützte Ethan vor den wechselnden Gemütszuständen des Vaters, die von tiefer Depression bis hin zu manischer Wut reichten. Ethan hätte lieber die Konfrontation gesucht und seinem Ärger und seiner Frustration freien Lauf gelassen.
Er wand sich innerlich bei dem Gedanken an jene Zeit. Was für ein Mistkerl war er doch gewesen! Hatte sich genommen, was er wollte, ohne auf Olivias Gefühle Rücksicht zu nehmen. Liebe? Da konnte er nur lachen. Er genoss nur die Genugtuung, die Frau zu haben, die sein Bruder wollte.
Viel später, in einem von Krieg zerrissenen Land, erfuhr er, was Liebe wirklich bedeutete und wie grausam es war, wenn sie einem genommen wurde. Oft genug hatte er sich gefragt, ob das seine Strafe dafür war, wie er Olivia behandelt hatte.
Ethan trank einen großen Schluck, während er die Erinnerungen an Aaliyah zurückdrängte. Diese Schuldgefühle hätte er heute Abend nicht auch noch ertragen.
Es sei denn, er wollte die Whiskykaraffe bis auf den Grund leeren.
Olivia … Ob sie ihm verziehen hatte? Hatte er das überhaupt verdient?
Er hoffte es sehr.
Vielleicht konnten sie wenigstens die Vergangenheit hinter sich lassen. Es wäre wichtig, nicht nur, weil er sie morgen wiedersah, sondern weil sie zusammenarbeiten würden. Olivia hatte sich auf pädiatrische plastische Chirurgie spezialisiert und von Leo das Okay erhalten, nicht nur bei Amas Operationen zu assistieren, sondern auch bei anderen Fällen in der Hunter Clinic.
Die humanitäre Arbeit der Klinik war Ethans Baby, und er arbeitete mit Hilfsorganisationen aus aller Welt zusammen. Seine OP-Listen waren lang, viele Patienten Kinder. Es gab also genug Gelegenheiten für Olivia, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Ethan hatte nichts dagegen, ein zweites Paar Hände – erfahrene Hände – zur Verfügung zu haben. Im Gegenteil, auf diese Weise könnte er so viel mehr erreichen.
Er nippte an seinem Whisky, während Fragen über Fragen in seinem Kopf kreisten. Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Fragen, die ihn verrückt machten.
Die Karaffe lockte.
Aber er war schon einmal seinem Vater gefährlich nahe gekommen und versucht gewesen, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Es war keine Lösung.
Seufzend stellte er Glas und Flasche weg, packte die schwere Walnussholzplatte von Leos Schreibtisch und zog sich näher heran, möglichst ohne die Beine zu benutzen. Und da lag sie, Amas Patientenakte.
Ethan schob alle Gedanken an Olivia beiseite, schlug die Mappe auf und begann zu lesen.
Olivia Fairchild war spät dran. Sie bezahlte den Taxifahrer und sah zum x-ten Mal auf ihre Armbanduhr. Kühle Oktoberluft umfing sie, so ungewohnt nach der trockenen Hitze Afrikas. Mit gemischten Gefühlen wandte sich Olivia zu dem vertrauten Gebäude in der Harley Street um.
Trotz der knappen Zeit nahm sie sich einen Moment, um sich zu sammeln. Auf der Fahrt hierher war der Kloß in ihrem Hals immer dicker geworden. Olivia räusperte sich, blinzelte die Tränen weg.
Ama und ihre Mutter bei der Aufnahme im Lighthouse Children’s Hospital zu begleiten, hatte sie stärker mitgenommen als erwartet. Olivia war aufgewühlt statt distanziert professionell, was sie sich gewünscht hätte, jetzt, da sie ihrer Vergangenheit ins Gesicht sehen musste.
Aber das Schicksal der kleinen Ama ging ihr zu Herzen. So war es vom ersten Tag an gewesen. Mit neun Jahren hatte das Mädchen sein Leben lang in einem winzigen Dorf südlich der Sahara verbracht, weggesperrt, nur umgeben von der Familie. Es war nicht zur Schule gegangen und hatte nicht mit anderen Kindern gespielt.
Alles wegen ihrer entstellten Gesichtszüge.
London musste für sie beängstigend sein.
Olivia hatte in den letzten sechs Wochen alles getan, um ihr Vertrauen zu erlangen. Doch als die Mutter aus dem Zimmer ging, um mit der Dolmetscherin im Büro die Aufnahmeformalitäten zu erledigen, konnte Olivia die Kleine nicht trösten. Ama weinte herzzerreißend, bis ihre Mutter zurückkam.
Und wie sie sich an Olivia geklammert hatte! Ihr Herzchen flatterte wie ein gefangener Vogel, während die Tränen ihr über das Gesicht kullerten.
