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Depressionen gehören zu einer der häufigsten psychischen Störungen bei älteren Menschen. Dieses Buch geht umfassend auf die Ursachen, die Diagnostik und die Behandlung depressiver Störungen bei älteren Menschen ein, sowohl im ambulanten Bereich wie insbesondere auf spezialisierten Altersdepressionsstationen. Als erfahrene Kliniker legen die Autoren einen besonderen Schwerpunkt auf die klinisch-therapeutisch relevanten Themenfelder. Damit haben sie eine anschauliche Basislektüre für die Depressionsbehandlung bei alten Menschen in Klinik und Praxis verfasst.
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Seitenzahl: 408
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Depressionen gehören zu einer der häufigsten psychischen Störungen bei älteren Menschen. Dieses Buch geht umfassend auf die Ursachen, die Diagnostik und die Behandlung depressiver Störungen bei älteren Menschen ein, sowohl im ambulanten Bereich wie insbesondere auf spezialisierten Altersdepressionsstationen. Als erfahrene Kliniker legen die Autoren einen besonderen Schwerpunkt auf die klinisch-therapeutisch relevanten Themenfelder. Damit haben sie eine anschauliche Basislektüre für die Depressionsbehandlung bei alten Menschen in Klinik und Praxis verfasst.
Professor Dr. med. Manfred Wolfersdorf, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhaus Bayreuth, ist ein renommierter Fachmann auf dem Gebiet der Altersdepressionen. Dr. med. Michael Schüler leitet das Bayreuther Depressions- und Gerontopsychiatrische Zentrum.
Wichtiger Hinweis:
Die Verfasser haben größte Mühe darauf verwandt, dass die Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen dem jeweiligen Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entsprechen.
Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, übernimmt der Verlag für derartige Angaben keine Gewähr.
Jeder Anwender ist daher dringend aufgefordert, alle Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Verantwortung des Benutzers.
Manfred Wolfersdorf, Michael Schüler
Depressionen im Alter
Diagnostik, Therapie, Angehörigenarbeit, Fürsorge, Gerontopsychiatrische Depressionsstationen
Unter Mitarbeit von Angela LePair, Wolfgang Bär, Christian Mauerer, Hella Schulte-Wefers und Stefan Dipper
Verlag W. Kohlhammer
DiesesWerk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2005 Alle Rechte vorbehalten © 2004W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-018316-2
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-026598-1
epub:
978-3-17-027276-7
mobi:
978-3-17-027277-4
Autorenverzeichnis
1 Einleitung – Alter und psychische Erkrankung
2 Gedanken zum Altern – Was bedeutet „höheres Alter“?
3 Depressionen im Alter
3.1 Zur Epidemiologie depressiver Störungen im Alter
3.2 Das klinische Bild depressiver Syndrome im Alter
3.2.1 Depressive Episode
3.2.2 Psychopathologische Akzentuierung der Depression im höheren Lebensalter
3.2.3 Diagnostik der Depression im höheren Lebensalter
3.2.4 Formen depressiver Syndrome im Alter
3.3 Psychodynamische Überlegungen zur Depression im Alter
3.4 Kulturelle und psychosoziale Aspekte der Depression im Alter
4 Differentialdiagnose bei Depressionen im Alter
4.1 Niedergeschlagenheit, Trauer, Depression im Alter
4.2 Schlafstörungen im Alter
4.3 Depression und Demenz
4.4 Komorbidität bei depressiven Erkrankungen im Alter
4.5 Testpsychologische Aspekte der Diagnostik
5 Verlaufsaspekte bei Depressionen im Alter
6 Psychotherapie mit alten depressiven Menschen
6.1 Definition und theoretische Vorbemerkungen
6.2 Psychotherapie im Alter
6.3 Die therapeutischen Verfahren und die Behandlung von depressiven älteren Menschen
6.4 Therapeutischer Prozess und wichtige Themen im Gespräch mit depressiven älteren Menschen
6.5 Probleme in der Psychotherapie mit alten depressiven Menschen
6.6 Falldarstellungen
6.7 Kompetenzen und Ressourcen im Alter
6.8 Humor in der Psychotherapie
7 Psychopharmakotherapie und andere somatische Behandlungsmöglichkeiten bei Depressionen im Alter
7.1 Allgemeine Vorbemerkungen
7.2 Psychopharmakotherapie der Depression im höheren Lebensalter
7.3 Andere somatische Behandlungsmöglichkeiten
8 Sozialpädagogisch-psychoedukative und andere Maßnahmen
9 Ambulante, tagesklinische oder vollstationäre Behandlung – Entscheidungshilfen
9.1 Ambulante Behandlung/ambulantes Setting
9.2 Stationäres Setting
9.2.1 Vollstationäre Behandlung
9.2.2 Teilstationäre (tagesklinische) Behandlung
10 Exkurs: Der ältere depressive Patient beim Hausarzt
10.1 Zwei Patientenschilderungen aus der „Hausarztpraxis“
10.2 Welches Handwerkszeug eignet sich zur Diagnose einer Depression in der Hausarztpraxis?
10.3 Anmerkung zur Therapie
11 Gerontopsychiatrische Depressionsstation: Das stationäre Diagnostik- und Therapieangebot der Station G3 am Bezirkskrankenhaus Bayreuth
11.1 Stationsbeschreibung
11.2 Therapeutische Angebote im Überblick
11.3 Nachsorge
12 Gedanken zur Prävention depressiver Störungen im Alter
13 Suizidalität im höheren Lebensalter
13.1 Begriffsbestimmung
13.2 Entwicklungsmodelle von Suizidalität
13.3 Suizidalität bei alten Menschen
13.4 Grundzüge der Suizidprävention im höheren Lebensalter
14 Alter und Sterben
15 Abschlussbemerkungen
Literatur
Sachverzeichnis
Professor Dr. med. Manfred Wolfersdorf, Arzt für Psychiatrie – Psychotherapie –, Arzt für Psychosomatische Medizin; Leiter der Abteilung Depressionszentrum/Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin; Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Dr. med. Michael Schüler, Arzt für Psychiatrie und Neurologie – Psychotherapie –; Leitender Arzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie der Klink für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Stellvertretender Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Frau Dipl.-Psych. Angela LePair, Diplom-Psychogerontologin, Psychologische Psychotherapeutin; Psychologische Leiterin der Gerontopsychiatrischen Depressionsstation der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Dr. med. Christian Mauerer, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Leiter des Demenzzentrums mit Gedächtnisambulanz der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Wolfgang Bär, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Oberarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Frau Hella Schulte-Wefers, (ehemals) Stationsärztin der Gerontopsychiatrischen Depressionsstation, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth
Dr. med. Stefan Dipper, niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin – Psychotherapie – in eigener Praxis, Lohbauerstraße 6, 70597 Stuttgart
„For the first time in history most people in societies such as our own can plan on growing old ... Even those who are currently „old“ can expect to life for many years ....“: Eine fast enthusiastische Einleitung des amerikanischen Lehrbuches „Geriatric Psychiatry“ (2. Auflage) von Spar und La Rue (1997). Hintergrund dieser Anmerkung ist der drastische Wandel in der Altersstruktur, dem die Weltbevölkerung in einem bisher nicht gekannten Ausmaße unterliegt. So erwartet das Statistische Bundesamt (1998) in seinem Gesundheitsbericht für Deutschland eine mehr als 10 %ige Steigerung des Anteils der über 60-jährigen Menschen im Jahre 2010 auf 24,9 %. Damit erhält der Altersaufbau der Bevölkerung ein deutlich verändertes Gesicht und es entwickelt sich aus einer „Alterspyramide“ ein eher „pilzförmiges“ Verteilungsgebilde mit einem hohen Anteil älterer und alter Menschen. Nicht nur aus allgemeiner gesundheitspolitischer Sicht, sondern auch aus psychiatrisch-psychotherapeutischer kommt den höheren Altersgruppen damit steigende Bedeutung zu.
