Prof. Dr. med. Dr. phil. Theo R. Payk war u. a. Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum.
Er ist jetzt als Supervisor, Gutachter und Ausbilder tätig.
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UTB-ISBN 978-3-8252-3372-3 (Print), 978-3-8385-3372-8 (E-Book) ISBN 978-3-497-02142-0
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Einführung
Die seit Jahren zu beobachtende, stetige Zunahme seelischer Leiden einschließlich
psychosomatischer Beschwerden, d. h. körperlicher Symptome, die wesentlich durch psychosoziale
Stressoren mitbedingt werden, ist nicht nur Ausdruck individueller Befindlichkeitsprobleme,
sondern auch Gegenstand gesundheits- und berufspolitischer Diskussionen. Die Statistiken
der Krankenversicherungen verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg der Inanspruchnahme
medizinisch-psychologischer Leistungen in den westlichen Industrieländern, der von
den Kostenträgern mit Besorgnis beobachtet wird. Während der letzten 20 Jahre war
in Deutschland ein Zuwachs von rund 30 % an Behandlungsfällen wegen psychischer Probleme
zu beobachten, einhergehend mit einer Verdoppelung der Gesamtkosten innerhalb der
letzten fünf Jahre, die derzeit um 1.6 Milliarden Euro jährlich liegen. Allein die
Techniker-Krankenkasse, bei der ca. 2.7 Millionen Arbeitnehmer versichert sind, registrierte
für 2008 eine Gesamtzeit an Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen von über
vier (!) Millionen Arbeitstagen – gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme um 2,5 %. Auch
Kinder und Jugendliche sind mit seelischen Problemen belastet; ca. ein Fünftel aller
Heranwachsenden weist psychische bzw. Verhaltensstörungen auf.
Dieser unverkennbare Trend, der die Volkswirtschaft durch die ansteigenden Gesundheitskosten
spürbar belastet, wird sicherlich mitbedingt durch den gesellschaftlichen Wandel,
d. h. veränderte Lebensbedingungen und -gewohnheiten mit gestiegenen, bisweilen unrealistischen
Ansprüchen an die eigene Lebensqualität und Fitness. Noch mehr allerdings dürften
die wachsenden Anforderungen an Einsatz, Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit in der
modernen Arbeitswelt die Ressourcen an Belastbarkeit und emotionaler Stabilität überfordern.
In welchem Ausmaß die Vervielfachung der therapeutischen Angebote während der letzten
zehn Jahre einerseits und ein Abbau der Hemmschwelle gegenüber solchen Einrichtungen
andererseits inzwischen den Weg zur psychiatrischen und/ oder psychologischen Praxis
erleichtern, mag dahingestellt bleiben. Wie auch immer: Jeder, der wegen seelischer
Beeinträchtigungen professionelle Hilfe sucht, kommt in der Hoffnung auf eine Linderung
seiner Beschwerden. Diese können von vorübergehenden Einschränkungen an Lebensfreude
und Leistungsfähigkeit bis hin zu Verzweiflung und Lebensüberdruss reichen.
Auf den vorderen Plätzen der Häufigkeitsverteilung psychischer Störungen rangieren
Depressionen, gefolgt von Angstkrankheiten und somatoformen (psychosomatischen) Beschwerden,
wobei sich die verschiedenen Störungsbilder oft überschneiden – fachlich spricht man
hier von „Komorbidität“. In Deutschland leiden derzeit schätzungsweise vier Millionen
Menschen (bei hoher Dunkelziffer) unter depressiven Symptomen verschiedenster Art.
Sie werden oft spät erkannt, manchmal wegen ihrer Maskierung sogar verkannt oder falsch
eingeschätzt – mit fatalen Folgen bis hin zum Suizid: Depressionen gehören zu den
hauptsächlichen Risikofaktoren dafür, ein quälendes, unerträglich gewordenes Leben
zu beenden. Glücklicherweise sind sie unter konsequenter, fachgerechter Behandlung
beherrschbar und klingen meistens ohne bleibende Folgen wieder ab.
Dieses Buch soll über die unterschiedlichen Depressionsarten und -formen aufklären.