Es erinnerte Olivia an jenen Tag, an dem sie Ama und ihre Mutter gefunden hatte. Auf der Straße, beide klagend und weinend, während zwei Männer hitzig diskutierten und versuchten, Mutter und Tochter voneinander zu trennen.
Ein vorbeifahrender Wagen hupte und holte Olivia damit in die Gegenwart zurück. Sie holte tief Luft, wappnete sich.
Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die Stufen hinaufging und die schweren Türen aufstieß. Um diese Zeit wirkte die Klinik still und verlassen, und Olivia blieb kurz stehen. Alles sah hier aus wie früher – exklusiv, luxuriös –, schien vertraut und wiederum doch nicht.
Oder hatte sie sich verändert? Weil sie nicht mehr die naive, unbedarfte Olivia war, die ihr Herz den Hunter-Brüdern anvertraut hatte, nur um erleben zu müssen, dass sie beides, Vertrauen und Herz, bitter enttäuschten?
Sie war älter und klüger geworden.
Stärker.
Die Räume waren beheizt, Olivia öffnete die Verschlüsse ihres Dufflecoats. Langsam ging sie über den glänzenden Marmorfußboden zu Leos Büro. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein, als sie durch diese Flure geeilt war, um Ethan zu sehen.
Ethan.
Ihr Herz geriet aus dem Takt.
Nein, heute Abend wollte sie nicht an ihn denken. Sie war nicht wegen Ethan hier, sondern um Leo zu treffen.
Das Wiedersehen mit Ethan war erst morgen. Und früh genug!
Vor Leos Tür blieb sie stehen, klopfte und war erstaunt, dass die Tür sanft aufschwang. Dämmerlicht herrschte im Zimmer, nur die Leselampe auf dem Schreibtisch brannte. Der Mann, der konzentriert in einer Patientenakte las, sah aus wie Leo, und Olivia lächelte.
„Leo“, rief sie leise.
Ethan hatte das Klopfen nicht gehört und blickte auf, als der Name seines Bruders aus Olivias Mund kam. Selbst nach zehn Jahren beschwor ihre Stimme schlagartig herauf, wie sich dieser Mund auf seinem angefühlt hatte.
Volle, weiche Lippen, ein sinnlicher Kussmund.
Den er vermisst hatte.
Eine ungewohnte Reaktion für einen Mann, der sich seit letztem Jahr innerlich tot fühlte. Ethan war nicht sicher, ob sie ihm gefiel.
Was zum Teufel machte Olivia hier? Sollte ihre Maschine nicht erst morgen früh landen?
„Hallo, Olivia“, sagte er und beobachtete, wie ihre großen schokoladenbraunen Augen noch größer wurden.
Allein aus Höflichkeit hätte er aufstehen müssen, doch seine Beine fühlten sich an wie gekochte Nudeln. Aber Olivia wirkte wie vom Donner gerührt. Wahrscheinlich merkte sie nicht einmal, dass seine Manieren zu wünschen übrig ließen.
Olivia hatte das Gefühl, als würde dem Raum plötzlich jeder Sauerstoff entzogen. „Oh …“
Es war Ethan. Nicht Leo. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen.
„Es tut mir leid, ich habe mich verspätet, aber …“ Nervös sah sie auf ihre Uhr. „Ich war hier mit Leo verabredet.“
Ethan war nicht sicher gewesen, wie es sein würde, wenn sie sich gegenüberstanden. Sie hatten zwei Mal miteinander telefoniert, um über die Patientin zu sprechen. Beide Male sachlich und professionell. Vielleicht hatte er deshalb erwartet, dass die alten Wunden sich geschlossen hatten.
Olivias erschrockenem Blick nach zu urteilen, war das nicht der Fall.
Ihre ersten Worte waren auch nicht gerade warmherzig gewesen. Und das Lächeln, das sie ihm noch geschenkt hatte, als sie ihn irrtümlich für Leo gehalten hatte, war schlagartig verschwunden. Seltsamerweise versetzte es ihm einen Stich.
Wachsam, fast misstrauisch musterte sie ihn. Als wären sie niemals ein Liebespaar gewesen, sondern Fremde, die sich zum ersten Mal begegneten, Es reizte ihn, sie an sich zu ziehen, diesen süßen Mund wieder zu küssen. Nur damit sie sich daran erinnerte, wie heiß sie aufeinander gewesen waren.
Doch dazu hätte er aufstehen müssen, was seine Beine im Moment verweigerten.
„Er ist zu Hause“, sagte er knapp, ärgerlich auf sich selbst, weil er solchen Gedanken nachhing.