Soweit heute vom höheren Lebensalter die Rede ist, wird weitgehend von den über 65-Jährigen ausgegangen (Häfner 1991), obwohl diese Altersgrenze einigermaßen willkürlich gewählt ist und ihre Begründung darin findet, dass mit Ende des 65. Lebensjahres meist das Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben vorgegeben ist, damit soziologisch die Altersphase des menschlichen Lebenszyklus eingeleitet wird. Dabei wird zunehmend deutlich, dass auch dieser Lebensabschnitt sich in unterschiedliche Phasen teilen lässt, denkt man z. B. an die über 80-Jährigen als sog. Hochbetagte. Das biologische Altern und auch das psychologische Altern befinden sich bei vielen Menschen zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr dagegen in einem kontinuierlichen Prozess, woraus sich die Unschärfe der Zugehörigkeit mancher Erkrankungen zum mittleren und höheren Lebensalter ergibt. Weiterhin ist zu bedenken, dass alle Aussagen nur für die gegenwärtige Altenbevölkerung, nicht für die Vergangenheit oder die Zukunft gelten können, zumal die Zusammensetzung in den letzten 50 Jahren in den Industrienationen relativ und auch hinsichtlich der absoluten Zahlen steil zugenommen hat (Tabelle 1 und 2).
Diesen altersdemographischen Veränderungen stehen strukturelle gegenüber, die hier nur punktuell angeführt werden können, so die niedrigen Geburtenziffern, die in jüngeren Generationen veränderten Familienstrukturen, die Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, von Single-Haushalten und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Dies würde sich z. B. auf die Forderung von häuslicher Pflege auswirken, die dann nur noch schwer erfüllbar wird und die Verfügbarkeit privater und eine verstärkte Notwendigkeit professioneller Hilfen bedingen würde. So fehlen wahrscheinlich auf längere Sicht Personen, die eine immer größer werdende Anzahl unterstützungs-, hilfs- und pflegebedürftiger älterer Menschen versorgen können.
Nach Angaben der „Gesundheitsberichtserstattung des Bundes“ (Kruse et al. 2002) sind derzeit 2,4 % von rund 82 Millionen
Tabelle 1: Altersstrukturelle Verschiebungen in der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands
1950
1995
2010
Bevölkerung insgesamt in Tausend
69346
81817
83433
Alter in Jahren
in %
<1
1,5
0,9
0,8
1–4
5,3
4,0
3,2
5–14
16,4
11,2
9,1
15–19
7,3
5,4
5,4
20–39
26,4
30,7
24,6
40–59
28,6
26,7
31,9
60–79
13,6
17,0
20,4
80–89
1,0
3,6
4,0
>90
0,0
0,5
0,5
Quelle: StBA, Bevölkerungsstatistik, 8. koordinierte Vorausberechnung. Aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Gesundheitsbericht für Deutschland. Metzler-Poschel, Stuttgart 1998, S. 18, mod.
Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland
Bevölkerung 2001 (in 1000) (Stand 30.09.2001)
m
40 255
w
42 148
gesamt
82 403
nach Altersgruppen
Alter von ... bis unter ... Jahren
(Angaben in %)
unter
6–
15–
18–
21–
45–
65
Jahr
6
15
18
21
45
65
u. älter
1991
m
7,1
10,1
3,2
4,1
38,9
26,2
10,4
w
6,3
9,0
2,8
3,6
34,4
24,7
19,1
ges
6,7
9,5
3,0
3,8
36,6
25,4
14,9
1995
m
6,4
10,6
3,4
3,3
38,9
25,8
11,5
w
5,8
9,6
3,1
3,0
34,7
24,4
19,4
ges
6,1
10,1
3,3
3,1
36,7
25,1
15,6
2000
m
6,0
10,3
3,5
3,6
37,0
26,4
13,2
w
5,5
9,3
3,1
3,3
33,5
25,3
20,0
ges
5,7
9,8
3,3
3,5
35,2
25,9
16,6
nach BMG Statistisches Taschenbuch „Gesundheit 2002“ (Tabelle 1.1 – 1.3), Quelle StBA
Einwohnern in Deutschland, d. h. 18,4 Millionen Menschen, 60 Jahre und älter. Die mittlere Lebenserwartung der Frauen betrug im Jahre 1900 rund 48 Jahre, die der Männer rund 45 Jahre und stieg im Laufe des Jahrhunderts bis 1998 auf 80 Jahre für Frauen und 74 Jahre für Männer. Verantwortlich hierfür ist u. a. auch das Sinken der Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen. Dabei nahm die Zahl der Hochaltrigen, d. h. der 80 Jahre und älteren Menschen, kontinuierlich zu und wird sich für das Jahr 2010 auf rund 4 Millionen und für das Jahr 2020 auf ca. 5,3 Millionen und damit von 3,5 % derzeit auf 6,6 % erhöhen. Die Altersstrukturverschiebung der Bevölkerung in Deutschland wird sich voraussichtlich auch in Zukunft weiter fortsetzen und dazu führen, dass der Bevölkerungsanteil junger Menschen in absehbarer Zukunft kleiner sein wird als jener der alten Menschen (Kruse et al. 2002).
Tabelle 3: Aspekte eines erweiterten Verständnisses von Gesundheit
Körperliche und seelische Erkrankungen
Körperliches und seelisches Wohlbefinden
Körperliche und geistige Leistungsfähigkeit
Erhaltene Aktivität im Sinne der Ausübung persönlich bedeutsamer Aufgaben
Selbstständigkeit im Alltag
Selbstverantwortung in der Alltagsgestaltung und Lebensplanung
Offenheit für neue Erfahrungen und Anregungen
Fähigkeit zur Aufrechterhaltung und Gründung tragfähiger sozialer Beziehungen
Fähigkeit zum reflektierten Umgang mit Belastungen und Konflikten
Fähigkeit zur psychischen Verarbeitung bleibender Einschränkungen und Verluste
Fähigkeit zur Kompensation bleibender Einschränkungen und Verluste
Quelle: Kruse 1999
Dabei gilt eine selbstständige, selbstverantwortliche und persönlich sinnerfüllte Lebensgestaltung als ein wesentliches Merkmal (Tabelle 3) der Gesundheit im Alter (zitiert nach Kruse et al. 2002). Wenn auch prozentual der Anteil psychisch kranker Menschen mit dem Alter steigt – 22 % der 65-Jährigen und der älteren Menschen gelten als krank (Tabelle 4) –, so ist doch festzuhalten, dass der Großteil, nämlich 77 %, der über 65-Jährigen als nicht krank oder unfallverletzt gilt. Auffällig ist dabei (Tabelle 5), dass der Anteil psychischer Erkrankungen zwar bei Männern und Frauen von 65–74 auf 75 und mehr Jahre jeweils um 60 bis 70 % ansteigt, psychische Krankheiten und die vollstationären Krankenhausbehandlungsfälle nach Häufigkeit eher im unteren Drittel rangieren. Nach Kruse et al. (2002) spricht dies einerseits für eine hohe psychische Widerstandsfähigkeit alter Menschen. Allerdings, so die Autoren, geht diese bei einer Kumulation von Beeinträchtigungen und bei einer gleichzeitigen Abnahme der physischen, kognitiven, sozialen und materiellen Ressourcen zurück, und es nimmt dann in Situationen deutlich verringerter körperlicher Widerstandsfähigkeit auch die Gefahr psychischer Störungen zu.
Geht man mit Dilling und Weyer (1984) sowie Fichter (1990) für einen ländlichen Raum von 23,1 % bzw. 19,7 % bei den 65–74-Jährigen und 28,1 % bei den über 75-Jährigen und für den städtischen Raum am Beispiel Mannheim (Cooper und Sosna 1983) von 24,4 % psychische Störungen in der 65 und mehr Jahre alten Bevölkerung aus, dann ist es naheliegend, dass sich aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie das Teilgebiet herausschälte, das sich als „Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ für die psychischen Störungen bei älteren Menschen zuständig fühlt. Unter der Vorstellung, dass ein psychisch kranker alter Mensch zwar ein Erwachsener ist, für den psychische Konflikte, Triebbedürfnisse und psychodynamische Gesetzlichkeiten genauso gelten wie für einen Jüngeren, gleichzeitig aber die psychosozialen und biographischen Prägungen andere sind, der alte Mensch deutlich mehr mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert ist und er in dieser letzten Lebensphase einerseits Fertigkeiten und neue Formen des Erlebens und Handelns erwerben kann, andererseits aber auch neuen Belastungen und Krisen ausgesetzt ist, die er bewältigen muss, dann folgen daraus mehr oder minder spezifische und altersbezogene diagnostische, therapeutisch-rehabilitative und pflegerische Notwendigkeiten, die in einer zunehmenden Differenzierung von Gerontopsychiatrie und -psychotherapie im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich deutlich werden.