Im Folgenden werden daher die typischen Krankheitsbilder unter Einbeziehung von zwei
Falldarstellungen demonstriert und beschrieben, verbunden mit Hinweisen auf Anfangssymptome,
Erläuterungen der fachlichen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnose führen, und Angaben
über den üblicherweise zu erwartenden, weiteren Verlauf. Im diesem Zusammenhang werden
die gängigen, aktuellen Hypothesen zu den Entstehungsrisiken und -ursachen skizziert
bzw. die mehrdimensionalen Krankheitsmodelle reflektiert. Deutlich wird, wie breit
das Spektrum des im Volksmund treffend Gemütskrankheit genannten Leidens ist, das
ebenso als vorübergehende, allenfalls wochenlange Episode in Erscheinung treten, wie
als schier endlose Bürde das Leben beschweren kann. Schließlich wird das Repertoire
der modernen, allgemein-medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen bzw.
psychologischen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erläutert und begründet. Auch
die Besonderheiten der Depressionen im Kindes- und Jugendalter werden einbezogen.
Alles in allem sollen entsprechende Kenntnisse zu einem besseren Verständnis für das
vielgestaltige Krankheitsbild Depression verhelfen, um zu einem angemessenen, vielleicht
auch versöhnlicheren Umgang damit zu finden. Das Wissen um diese Krankheit soll Mut
machen vor den hohen Anforderungen an Geduld und Leidensfähigkeit, die eine Depression
an alle unmittelbar Betroffenen und mittelbar Beteiligten stellt, Mut, nicht zu kapitulieren,
sondern die veränderte Lebenssituation so erträglich wie möglich zu gestalten.
Den Interessen angehender Ärzte und Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter dürften
eher die fachbezogenen, zusammenfassenden
Informationen gerecht werden. Da die Erforschung von Krankheiten immer neue Erkenntnisse
zutage fördert, ist der aktuelle Wissensstand wichtig, um Fortschritte in der Erkennung
und Behandlung nutzen zu können. Andererseits sind nicht alle Ratschläge, Empfehlungen
und Tipps, die samt neuen „Wundermitteln“ auf den Markt gebracht werden, von Vorteil;
hier gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen und sich nicht von leeren Versprechungen
blenden zu lassen.
Merksatz
Der Begriff Depression entstammt dem lateinischen Wort „depressus“ und bedeutet „niedergedrückt“.
Er kennzeichnet einen schwer beschreibbaren, quälenden Verlust an Lebensfreude, Leistungsfähigkeit
und Wohlbefinden.
Die häufig verwendete Bezeichnung depressive Störung kann insofern zu Missverständnissen
führen, als sie nahelegt, es handele sich dabei um einen abgrenzbaren „Störfall“,
etwa vergleichbar mit einer Blinddarmentzündung oder einem Magengeschwür. Tatsächlich
berührt eine Depression als Ausdruck von „Leere und Stillstand“ jedoch als Erkrankung
der gesamten Person fundamentale Bereiche menschlicher Existenz. Sie erfasst wie eine
psychische Lähmung den ganzen Menschen, der unter einem durchdringenden, unerklärlichen
Gefühl von Antriebsmangel, innerer Leere, Freudlosigkeit, Angst, Selbstunsicherheit,
Pessimismus und Hoffnungslosigkeit leidet. Zudem stellen sich meist auch vielfältige
körperliche Beschwerden ein, die keiner bestimmten Organkrankheit zuzuordnen sind.
Der holländische Psychiater Piet Cornelis Kuiper beschrieb seine eigene, sich unter
Schwankungen über drei Jahre hinziehende, schwere Depression 1991 überaus treffend
als „Seelenfinsternis“. In Kunst und Literatur finden sich zahlreiche ähnliche Selbstschilderungen
Betroffener – weit entfernt von jeder Heroisierung.
Merksatz
Depressionen sind verbreitete Krankheiten. Sie sind keine isolierte Funktionsstörung,
sondern betreffen den ganzen Menschen, indem sie sich auf alle geistig-seelischen
und körperlichen Funktionen, Fähigkeiten und Leistungen auswirken.
Historie
Depressionen, gleich welcher Art und Ausprägung, sind nicht nur sehr verbreitet, sondern
auch seit langem bekannt. Anhaltende Zustände trauriger Verstimmungen – Lebensepisoden
von Schwermut, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung – gibt es wahrscheinlich, seitdem
der Mensch existiert. Wahrscheinlich hängt dies mit dessen Fähigkeit zusammen, über
sich und die Beschwerlichkeiten seines Lebens nachdenken zu können – ein Ergebnis
mehrhunderttausendjähriger Evolution. Seelische Belastungen in Form von Ängsten, Kränkungen,
Verlusterlebnissen, Demütigungen und Misshandlungen können ebenso wie andauernde körperliche
Schmerzen, an denen gewiss auch der Frühmensch gelitten hat, jeglichen Lebensmut rauben.
