Psychiater und Psychotherapeuten - Theo R. Payk - E-Book

Psychiater und Psychotherapeuten E-Book

Theo R. Payk

0,0

Beschreibung

Die kontinuierliche Zunahme psychischer Störungen während der letzten Jahrzehnte geht mit einer wachsenden Inanspruchnahme der psychiatrisch-psychosozialen Professionen einher. Hand in Hand hiermit richtet sich das Interesse auf die in diesen Bereichen tätigen Personen, d. h. auf die beruflichen und persönlichen Besonderheiten der Fachleute für geistig-seelische Erkrankungen in Praxis, Ambulanz, Klinik oder Beratungsstelle. Das vorliegende Buch gibt Auskunft: Neben einer Darstellung der psychiatriehistorischen Entwicklung einschließlich Fortschritten und Irrwegen werden eingehend Ausbildung, Selbstverständnis, Relevanz und Ansehen sowie Aufgaben und Belastungen von Psychiatern, Psychotherapeuten und verwandten Berufsgruppen beschrieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 428

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die kontinuierliche Zunahme psychischer Störungen während der letzten Jahrzehnte geht mit einer wachsenden Inanspruchnahme der psychiatrisch-psychosozialen Professionen einher. Hand in Hand hiermit richtet sich das Interesse auf die in diesen Bereichen tätigen Personen, d. h. auf die beruflichen und persönlichen Besonderheiten der Fachleute für geistig-seelische Erkrankungen in Praxis, Ambulanz, Klinik oder Beratungsstelle. Das vorliegende Buch gibt Auskunft: Neben einer Darstellung der psychiatriehistorischen Entwicklung einschließlich Fortschritten und Irrwegen werden eingehend Ausbildung, Selbstverständnis, Relevanz und Ansehen sowie Aufgaben und Belastungen von Psychiatern, Psychotherapeuten und verwandten Berufsgruppen beschrieben.

Prof. Dr. Dr. Payk arbeitet langjährig als Psychiater und Psychotherapeut in Bonn.

Theo R. Payk

Psychiater und Psychotherapeuten

Berufsbilder in der medizinischen und psychologischen Heilkunde

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2012 Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

ISBN 978-3-17-022193-2

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-026587-5

epub:

978-3-17-027518-8

mobi:

978-3-17-027519-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Vom Priesterarzt zum Physikus

2 Seelsorger oder Hirnforscher?

3 Pioniere, Wissenschaftler, Reformer

4 Persönlichkeit und Menschenbild

5 Ideologie statt Therapie

6 Protagonisten der Euthanasie

7 Soll und Haben: Bestandsaufnahme

8 Fachliche Qualifikation

9 Profilierung der Psychotherapie

10 Therapeutisches Team

11 Beruflicher Alltag

12 Bild in der Öffentlichkeit

13 Therapie für Therapeuten?

Literatur

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Die ebenso kontinuierliche wie rapide Zunahme psychischer Störungen während der letzten Jahrzehnte hat angesichts wochen- bis monatelanger Wartezeiten auf einen Termin in der psychiatrischen Praxis oder einen Therapieplatz beim Psychologen zunehmend die Personen ins Rampenlicht gerückt, die als Fachleute auf dem Gebiet seelischer Leiden tätig sind. Trotz immer noch bestehender Vorurteile, Schamgefühle und Berührungsängste ist die Hemmschwelle gesunken, sich um psychologische Hilfe zu bemühen oder eine Fachklinik aufzusuchen. „Seelenklempner“ – Nervenärzte, Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen – werden mehr und mehr in Anspruch genommen; sie sind die Seelsorger unserer Zeit geworden.

Indes: Nicht jeder, der in der Zeitung, via Internet oder im Fernsehen psychologische Ratschläge gibt, ist fachlich ausgebildeter Psychotherapeut – Psychologe oder Therapeut darf sich (in Deutschland) jeder nennen. So ist es nicht verwunderlich, dass auf den „Sinnmärkten“ mit sicherem Gespür für die widrigen Begleiterscheinungen unserer Leistungs- und Darstellungsgesellschaft alle möglichen Lebenshilfen angeboten werden, die der Populärpsychologie entstammen, häufig mit esoterischem Einschlag.

Wer sich einem Psycho-Therapeuten anvertrauen will, muss meistens innere Widerstände überwinden. Er soll ja rückhaltlos seine Gedanken, Fantasien und Gefühle einem fremden Menschen offenbaren, die er vielleicht nicht einmal der engsten Bezugsperson mitteilen würde. Umso mehr muss er sich auf Einfühlungsvermögen, Taktgefühl, Verständnis, Kompetenz, Verschwiegenheit und Unabhängigkeit seines Gegenübers verlassen können. Wie in keinem anderen Bereich der Heilkunde ist in den psychologischen und psychosozialen Therapien der Erfolg abhängig von – nur schwer messbaren – Merkmalen der Beziehung, die sich zwischen Patienten und Therapeuten entwickelt. Erst eine von Anteilnahme, Offenheit und Zuversicht getragene Atmosphäre schafft die Grundvoraussetzungen für die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen – jenseits aller rationalen Erklärungen zu Störungsmodellen und Therapiekonzepten.

Was und wie wird behandelt – der Mensch, die Krankheit oder das Gehirn? Auf welchen Grundlagen beruhen die Behandlungsprinzipien? Obschon seit Jahrtausenden praktiziert, hat sich die „Seelenheilkunde“ erst in der Neuzeit zu einer selbständigen Profession mit eigener Krankheitslehre und formalisierter Ausbildung emanzipiert. Im Grenzbereich zwischen Human-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften angesiedelt, profitiert sie sowohl von den empirischen Forschungsergebnissen der naturkundlichen als auch den deduktiven Erkenntnissen der Geisteswissenschaften; die heutigen Fachleute auf dem Gebiet der psychologischen Medizin und klinischen Psychologie stützen sich auf das gemeinsame Gerüst eines ganzheitlich-integrativen, biopsychosozialen Krankheitsmodells.

Wer sind und waren die Heilkundigen, die sich berufen und befähigt fühlen, ihren Mitmenschen in seelischen Nöten zur Seite zu stehen? Wie viel haben sie beigetragen zum Fortschritt in der Behandlung psychischer Krankheiten und im Umgang mit psychisch Kranken? Was für Menschen sind Therapeutinnen und Therapeuten, von denen der Ratsuchende Hilfe und Beistand erhofft, vielleicht sogar die Lösung seiner Lebensprobleme? Welche Persönlichkeitseigenschaften und Lebenserfahrungen, welches Maß an Ausdauer und Belastbarkeit muss ein Aspirant auf dem Gebiet der psychologischen Heilkunde mitbringen, um Ausbildung und beruflichen Alltag zu bewältigen? Worauf muss er sich einstellen, woher nimmt er die Kraft und Beharrlichkeit? Kaum je wird erörtert, welchen Einfluss umgekehrt der langjährige Umgang mit einer hilfsbedürftigen, gleichwohl oft eigenartigen und absonderlichen Klientel hat – was lernt der Therapeut vom Patienten? Wird er ihm immer ähnlicher, oder grenzt er sich mehr und mehr ab? Und schließlich: Wer hilft ihm, wenn er selbst in eine seelische Krise gerät?

Angesichts verbreiteter Missverständnisse und Wissenslücken soll auf diese und andere Fragen im Folgenden näher eingegangen werden. Im Gegensatz zu zahlreichen Beschreibungen psychischer Krankheiten und deren Überwindung oder Schilderungen Betroffener in Lehrbüchern und Ratgebern geht es hier weder um psychiatrische Krankheitslehre oder psychologische Heilmethoden noch um einen Abriss der Psychiatrie- oder Psychologiegeschichte. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Persönlichkeit, Prägung, Selbstverständnis, berufliche Entwicklung, Auftrag und Aufgaben derer, die sich auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychologie für eine Behebung oder zumindest Linderung psychischer Leiden spezialisiert haben.