Tabelle 4: Gesundheitszustand der Bevölkerung in Deutschland
Alter in Jahren m/w gesamt
Bevölkerung mit Angaben über die Gesundheit
Kranke
Unfallverletzte
nicht krank/unfallverletzt
keine Angaben
Anzahl in 1000
%
%
%
%
unter
m
5 568
4,5
0,4
95,1
13,4
15 J
w
5 268
4,3
0,4
95,3
13,3
ges
10 836
4,4
0,4
95,2
13,4
15 –
m
12 192
5,4
1,1
93,5
14,1
40 J
w
11 626
5,8
0,5
93,7
13,9
ges
23 818
5,6
0,8
93,8
14,0
40 –
m
12 292
10,8
0,8
88,3
12,4
65 J
w
12 217
10,5
0,6
88,0
12,3
ges
24 509
10,7
0,7
88,6
12,3
65 u.
m
4 778
21,4
0,5
78,1
10,8
älter
w
7 414
22,4
1,0
76,7
12,9
ges
12 193
22,0
0,8
77,2
12,1
insgesamt
m
34 830
9,4
0,8
89,8
12,9
w
36 525
10,5
0,6
88,9
13,1
ges
71 355
10,0
0,7
89,3
13,0
Mikrozensus April 1999; nach BMG Statistisches Taschenbuch „Gesundheit 2002“ (Tabelle 3.1); Quelle StBA
In der Praxis war die „Psychiatrie des höheren Lebensalters, die Gerontopsychiatrie“ lange Zeit eine Psychiatrie der dementiellen Erkrankungen und ein Ort für vielfältig hilfs- und pflegebedürftige Menschen, auch unter dem Einfluss eines vorherrschenden Defizitmodells des Alters, in welchem überwiegend Verlust und Abbau gesehen wurden und der Mensch der nachlassenden Funktionsfähigkeit schicksalhaft ausgeliefert betrachtet wurde. Auch das „Disuse“-Modell, wonach Funktionen zwar nicht altersbedingt abgebaut, sondern durch mangelnden Gebrauch nicht mehr nutzbar werden, war nicht befriedigend.
Tabelle 5: Anzahl vollstationärer Krankenhausbehandlungsfälle 1998, pro 100 000 der Bevölkerung nach Krankheitsklassen, Altersgruppen und Geschlecht
ICD9
65–74 Männer
75+ Männer
65–74 Frauen
75+ Frauen
001–139
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
380
640
340
616
140–239
Neubildung
7 714
7 986
5 174
4 573
240–279
Endokrinopathien, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten sowei Störungen im Immunsystem
971
1 296
1 427
1 932
280–289
Krankheiten des Blutes und der blutbildenen Organe
245
645
240
634
290–319
Psychische Krankheiten
699
1 218
844
1 413
320–389
Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane
2 316
4 214
2 487
4 487
390–459
Krankheiten des Kreislaufsystems
13 117
18 320
7 885
14 245
460–519
Krankheiten der Atmungsorgane
2 276
4 515
1 116
2 341
520–579
Krankheiten der Verdauungsorgane
3 769
5 198
2 716
4 117
580–629
Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane
2 452
3 560
1 832
1 809
680–709
Krankheiten der Haut und des Unterhautzellgewebes
376
534
317
532
710–739
Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes
2 304
2 110
3 280
2 818
780–799
Symptome und schlecht bezeichnete Zustände
1 443
2 361
997
2 067
800–999
Verletzungen und Vergiftungen
1 876
3 467
2 541
6 143
Quelle: Stat. Bundesamt, Krankenhausdiagnosestatistik
Erst das z. B. von Kruse (1989) formulierte „Kompetenzmodell“ richtete den Blick auf das, was ein alter Mensch kann und nicht wie früher auf Art und Anzahl seiner Defizite. „Dieses Kompetenzmodell ist weit mehr als der Vergleich zwischen halb vollem oder halb leerem Glas“, so Schüler (1998): Es ist eine ressourcenorientierte Denkweise.
Beim alten Menschen sind die Übergänge zwischen gesund und krank häufig fließend, leichte psychische Auffälligkeiten wie Vergesslichkeiten in Einzelbereichen sind nicht immer gleich krankhaft. Soll z. B. das Ausmaß von Hirnleistungsstörungen eines alten Menschen festgestellt werden, so muss zu deren Beurteilung der frühere Intelligenzstand, die berufliche Einbettung und Herkunft, die aktuelle Lebenssituation einfließen, um nicht ein falsches Bild von den aktuellen kognitiven Fähigkeiten zu erhalten. Dies kann von erheblicher Bedeutung hinsichtlich der Entscheidung werden, welche Unterstützung, Behandlung oder Pflege einem kranken alten Menschen angeboten wird, nämlich ressourcenorientiert und nicht defizitorientiert. Die Beschäftigung der Psychiatrie mit den Erkrankungen des höheren Lebensalters reicht nach Häfner (1991) bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück; so seien damals die senile Demenz von Esquirol oder die Depression im höheren Lebensalter von Griesinger bereits beschrieben worden. Heute hat sich die Gerontopsychiatrie von einer Psychiatrie der Demenzen und der Pflegebedürftigkeit entwickelt hin zu einer „Psychiatrie und Psychotherapie des höheren Lebensalters“, wobei naturgemäß die Diagnostik und Behandlung dementieller Erkrankungen als einer dem ausgehenden mittleren und dem höheren Lebensalter zugewiesenen Erkrankung einen breiteren Raum einnimmt als beispielsweise die Behandlung schizophrener oder süchtiger Störungen, deren Ersterkrankungsalter überwiegend im frühen Erwachsenenalter anzusiedeln ist.
Gegenstand der Psychiatrie und Psychotherapie des höheren Lebensalters sind also psychische Erkrankungen – deren Erscheinungsbild, Verlauf, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie Ausgang -, die in dieser Lebensphase verstärkt auftreten. Die Forschung sucht dabei nach den Ursachen dieser psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter, nach den auslösenden Faktoren im biologischen, sozialen, lebensgeschichtlich-biographischen Bereich, nach Möglichkeiten der Therapie, der primären Prävention sowie der sekundär- und tertiärpräventiven Erkrankungs- und Wiedererkrankungsverhütung.
Schwerpunkt aller präventiven sowie therapeutisch-pflegerischen und -rehabilitativen Bemühungen müssen dabei die Gemeindenähe und der möglichst lange Erhalt der häuslichen Umgebung, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung und die gegebenenfalls in der eigenen Familie gesicherte Lebensqualität des alten Menschen sein. Hierzu bedarf es der engen Zusammenarbeit aller Beteiligten wie Hausarzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Nervenarzt, Sozialstation sowie Gemeindeschwester, ambulanter psychiatrischer bzw. gerontopsychiatrischer Pflege, des Sozialpsychiatrischen Dienstes, der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanzen der Fachkrankenhäuser und Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie, der Gesundheitsämter, sowie teilstationärer und stationärer Angebote in Form gerontopsychiatrisch-psychotherapeutischer Tagesstätten, Tageskliniken, Abteilungen und Stationen in Klink für Psychiatrie und Psychotherapie. Auch in der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie gelten die Grundprinzipien der Psychiatrie-Enquete sowie der Psychiatrie-Landespläne „ambulant vor stationär“ sowie „Gemeindenähe“.
Innerhalb des vollstationären gerontopsychiatrischen und -psychotherapeutischen Feldes zeichnet sich heute eine Tendenz zu differenzierten Behandlungsangeboten ab, die störungsspezifisch ausgerichtet sind. So weisen größere Abteilungen für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie zunehmend Diagnostik- und Behandlungsschwerpunkte, auch als stationäre Struktur angelegt, z. B. im Bereich der depressiven Erkrankungen des höheren Lebensalters (s. später Darstellung eines stationären Behandlungskonzeptes für alte depressiv kranke Menschen) mit ihrer spezifischen Problemstellung auf. Sodann entstehen (bzw. sind entstanden) beschützende Stationen für die Diagnostik und Differentialdiagnostik und vor allem für die Behandlung von Menschen mit mittelgradigen und schweren dementiellen Störungen, wobei hier z. B. eine entsprechende Gerontopsychiatrische Ambulanz (Gedächtnisambulanz, sog. Memory-Clinic) oder auch tagesklinische Angebote vorgestellt werden. Weitere neuere Entwicklungen in der klinischen Gerontopsychiatrie und -psychotherapie sind suchtspezifische Ansätze für alte Menschen. Voraussetzung für solche „innere Differenzierung“, wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde oder auch von der Bundesdirektorenkonferenz seit Jahren besprochen und in vielen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Deutschlands umgesetzt wird, sind eine ausreichende räumliche und personelle Ausstattung sowie eine entsprechend hohe Einweisungsrate alter psychisch kranker Menschen. Des Weiteren sollten solche differentiellen Angebote neben dem hochspezialisierten stationären Konzept immer auch teilstationäre und ambulante Angebote vorhalten sowie eine enge Verzahnung mit den Einrichtungen der Altenfürsorge der jeweiligen Gemeinde. Voraussetzungen hierfür müssen im Rahmen der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und der Inneren Medizin, in der Psychiatrie und Psychotherapie geschaffen werden, ähnlich der Qualifikation „psychosomatische Grundversorgung“ oder auch als Bestandteil der Psychotherapie-Fort- und -Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin.