Jedenfalls zieht sich das Thema Lebensüberdruss wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte
der Menschheit. Erste diesbezügliche schriftliche Hinweise finden sich in den „Gesprächen
eines Lebensmüden mit seiner Seele“, festgehalten im Papyrus Berlin Nr. 3024 aus der
12. altägyptischen Dynastie um 1900 v. Chr. In der Bibel ist die Rede von trübsinnigen
Anwandlungen des ersten israelitischen Königs Saul aus dem 1. Jahrtausend v. Chr.,
den sein späterer Schwiegersohn David mit dem Harfenspiel aufheitern sollte (1. Samuel
9,1).
Aber auch höher entwickelte Tiere, vor allem unsere nächsten Verwandten, die Primaten,
zeigen Lethargie, Ängstlichkeit oder Aggressivität nach einschneidenden Veränderungen
ihres gewohnten Lebensraumes bzw. ihrer Sozialkontakte, was angesichts der gemeinsamen
Herkunft mit genetisch verblüffend ähnlicher Grundausstattung ohne Weiteres plausibel
ist. Forschungsergebnisse der Pharmaindustrie aus der medikamentösen Behandlung solcher
künstlich herbeigeführter tierischer Verhaltensänderungen lassen sich allerdings nur
begrenzt auf den Menschen übertragen, da das Verhalten allenfalls auf Veränderungen
bestimmter Hirnaktivitäten hindeutet, aus ihm jedoch nicht das innere Erleben der
Tiere erschlossen werden kann. Dennoch lassen die äußeren Ausdrucksmerkmale zweifellos
auch Rückschlüsse auf deren Befindlichkeit zu.
Was stand unseren Ur-Urahnen an Mitteln zur Linderung und Bewältigung der ebenso unberechenbaren
wie unerklärlichen Beeinträchtigungen von Gestimmtheit, Aktivität und Kraft, die eine
Depression kennzeichnen, zur Verfügung? Soweit die Schamanen und Medizinmänner der
Frühzeit nicht durch Beschwörungszeremonien und Opfergaben die vermeintlich strafenden
Dämonen zu besänftigen suchten, waren sie wahrscheinlich
im praktischen Alltag darum bemüht, ihren Klienten durch besondere Zuwendung, Ablenkung
oder Zerstreuung beizustehen, vielleicht schon – erste Anfänge einer Erfahrungsmedizin
– mit Hilfe von Körperkontakt, Wärme und Licht, Kräuterextrakten und Pflanzensäften.
Die Wirkung letzterer war vermutlich sehr früh bekannt. Überliefert ist jedenfalls,
dass in den mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen im 4. bis 3. Jahrtausend
v. Chr. die gleichermaßen besänftigende wie euphorisierende Wirkung des Schlafmohns
genutzt wurde; die Sumerer nannten den Mohn „Pflanze der Freude“. Der Einsatz seines
Wirkstoffs Opium als Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel ist in der Medizin seit
langem gebräuchlich, und bis in die Neuzeit wurde er in Form einer Tinktur auch als
Antidepressivum verwendet. Kaiser Karl der Große war jedoch der erste, der Opium wegen
seiner berauschenden Wirkung als Genussmittel ausdrücklich verbot. Noch immer wird
aus unreifen Mohnkapseln der milchige Saft gewonnen, der eingetrocknet den Rohstoff
Opium ergibt; Bestandteile sind u. a. Morphin und Codein (Heroin, das in der Drogenszene
beliebteste, aber auch teuerste Rauschmittel, ist ein synthetisch hergestelltes Morphinpräparat).
Stechapfel, Mandragora, Tollkirsche, Bilsenkraut und Engelstrompete enthalten u. a.
das giftige Skopolamin (Hyoszyamin), das in kleinen Dosen beruhigend und vegetativ
stabilisierend wirkt. Es ist ebenso wie das entspannende und stimmungsaufhellende
Cannabis aus dem Harz der (indischen) Hanfpflanze im assyrischen Herbal erwähnt, einer
Rezeptsammlung aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., die 250 Pflanzenstoffe und andere Heilmittel
enthält. In der altindischen und altchinesischen Medizin jener Zeit war der Hanf ebenfalls
als Drogenpflanze gebräuchlich.
Der aufmunternde Effekt des Hypericumöls aus Johanniskraut, seit der Antike bekannt
und fester Bestandteil der mittelalterlichen Klostermedizin, hat inzwischen seinen
Platz im Arsenal antidepressiv wirkender Medikamente zurückgewonnen. Der Wander- und
Wunderarzt Paracelsus (1493–1541) bezeichnete es als „Arnica der Nerven“.