Eine Rückschau auf die Entwicklung der Seelenheilkunde zu einem wissenschaftlichen Medizinfach lässt erkennen, dass der lange Weg vom schamanistischen Vorfahren bis zum heutigen Psychospezialisten immer wieder von tiefgreifenden Revisionen – aus heutiger Sicht teilweise abwegig erscheinender – Krankheitsauffassungen und Behandlungsversuche gekennzeichnet war. Demgegenüber blieben Aufgaben und Pflichten der Heilkundigen unverändert: Akzeptanz des Hilfesuchenden und Wahrnehmung von dessen Beeinträchtigungen, Beobachtung und Einordnung der verifizierten psychopathologischen Symptome, Abklärung der Ursachen unter Einbeziehung psychosozialer Einflüsse, Erstellen eines Behandlungsplans und dessen fachkompetente Umsetzung samt Nachsorge und Rezidivprophylaxe.

An die diesbezüglich einleitenden Kapitel schließen sich Erörterungen darüber an, welche Motive und Interessen, Vorstellungen und Befähigungen dazu bewegen, als psycho-therapeutischer Experte tätig zu werden. Dargestellt werden die Anforderungen an Empathie, Belastbarkeit, Ausdauer, Geduld und Toleranz, die für ein erfolgreiches Arbeiten notwendig sind. In diesem Zusammenhang wird ein Überblick über Formen und Umfang der Ausbildung zum Facharzt, Fachpsychologen und Fachpfleger gegeben, darüber hinaus eine Übersicht zur Aufgabe und Qualifikation der Mitarbeiter anderer Berufsgruppen im therapeutischen Team.

Die Vorbehalte gegen den gern als undurchsichtigen Manipulator, bestenfalls als Witzfigur dargestellten Psychiater kommen nicht von ungefähr. Zum einen hat – trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte – das bis heute rätselhaft gebliebene, sonderbare und irritierende Verhalten Geistesgestörter nichts von seiner verstörenden Aura verloren. Niemand möchte in den Augen seiner Mitmenschen als „verrückt“ oder gar „unzurechnungsfähig“ erscheinen. Die damit einhergehende Stigmatisierung hatte bis in die jüngere deutsche Vergangenheit gefährliche, ja tödliche Konsequenzen: Der Nazi-Euthanasie fielen unter indirekter und direkter Mithilfe zahlreicher Psychiater vermutlich mehr als 250 000 psychisch Kranke zum Opfer. Besondere Aufmerksamkeit gilt daher den schweren Verfehlungen und Verbrechen psychiatrischer Fachautoritäten, ohne deren ideologische Vorarbeit und tatkräftiges Mitwirken die Krankenmorde nicht möglich gewesen wären. So wirken wahrscheinlich bis heute die schrecklichen Erinnerungen an den schändlichen Verrat derer nach, in deren Obhut sich die Kranken und Behinderten sicher glaubten.

Aus Opportunismus, Geltungsdrang und Strebertum, aber auch aus politischer Verblendung haben Psychiater und Psychologen in totalitären Systemen ihre Patienten hintergangen, indem sie sich für staatlich-repressive Sicherheitsbehörden als Spitzel, Informanten und Gehilfen betätigten. Politisch missliebige Bürger wurden mittels psychologischer Expertisen als pathologische Querulanten abqualifiziert und zwangsweise in forensische Einrichtungen verfrachtet – so geschehen beispielsweise in den sozialistischen Diktaturen der Sowjetunion und der DDR.

Psycho-Therapeuten arbeiten im unübersichtlichen Gelände zwischen Medizin, Sozialkunde, Philosophie und Gesellschaftswissenschaften. Im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern bewegen sie sich nicht auf dem festen Boden empirisch gesicherter Gesetzmäßigkeiten. Sie laufen daher Gefahr, exaktes Wissen und bloße Hypothesen gleichzusetzen; der Soziologe Peter Fuchs nennt sie in Anlehnung an den französischen Schriftsteller Paul Valéry „Verwalter der vagen Dinge“ (2011). Wenn an die Stelle von erprobten, anerkannten Leitlinien spekulative Ideen treten, Selbstkritik, Realitätskontrolle und fachliche Rückkoppelung ausbleiben, drohen ideologische Abwege, die nicht nur das eigene Bild vom Menschen deformieren können, sondern auch gegen berufsethische Prinzipien verstoßen. Die Folgen einer Übertragung eigener Bedürfnisse oder politisch-propagandistisch erwünschter Gesinnungen auf den Umgang mit dem hilfesuchenden Patienten liegen auf der Hand: Statt Befreiung zu Autonomie, Selbstverantwortung und Lebenstüchtigkeit erfährt dieser möglicherweise Verführung und Manipulation, manchmal – siehe oben – sogar Verfolgung und Ausrottung als Glaubens-, Partei-, Staats- oder Klassenfeind.

Die gängige Vorstellung vom Psychiater, der bedenkenlos gefährliche Medikamente verordnet oder leichtfertig Zwangsunterbringungen in einer geschlossenen Anstalt befürwortet, trifft ebenso wenig zu wie die Annahme vom feinsinnigen Psychologen, der sich in endloser Geduld um eine Aufhellung frühkindlicher Erlebnisse oder akribische Aufklärung angsterzeugender Situationen bemüht. Heutzutage erwirbt der psychiatrisch weitergebildete Facharzt in Deutschland wie in den meisten europäischen und anglo-amerikanischen Ländern obligat eine solide psychotherapeutische Ausbildung, während sich umgekehrt zahlreiche Psychologen für Psychosomatik und Hirnforschung interessieren. Im Heer der Psychotherapeuten sind sowohl Ärzte und Psychologen wie Pädagogen und Heilpraktiker versammelt, jeweils zu Fachgesellschaften zusammengeschlossen, die deren Interessen vertreten. Tendenziell finden sich – neben Unterschieden zwischen Frauen und Männern – unter den tiefenpsychologisch arbeitenden Therapeuten eher Ärzte, unter den Verhaltenstherapeuten eher Psychologen. Kinder- und Jugendpsychotherapeuten haben in der Regel eine sozialpädagogisch-psychoanalytische Ausbildung.

Der Öffentlichkeit wird durch Film, Fernsehen und Literatur oft ein verzerrtes oder lückenhaftes Bild von Psychiatrie und klinischer Psychologie präsentiert. Jenseits sowohl von Dämonisierung als auch von Idealisierung sind die hier tätigen Personen indes keine versponnenen Exoten, sondern Menschen mit allen charakterlichen Schwächen und Stärken. Es obliegt ihnen allerdings, sich damit selbstkritisch auseinanderzusetzen. Selbsterfahrung und Supervision als fester Bestandteil der Ausbildung sollen dazu verhelfen, eigene Probleme zu reflektieren und notfalls zu entschärfen. Der dadurch bedingte, persönlich wichtige und beruflich unverzichtbare Zuwachs an Selbsterkenntnis und Eigenkontrolle unterscheidet die psycho-therapeutischen Professionen von allen anderen Vertretern der Heilkunde. Dennoch sind auch sie nicht geschützt vor den Folgen anhaltender emotionaler Überlastung im Sinne eines Burnout oder gefeit gegenüber anderen seelischen Krisen, um so mehr, als sie nur ungern Hilfe in Anspruch nehmen; der hierzu notwendige Rollentausch erscheint befremdlich und fällt daher schwer.

Auf der anderen Seite vermittelt die tägliche Arbeit am Projekt „Seelische Gesundheit“ den sachkundigen Heilern und Helfern als Gratifikation das befriedigende Gefühl einer individuell sinnvollen und sozial nützlichen Tätigkeit, die weder von Online-Ratgebern noch Computerprogrammen übernommen werden kann. Einem vermutlich weiterhin zunehmenden, allgemeinen Therapiebedarf kann auf Dauer nur mittels verstärkter, präventiv-psychohygienischer Maßnahmen wirksam begegnet werden. Dies beinhaltet auch soziales Engagement mit Bemühungen um eine Integration abdriftender oder sogar ausgegrenzter Randgruppen, eingeschlossen die Frage nach deren Lebensverhältnissen, Bildungschancen und beruflichen Perspektiven.