„Ach so …“ Olivia verstand das nicht. Sie hatte Leo kurz nach der Landung angerufen und sich mit ihm verabredet. Ratlos holte sie ihr Handy aus der Tasche – und hatte des Rätsels Lösung. Zwei verpasste Anrufe und eine SMS, alles von Leo.
Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen. Bring Ethan auf den neuesten Stand; wir reden morgen.
„Ihm ist etwas dazwischengekommen.“ Sie schaute vom Display auf, zu Ethan hinüber.
Ein wenig erfreulicher Gedanke beschlich ihn. Während er im OP gewesen war, hatte Leo ihm eine Nachricht geschickt, er möge sich doch heute noch Amas Patientenakte vornehmen. Hatte Leo im Hintergrund die Fäden gezogen, damit Olivia und er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen allein waren? Um ihnen die Möglichkeit zu geben, die Luft zu klären?
Ethan hatte noch nie ein so gutes Verhältnis zu seinem Bruder gehabt wie jetzt. Dennoch missfiel es ihm, so manipuliert zu werden.
„Klar doch“, antwortete er.
Olivia schob ihr Smartphone wieder in die Tasche. „Er meint, ich soll mit dir die neuesten Fakten besprechen.“
„Kein Problem.“ Wenn sie schon einmal da war, warum nicht die Zeit nutzen? „Komm rein, setz dich.“ Ethan deutete mit dem Kopf auf einen der Besuchersessel.
Sie war noch genauso schlank wie damals, trug Jeans, die ihre langen Beine betonten, und unter dem offenen dunkelblauen Mantel einen roten Rollkragenpullover.
Olivia war sich Ethans Blick bewusst, als sie auf den Schreibtisch zuging und Platz nahm. Ihr wurde warm, als sie daran dachte, wie er sie damals immer angesehen hatte: intensiv, voller Verlangen.
Bevor er ihr dann das Herz in Stücke gerissen hatte.
Sie ignorierte die verräterischen Reaktionen ihres Körpers, froh über den dicken Pulli, der ihre harten Brustspitzen verbarg. Entscheidend war, dass sie sich einzig und allein auf ihre gemeinsame Patientin konzentrierten. Sobald Ama die notwendige Behandlung bekommen hatte, wollte Olivia schleunigst wieder aus Ethans Nähe verschwinden.
Ihre Blicke trafen sich. Nicht dass sie in seinen Augen etwas gelesen hätte. Ethan wirkte beherrscht, abwartend. Dann griff er zu der Karaffe, die auf dem Schreibtisch stand, und schenkte sich einen Whisky ein. Fragend hob er das Glas, ob sie auch etwas wollte. Olivia schüttelte den Kopf. Sie wunderte sich. Es war ein ungewohntes Bild: Ethan mit einem Drink in der Hand. Schließlich wusste sie, wie sehr er seinen Vater für seine Schwäche verachtet hatte.
„Du hast dich verändert“, hörte sie sich sagen.
Damit meinte sie nicht, dass er trank. Ethans Augen waren tiefbraun, genau wie ihre, aber sie hatten faszinierende goldene Punkte, die manchmal wie Feuer glühten. Wenn er wütend war, wie damals auf seine Familie. Aber auch bei der Arbeit, wenn ihn eine Patientengeschichte besonders berührte, oder im Bett …
Dieser Glanz fehlte. Es kam ihr vor, als wäre dieses besondere Licht erloschen.
Was war passiert? Ethan war immer noch ein gut aussehender Mann, aber sein Gesicht wirkte hager, die feinen Falten um Augen und Mund tiefer. Außerdem müsste er sich dringend rasieren. In den stoppeligen Dreitagebart mischten sich zu viele graue Härchen für einen Mann, der gerade fünfunddreißig war. Litt er unter posttraumatischen Belastungsstörungen? Nach allem, was sie über seinen letzten Einsatz gelesen hatte, musste Ethan durch die Hölle gegangen sein.
„Du nicht.“
„Oh doch“, widersprach sie. Die vergangenen Jahre hatten Spuren hinterlassen, und selbst wenn Olivia daran gewachsen und stärker geworden war, so hatte sie sich doch sehr verändert.
Stimmt, dachte er. Auf den zweiten Blick. Olivia wirkte reserviert, nicht mehr so offen und unbeschwert wie damals. Weil er ihr übel mitgespielt hatte? Oder war sie einfach älter geworden, vom Leben gezeichnet?
„Allerdings muss ich deshalb nicht im Alkohol Zuflucht suchen.“
Der Vorwurf traf ihn wie ein Fausthieb gegen die Brust. Ethan stürzte seinen Whisky hinunter und knallte das leere Glas auf den Schreibtisch. „Es war ein langer Tag, Olivia“, stieß er hervor. „Die OPs sind durch, ich bin außer Dienst. Ein paar Gläser von dem Besten, was Schottland zu bieten hat, schadet niemandem.“
Olivia hatte noch nie um den heißen Brei geredet, und sie würde jetzt nicht damit anfangen. „Ich bin sicher, dass es bei deinem Vater genauso angefangen hat.“
Ethan kochte. Sein Vater war auch heute noch wie ein rotes Tuch für ihn.
