Nicht nur die überfüllten Wartezimmer der Arztpraxen und die langen Wartezeiten auf
einen psychiatrischen oder psychologischen Untersuchungstermin signalisieren eine
stete Zunahme geistig-seelischer Probleme während der letzten Jahrzehnte. Auch die
Aufschlüsselungen der Krankenkassen und Sozialversicherungen lassen ein kontinuierliches
Anwachsen psychischer Störungen in den Industrieländern erkennen; von sämtlichen Erkrankungen
sind sie neben Infektionen und orthopädischen Beschwerden im Laufe der letzten zehn
Jahre nach und nach auf die obersten Ränge aller Krankheiten gerückt. Während der
letzten 20 Jahre war ein Zuwachs von rund 30 % dieserart Behandlungsfälle zu verzeichnen,
einhergehend mit einer Verdoppelung der Gesamtkosten innerhalb der letzten fünf Jahre,
die derzeit in Deutschland um 1.6 Milliarden Euro jährlich liegen. Die meisten vorzeitigen
Berentungen erfolgen wegen psychischer Leiden, in Deutschland jährlich rund 50.000
Mal.
Während Psychosen und verwandte Störungen auf einem konstanten Häufigkeitsniveau verblieben
sind, haben – neben Depressionen und Angstkrankheiten – alle möglichen Formen geistiger
Beeinträchtigungen unter dem Oberbegriff „Demenz“ deutlich zugenommen. Abgesehen von
den damit verbundenen volkswirtschaftlichen Belastungen, geht jede Demenzerkrankung
nicht nur für den Betroffenen, sondern meist auch für die Angehörigen und nächsten
Bezugspersonen mit erheblichen Belastungen und Einschränkungen einher.
Ausreichende Kenntnisse über die Art und den Verlauf einer Demenz helfen, den Kranken
besser zu verstehen und angemessen mit ihm umzugehen. Dem damit verbundenen Lern-
und Aufklärungsbedarf von direkt und indirekt Betroffenen soll im Folgenden Rechnung
getragen werden, indem über die verschiedenen Arten und Formen demenzieller Krankheitsbilder
informiert wird.
Dargestellt werden die typischen Erkrankungsbilder unter Einbeziehung von drei exemplarischen
Krankheitsfällen. Genauer beschrieben werden Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben
sowie Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit, die als Symptome einer beginnenden
Demenz in Frage kommen, außerdem die gängigen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnose
führen. In diesem Zusammenhang werden die aktuellen Hypothesen zu den Entstehungsrisiken
und -ursachen
skizziert bzw. die mehrdimensionalen Krankheitsmodelle reflektiert. Schließlich wird
das Repertoire der modernen, allgemein-medizinischen, psychiatrisch-psychologischen
und psychosozial-pflegerischen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erläutert und
begründet. Abschließend wird auf rechtliche Fragen eingegangen.
Alles in allem sollen diese Informationen dabei helfen, den Krankheitsprozess differenziert
wahrzunehmen, sinnvoll einzuordnen und realistisch zu bewerten. Mögen sie Mut machen,
nicht vor den hohen körperlichen und seelischen Anforderungen zu kapitulieren, die
eine Demenz an alle Beteiligten stellt, sondern die veränderte Lebenssituation so
erträglich wie möglich zu gestalten. Fachlich Interessierte und beruflich engagierte
Angehörige pflegender, helfender und heilender Professionen werden eher Zugang zu
den wissenschaftlichen Grundlagen der verschiedenen Demenzkrankheiten finden.
Vorkommen
An einer Demenz gleich welcher Art erkrankt sind in Deutschland – bei einem Gefälle
von Ost nach West – etwa 1.2 Millionen Menschen mit weiter steigender Tendenz, was
jährliche Neuerkrankungen von ca. 280.000 bzw. ein Nettozuwachs von ca. 35.000 Personen
pro Jahr bedeutet. Dass deutlich mehr als die Häfte der Betroffenen Frauen sind, wird
in erster Linie mit deren höherer Lebenserwartung erklärt. Zwei bis drei Prozent der
Demenzen entfallen auf Personen unter 65 Jahren.
Wegen ihres meist unmerklichen Beginns wird die Krankheit anfangs oft nicht erkannt
bzw. ihre Symptome werden als Ausdruck seniler Verschrobenheiten gedeutet und bestenfalls
als altersbedingte Marotten belächelt. Im Gegensatz zu vielen anderen psychischen
Störungen bilden sich die meisten Demenzerkrankungen jedoch nicht zurück, sondern
führen zu einer fortschreitenden Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, begleitet
von einer Veränderung der gesamten Persönlichkeit – für jeden Einzelnen eine menschliche
Tragödie. Trotz intensiver Forschungen zur Entstehung und Behandlung demenzieller
Krankheitsprozesse gibt es bislang für die Betroffenen keine Heilung, allerdings etliche
Hilfsmittel zu deren Linderung und zu einem Management des Leidens.