Ohne die ebenso konstruktive wie geduldige Unterstützung seitens der Fachredaktion des Kohlhammer-Verlags hätte diese Buchausgabe nicht realisiert werden können. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Bonn, Oktober 2011

Theo R. Payk

1 Vom Priesterarzt zum Physikus

Die heute in einem psychiatrischen, psychologischen oder psychosozialen Beruf arbeitenden Frauen und Männer können auf eine vieltausendjährige Ahnengalerie zurückblicken. Sie reicht von den frühzeitlichen Heiler innen und Heilern, den weisen Frauen und Zauberpriestern der magischen Heilkunde über die Seelenforscher und Irrenärzte auf dem Weg zur Wissenschaft bis zu den Therapeutinnen und Therapeuten der Gegenwart. Von den ersten Anfängen irgendwann in der Menschheitsgeschichte an blieben jedoch über alle Epochen die Ziele ihres Handelns unverändert: Unterstützung zu gewähren, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern. Beistand und Hilfe bei Schmerz, Krankheit und Gebrechen sind – als Merkmale der Zivilisation jenseits des evolutionären Ausleseprinzips – unerlässliche Bedingungen zum Erhalt und Wohlergehen jeder Gemeinschaft. Die Krankenbehandlung wurde somit fundamentaler und integraler Solidaritätsbestandteil in allen Kommunitäten und Kulturen, geleitet vom Menschenbild, beeinflusst durch Weltanschauungen und justiert an den jeweils vorliegenden heilkundlichen Erkenntnissen.

Ein kurzer Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der Psychiatrie und ihrer Nachbardisziplinen im Auf und Ab zwischen Weiterentwicklung und Rückschritten mag dazu beitragen, Arbeit und Aufgaben derjenigen nachzuvollziehen, die sich den seelischen Nöten und Leiden ihrer hilfesuchenden Mitmenschen widmen.

Das magisch-animistische, geschlossene Weltbild der frühzeitlichen Menschen wurde wahrscheinlich von dämonologischen Vorstellungen hinsichtlich Krankheit, Unglück und Naturkatastrophen geprägt, die als Bestrafung durch erzürnte Götter oder böse Geister für angebliche Verfehlungen, „Tabubrüche“, aufgefasst wurden. Hier hatte der ausersehene, quasi offiziell beauftragte Heiler die Rolle des vermittelnden, die übermächtigen Gottheiten um Versöhnung bittenden Mediators. Er war als Akteur sakraler Handlungen in Form von Beschwörungen, Gesängen, Tänzen, Berührungen und Opferungen suggestivtherapeutisch er „Seelsorger“ im ursprünglichsten Sinn. Durch die vorlaufende, bisweilen mittels Rauschdrogen intensivierte zeremonielle Einstimmung auf die therapeutische Prozedur sollten nicht nur die suggestible Empfänglichkeit des Kranken gesteigert, sondern auch dessen Selbstheilungspotentiale geweckt werden. Das Prinzip einer Mobilisierung der eigenen Kräfte zur Überwindung von Krankheiten durch suggestive Einwirkungen liegt als unentbehrlicher, machtvoller Placeboeffekt allen heilenden Maßnahmen zugrunde – der wissenschaftlich evaluierten Heilkunst ebenso wie den scheinbar unerklärlichen Wunderheilungen. Ob möglicherweise bereits in der Vorzeit Zusammenhänge zwischen psychischen Veränderungen und körperlichen Funktionen vermutet wurden, ist unklar. Die Hinweise auf Schädeltrepanationen während der Jungsteinzeit könnten in diese Richtung deuten, ebenso der Gebrauch psychotroper Substanzen in den frühen Hochkulturen. Der uralte Schamanismus lebt fort im Handauflegen des Medizinmannes bei den Naturvölkern und in der esoterischen „Alternativmedizin“ der heutigen Zeit, in der statt Schutzgeistern und freundlichen Göttern ominöse, physikalisch nicht nachweisbare Energieströme und Schwingungen als stärkende Kräfte beschworen werden.

Wie in der vorzeitlich-archaischen bestimmten in der mesopotamischen bzw. altpersischen und altägyptischen Heilkunde Religion, Mythologie und Astrologie den Umgang mit dem Kranken, auch bei psychischen Auffälligkeiten wie Verwirrtheit oder Halluzinationen. Im Zweistromland wurden Krankheiten auf Besessenheit oder sittliche Verfehlungen zurückgeführt und mit Hilfe eines speziellen „Seelenarztes“ durch rituelle Waschungen, Isolierung der „Unreinen“ und exorzistische Beschwörungen zu heilen versucht. Die Praktiken einer Verbannung böser Geister ziehen sich später wie ein roter Faden durch die christliche Tradition, angefangen von den Wunderheilungen Jesu mittels Teufelsaustreibung über die mittelalterliche Dämonologie und den Glauben an schützende Amulette bis hin zum modernen Exorzismus der katholischen Kirche gemäß den Vorschriften des Rituale Romanum. An psychotropen Substanzen scheinen den sumerischen Ärzten des 3. Jahrtausends v. Chr. außer Alkohol in erster Linie Opiate (aus Schlafmohn, den sie „Pflanze der Freude“ nannten) geläufig gewesen zu sein.

Spätestens im Alten Ägypten gab es neben Anrufungen der göttlichen Schutzpatrone Isis, Horus und Thot bereits empirisch-rationale Ansätze einer Krankheitslehre und chirurgische, chiropraktische, medikamentöse und diätetische Techniken. Im Papyrus Ebers aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., in dem die damalige ägyptische Medizin abgehandelt wird, sind etwa 900 Rezepturen unterschiedlichster Zusammensetzungen aufgeführt; zur Beruhigung offensichtlich Verwirrter wurden von den ägyptischen Priesterärzten wahrscheinlich Extrakte von Schlafmohn, Alraune und indischem Hanf eingesetzt. Vermutlich auch ärztlich tätig war Imhotep, berühmter Verwalter und Baumeister zur Zeit des Königs Djoser während der 3. Dynastie des altägyptischen Reichs (um 2700 v. Chr.). Er wurde zum Heilgott erhoben; der ihm geweihte Tempel in Memphis war zugleich eine leibseelische Behandlungsstätte. In Theben, der Hauptstadt des Neuen Reiches, gab es unter Ramses II. (1290–1224 v. Chr.) im „Haus des Lebens“, einer „Heilstätte der Seele“, eine riesige Bibliothek, deren Schriften im Sinne einer Bibliotherapie – Gesundwerden durch Lektüre – genutzt wurden.

Die Hindu-Priester der bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden altindischen Veden behandelten mit Zaubersprüchen, Opfern und Exorzismus; die Philosophie und Praxis der Yoga-Meditation wurde von der Ayurveda-Medizin in ein differenziertes Kompilat aus Diätetik, Physiotherapie und Pflanzenheilkunde integriert. Aus der indischen Heilkunde stammen im Übrigen die Kenntnisse über die beruhigende und angstdämpfende Wirkung der „Schlangenwurzel“ („Rauwolfia serpentina“). In der westlichen Medizin wurde deren Hauptalkaloid Reserpin bis in die neuere Zeit nicht nur zur Blutdrucksenkung, sondern auch als sedierendes Psychopharmakon erfolgreich zur Behandlung von Psychosen verwendet (siehe Kapitel 3).

Die Ursprünge der altchinesischen Medizin wurzeln wahrscheinlich in einer Verbindung von religiösem Ahnenkult und volkstümlicheinfacher Empirie. Die sich daraus entwickelnde Heilkunde bediente sich nicht nur Orakeln, Bannsprüchen, Beschwörung en, Talismanen und Amuletten, sondern auch einer größeren Anzahl an Heilpflanzen. Zur konzeptionellen Grundlage der Heilkunst wurden vermutlich im ersten vorchristlichen Jahrtausend das polare Yin-Yang-Prinzip und die Lehre von den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Beeinflusst von konfuzianischer Lebensweisheit und religiöser Mystik des Daoismus wurden um das 5. Jahrhundert v. Chr. Diätetik und Drogenkunde mit magisch-philosophischen Unterweisungen verschmolzen. Besondere Bedeutung als Diagnose- und Therapiemethoden erlangten in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) die Beobachtung des Pulses, die Akupunktur und die Moxibustion. Wie in den anderen genannten Kulturkreisen sollen im alten China ebenfalls Heilschlaf und Traumdeutung bekannt gewesen sein.