Absicht dieser bewusst breiter gehaltenen Einführung zum Thema psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter ist es, über die nachfolgend zu diskutierende depressive Störung im höheren Alter hinaus für Fragen der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie zu sensibilisieren, zu motivieren und auch über aktuelle klinische Entwicklungen zu informieren.
Der überwiegende Teil der Gesellschaft definiert Jugendlichkeit als erklärtes Ideal. So scheint es angebracht, einem Buch über „Depressionen im Alter“ einige Anmerkungen zum höheren Lebensalter selbst voranzustellen.
Das „Altern“ ist ein individueller Prozess, bei dem es ausgeprägte interindividuelle Unterschiede gibt. Altern ist nicht nur ein persönliches, individuell unterscheidbares, sondern auch ein durch die Gesellschaft bestimmtes Geschehen. Die Gesellschaft definiert, willkürlich durch die Beendigung der Berufstätigkeit, bestimmte Altersgrenzen, und sie präsentiert Bilder vom Alter, die auf das Selbstbild alternder Menschen Einfluss ausüben, auch die Einstellung jüngerer Menschen gegenüber älteren und gegenüber dem Alter selbst mitbestimmen. Die Gesellschaft ordnet demnach älteren Menschen und „dem Alter“ bestimmte Rollen und soziale Funktionen zu, und sie definiert auch die Leitbilder eines „guten Lebens im Alter“ und eines „erfolgreichen Alterns“.
In Deutschland gilt das Ausscheiden aus dem Berufsleben als die Grenze, ab der „das Alter“ eines Menschen beginnt. Für Männer ist diese soziale Definition des Alters relativ eindeutig, für Frauen weitaus weniger. Biologisch wie psychologisch gesehen ist eine solche Festlegung problematisch, da zahlreiche soziokulturelle und politisch-ökonomische Faktoren Einfluss nehmen: So liegt derzeit das Renteneintrittsalter in Japan bei 55 Jahren, in Norwegen bei 68 Jahren. Damit ist ein großer Graubereich eröffnet.
Dennoch hat sich für den Begriff des „dritten Lebensalters“ ein Zeitraum zwischen 65 und 79 Jahren („die jungen Alten“) eingebürgert, das „4. Lebensalter“ umschreibt dann die Altersspanne der hochbetagten Menschen jenseits des 80. Lebensjahres („die Alten“).
Über die gesamte Lebenszeit gilt aber, dass Alter immer eine Relation zu einer anderen Person bedeutet: zwischen 5- und 12-Jährigen genauso wie zwischen 75- und 90-Jährigen, wobei typischerweise der 5-Jährige sich als „schon 5 Jahre alt“ betrachtet, der 75-Jährige sich als „erst 75“. Damit werden dem jeweiligen Alter zunehmend positive oder negative Wertigkeiten beigemessen, wie sie in dem Begriff „alt“ an sich schon immer steckten, im gegensätzlichen Sinne von „kostbar“ einerseits und „Wrack“ andererseits.
So gibt es den hochangesehenen Senator oder „Old Shatterhand“ als Helden, auf der anderen Seite sieht man „alt aus“ oder ist ein „alter Hut“. Viele Menschen freuen sich an „Oldtimern“, aber kaum jemand möchte ständig mit einem alten Auto herumfahren. Früher waren alte Menschen selten, einzigartig wie eine Antiquität: Im Dorf gab es einen Alten, nicht 50. So mag die in den letzten 100 Jahren nahezu verdoppelte Lebenserwartung mit dazu beigetragen haben, dass sich die Sichtweise vom Alter immer weiter verdüstert hat und der Jugend kulthaft gehuldigt wird: „Als ich jung war, dachte ich, es gibt nur wenige Alte, Weise; heute weiß ich, es gibt sehr viele Senioren“ (Radebold 1992).
Diese Aussage steht stellvertretend für die tiefgreifenden Strukturveränderungen, die allgemein als „demographischer Wandel“ bezeichnet werden:
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich in Deutschland die Lebenserwartung fast verdoppelt. Im Jahr 1900 waren weniger als 5 % aller Menschen in Deutschland über 65 Jahre alt, heute sind es 20 % und im Jahr 2030 werden es ca. 35 % sein. Der Altersaufbau der Bevölkerung verändert sich strukturell erheblich. Die ältere Bevölkerung wächst schneller als die Gesamtbevölkerung, die Zahl junger Menschen nimmt relativ gesehen immer weiter ab, während die Zahl der alten Menschen relativ und absolut stetig zunimmt. Die Wachstumsrate der über 65-jährigen Menschen liegt pro Jahr bei 2,2 %. Insbesondere der Anteil der hoch- und höchstbetagten Menschen nimmt überproportional zu: Während 1970 nur 1,53 Millionen Menschen 80 Jahre und älter waren, beträgt diese Bevölkerungsgruppe 1997 bereits 3,1 Millionen Menschen; im Jahre 1987 gab es 2107 über 100-Jährige, 1994 waren es bereits 4605 Menschen in Deutschland.
Vor allem aufgrund der Männerverluste in den Weltkriegen ist in Deutschland der Anteil der Frauen unter den alten Menschen mit 63 % besonders hoch („Feminisierung der alten Bevölkerung“). Bei den über 65-Jährigen beträgt das Verhältnis Frauen zu Männern 200 zu 100, bei den über 80-Jährigen kommen auf 100 Männer dann 300 Frauen.
Von den Frauen über 70 Jahre ist fast die Hälfte verwitwet („Singularisierung“). Bei den Männern dieser Altersgruppe liegt der Anteil der Witwer mit 15 % erheblich niedriger und der Anteil der noch Verheirateten mit 80 % sehr hoch.
Der zwar schwankende, aber insgesamt zunehmende Rückgang der Kinderzahlen seit über 100 Jahren weist auf grundlegende soziale und familiäre Veränderungen hin, die mit „familiärer Strukturwandel“ sowie „Singularisierung“ beschrieben werden. Die Geburtenrate ist in den letzten 50 Jahren stetig gesunken: Während 1950 eine Frau im Durchschnitt 2,25 Kinder gebar, lag diese Zahl 1995 bei 1,42 (Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ Bonn 1994).
Wenn man berücksichtigt, dass die Bevölkerung erst ab einer Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Familie konstant bleibt, führt diese Entwicklung zu einem kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang.
„Alle Menschen wollen immer älter werden, aber niemand möchte wirklich alt sein“ und „Älter werden nur die anderen“: „Alter“ ist trotz (oder wegen?) der immer länger werdenden Lebenserwartung etwas geworden, das die Menschen gerne vor sich herschieben und viel eher an anderen beobachten, für sich selber aber „vorläufig noch nicht“ wünschen. Die genannten Zitate aus dem Volksmund sprechen für sich. Das eigene Altern wird von vielen abgewehrt, auf später verschoben und verdrängt. Es gibt wohl kaum einen der klassischen Abwehrmechanismen, der nicht mehr oder weniger erfolgreich auf die Erkenntnis bzw. die Vermeidung der Erkenntnis des persönlichen Alterns angewendet wird.
Das lange Zeit vorherrschende Defizitmodell des Alterns tat ein Übriges, es sah überwiegend Abbau und Involution und setzte den Alterungsprozess gleich mit Verlust, Leid und Regression. Dies rief in der Gesellschaft vielfach Gefühle von Verleugnung, Hilflosigkeit, Angst vor Passivität, vor Verlust von Autonomie, vor Erkrankung und Siechtum sowie Todesfurcht hervor. Prof. Gruhle, Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Heidelberg bis 1952 und Schüler des Altmeisters Kraepelin, bezeichnete das psychische Altern als „eine pathologische Variante der Norm menschlichen Verhaltens“ (Gruhle 1938), als einen Prozess des Abstiegs und des Verlustes der Fähigkeit zu sozialen Kontakten. Er zeichnete das Bild des hilflosen, vergesslichen und einsamen alten Menschen. Demnach wäre der Mensch schicksalhaft in allen Bereichen einer nachlassenden Funktionsfähigkeit ausgeliefert. Die Möglichkeit bzw. Fähigkeit zu einer Weiterentwicklung wurde damals (noch) nicht gesehen.