Anders als der Großteil schwererer geistig-seelischer Erkrankungen tritt eine Demenz
überwiegend im fortgeschrittenen Lebensalter auf, dann allerdings mit zunehmender,
steil ansteigender Häufigkeit. Liegt
die Erkrankungswahrscheinlichkeit in den Industriestaaten mit 65 Jahren um etwa 1.5
%, steigt sie ab dann kontinuierlich an: Zehn Jahre später sind etwa 6–8 % der Menschen
betroffen, mit 85 Jahren etwa ein Viertel der Bevölkerung, ab dem neunten Lebensjahrzehnt
zeigt jeder Zweite Symptome einer Demenz.
Merksatz
Die Wahrscheinlichkeit, an einer fortschreitenden Demenz zu erkranken, steigt mit
dem Älterwerden rapide an. Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.2 Millionen Demenzkranke
verschiedener Ursachen mit jährlichen Nettozuwachsraten um ca. 35.000.
Bestandsaufnahme
Die Bezeichnung „Demenz“, für die auch volkstümliche Ausdrücke wie „Altersschwachsinn“,
„Senilität“, „Hirnverkalkung“ oder „Zerebralsklerose“ gebräuchlich sind, entstammt
dem lateinischen Begriff „de mente“, was soviel bedeutet wie „von Sinnen“. Mit ihm
wurden ursprünglich allgemein psychische Ausnahmezustände wie „Wahnsinn“ oder „Tollheit“
bezeichnet. Erst mit der Renaissance änderte sich die Bedeutung von „Dementia“. So
hob der Baseler Stadtarzt und Medizinprofessor Felix Platter (1536–1614) als Hauptmerkmal
der demenziellen „Verblödung“ die Vergesslichkeit („Oblivio“) hervor. Er beschrieb
in diesem Zusammenhang Greise, die nicht nur ihre frühere geistige Beweglichkeit verloren
hatten, sondern auch die Fähigkeit, Neues aufzunehmen. Als Ursachen vermutete Platter
erbliche Gründe, Hirnschädigungen oder „Alterseinwirkungen“.
Der berühmte Pariser Psychiater Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840) zählte
als besondere Demenz-Merkmale Einschränkungen des Gedankenreichtums, der Wahrnehmungsfähigkeit
und der Gedächtnisleistungen auf. Sein Lehrer Philippe Pinel (1745–1826), der große
Reformer des Irrenwesens am Pariser Hôpital Salpêtrière, nannte den Demenzkranken
einen „arm gewordenen Reichen … geschwächt an Empfindung, Intellekt und Willen“. In
der Folgezeit wurde erstmals ein Zusammenhang zwischen einer Demenz und einer progressiven
Paralyse als Spätfolge einer Syphilis-Erkrankung vermutet, deren Verursachung durch
Bakterien vom Typ der Spirochäte erst zu Beginn des
20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte. Diese Demenzform,
gekennzeichnet durch eine hochgradige geistige Zerrüttung und ein jahrelanges körperliches
Siechtum, war neben der alkoholbedingten Demenz gefürchtet, weil sie meist schon während
der ersten Lebenshälfte auftritt und damals nicht zu heilen war.
Schon von den altgriechischen Ärzten im 5. Jahrhundert v. Chr., sodann vor allem vom
„Vater der Medizin“, Hippokrates (um 460–370 v. Chr.), wurde das Gehirn als Sitz der
Seele angesehen. Aus dieser Tradition heraus brachten die byzantinischen und arabischen
Ärzte der ersten Jahrhunderte n. Chr. geistigen Abbau und Persönlichkeitsveränderungen
mit einem altersbedingten Hirnschwund in Zusammenhang. Jedoch gelang erst dem Münchener
Psychiater Alois Alzheimer (1864–1915) im Jahr 1906 die genauere hirnpathologische
Aufklärung der später nach ihm benannten Krankheit.
Die heute weitaus häufigeren Formen der Alzheimerdemenz und der durch mangelhafte
Hirndurchblutung bedingten Demenz als Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte wurden
damals nur selten beobachtet, da die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa im
Vergleich zu heute etwa ein Drittel niedriger war. Das 60. Lebensjahr erreichten noch
im 19. Jahrhundert allenfalls 10 % der Bevölkerung – bei einer voraussichtlichen Lebensdauer
von 35 bis höchstens 40(!) Jahren. Heute liegt die Quote etwa vier Mal so hoch; in
Deutschland beträgt die statistische Lebenserwartung inzwischen 82.4 Jahre für Frauen
und 77.2 Jahre für Männer. Pflegebedürftig sind ca. 2.4 Millionen Personen.
Seit 1936 in England erstmals die Altersgrenze von 100 Jahren überschritten wurde,
hat die Anzahl Hundertjähriger dank verbesserter sozioökonomischer Lebensbedingungen
und enormer medizinischer Fortschritte kontinuierlich zugenommen. In Deutschland gibt
es derzeit rund 22 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Ab diesem Alter
wächst die Quote der Demenzkranken, von denen die meisten zur Gruppe der Alzheimerpatienten
gehören, drastisch an.
In der Grundsatzerklärung der Vereinten Nationen (der sog. Wiener Deklaration) von
1982 wurden folgende Lebensziele für alte Menschen formuliert:
• Unabhängigkeit,
• Mitbestimmung,
• Pflege,
• Selbstverwirklichung und
• Würde.