Auch die antike griechische Medizin war in ihren Anfängen von sakralen Mythen geleitet; die Tempelmediziner beriefen sich auf den Heilgott Asklepios, dessen Mysterienkult ab dem 7. Jh. v. Chr. in den Heilstätten von Epidauros, Knidos, Kos und Pergamon bis Rhodos mit systematischen, schulmäßigen Behandlungen verknüpft wurde. Nach ausführlicher Anamnese verordneten die Priesterärzte – ganzheitlich-naturphilosophisch orientiert – außer Gebeten und Opfergaben auch Diät, Medikamente und Bäder. Eine besondere Rolle spielten der aus Ägypten übernommene Tempelschlaf im „Heiligen Hain“ und die sich anschließende Traumdeutung, d. h. Entschlüsselung der Traumsymbolik, die mit psychohygienischen Ratschlägen verbunden wurde.

Die Heilkunst der Asklepiaden wurde von der hippokratischen Medizinschule auf Kos in Richtung einer rationalen Medizin revolutionär weiterentwickelt. Hippokrates führte Krankheiten wie z. B. epileptische Anfälle, die „Heilige Krankheit“, nicht mehr auf göttliche Einwirkungen, sondern auf natürliche Ursachen zurück. Er hielt das Gehirn für das Zentrum geistig-seelischer Tätigkeit und betrachtete Verwirrtheit und andere Geistesstörungen wie auch Ängste und Schwermut als Zeichen einer Hirnkrankheit. Hippokrates (vermutlich 460–377 v. Chr.), geboren auf der Insel Kos, unternahm nach Unterweisung durch seinen Vater ausgedehnte Studienreisen durch Griechenland und Kleinasien. Nach seiner Rückkehr praktizierte er als Arzt und begründete die koische Medizinschule. Seinen Lebensabend verbrachte er in Larissa/Thessalien. Die über 60, teilweise ihm zugeschriebenen, Abhandlungen des Corpus Hippocraticum aus dem 5. bis 4. Jh. v. Chr. stellen eine Sammlung heilkundlicher Traktate über verschiedene Krankheiten und Körpergebrechen dar; sie enthalten auch Verhaltensregeln und Übungen gegen psychische Beeinträchtigungen. Im ersten Buch („Epidemien“) werden verschiedene Arten von Delirien, Epilepsien und Wahnvorstellungen als Folge von Hirnschädigungen beschrieben, ferner Symptome der Betrunkenheit und – recht differenziert – das Krankheitsbild einer Depression.

Gemäß ihrem humoralpathologisch en Konzept, demzufolge als Ursache aller Krankheiten ein Ungleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle angenommen wurde („Viersäftelehre“), war das therapeutische Ziel der Hippokratiker eine Wiederherstellung der Homöostase, d. h. einer harmonischen Ausgewogenheit der Säfte im Organismus. In der hippokratischen Medizin finden sich daher vielfältige diätetische und Reinigungsvorschriften, ergänzt durch ein beträchtliches Arzneimittelrepertoire. Gegen Melancholie bzw. Wahnsinn wurden Alraune und Nieswurz (Christrose) empfohlen, gegen Erregtheit Schlafmohn und Mandragorawurzel. Der Umgang mit psychisch Kranken sollte beruhigend und besänftigend sein, unterstützt durch Schaukeln in Schwebebetten, Ablenkung und Zerstreuung. Wichtig war eine ausgeglichene Lebensweise. Im Hippokratischen Eid, einem Manifest des „Primum nil nocere“ (Vorrangig nicht Schaden zufügen!) – Kennzeichen ärztlicher Ethik schlechthin – wurden sowohl die Pflicht zur Sorgfalt wie zur Verschwiegenheit ausdrücklich festgeschrieben.

Die griechisch-römischen Ärzte der Zeitenwende standen weitgehend in hippokratischer Tradition. Asklepiades von Bithynien (124–60 v. Chr.), Leibarzt von Cicero und Crassus, behandelte Geistesgestörte vorwiegend diätetisch, darüber hinaus mit Wasserkuren, Bewegung, Gymnastik und Massagen. Er empfahl zudem zu ihrer eigenen Sicherheit die Beaufsichtigung und schonende (!) Fesselung der „Dementis“ in Fällen von Wahn oder Suizidalität. Der berühmte römische Gelehrte (und fragliche Arzt) Aulus C. Celsus (um 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) führte in seinem achtbändigen medizinischen Sammelwerk „De medicina libri octo“ u. a. auch verschiedene psychische Leiden wie Melancholie, Manie, Wahnkrankheit und Halluzinationen samt Behandlungsvorschlägen auf. Gegen „gänzliche Verrücktheit“ befürwortete er Auspeitschen, Fesselungen, Folter und Untertauchen, überhaupt die Erzeugung von Schmerz, Angst und Schrecken; bei Wahnvorstellungen riet er zu einer Art dialektischer Gesprächstherapie. Demgegenüber lehnte Soranus von Ephesus (98–138), Leibarzt Marc Aurels, jegliche Gewalt ab; er verbot, die Kranken anzubinden, zu schlagen und zu beschimpfen. Stattdessen verordnete er Aderlässe und Abführmittel, darüber hinaus Bäder, Massagen, Diät und Aufenthalte in angenehmer Umgebung. Vermutlich war bereits in der Spätantike die dämpfende Wirkung kleinerer Dosen von Hyoscin (Skopolamin) bzw. Hyoscyamin (Atropin) aus den alkaloidhaltigen Nachtschattengewächsen Alraune, Stechapfel, Bilsenkraut und Tollkirsche bekannt.

Aelius Galenos von Pergamon (129–199 n. Chr.) baute die Humoralpathologie weiter aus. Nach seiner medizinischen Ausbildung in Alexandria, dem größten Wissenschaftszentrum der damals bekannten Welt, war er Gladiatorenarzt in Pergamon, wo er genauere Kenntnisse über Kopfverletzungen und deren Folgen sammelte; er sezierte auch Tiere. In der berühmten Alexandrinischen Schule hatten die griechischen Ärzte Herophilos von Chalkedos und Erasistratos von Keos bereits im 3. Jh. v. Chr. hirnanatomische Studien durchgeführt.

Galen führte Wahnsinn und Tobsucht auf Veränderungen des Seelenpneumas („spiritus animalis“) in den Hirnkammern zurück, Halluzinationen auf Überhitzungen des Gehirns durch giftige Bauchdämpfe, Melancholie durch einen Überschuss an schwarzer Galle; auf ihn geht die Bezeichnung „hypochondrische Melancholie“ zurück. Seine Abhandlung über die Leidenschaften und das Leben der Seele beinhaltet auch psychotherapeutische Anweisungen.

Wissen und Erfahrungen der blühenden antiken Heilkunde gingen im Mittelalter allmählich verloren. Die Krankheitskunde verkümmerte zu Überbleibseln rational-ärztlichen Wissens auf der Grundlage von Humoralpathologie und Klosterheilkunde, jedoch dominiert von Theologie, Astrologie und Alchemie. Dessen ungeachtet galt die Krankenpflege als besondere Christenpflicht; der Benediktinerorden nahm sie sogar in seine Regeln auf. Im Jahr 817 wurde auf der Synode in Aachen die Krankenpflege ausdrücklich den Nonnen und Mönchen übertragen. Neben der klösterlichen Kräutermedizin, Fasten, Beichten, Arbeit und Kasteiungen waren vor dem Hintergrund der christlichen Lehre immerwährender Sündhaftigkeit als heilende Mittel Fürbitten, geistlicher Beistand, Segnungen, Exorzismus und Wallfahrten gebräuchlich; gegen „böse Gedanken“, „Mondsucht“, Phrenitis oder Trunkenheit wurden auch Schmucksteine bzw. Amulette getragen. Als Verfasserin vieler naturheilkundlicher Bücher wurde die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) bekannt, Vorsteherin des Benediktinerinnenklosters Rupertsberg am Rhein. In ihren beiden Hauptwerken der Arzneikunst „Physica“ und „Causae et curae“ empfahl sie gegen Melancholie und Fallsucht Essenzen von Lavendel, Wacholder, Oleander, Alraune und Nieswurz. Sie beschrieb auch psychosomatische Leiden; gewissermaßen im Vorgriff auf die spätere Libidotheorie Freuds sah sie Zusammenhänge zwischen Affekten und sexuellen Impulsen.