Erst die Einführung des Kompetenzmodells des Alterns durch Altersforscher wie Baltes (1989), Kruse (1990) oder Frau Lehr und Mitarbeiter (1987) sowie die Weiterentwicklung dieses Modells konnten deutlich machen, dass das menschliche Altern nicht primär Abbau, sondern Umbau darstellt mit intensiven psychischen, somatischen und sozialen Wechselwirkungen. Dies scheint anzuknüpfen an eine Äußerung der Gebrüder Grimm, die schon 1866 unter Hinweis auf die vielen vollendeten Spätwerke von Künstlern und Gelehrten mitgeteilt hatten, dass das Alter „nicht bloß ein Niederfall der Virilität, sondern eine ganz eigene Macht“ sei (Gebrüder Grimm 1866).
So kann Altern heute in Anlehnung an ein Leitlinienpapier der „Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (DGGPP 1996) als Schicksal betrachtet werden, dem sich kein Mensch entziehen kann. Dieses Schicksal vollzieht sich individuell vor einem biographischen Hintergrund auf biologischem, sozialem, ökonomischem wie geschichtlichem Gebiet. Alter bzw. Altern bedeutet nichts Statisches, es ist ein mehrdimensionaler dynamischer Prozess in der Zeit, wobei sich wiederum (siehe oben) mehrere voneinander abgrenzbare Lebensphasen beobachten lassen. In jedem dieser Abschnitte stehen jeweils sehr unterschiedliche Aufgaben für den einzelnen Menschen zur Bewältigung an. Die somatischen, psychischen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten schwanken zwischen den einzelnen alten Menschen, insbesondere wenn mit Sterben und Tod konfrontiert wird und hierauf jeder seine eigene Antwort finden muss.
In der Konsequenz gelten auch für einen alten Menschen die gleichen psychodynamischen Gesetzmäßigkeiten, Triebbedürfnisse und innerseelischen Konflikte wie für einen jüngeren Menschen. Gleichzeitig ist er ein von seiner körperlichen, psychischen und sozialen Vergangenheit, seiner biographischen Gewordenheit und seiner spirituellen Einbettung sowie seiner kulturellen Umwelt geprägter Mensch, der nun mit seiner eigenen Endgültigkeit konfrontiert wird und die damit einhergehenden neuen Fragestellungen, Anforderungen und auch Belastungen bewältigen muss.
Bezogen auf die Thematik dieses Buches „Depression im Alter“ lassen sich vor dem Hintergrund obiger Überlegungen folgende Thesen aufstellen:
Jeder Mensch altert anders.
Es gibt nicht „das höhere Alter“.
Altsein bedeutet nicht Kranksein.
Kein Alter prädisponiert für Depressionen.
Nach diesem Exkurs zur Frage, was denn „höheres Alter“ für das Individuum bedeutet, soll nun nachfolgend auf epidemiologische Aspekte, das klinische Bild sowie auf psychologische und soziokulturelle Aspekte der Depression eingegangen werden.
Neben einer dementiellen Erkrankung sind depressive Störungen die häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter. Sie stellen ernst zu nehmende Zustandsbilder dar und werden sowohl von der Diagnostik als auch von der Tragweite her, z. B. hinsichtlich Komplizierung medizinischer Erkrankungen oder auch hinsichtlich Suizidmortalität, häufig nicht richtig erkannt (Kasper 1995).
Die amerikanischen ECA-Studien (Regier et al. 1993, Spar and LaRue 1997) zeigen eine 1-Monatsprävalenz von 2,5 % bei den befragten 65 Jahre alten und älteren Menschen, dagegen von 6,4 % bei den Personen mittleren Lebensalters. Die von Nelson (2001) zitierten Daten zur Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen bei älteren Menschen auf der Basis der ECA-Studien sind in Tabelle 6 zusammengefasst. Überraschenderweise finden sich hier niedrigere Angaben als bei Menschen im mittleren Lebensalter mit einer Prävalenz von 1–2 % (Kasper 1995). Depressive Symptome jedoch, ohne Erfüllung der Kriterien einer typischen depressiven Episode nach ICD-10 oder DSM-IV, werden mit 8–15 % bei den über 65-Jährigen sehr viel häufiger angegeben (Kasper 1995). Dabei soll die Prävalenzrate von depressiven Syndromen bei älteren Patienten, die wegen einer medizinischen Erkrankung hospitalisiert sind, bis zu 40 % der untersuchten Populationen reichen.
Tabelle 6: Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen bei älteren Menschen nach ECA-Studien
gesamt
ältere Menschen
typische depressive Episode (major depression)
5,3 %
1,35 %
Dysthymia
3,9 %
1,56 %
Manie
0,9 %
0,03 %
nach Robins et al. (1984) und zitiert nach Nelson JC: Diagnosis and treatment of depression in the older patient. APA 154th Annual Meeting, 06. Mai 2001 New Orleans, USA
Tabelle 7: Psychische Erkrankungen im Alter: ausgewählte Ergebnisse der Berliner Altersstudie (BASE, Helmchen et al. 1996) bei den 70-jährigen und älteren Berlinern (1990–93)
Bezeichnung (nach DSM-III-R)
Häufigkeit Diagnosen
subdiagnostisch (n) % NNB
Symptomebene % (n)
%
(n)
Depressive Symptomatik
gesamt
9,1
(48)
17,8 (85)
5,2 (24)
Major Depression
4,8
(23)
Dysthymie
2,0
(11)
Anpassungsstörung
0,7
(5)
Demenz mit Depression
1,0
(6)
Angstsymptomatik gesamt
1,9
(8)
2,5 (9)
6,0 (17)
Organisch bedingte psychische Symptomatik, kognitiv
Demenz
13,9
(109)
nicht def.
2,8 (20)
Psychische Symptomatik durch psychotrope Substanzen
gesamt
2,0 (9)
Alkohol
1,1
(9)
–
–
Medikamente
0,7
(3)
–
–
Schizophrenie und paranoide Symptomatik
Schizophrenie,
0,2
(1)
–
–
residual, chronisch
wahnhafte Störung
0,5
(2)
–
–
gesamt
mindestens 1
mindestens
Symptome
spezifizierte
eine NNB-
Diagnose
Diagnose
23,5
(166)
16,9 (72)
16,0 (74)
Die Diskussion, ob es sich bei den niedrigen ECA-Daten um eine Unterschätzung handle, wurde ausführlich in der Literatur geführt (z. B. Blazer 1991, Baldwin 1997, Gurland und Cross 1982, Henderson et al. 1993, Henderson 1995, Kanowski 1994, Welz 1994, Weyerer et al. 1995, Wolfersdorf 1997, 1999, Wolfersdorf et al. 2001). Die in der BASE-Studie gefundenen Ergebnisse (Tabelle 7) erreichen bei der Häufigkeit einer typischen Depression einschließlich einer Dysthymie insgesamt 6,8 %, ohne Hinzurechnung der depressiven Anpassungsstörung, was im Bereich der behandlungsbedürftigen depressiven Erkrankungen im mittleren Lebensalters liegt (Maier et al. 1996, Wittchen et al. 2000). Hinzu kommt der hohe Anteil von subsyndromaler, nicht näher benennbarer depressiver Symptomatik von insgesamt 17,8 % bei den über 70-jährigen und älteren Berlinern (Helmchen et al. 1996).
Einige Studien zur Prävalenz von Depressionen im Alter seien noch kurz angeführt. Aus dem amerikanischen Raum stammt die Studie von Steffens et al. (2000) im Cache County Utah, USA, in der 4559 Personen, nicht dement, 65–100 Jahre alt, mit Hilfe des Diagnostic Interview Schedule 1995/96 untersucht wurden: Die Punktprävalenz für eine Major Depression bei den Männern lag bei 2,7 %, bei den Frauen bei 4,4 % und war über sämtliche untersuchten Jahrgänge in gleicher Höhe unverändert. Alle anderen depressiven Syndrome (Dysthymia, subklinische depressive Syndrome) erreichten eine kombinierte Punktprävalenz von 1,6 %. Die Lebenszeitprävalenz für die Major Depression lag bei den Männern bei 9,6 % und bei den Frauen bei 20,4 % und nahm mit dem Alter ab. Nur 37,5 % nahmen bei vorliegender Major Depression Antidepressiva, meist SSRI, ein; 27,4 % erhielten Sedativa bzw. Hypnotika.