Die 2008 paraphierte, europäische Charta der Grundrechte im sog. Vertrag von Lissabon
hebt in Artikel 25 Würde, Gleichstellung und Unabhängigkeit alter Menschen mit Teilhabe
am sozialen und kulturellen Leben besonders hervor. Vor dem Hintergrund dieser Leitlinien
wird angesichts der stetig steigenden Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern
der Pflegeaufwand für Demenzkranke in Zukunft zu den wichtigsten gesundheitspolitischen
und volkswirtschaftlichen Problemen gehören. Die statistischen Daten sind alarmierend:
Schon jetzt sind sieben von zehn Heimbewohner demenzkrank. In Deutschland werden die
direkten und indirekten Kosten zur Behandlung und Betreuung der Demenzkranken – davon
fast zwei Drittel Alzheimer-Patienten – derzeit mit rund 5,7 Milliarden Euro jährlich
beziffert.
Europaweit ist vorerst mit einer Nettozunahme um jährlich 150.000 bis 200.000 Patienten
zu rechnen. Auf Drängen des Europäischen Parlaments soll der Kampf gegen Alzheimer-Demenz,
an der in Europa etwa sieben Millionen Personen leiden, in der europäischen Gesundheitspolitik
in Zukunft Vorrang bekommen.
Die Zahl wird wahrscheinlich weiterhin ansteigen, falls im Frühstadium durch medizinische
Einwirkungen keine nachhaltige Unterbrechung des Krankheitsprozesses oder gar dessen
Umkehr erreicht wird. Bis zum Jahr 2050 werden in Deutschland bzw. Europa schätzungsweise
doppelt so viele Menschen wie heute an Demenz erkrankt sein. Pessimistische Schätzungen
gehen sogar von noch größeren Zuwächsen für den Fall aus, dass durch präventive, d.
h. krankheitsvorbeugende Maßnahmen, wie z. B. eine gesunde Lebensweise, keine Trendwende
gelingt.
Die Forschung läuft auf Hochtouren. Und ähnlich wie bei der AIDS-Forschung drängt
die Zeit. Auch wenn fast monatlich von Fortschritten (aber auch enttäuschten Hoffnungen)
berichtet wird, bedeutet das nicht, dass in absehbarer Zeit ein Heilmittel verfügbar
sein wird.
Eine Demenz ist in erster Linie durch einschneidende, erst irritierende und ärgerliche,
bald frustrierende, dann schmerzliche kognitive Einbußen gekennzeichnet, d. h. durch
Beeinträchtigungen im Bereich von Wahrnehmen und Erkennen, Erfassen und Begreifen,
Verstehen und Denken, Behalten und Erinnern, Vorstellen und Planen. Schon der irische
Schriftsteller Jonathan Swift (1667–1745) schildert in dem bekannten Roman „Gullivers
Reisen“ solche Symptome: So hört der Protagonist Lemuel Gulliver während seines Besuches
der Insel Luggnagg von den unsterblichen „Struldbrugs“, die ab dem 80. Lebensjahr
als Tote betrachtet werden. Sie vergessen im hohen Alter alle möglichen Bezeichnungen
und Namen und können kein Gespräch mehr führen.
Nach heutigem Stand der Wissenschaft gibt es für den typischen Demenzkranken keinen
Weg mehr zurück in die Normalität, in den Alltag von routinierten Gepflogenheiten
und vertrauten Gewohnheiten, erst recht keine Weiterentwicklung in kreativ-schöpferisches
Neuland. Schritt für Schritt und unaufhaltsam vermindern sich die wichtigsten Potenziale
des Verstandes: Konzentration, Aufmerksamkeit, Interesse, Neugier, Anteilnahme, Verständnis,
Gedächtnis und Orientierung.
Während von anderen psychischen Krankheiten Betroffene sich meist nur eine Zeit lang
in eine verfremdete, vielleicht beängstigende oder bedrückende Erfahrungswelt verirren,
ehe sie wieder in ihren normalen Lebensrhythmus zurückfinden, gerät der Demente in
eine sich immer stärker verengende geistige Sackgasse. Anders als bei anderen psychischen
Erkrankungen ist er mit dem verhängnisvollen Fortschreiten der Demenz auch immer weniger
in der Lage zu begreifen, welch schweres Schicksal ihm zuteil wurde. Ohne Aussicht
auf eine Umkehr verarmt und verkümmert das reiche Kapital, das eine Persönlichkeit
in all ihren Facetten ausmacht. Der einst womöglich intellektuell brillante, tatkräftige
und erfolgreiche Mensch entwickelt sich quasi zurück zum hilflosen Säugling, der am
Ende rundum gepflegt werden muss.
Demenzpatienten verlieren unwiderruflich die Welt, ehe sie ihr selbst verloren gehen.
Diesen schrittweisen Abschied menschenwürdig zu begleiten, ist eine hochrangige Aufgabe
einer humanen Zivilgesellschaft – wie überhaupt der Umgang mit den Schwächsten ihrer
Mitglieder, den Kindern, Alten, Kranken und Leidenden.