Das Dorf Gheel bei Antwerpen wurde im 13. Jahrhundert aufgrund der dort verehrten Gebeine der Hl. Dymphna, der Legende nach eine irische Märtyrergestalt, zu einem bekannten Pilger- und Aufenthaltsort für Epileptiker und Geisteskranke, die dort auch wohnen und arbeiten konnten; Dymphna wurde zu deren Schutzpatronin. Aus den bäuerlichen „Irrenkolonien“ entwickelte sich die psychiatrische Familienpflege.

Im Mittelalter wurden in Frankreich und Deutschland sog. Domspitäler eingerichtet, in denen neben Armen und anderweitig Hilfsbedürftigen auch Geisteskranke aufgenommen wurden. Ab 1390 nahmen sich die Orden der Cellitinnen und Alexianer, die Pestkranke versorgten, nebenher auch der Versorgung und Pflege Geistesgestörter an; vermutlich wurden solche auch im 1396 gegründeten Aachener Kloster beherbergt. Nach dem Rückzug der Pest aus Europa widmete sich der Alexianerorden ganz den Geistesschwachen und -kranken und unterhält bis heute psychiatrische Krankenhäuser in Amelsbüren bei Münster, Neuss bei Düsseldorf, Porz bei Köln, Krefeld, Aachen und Berlin.

Mit der Synode von Clermont-Ferrand und dem II. Laterankonzil wurde 1130 bzw. 1139 das Ende der monastisch-klerikalen Medizin eingeläutet: Mönchsärzten und Ordensgeistlichen war nunmehr die Ausübung der Heilkunst verboten, nach dem Konzil von Tours 1163 auch die Ausbildung. Andererseits wurde den Geistesstörungen in den berühmten weltlichen Medizinerschulen des 11. und 12. Jahrhunderts in Salerno, Toledo und Montpellier keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet; seit jeher standen die Organerkrankungen als Inbegriff von Krankheit und Siechtum im Mittelpunkt medizinischer Theorien und ärztlicher Praxis. Eine Art eklektischer Volksmedizin mit esoterischem Einschlag wurde von weisen Frauen und Hebammen betrieben, später häufig der Hexerei verdächtigt.

Grundsätzlich oblag die öffentliche Irrenfürsorge den freien Reichsstädten, in deren Bürgerhospitälern neben Armen und Alten auch sog. ruhige Geistesgestörte, „harmlose Narren“, aufgenommen wurden. Unruhige und aggressive Kranke („Tolle“) wurden demgegenüber in den „Tollstuben“ der Stadttürme oder in gefängnisähnlichen Verliesen verwahrt, oder in eigens konstruierte Holzkäfige und -kästen, Kojen und Koben gesperrt – „Toll“- oder „Thorenkästen“ bzw. „Doren“- oder „Rockenkisten“. Ab dem 15. Jahrhundert wurden zur Trennung von den übrigen Kranken in den Hospitälern eigene Irrenabteilungen oder sogar separate Häuser geschaffen wie z. B. das „Manicomio“ 1409 in Valencia und das „Dolhuis“ 1461 in Utrecht, in Deutschland 1527 das Frankfurter Tollhaus.

Entsprechend den damaligen Vorstellungen über Entstehung und Verlauf der Geisteskrankheiten war der Umgang mit den Irren von Hilflosigkeit, Mitleid, Ablehnung und Abscheu gekennzeichnet. Die Tollhäuser wurden zu Orten des Schreckens und der Brutalität. Berüchtigt war der 1377 im 1274 gegründeten Londoner Klosterhospital „St. Mary of Bethlem“ („Bedlam“) eingerichtete Bereich für Geistesgestörte, die dort angekettet ihr Dasein fristeten. Nach dem Abklingen der Pestepidemien im 17. Jahrhundert wurden die Siechen- und Pesthäuser vermehrt mit psychisch Kranken belegt, so die „Pesthöfe“ in Hamburg und Berlin. In manchen Städten waren den Bürgern gegen Entgelt Rundgänge durch die Narrenhäuser mit Besichtigung der Insassen erlaubt. Bisweilen zogen die Irren wie Aussätzige – mit Narrenkappe, Schellen oder einem Band gekennzeichnet – bettelnd und vagabundierend umher. Nicht wenige wurden später in die Neue Welt deportiert; einzelne avancierten zu Hofnarren. Bisweilen praktizierten umherziehende Scharlatane gegen ein Honorar, das durch die Gemeinde entrichtet wurde, vor Ort als „Wunderheiler“ oder „Narrenärzte“.

Im Jahr 1527 wurden auf Beschluss des Landgrafen Philip des Großmütigen von Hessen die dortigen Klöster zu Stiftungen und Hospitäler umgewidmet („Hohe Hospitäler“). 1553 entstanden so die Landeshospitäler im ehemaligen Zisterzienserkloster Haina bei Marburg für Männer und im früheren Augustinerinnenstift Merxhausen in der Nähe von Kassel für Frauen. Beherbergt wurden hier Blinde, Taube, Aussätzige, Krüppel und Waisen, aber auch Epileptiker und psychisch Kranke („Wahnwitzige, melancholische, mondsüchtige, sinnverrückte und besessene arme Leute“). Ein ausgebildeter Arzt wurde erst im Jahr 1821 eingestellt; zuvor war ein Bader bzw. Chirurgikus zuständig. Tobsüchtige erhielten zur Beruhigung seelsorgerischen Zuspruch. Im katholischen Würzburg gründete Julius Echter von Mespelbrunn 1579 das nach ihm benannte Juliusspital, in dem zehn Jahre später auch seelisch Kranke, überwiegend „Melancholiker“, betreut wurden. Gemäß humoralpathologischen Vorstellungen wurden sie u. a. der „Holzkur“ unterzogen, d. h. einer Behandlung mit Auszügen und Dämpfen aus dem Guajakbaum, die auch gegen Syphilis eingesetzt wurden.

In der Folgezeit verschlechterte sich die Situation psychisch Kranker weiterhin und erreichte zur Zeit des Absolutismus einen bis heute unvorstellbaren Tiefstand. Sie wurden in kombinierten Armen-, Zucht-, Arbeits- und Korrektionshäusern untergebracht, soweit sie nicht im Familienverbund lebten. Wer im 18. Jahrhundert nicht das Glück hatte, als friedlicher „Narr“ in häuslicher Pflege oder einem Kloster zu verbleiben, vegetierte zusammen mit Landstreichern, Dieben, Prostituierten, Geschlechtskranken und Aussätzigen meist für immer in einem der Großgefängnisse, wo Schikanen einschließlich Prügel an der Tagesordnung waren. Die Kranken verwahrlosten, oftmals gefesselt, unter höchst mangelhaften hygienischen und Ernährungsbedingungen. Sie waren praktisch ohne ärztliche Aufsicht, geschweige denn Behandlung, da sich die Ärzte für die Irren und Unheilbaren nicht zuständig fühlten.

Anders als in der christlich-europäischen Kultur waren im frühen islamischen Herrschaftsbereich die Geistesgestörten den körperlich Kranken weitgehend gleichgestellt. Persische Überlieferung, jüdische Tradition, mohammedanische Religion und griechisch-römischbyzantinisches Wissen wurden zu Fundamenten einer Heilkultur, die ebenso vernunftgeleitet wie humanitär geprägt war. Die Gewährung von Hilfe und Beistand gegenüber Kranken galt als eine gute Tat, die zur eigenen Erlösung beitrug. Geisteskrankheiten blieben nicht nur frei von stigmatisierender Bewertung, sondern wurden sogar als Zeichen von Auserwähltheit angesehen. Bereits um 981 wurde im Allgemeinkrankenhaus (Bimaristan) von Bagdad, das Harun ar-Raschid um 800 hatte erbauen lassen, eine Einheit für Gemüts- und Nervenkrankheiten eingerichtet, der weitere in anderen arabischpersischen Städten wie Medina, Isfahan, Hamadan und Buchara folgten. Spezielle Psychiatrische Behandlungs- und Pflegeabteilungen in Moschee-Hospitälern gab es offenbar seit 1151 in Damaskus, 1158 in Aleppo, 1182 in Kairo und 1228 in Tephrike.