In der Duderstadt-Studie von Welz (1994) fand sich bei den alten Menschen ein Anteil von 27,4 % mit der Diagnose einer Depression.
Schulze-Mönking und Hornung (1998) untersuchten depressive Störungen bei Altenheimbewohnern, ausgehend von Daten von Philipps und Henderson (1991) bzw. Weyerer et al. (1995), die von 34–38 % sprachen. 185 Altenheimbewohner, ausgesucht nach einer Zufallsauswahl aus 16 Altenheimen, wurden untersucht: 56 % zeigten dementielle Syndrome, 26 % waren depressiv erkrankt. In der Altersgruppe 65–79 Jahre lag der Anteil depressiver Störungen bei 24 %, bei den über 80-Jährigen bei 37 %. Altenheimbewohner mit einer Wohndauer im Heim unter 2 Jahren waren zu 30 % depressiv, von der Gruppe mit Wohndauer im Altenheim 2 Jahre und länger waren 36 % depressiv. Der Anteil bei den Frauen betrug 35 %, bei den Männern 27 %. Nur ca. 20 % aller depressiv Kranken waren jemals von einem Psychiater gesehen worden. Von den depressiven Patienten erhielten 19 % Neuroleptika, 11 % Antidepressiva, 17 % Tranquilizer, weitere 17 % Hypnotika.
Wancata et al. (2000) untersuchten die Prävalenz seelischer Erkrankungen unter älteren Patienten auf internistischen und chirurgischen Stationen von Allgemeinkrankenhäusern und fanden insgesamt 2,9 % mit der Diagnose einer Major Depression, 7,0 % mit einer Minor Depression und 2,0 % mit Angststörungen.
Tabelle 8: Prävalenz depressiver Episoden (major depression) bei alten Menschen nach Umfeld
Prävalenz
in der Gemeinde
< 3 %
in Pflegeheimen
9 – 38 %
in ambulanten und stationären medizinischen
Behandlungssettings
10 – 42 %
nach Nelson JC: Treatment of major depression. In: Nelson JC (ed): Geriatric Psychopharmacology. Marcel Dekker, New York 1998
Vor diesem Hintergrund sind die von Nelson (1998) angegebenen Zahlen zur Punktprävalenz depressiver Episoden bei alten Menschen nach Umfeld (Tabelle 8) zumindest bzgl. der Angabe von bis zu 3 % in der Gemeinde kritisch zu betrachten, und es treffen eher die von Adam (1998) errechneten durchschnittlichen Punktprävalenzen (Tabelle 9) zu.
Tabelle 9: Depression bei älteren Menschen (> 60 Jahre und älter) berechnete durchschnittliche Punktprävalenz nach Adam, 1998 auf der Basis vorliegender Studien seit ca. 1950
Punktprävalenz %
gesamt
Männer
Frauen
depressive Störung
16,0
17,5
9,5
affektive Psychosen
5,7
3,7
1,7
Major depression
1,6
2,2
1,3
Depression bei bipolarer Störung
1,6
4,1
1,0
Neurotische Depression
7,6
8,0
3,8
Persönlichkeitsstörungen (zyklothym, depressiv)
3,2
4,9
6,8
aus Adam Chr.: Depressive Störungen im Alter. Epidemiologie und soziale Bedingungen. Juventa, Weinheim München 1998, S. 76, 68
Ernst und Angst (1995) haben auf das Phänomen der Unterschätzung mit dem provokanten Titel „Depression in old age. Is there a real decrease in prevalence?“ hingewiesen: unzureichende Berücksichtigung altersspezifischer Varianten des Krankheitsbildes; größere Häufigkeit „Minor Depression“ bzw. subsyndromaler depressiver Zustandsbilder; Dominanz somatischer Beschwerden im Klagebild einer Depression; Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen; Erhebungsprobleme. So geht auch Kanowski (1994) von 10 % an einer depressiven Störung leidenden Menschen in der älteren Allgemeinbevölkerung aus.
Dabei sind folgende Aspekte besonders zu berücksichtigen:
Der
Anteil depressiv kranker Menschen in der Allgemeinbevölkerung
65 Jahre und älter liegt bei mindestens 10 %, wobei anscheinend leichtere und mittelschwere Formen, zumindest nach der Berliner Altenstudie BASE bei den über 70-Jährigen (Wernicke et al. 2001) dominieren: leichte Depressionen 12,4 %, mittelschwere Depressionen 13,8 %, schwere Depressionen 0,6 %, Depressionen insgesamt 26,8 %; keine Depression 73,2 % (DSM-IV-R-Diagnosen inkl. nicht näher bezeichnete Depressionen; jeweils Konsensusergebnis Psychiater und Internist).
Der Anteil depressiv kranker Menschen im höheren Lebensalter steigt in
Abhängigkeit vom Ort der Untersuchung:
In der Allgemeinbevölkerung 65 Jahre und älter wird von einer Punktprävalenz von mindestens 10 % ausgegangen. In Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sind ca. 20 % der Aufnahmen ältere depressiv Kranke, in Abteilungen für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie ca. 50 % der Aufnahmen. In Allgemeinkrankenhäusern wird von 10–35 % der älteren Patienten mit primärer oder sekundärer depressiver Symptomatik ausgegangen, in Alten- und Alten-Pflegeheimen von 20–40 % depressiv Kranken.
Die
Prävalenzraten bei Männern und Frauen im höheren Lebensalter nach 2 Lebensabschnitten
(z. B. bei Gurland et al. (1980): 65–74
bzw.
75 Lebensjahre und älter) hat Adams (1998) zusammengestellt: In der Tendenz scheint sich mit zunehmendem Lebensalter der bei den unter 70-Jährigen noch vorhandene Geschlechtsunterschied zu lasten häufigerer Depressionen bei den Frauen dann bei den über 70-Jährigen durch Zunahme bei den Männern zu verschieben. Ältere Frauen sind demnach nicht weniger häufig depressiv, während ältere Männer jenseits des 70. Lebensjahres sich in der Häufigkeit ihrer Depressionen an das weibliche Geschlecht annähern (Tabelle 10). Sonnenberg et al. (2000) fanden bei Frauen im höheren Lebensalter eine zweimal höhere Prävalenz als bei Männern, jedoch keine Evidenz für eine „typische weibliche Form der Depression im höheren Lebensalter“. Penninx et al. (1999) untersuchten das Versterbensrisiko bei alten depressiven Patienten und fanden keinen Geschlechtsunterschied. Männer mit einer Minor Depression wiesen ein 1,8-fach erhöhtes Versterbensrisiko im 4-jährigen Follow-up auf im Vergleich zu nicht depressiven Männern, Frauen mit einer Minor Depression im Vergleich zur Kontrollgruppe dagegen nicht; das höhere Mortalitätsrisiko der Depressiven ließ sich nur zum kleinen Teil durch Rauchen oder körperliche Inaktivität erklären
Mit
zunehmenden Alter steigt der Anteil depressiv kranker Menschen.
Kay et al. (1995) fanden bei den 70–79-Jährigen bei 6,3 % eine typische depressive Episode (MDD), bei den über 80-Jährigen bereits bei 15,5 %; nimmt man Dysphorie als zusätzliche affektive Störung zur typischen depressiven Episode hinzu, finden sich bei den ersteren 16,5 %, bei den letzteren 22,4 % depressiv-dysphorische Syndrome. Die Zusammenstellung der Prävalenzraten zur Depression bei alten Menschen von Adam (1998) nach 2 Altersgruppen (Tabelle 11) belegt dies erneut: Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz depressiver Störungen.