Zu den ältesten Mitteln zur Auflockerung und Verbesserung der Stimmung gehört zweifellos
der Alkohol. Im altägyptischen Papyrus Ebers (um 1600 v. Chr.) ist Palmwein wiederholt
als Arzneibestandteil genannt, auch zum Einsatz gegen Schwermütigkeit. In den früheren
Irrenanstalten war Alkohol ein gebräuchliches Medikament gegen Melancholie, Angstzustände
und Schlafstörungen.
Der Hallenser Medizinprofessor Friedrich Hoffmann (1660–1742), dessen berühmte Hoffmannstropfen,
ein Alkohol-Äther-Gemisch, als
Mittel zur Entspannung jedermann bekannt waren, sprach dem Wein die Eigenschaft zu,
Sorgen, Furcht und Traurigkeit zu verjagen und fröhlich, beherzt und kühn zu machen.
Die beruhigend-entkrampfende Wirkung von Klosterfrau-Melissengeist, einer Mixtur aus
Alkohol und Melissenöl, wird bis heute genutzt.
Mit Etablierung der medizinischen Heilkunde im antiken Griechenland traten an die
Stelle religiös-vorwissenschaftlicher Auffassungen über die Ursachen von Krankheiten
rationale Hypothesen. Auf den „Vater der Medizin“, Hippokrates von Kos (um 460–370
v. Chr.) bzw. seine Vorgänger im 5. Jahrhundert v. Chr., geht zum einen die These
vom Gehirn als Sitz geistig-seelischer Fähigkeiten zurück, zum anderen die Vorstellung,
dass ein schädliches Übermaß an schwarzer Galle (griechisch: melane cholos) – Schwarzgalligkeit
– zu Depressionen führt. In den Hippokratischen Schriften (Aphorismen VI) werden als
Kennzeichen eines melancholischen Zustands u. a. eine länger anhaltende Angst und
Traurigkeit genannt. In seinem medizinischen Sammelwerk „Artes“ behandelte der herausragende
römische ärztliche Schriftsteller Celsus (um 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) auch die Geistes-
und Gemütsstörungen; der Melancholiker wurde als erschöpft und langsam, gereizt und
schlaflos, aber auch als schreckhaft und geplagt von Angst charakterisiert.
Der kosmopolitische Grieche Galen von Pergamon (129–216), zeitweilig Leibarzt der
römischen Kaiser, formte schließlich aus dem Hippokratischen Konzept im 1. Jahrhundert
n. Chr. eine streng systematisierte Krankheitslehre, derzufolge alle Krankheiten auf
einem Ungleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten Blut, Schleim, gelbe Galle und
schwarzer Galle beruhten. Diese Viersäftelehre, Humoralpathologie genannt, hatte bis
weit ins 18. Jahrhundert Gültigkeit. Erstmals während der Renaissance infrage gestellt,
verschwand sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig aus der wissenschaftlichen
Medizin.
Folgerichtig bestand die Behandlung im Prinzip aus einer Ableitung bzw. Regulierung
der Körpersäfte durch Aderlass, Schröpfen und Abführmittel, außerdem durch eine Regelung
der Lebensweise und Verabreichung von pflanzlichen Heilmitteln. Konstantin Africanus,
berühmter Medizintheoretiker und Verfasser etlicher Lehrbücher an der damals führenden
Medizinschule von Salerno, empfahl um 1080 n. Chr. als Rezept gegen Melancholie eine
Mixtur aus Thymian, Safran, weißem und schwarzem Nieswurz (lat. Helleborus), Wasser,
Zucker und Most. Insbesondere der giftige Nieswurz sollte über Jahrhunderte eines
der gebräuchlichsten Mittel zu Melancholiebehandlung bleiben. Nieswurzextrakt verursacht
Erbrechen und Durchfall mit schwarzem oder blutigem
Stuhl, was den irrigen Glauben stützte, der Körper werde von einem krankmachenden
Übermaß an schwarzer Galle gereinigt.
Die Idee von der Notwendigkeit einer Entgiftung, einer „Entschlackung“ des Körpers
durch Fasten, Schwitzen oder Trinkkuren blieb bis heute lebendig, obgleich sie einer
wissenschaftlich-physiologischen Überprüfung nicht standhält. Zeitweilig erreichte
sie im 19. Jahrhundert aberwitzige, exzessive Höhepunkte: Aderlässe – manchmal mit
tödlichem Ausgang –, alle möglichen Brech- und Abführmittel, Klistiere, Blutegel und
Schröpfköpfe sollten auch die vermuteten Ursachen psychischer Leiden wie giftigen
Schleim, Galle, Säuren und unverdaute Nahrungsstoffe aus dem Körper befördern.