1284 wurde in Kairo das Al-Mansuri-Spital als größtes Krankenhaus des Mittelalters in Betrieb genommen, in dem ebenfalls Geisteskranke behandelt wurden. Auf europäischem Boden entfaltete sich unter der maurischen Herrschaft in Spanien, insbesondere im Kalifat Córdoba bzw. Emirat Granada, eine glanzvolle Periode kultureller Hochblüte, eingeschlossen die Heilkunst. Das 1375 unter Muhammad V. in Granada errichtete Krankenhaus wurde nach der Reconquista als Narrenhaus („Casa de los Locos“) weitergeführt

Das islamische Gesundheitswesen war weitaus effizienter als das der christlichen Gesellschaft, der die Rettung der Seele wichtiger war als die des Leibes. In den Spitälern gab es neben einer Küche und Apotheke Bäder, Büchereien, Gärten und Springbrunnen. Grundlage dieser modernen Heilkunde war die enge Verknüpfung von theoretischer Ausbildung und praktischem Unterricht am Krankenbett, die mit der Renaissance auch in den westeuropäischen Hospitälern Eingang fand.

Neben physiotherapeutischen Anwendungen gehörten Arzneimittel aus Mohnpulver, Khat, Haschisch, Kaffee, Wein, Cannabis, Alraune und Nieswurz zum Behandlungsrepertoire. Psychotherapeutisch kamen Zerstreuung durch Musik, Tanz, Theater und Lektüre, Gespräche und kathartische Abreaktionen zum Einsatz. Erhalten blieben allerdings auch Magie und Exorzismus: Spirituelle Heiler arbeiteten mit Handauflegen, rituellen Reinigungen, Beschwörungen und Gebet. Einen hohen Rang nahm die Traumdeutung ein; die Interpretationsschemata der als symbolisch aufgefassten Trauminhalte sind in gewisser Weise den Archetypen der Jung schen Psychologie vergleichbar.

Die bekanntesten islamisch-persischen Ärzte waren Ar-Razi bzw. Rhazes (865–925) aus Ray und Ibn Sina bzw. Avicenna (980–1037) aus Buchara. Beide waren Naturforscher und Philosophen, die ihre medizinischen Kenntnisse aus gewissenhaften Beobachtungen bezogen und mit pragmatisch-rationalen Behandlungsprinzipien verknüpften. Von Rhazes stammt das posthum erschienene Kompendium „Liber Continens“, eine umfassende Krankheitslehre als Kompilat hippokratischer, galenscher, byzantinischer Schriften und eigener Erfahrungen.

Avicenna verfasste den „Canon medicinae“, ein auf der Humoralpathologie basierendes Werk der gesamten Heilkunde. Der Kanon wurde im 12. Jahrhundert als medizinisches Standardlehrbuch von den Medizinschulen in der damals bekannten Welt übernommen und zum Klassiker eines Jahrtausends – ein fünfbändiges, detailliertes Riesenwerk mit differenzierter Gliederung. In Anlehnung an Aristoteles vertrat Avicenna das Persönlichkeitskonzept einer Schichtenlehre mit einer Einteilung in eine vegetative, animale und rationale Seele. Im Abschnitt I des dritten Buches (Traktatus II–V) finden sich Abhandlungen über neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Im III. Traktat wird die intrakranielle Raumforderung mit allen typischen psychopathologischen Begleiterscheinungen beschrieben. Im vierten Kapitel des IV. Traktats werden Schlafstörungen und deren Therapeutika besprochen: Mohnsaft, angenehm-gleichförmige Geräusche (Blätterrauschen, fließendes Wasser, monotoner Gesang) und Badekuren.

Neben dem Philosophen Ibn Rushd, genannt Averroes (1126–1198), war der ebenfalls in Córdoba geborene Jude Moses Maimonides (1135–1204) ein weiterer bedeutender, spanisch-arabischer Arzt. Aufgrund religiöser Verfolgungen verließ er Spanien und ließ sich schließlich in Kairo nieder, wo er Arzt am Hof des Sultans Saladin wurde. Seine zahlreichen Schriften enthielten Ratschläge hinsichtlich Diät, Hygiene und erster Hilfe sowie allgemein-medizinischer Probleme. Er übersetzte den Kanon Avicennas ins Hebräische und gab eine Sammlung hippokratischer und galenscher Schriften in Arabisch sowie ein Synonymen-Lexikon mit ca. 2 000 Namen von Heilmitteln heraus. In der Schrift „Hygiene der Seele“ erläuterte er ausführlich die Behandlung Depressiver.

Mit dem Niedergang des islamischen Reiches, eingeleitet durch die Aufgabe Spaniens, wich in den von den christlichen Verbündeten zurückeroberten Gebieten auch die hoch entwickelte Heilkunde metaphysisch-spekulativen Praktiken mit Wahrsagerei, Wunderglauben, Astrologie und Alchemie. Auf bischöfliche Anordnung wurden 1199 in Granada alle islamischen Schriften zur Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft verbrannt.

Im übrigen Europa war die Bedeutung der Medizin – bedingt durch den wissenschaftsfeindlich-scholastischen Einfluss der Kirche – längst auf den Stand weit vor der Antike zurückgefallen. Im 11. Jahrhundert setzte der Kampf gegen jede Art von (vermeintlicher) Häresie ein, beginnend mit der Auslöschung der Katharer, Albigenser und Waldenser. Die Ketzerverfolgungen, von der Inquisition entfacht und durch das Laterankonzil von 1179 bzw. päpstliche Weisungen (wie z. B. die offizielle Foltergenehmigung im Jahr 1251) weiter befeuert, weiteten sich etwa ab Mitte des 15. Jahrhunderts aus zur einer aberwitzigen, über 300 Jahre andauernde Hexenverfolgung. Der auch im Christentum weiter virulente Dämonenglaube expandierte nach Bekanntwerden der Hexenbulle („Summis desiderantes“) 1484 und des Hexenhammers („Malleus maleficarum“) 1486 zu einem kollektiven, sich wie ein Flächenbrand über ganz Europa bis nach Nordamerika ausbreiteten Hexenwahn. Der kirchlichen Repression fielen mindestens 50 000 unschuldige Menschen zum Opfer, die auf dem Scheiterhaufen endeten, darunter zahlreiche geisteskranke und psychisch gestörte, exzentrische und überhaupt ungewöhnliche Menschen, fünf mal mehr Frauen als Männer. Die Unterscheidung zwischen visionärer Schwärmerei, psychischer Krankheit und Besessenheit war willkürlich; im Zweifelsfall wurde der Pakt mit dem Teufel unter der Folter „bewiesen“. In einem aufgeheizten Klima von Unwissenheit, religiöser Obsession, Existenzängsten und inquisitorischem Terror gediehen Massenhysterien in Form von Flagellantentum, Tanzwut, Kinderkreuzzügen und kollektiven halluzinatorischen Wahrnehmungen.