Tabelle 10: Depression im höheren Lebensalter bei Männern und Frauen nach zwei Lebensabschnitten – Beispiel
Autoren (Jahr), Ort
Prävalenzraten %
Männer
Zeitraum
Frauen
Nielsen 1963, Samsö, D
60 – 69/>70 J
60 – 69/> 70
10,1/5,5
6 Mo
14,8/9,1
Gurland et al. 1980, New York, USA
65 – 74/> 75 J
65 – 74/> 75 J
17,5/26,5
PP
25,0/17,5
Murell et al. 1983 Los Angeles, USA
65 – 74/> 75 J
65 – 74/> 75 J
12,9/17,5
4 Mo
14,5/26,0
Lethinen et al. 1990, Finnland
60 – 69/> 70 J
60 – 69/> 70 J
6,8/10,9
PP
12,5/12,9
Fuhrer et al. 1992, Bordeaux, F
60 – 69 > 70 J
60 – 69/> 70 J
8,9/15,5
5 J
12,5/14,4
Dewey et al. 1993, Liverpool, GB
65 – 74/> 75 J
65 – 74/> 75 J
7,8/7,0
PP
14,4/14,9
Woo et al. 1994, Hongkong, China
70 – 79/> 80 J
70 – 79/> 80 J
26,2/39,7
LP
36,0/44,3
Fasst man diese epidemiologischen Daten zusammen, dann sind es im höheren Lebensalter leichter und mittelschwer imponierende depressive Syndrome, deren Häufigkeit durchaus in Höhe der Prävalenzraten im mittleren Lebensalter liegt und mit zunehmendem Lebensalter steigt. Dabei gleichen sich mit zunehmendem Lebensalter die Männer in der Häufigkeit depressiver Syndrome an die Frauen an. In entsprechenden medizinisch-psychosozialen Einrichtungen wie Allgemeinkrankenhäusern oder auch Pflegeeinrichtungen (Altenheime, Altenpflegeheime) ist der Anteil depressiv kranker Menschen deutlich erhöht und macht bis zu 40 % der Altenheimbewohner aus.
Die sichere Erkennensrate einer Depression nach Arzturteil liegt nach neueren Untersuchungen von Wittchen et al. (2000) in der hausärztlichen Praxis bei 38,5 % und schwankt bei Männern zwischen 27,0 und 31,1 %, bei Frauen zwischen 33,2 und 46,5 %. Nach den Autoren sind wichtigste Prädiktoren für das Erkennen von Depressionen Niedergeschlagenheit als Anlass für den Arztbesuch, eine vorangegangene Depression, ein höherer Schweregrad der Depression und ein höheres Alter der Patienten. Wie später ausgeführt wird, ist im Bereich der Symptomatik bei alten depressiv kranken Menschen gerade das Merkmal Niedergeschlagenheit/herabgedrückte Stimmungslage meist nicht im Vordergrund. Der Schweregrad der Depression liegt eher im mittelgradigen Bereich, so dass die Wahrscheinlichkeit eines Erkennens – und damit auch die Wahrscheinlichkeit einer Behandlung und einer adäquaten Therapie – für alte Menschen geringer als für solche mittleren Lebensalters sein wird. Bezieht man die zeitlichen und materiellen Rahmenbedingungen von Arztbesuchen in Alten- und Altenpflegeheimen mit ein, so ist die Klage über die Situation der Versorgung psychisch kranker alter Menschen in diesen Einrichtungen und die Forderung nach einer „Heim-Enquete“ zumindest aus psychiatrisch-psychotherapeutischer, hier insbesondere aus gerontopsychiatrischer Sicht, gut nachvollziehbar.
Tabelle 11: Prävalenzraten zur Depression bei alten Menschen (Feldstudien) nach verschiedenen Altersgruppen – Beispiele neuere Studien
Autoren (Jahr)
Ort
Zeitraum
Altersgruppe 1 Rate (n)
Altersgruppe 2 Rate (n)
Gurland et al. 1980
New York USA
PP
65 – 74 J
> 75 J
21,3 (265)
22,0 (178)
Kay et al. 1985
Hobart, Australien
9 Mo
70 – 79 J
> 80 J
22,8 (158)
37,9 (116)
Blazer et al. 1987
North Carolina, USA
PP
60 – 74 J
> 75 J
24,7 (955)
27,8 (349)
Lethinen et al. 1990
Finnland
PP
60 – 69 J
> 70 J
9,7 (154)
12,0 (126)
Fuhrer et al. 1992
Bordeaux, Frankreich
5 J
60 – 69 J
> 70 J
10,7 (802)
15,0 (1990)
Madianos et al. 1992
Athen, Griechenland
PP
65 – 74 J
> 75 J
13,4
30,7
Welz 1994
Duderstadt, Deutschland
PP
65 – 74 J
> 75 J
16,3 (105)
42,7 (85)
Gründe für ein ungenügendes Erkennen depressiver Störungen bei älteren Menschen können also sein: 1: neben der bereits oben angeführten negativen Auffassung des Alterungsprozesses und 2: der sozialen Stigmatisierung durch eine Diagnose einer psychischen Erkrankung 3: die Symptomatik bzw. deren Somatisierung mit der eher im Hintergrund stehenden affektiven Herabgestimmtheit, 4: die Fehldiagnose dementielle Erkrankung sowie auch 5: die Schwierigkeit der differentialdiagnostischen Abgrenzung von Subgruppen der Depression, z. B. einer wahnhaft depressiven Erkrankung im höheren Lebensalter von einer Paranoia oder einer schizophrenen Störung.
Tabelle 12: Depressives Syndrom – Psychopathologische Störungsbereiche und Syndromschwerpunkte
Symptombereiche
affektiv:
Herabgestimmtheit, Freudlosigkeit, fehlende Reaktivität; Angstzustände insbes. Panikattacken
kognitiv:
formal Grübeln, Denkhemmung; inhaltlich Insuffizienz, Selbstwertproblematik, Schuld, negatives Selbstbild; Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Suizidalität
intentional, motivational:
Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit
psychomotorisch:
Agitiertheit bzw. Hemmung
vegetativsomatisch
:
reduzierte Vitalität, rasche Erschöpfbarkeit; Schlaf-, Appetit-, Libidostörung, Leibgefühlsstörung
Syndrome
agitiert-ängstliches, gehemmt-apathisches, gehemmt-ängstliches, apathisch-avitales depressives Syndrom
depressive Syndrome mit Wahn, Halluzination, paranoiden Ideen, mit Zwängen, mit Panikattacken
Persönlichkeit
depressive
Charakterstruktur
Typus melancholicus
Ü
berverpflichtungstyp
selbstunsichere, abhängige Persö
nlichkeitsstruktur
Eine Depression ist eine affektive Störung von Krankheitswert mit typischer Symptomatik und typischem Verhalten (Tabelle 12). Je nach Stärke der Symptomatik und Beeinträchtigung des Betroffenen im Alltag unterscheidet man verschiedene Schweregrade: leichte, mittelschwere, schwere und sehr schwere Ausprägung.
Das klinische Bild einer depressiven Episode ist nach ICD-10 durch mindestens 2 der 3 folgenden Hauptsymptome: gedrückte Stimmungslage, Interessen- und Freudlosigkeit bzw. rasche Ermüdbarkeit und Neigung zu Erschöpfungszuständen, und mindestens 2 der folgenden Symptome gekennzeichnet: Merk- und Konzentrationsstörungen; vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen; Gefühle von Schuld- und Wertlosigkeit; negative und pessimistische Zukunftsperspektiven; Selbstverletzungen oder Suizidhandlungen; Appetitlosigkeit und chronische Obstipation; Schlafstörungen (verkürzter und nicht erholsamer Schlaf, morgendliches Früherwachen).
Die Symptomatik – affektive, kognitive, vegetative Störungen – muss mindestens 2 Wochen lang bestehen, wobei sich verschiedene Schweregrade anhand der vorhandenen Symptomatik und der Beeinträchtigung im Arbeits- und Alltagsleben beschreiben lassen.
Kennzeichen der affektiven Störung sind die durchgehende Herabgestimmtheit mit Traurigkeit bzw. Unfähigkeit zu trauern, Freudlosigkeit, Gefühlen von innerer Leere bis hin zur völligen Gefühllosigkeit, verbunden häufig mit Panikzuständen, phobischen Ängsten oder einer durchgehenden ängstlichen Gestimmtheit.
Insuffizienz- und Schuldgefühle, Verarmungsbefürchtungen, Gedanken von körperlicher Erkrankung, Wertlosigkeit und Sinnlosigkeit der eigenen Person, Gedanken von Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit sowie Suizidideen kennzeichnen inhaltlich die kognitive Störung, die formal mit einer Verlangsamung und Hemmung des Denkens, aber auch mit Grübelzuständen und Gedankenkreisen einhergehen kann.