Aufgebracht packte er die Schreibtischkante und sprang auf, zu wütend, um zu merken, wie seine überforderten Muskeln reagierten. „Scher dich zum Teufel, Olivia“, herrschte er sie an.
Ihre Worte hatten mitten ins Schwarze getroffen. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt in Deutschland nach London zurückgekehrt war, hatte er in der Tat zu viel getrunken. Um mit den Schmerzen fertig zu werden, mit den Albträumen und den Schuldgefühlen.
Leos E-Mail hatte ihn vor dem Abgrund gerettet. Das Angebot, in der Hunter Clinic mitzuarbeiten und sich um karitative Projekte zu kümmern, war genau das Richtige gewesen. Ethan griff danach wie nach dem letzten Strohhalm.
Heute lag er nicht mehr am Boden, war ein anderer geworden. Und es ärgerte ihn maßlos, dass Olivia ihn nur wenige Minuten nach ihrem Wiedersehen in eine bestimmte Schublade steckte.
Sie hat nicht die geringste Ahnung, was ich durchgemacht habe!
Olivia war auch aufgestanden. Auf keinen Fall ließ sie sich durch seine Größe, mit diesen breiten Schultern und der kraftvollen Männlichkeit, die er immer noch ausstrahlte, einschüchtern. Schön, sie hatte einen Nerv getroffen, und das war gut so.
Vielleicht wurde Ethan dann klar, dass man Probleme, welcher Art auch immer, nicht damit löste, dass man abends um neun allein im Büro saß und sich einen Whisky nach dem anderen genehmigte.
„Nach dir, Ethan“, konterte sie ruhig.
Ethan stemmte sich mit den Fäusten auf dem Schreibtisch ab. „Du kannst mich morgen auf den neuesten Stand bringen“, sagte er barsch. Er war einfach zu müde für tiefschürfende Gespräche. „Ich gehe nach Hause.“
Jedenfalls war das der Plan. Doch nach wenigen Schritten war der Adrenalinschub, den sein aufflammender Zorn ausgelöst hatte, verbraucht. Sein nicht mehr von dem Muntermacher umnebeltes Gehirn empfing die Signale geplagter, erschöpfter Muskeln.
Ethans Knie knickten ein.
Alarmiert stürzte Olivia auf ihn zu, als er schwankte und Halt suchend nach der Schreibtischkante griff. Sie packte ihn am Arm und bewahrte ihn davor, wie ein Häuflein Elend auf dem teuren Seidenteppich zu landen.
„Mensch, Ethan!“, fuhr sie ihn an, während er sich auf sie stützte. „Wie viel hast du getrunken?“
Ethan atmete zwischen zusammengepressten Zähnen ein und aus. „Das liegt nicht am Alkohol“, brachte er schließlich hervor und rieb sich die höllisch schmerzenden Oberschenkelmuskeln. „Meine verdammten Beine wollen nicht so wie ich!“
Olivia glaubte ihm. Er war nicht betrunken. Weder lallte er, noch roch er nach Alkohol. Im Gegenteil, da sie mit der Nase so dicht an seinem Hals war, konnte sie nur sagen, dass er so roch wie früher: verlockend männlich. Schon damals hatte sein Duft sie erregt, und auch jetzt überschwemmten betörende Pheromone ihre Sinne. Ihr Körper reagierte.
Zum Glück merkte Ethan nicht, was er bei ihr anrichtete.
„Komm“, sagte sie und schwankte selbst ein bisschen unter seinem Gewicht, als sie den Arm um ihn legte. „Du setzt dich besser.“
Ethan blieb nichts anderes übrig. Seine Oberschenkel zitterten von der Kraftanstrengung, die ihnen allein das Stehen abverlangte. Olivia führte ihn zum Sofa, und er fühlte sich in ungefähr so kraftvoll wie eine nasse Briefmarke.
„Alles okay“, knurrte er, als die Couch in Reichweite kam. „Du kannst loslassen.“
Aufstöhnend ließ er sich auf die wuchtige Chesterfield-Couch sinken, legte den Kopf zurück und schloss die Augen, während er die schmerzenden Schenkelmuskeln massierte.
Olivia ging vor ihm in die Hocke und wartete, dass er sich erholte.
Es dauerte einige Minuten, bis die Anspannung aus seinem hageren Gesicht wich.
„Was ist passiert?“, fragte sie sanft.
Er verharrte eine Sekunde und fuhr dann fort, seine Beine zu kneten.