Als eine der ersten Gegner wendeten sich die Ärzte Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) und sein Schüler Johann Weyer (1515–1588) aus Brabant gegen den Hexenwahn. Beide wurden von der Inquisition verfolgt, weil sie gegen deren, jeglicher ordnungsgemäßer Rechtssprechung widersprechenden Anklagen und grausamen Foltermethoden protestiert hatten. Sie vertraten nachdrücklich die Überzeugung, dass es sich bei den Geistesgestörten nicht um Besessene, sondern um ungefährliche Kranke handele; ihre Geständnisse seien erpresst, ihre Berichte allenfalls pure Einbildung. Der Duisburger Arzt Johann Ewich (1525–1588) war einer der wenigen, die sich zu Weyers Ansichten bekannten. Von Seiten der Geistlichkeit bezog vor allem der Jesuit Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) gegen die Hexenprozesse Stellung (siehe auch 3. Kapitel). Zwar hatte sich schon Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus – in allerdings recht widersprüchlicher Weise – gegen die Besessenheits-hypothese zur Entstehung der Geisteskrankheiten ausgesprochen; vom Gauben an übernatürliche Einwirkungen auf Gesundheit und Krankheit hatte allerdings auch er sich nicht lösen können. Er war gleichzeitig medizinisch und seelsorgerisch tätig, wobei er sich gemäß seiner mystizistischen Krankheitsauffassung eklektisch astrologischer, alchemistischer und pharmazeutischer Methoden bediente. Paracelsus (1491–1541) war nach dem Studium der Medizin in Basel und Ferrara als Wanderheiler kreuz und quer durch Europa bis hin nach Kleinasien unterwegs, ehe er sich 1527 in Basel niederließ. Ein Jahr später flüchtete er nach heftigen Auseinandersetzungen mit Kollegen und Behörden und nahm seine unsteten Reisen wieder auf. Er verstarb wahrscheinlich an einer Vergiftung mit Quecksilber, einem in der alchemistischpolypragmatischen Pharmazie sehr gebräuchlichen Mittel.

Paracelsus polemisierte streitlustig gegen Hippokrates, Galen und Avicenna. In seinen rund 200 Schriften zur chirurgischen und pharmazeutischen Themen findet sich auch eine neuartige Einteilung der Geisteskrankheiten in Epilepsie, Manie, Unsinnigkeit, Veitstanz und Hysterie. In seiner posthum erschienenen Abhandlung „Von den Krankheiten, die der Vernunft berauben“ bezeichnete er zwar die Geistesstörungen als „natürliche Krankheiten“ und forderte dazu auf, die Narren wie Kranke wie Brüder zu behandeln, vertrat aber andererseits auch dämonologische Thesen.

Die zeitgenössische, öffentliche Einstellung zur Geisteskrankheit war weiterhin widerspruchsvoll. Zwar verlor der in beiden Konfessionen wütende Hexenwahn an Dynamik; die Todesstrafen für Hexerei und Zauberei waren jedoch erst allmählich ab dem 17. Jahrhundert rückläufig, magische Krankheitsvorstellungen überdauerten bis heute.

Mit Beginn der Aufklärung nahm die Bedeutung religiös-übernatürlicher Erklärungen des Wahn sinns ab; rational-medizinische Hypothesen sind indes erst seit Ende des 16. Jahrhunderts zu verzeichnen, mangels neuer Ideen durch Rückgriff auf naturphilosophische Erkenntnisse der Antike. Unterschieden wurde zwischen einer Körper- und einer Geistseele, miteinander durch feinstoffliche Lebensenergie über Nervenbahnen verbunden.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts veröffentlichte der Baseler Arzt Felix Platter eine klinisch-empirisch fundierte Klassifikation der Geistesstörungen in Form einer differenzierten Einteilung in fieberhaftes Delir, Katatonie, Verblödung, Trunksucht, Liebe und Eifersucht, Melancholie und Hypochondrie, Teufelsbesessenheit, Tobsucht und Manie, Phrenitis und Schlaflosigkeit. Aufgrund sorgfältiger Beobachtungen beschrieb er präzise Zwangs- und Wahnsymptome sowie die Anzeichen der hypochondrischen Melancholie; die Tanzwut betrachtete er als Form einer Psychose. Platter (1536–1614) studierte in Montpellier Medizin und Pharmazie. Er wurde 1571 in Basel zum Stadtarzt und Leiter des dortigen Spitals bestellt. Als Anhänger des berühmten flämischen Anatomen Andreas Vesalius (1514–1564) nahm er regelmäßig Obduktionen vor; 1583 veröffentlichte er selbst einen Anatomieatlas. Mit seinem dreibändigen Hauptwerk („Praxeos medicae opus“), ergänzt durch einen Band klinisch-psychopathologischer Beobachtungen mit etwa 680 Krankheitsprotokollen („Observationes“), leitete Platter eine neue Epoche der Psychiatriegeschichte ein. Therapeutisch empfahl er die üblichen pflanzlichen Mittel, Bäder und eine Art Massage; im Übrigen waren seine humanitär ausgerichteten Behandlungsprinzipien der Geisteskrankheiten eher pädagogischer als medizinischer Art.

Im Kontrast zu den miserablen Verwahrungen der psychisch Kranken, die sich bis in das 18. Jahrhundert hinein sogar – trotz aufkommender Kritik von Seiten aufgeklärter Pädagogen und Philosophen – noch weiter verschlechtern sollten, machten die medizinischen Erkenntnisse bemerkenswerte Fortschritte. So entdeckte der englische Arzt und Naturphilosoph Thomas Willis (1622–1675) zahlreiche hirnanatomische Details; in seiner Schrift über Epilepsien („De morbis convulsivis“) ging er auch ausführlich auf die Genese von Geistesstörungen ein. Nosologisch unterschied er grundsätzlich akute von chronischen Krankheiten, die er jeweils bestimmten Hirnarealen zuordnete. Willis folgte hier dem Philosophen und Begründer der modernen Naturwissenschaft Francis Bacon (1561–1626), der u. a. eine Pathologie des Gehirns verfasst hatte. Der schottische Arzt George Cheyne (1671–1743) beobachtete bei etwa einem Drittel seiner Patienten psychische Auffälligkeiten wie hysterische und hypochondrische Beeinträchtigungen, die nicht auf körperliche Ursachen zurückzuführen waren; er nannte sie „Englische Krankheit“ („The English Malady“). William Cullen (1710–1790), Medizinprofessor in Edingburgh und Glasgow, schuf 1969 den Begriff „Neurose“ als zusammenfassende Bezeichnung für Entkräftungen, Krämpfe, schlafsüchtige Krankheiten und Gemütsleiden, deren Ursache er in einer „widernatürlichen Beschaffenheit des Nervensystems“ vermutete.

Die herausragende Gestalt der europaweit führenden, englischen Psychiatrie des 18. Jahrhunderts war der ebenso klinisch versierte wie humanitär eingestellte William Battie (1704–1776). Battie forderte eine spezialärztliche Behandlung der Geisteskranken und begründete in England die Psychiatrie als eigenes Fach (siehe Kapitel 3).

Trotz einzelner Versuche, eine Verbesserung der Behandlung und Versorgung der Geisteskranken herbeizuführen, war deren Situation auf lange Zeit im Auf und Ab der unterschiedlichen Krankheits- und Behandlungsauffassungen miserabel. Erste zaghafte Reform bewegungen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts kündigten eine allmähliche Wende an, die schließlich zur Umgestaltung des Irrenwesens führten, einhergehend mit dem Ersatz der Zucht- und Tollhäuser durch neu gebaute Irrenanstalten und der Abschaffung von mechanischen Zwangsmitteln und körperlichen Züchtigungen. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch den Paradigmenwechsel in Richtung eines somatologischen Krankheitsbegriffs.

In Deutschland wurden die zu Beginn des 19. Jahrhunderts administriell angeordneten Bestrebungen zur Verbesserung von Unterbringung und Behandlung der Geisteskranken angeführt von Christian August F. Hayner (1775–1837) in Colditz und Johann G. Langermann (1768–1832) in Bayreuth wie auch Johann F. Koreff (1783–1851) in Berlin. Sie engagierten sich im Auftrag der Sächsischen bzw. Preußischen Regierung nachdrücklich für eine Reform des Anstaltswesens. Auf breiter Front wurden nun neue Großkrankenhäuser errichtet, meist abseits der Stadt, teils in Form schlossähnlicher Anlagen. Die früheren Benennungen „Narrenhaus“, „Pflegehaus“, „Seelhaus“, „Spinnhaus“, „Tollhaus“ oder „Irrhaus“ wurden durch „Irrenanstalt“ bzw. „Irrenhaus“ ersetzt. Die vom Hallenser Arzt Johann Ch. Reil (1759–1813) angeregte, euphemistische Bezeichnung „Hospital für die psychische Curmethode“ wurde nicht weiter aufgegriffen.