Die Antriebsseite und die Psychomotorik der Depression sind gekennzeichnet entweder durch ein eher gehemmtes Bild – kaum Mimik, versteinertes Aussehen, motorische und geistige Verlangsamung, Antriebsmangel, leise monotone Sprache – oder durch Agitiertheit – innere Unruhe, äußere Agitiertheit, Bewegungsdrang, Rededrang. Klagen über Merk- und Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen bei jedoch voll erhaltener Orientierung, klarer Bewusstseinslage gehören ebenso zu einem kognitiv-affektiven Störungsbild wie die genannten depressiven Denkinhalte. Grundsätzlich können dabei die Denkinhalte von der Sorge und Befürchtung über die überwertige Idee bis hin zur wahnhaften Überzeugung – Wahnidee, generalisierter Wahn, paranoide Eigenbeziehungen, Halluzinationen wie schuldbesetzte Stimmen, die gehört werden – reichen.
Auf der psychosomatisch-vegetativen Ebene herrschen vor: Energielosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, Neigung zu Erschöpfungszuständen, sodann Schlafstörungen unterschiedlicher Art, wobei insgesamt ein verkürzter und nicht erholsamer Schlaf sowie ein morgendliches Früherwachen, häufig dann einhergehend mit einem sog. Morgentief (Stimmung und Antrieb in den Morgen- und Vormittagsstunden besonders reduziert mit abendlicher Besserung) beschrieben werden, so dann Appetitlosigkeit bis hin zu Ekelgefühlen mit Gewichtsverlust, andererseits chronische Obstipation, dann Libido- und sexuelle Störungen. Leibgefühlstörungen in Form des Schwere-, des Helmgefühls um den Kopf, des Reifengefühls um den Brustkorb gehören ebenfalls zum Bild einer Depression.
Grundsätzlich gleichen depressive Episoden des mittleren oder jüngeren Erwachsenenalters denen des höheren Lebensalters.
Nach Baldwin (1997) oder Kurz (1997) tritt im Senium nicht eine andere Art von Depression auf, welche die Konzeption einer nosologischen Subgruppe „Depression im Senium“ rechtfertigen würde. Es finden sich jedoch „psychopathologische Akzentuierungen der Depression im höheren Lebensalter“, die Baldwin (1997) als pathoplastische Effekte des Alterungsprozesses mit Überschneidung von Körperkrankheiten und somatischen Symptomen einer Depression erklärt. Neben der Differentialdiagnostik zu körperlichen Erkrankungen, die auch mit depressiver Symptomatik einhergehen können, zu dementiellen Störungen und zu Trauerprozessen müssen diese psychopathologischen Akzentuierungen als Besonderheiten des klinischen Bildes einer Depression im höheren Lebensalter bekannt sein.
In einer eigenen Untersuchung (Wolfersdorf und Kortus 1995, Wolfersdorf 1991, Steiner et al. 1992) wurden 187 stationäre Depressive mit Hilfe verschiedener Fragebögen (Diagnostic Interview Schedule, Social Interview Schedule, Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen für Depression Hamilton-Depressionsskala und Beck-Depressionsinventar) untersucht. Nach Abzug nicht auswertbarer Erhebungsbögen wurden drei Gruppen gebildet: Depressive jünger als 40 Lebensjahre, Depressive mittleren Lebensalters 40–64 Jahre, Depressive 65 Jahre und älter. Die Verteilung nosologischer Diagnosen zeigt eine prozentuale, jedoch nicht signifikante Zunahme der sog. endogenen Depressionen mit dem Lebensalter, neurotische und psychoreaktive Depressionen im Sinne von ICD-9 wurden eher bei jüngeren Depressiven diagnostiziert: Endogene Depression (ICD-9: 296.1): in der jungen Gruppe 30 %, in der mittelalten Gruppe 46 %, bei den alten Depressiven 56 %; neurotische Depression (ICD-9: 300.4): junge Gruppe 39 %, mittlere Gruppe 33 %, alte depressiv Kranke 11 %. Dies wurde (Wolfersdorf und Kortus 1995) als abnehmende Bereitschaft interpretiert, mit zunehmendem Alter bzw. zunehmender Häufigkeit von Erkrankung nach psychoreaktiven und erlebnisbezogenen Aspekten in der prädepressiven Vorgeschichte zu suchen. Hinsichtlich Personen- und Behandlungsdaten unterscheiden sich die drei Gruppen nicht; der Anteil der drei Altersgruppen ist bei den Männern und Frauen jeweils gleich, ebenso der Anteil der allein lebenden Patienten, der erwartungsgemäß bei den alten depressiven prozentual höher ist als bei denen im jüngeren Lebensalter. Es fiel auf, dass in allen drei Altersgruppen die poststationäre ambulante Behandlung bei den meisten Patienten und über alle drei Altersgruppen bei 2/3 bis 2/4 nur über ein Vierteljahr nach Entlassung reichte. Mit 19 % ist der Anteil der das ganze Jahr behandelten Patienten bei den alten Depressiven noch am höchsten. Dies gab Anlass zur Besorgnis hinsichtlich einer insgesamt kurzen und inadäquaten Behandlung, die von Seiten des Patienten oder auch des nachbehandelnden Arztes zu rasch beendet wird.
Tabelle 13: Vergleich Depressive verschiedenen Alters. Symptomatik bei Aufnahme nach DIS (Nr. des Items): Häufigkeiten: Psychotische Symptome, Suizidalität (% vorhanden bei jungen, mittelalten bzw. alten Pat.)
Variable (Nr.)
Variable (Nr.)
(% vorhanden jung/mittel/alt)
(% vorhanden jung/mittel/alt)
jemals länger als 1 Woche über Tod nachgedacht (88)
(67/67/63)
Gedanken anderer lesen (107)
(0/0/0)
jemals Wunsch zu sterben länger 1 Woche (89)
(83/66/71)
andere kontrollieren eigene Gedanken (108)
(0/2/0)
jemals Suizidgedanken (96)
(83/63/63) (Trend!)
Gedanken werden eingegeben bzw. entzogen (109)
(2/2/0)
jemals Suizidversuch (91)
(48/34/21) (Trend)
andere Wahnideen nach Beurteiler (111)
(6/11/0)
jemals Gefühl, beobachtet zu werden (103)
(22/10/8)
Zwangsgedanken, z. B. andere zu verletzen (147)
(11/5/0)
jemals geglaubt, verfolgt zu werden (104)
(15/3/0)
Zwangsgedanken, z. B. schmutzig zu sein (148)
(5/2/0)
vergiftet zu werden (105)
(9/0/1)
jemals Vorwurf Alkoholmissbrauch (127)
(15/6/0)
andere lesen eigene Gedanken
(106) (0/0/0)
jemals Medikamenten-, Drogenmissbrauch (156) (14/15/12)
jemals Tranquilizer mindestens 2 Wochen (159) (60/64/50)
Die Symptomatik wurde mit Hilfe der Diagnostik Interview Schedule (DIS) erhoben. Hier fand sich hinsichtlich der Häufigkeit körperlicher Beschwerden kein signifikanter Unterschied, auch hinsichtlich der allgemeinen Psychopathologie ließen sich die drei Altersgruppen nicht signifikant trennen. In Tabelle 13 sind beispielhaft die Variablen zur Häufigkeit von Suizidalität sowie zur psychotischen Symptomatik aufgelistet. Hinsichtlich Suizidideen gab es einen Trend mit häufigeren Angaben solcher und auch von Suizidversuchen in der jüngeren Gruppe. Signifikant trennende Variablen waren: Depressive des mittleren Lebensalters sind signifikant häufiger im Zusammenhang mit einem Todesfall erkrankt; jüngere depressiv kranke Menschen hatten häufiger in ihrer bisherigen Krankheitsgeschichte auch manische Phasen bzw. auch Angstzustände und Panikattacken. Interessanterweise unterscheiden sich auch die Ergebnisse der Fremdbeurteilung (Hamilton-Depressionsskala) und der Selbstbeurteilung (Beck-Depressionsinventar) in allen drei Gruppen über die drei Untersuchungszeitpunkte Aufnahme, Entlassung und persönliche 1-Jahreskatamnese nicht signifikant. Alle drei Gruppen erfuhren eine hochsignifikante Besserung.
Tabelle 14: Diagnostische Aspekte der Depression im höheren Lebensalter
zitiert nach Vortrag Nelson JC: Diagnosis and treatment of depression in the older patient. APA 154th Annual Meeting, 06. Mai 2001, New Orleans, USA
Tabelle 15: Psychopathologische Akzentuierungen der depressiven Symptomatik im höheren Lebensalter
nach Wolfersdorf 1999