Der Wandel vom Allgemeinspital zum Fachkrankenhaus war gekennzeichnet durch dessen Zuständigkeit für nunmehr ausschließlich psychisch Kranke und eine dauerhafte ärztliche Präsenz; eine fachliche Spezialisierung gab es jedoch ebenso wenig wie eine effiziente Behandlung von Psychosen und anderen, schweren Geistesstörungen. Die allgemein übliche und offizielle Bezeichnung für psychisch Kranke war „Irre“, für den auf dem Gebiet der Irrenpflege tätige Arzt bis ins 20. Jahrhundert „Irrenarzt“; Vor dem Hintergrund der aufstrebenden Hirnpathologie wurde „Neuropsychiater“ eine weitverbreitete Berufsbezeichnung. Reil verwendete 1808 wohl erstmals die Begriffe „Psychiaterie“ und „Psychiatriker“, aus dem später „Psychiatrie“ bzw. „Psychiater“ wurden. Bis etwa zu Beginn des 21. Jahrhunderts war im niedergelassenen Bereich der gleichermaßen neurologisch wie psychiatrisch ausgebildete „Nervenarzt“ bzw. „Arzt für Nervenheilkunde“ tätig, obgleich die Ablösung der Neurologie faktisch bereits vollzogen war (siehe auch Kapitel 8).

Standardisierte, empirisch abgesicherte und evaluierte Behandlungsmethoden für psychisch Kranke existierten noch lange nicht. Wie in den übrigen Bereichen der Heilkunde, ausgenommen die chirurgischen und gynäkologisch-geburtshilflichen Fächer, beruhten die Prinzipien der psychiatrischen Medizin auf polypragmatischen Arzneiverordnungen, diätetischen Mitteln einschließlich Fasten, hydrotherapeutischen Anwendungen in Form von Bädern und Wassergüssen („Sturzbäder“) sowie beschäftigungstherapeutischen Aktivitäten. Teilweise exzessiv in Gebrauch kamen Aderlässe, Schröpfen, Klistiere, Brech- und Abführmittel. An pharmazeutischen Substanzen fanden die altbekannten Extrakte aus Alraune, Stechapfel, Tollkirsche, Eisenhut, Christrose, Lavendel, Senf und Mohnkapseln zur Beruhigung Verwendung, Kampferspiritus, Moschus, Bibergeil, Phosphor, Äther, Weingeist und Ammoniak als anregende Stimulantien. 1827 wurde als erstes synthetisches, dämpfendes Mittel das Antikonvulsivum Bromkalium eingeführt, das bis zur Erprobung von Chlorahydrat an der Berliner Charité 40 Jahre später zwar eine gewisse Monopolstellung in der Pharmakotherapie hatte, jedoch wegen seiner toxischen Begleitwirkungen wie Benommenheit, Verwirrtheit und Psychosen bei längerem Gebrauch in Verruf geriet.

An psychologischen bzw. milieutherapeutischen Methoden wurden Ablenkung, umstimmende Gespräche, religiöse Unterweisungen, Singen, Musizieren, Malen und Handarbeiten sowie andere Beschäftigungen eingesetzt, teils verknüpft mit Belohnungen oder Sanktionen. An den großen Anstalten waren Arbeitseinsätze in den hauseigenen Werkstätten und Betrieben, Gärten oder auf den Feldern üblich. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts verbreitete sich nach Entdeckung der künstlichen Elektrizität die stimulierende Faradisierung als „Nervenkur“ („Medicina electrica“), gefolgt vom Einsatz „magnetischer Kuren“ mittels Berührung von Eisenmagneten. Der Wiener Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) erklärte schließlich die Erfolge dieser Suggestionsmethoden mit der Wirkung eines universellen Fluidums, das er „animalischen“ bzw. „tierischen Magnetismus“ bezeichnete. Der „Mesmerismus“, erfreute sich besonders in gebildeten Kreisen zur Behandlung hysterischer Zustände und psychosomatischer Leiden großer Beliebtheit Neben Einzel- gab es Gruppensitzungen, bei denen sich die Beteiligten um überdimensionale Holzbottiche („Gesundheitszuber“, sog. Baquets) mit Eisenstäben versammelten, deren Berührung als heilend empfunden wurde (siehe auch Kapitel 9).

Trotz der erheblichen Verbesserungen im psychiatrischen Versorgungswesen gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin große qualitative, mehr jedoch quantitative Unterbringungsprobleme infolge der enormen Zuwachsrate an Patienten. Befanden sich noch Ende 1894 knapp 9 000 Personen in den 44 Anstalt en Deutschlands, waren es 10 Jahre später mehr als zehnmal soviel. Die Versorgungssituation der Kranken war nach wie vor dringend verbesserungsbedürftig; die Missstände wurden von den Nervenärzten angeprangert und 1895 sogar im preußischen Abgeordnetenhaus diskutiert. Auslöser war eine Beschwerde über das Aachener Alexianerkrankenhaus, der zufolge an mittelalterliche Prozeduren erinnernde „Foltermethoden“ an der Tagesordnung seien; ein im Nebenamt tätiger Arzt widme den mehr als 660 Kranken täglich insgesamt lediglich anderthalb Stunden. Im Verlauf der Abgeordnetendiskussion wurden erhebliche Mängel des Irrenwesens eingeräumt. Als Gründe wurden u. a. mangelnde Kompetenz des Verwaltungsapparates und eine Missachtung des ärztlichen Standes, überhaupt der Wissenschaft genannt. Selbstkritische Töne von Seiten der Irrenärzte gab es kaum.

Am Wendepunkt zur modernen Psychiatrie in wissenschaftlicher wie klinischer Hinsicht steht Wilhelm Griesinger (1817–1868), herausragender Vordenker und Gestalter einer neuen Epoche, die bis heute in psychiatrisches Denken und Handeln einfließt. Seine Vorstellung von einer psychiatrischen Wissenschaft als Synthese von Hirnforschung, Psychopathologie und Sozialpsychiatrie konnte sich in Deutschland allerdings erst nach Generationen von Psychiatern in Form des biopsychosozialen Krankheitsmodells durchsetzen. Zusammen mit dem Göttinger Psychiater Ludwig Meyer (1827–1900) gehört er zu den ersten deutschen Reformpsychiatern, die das englische „Nonrestraint-Konzept“, nämlich eine Unterbringung ohne mechanische Zwangsmittel und eine Behandlung ohne körperliche Torturen, in ihren Häusern konsequent durchsetzten. Ebenso lange dauerte es, bis mit der Psychiatriereform seit den 1970er-Jahren die milieutherapeutischen und sozialpsychiatrischen Ideen Griesingers Eingang in die psychiatrische Versorgung fanden.

2 Seelsorger oder Hirnforscher?

Der ideale Seelenarzt müsste – falls er das Bild von der bio-psychosozialen, unauflösbaren Einheit „Mensch“ verinnerlicht hat – sowohl ein weiser Menschenkenner und einfühlsamer Psychologe sein als auch ein souveräner Kenner des Nervensystems als Träger des Geistes. Der klinische Alltag erweist sich jedoch als komplizierter: Wer auf der Suche nach den organischen Korrelaten der psychischen Funktionen Hirne seziert oder deren Ströme misst, wird mit dem theologischphilosophischen Konstrukt „Seele“ vermutlich nicht viel anfangen können; umgekehrt gilt das Gleiche. Mit der Ablösung des früheren, unitarischen „Nervenarztes“ bzw. „Arztes für Neurologie und Psychiatrie“, der sozusagen für beide Seiten „zuständig“ war, durch jeweils einen neurologischen und einen psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosomatischen Facharzt wurde diesem Cartesianischen Körper-Geist-Dualismus zumindest auf klinischen Gebiet Rechnung getragen: Während sich die naturwissenschaftlich sozialisierten, neuropsychiatrisch ausgerichteten Mediziner organmedizinisch-somatotherapeutisch orientieren, repräsentieren die psychotherapeutisch behandelnden Ärzte zusammen mit den psychologischen Psychotherapeuten weitgehend die geistes- und sozialwissenschaftliche Herkunft der „Seelenheilkunde“ (siehe auch Kapitel 9).

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!