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Weltweit versterben jährlich etwa 1 Mio. Menschen durch Suizid und 20-50 Mio. Suizidversuche werden durchgeführt. Psychische Erkrankungen, aber auch Krisen in ihren vielfältigen Ausgestaltungen sind eng mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden. Dieses Buch fasst die heutigen Vorstellungen zu Suizid und Suizidprävention aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht zusammen und stellt umfassend Kriseninterventions- und Präventionsansätze vor. Die 2. Auflage ist um aktuelle Themen ergänzt, wie z.B. die intensiv diskutierte Suizidbeihilfe. Zahlreiche Beispiele runden das praxisorientierte Werk ab.
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Seitenzahl: 538
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Autoren
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Manfred Wolfersdorf
Studium der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg, Promotion in der Psychiatrie. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (tiefenpsychologisch, klientenzentriert), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am PLK Weissenau (heute Zentrum für Psychiatrie), Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm. Gründer und bis 1997 Leiter der ersten »Depressionsstation« in Deutschland, Leiter AK Depressionsstationen Deutschland/Schweiz bis 2016. Ltd. OA Depression/Akutpsychiatrie, Leiter Psychophysiologisches Labor am PLK Weissenau, Gründer/Leiter der AG »Suizidalität und psychiatrisches Krankenhaus«, bis heute Ehrenvorsitzender. Habilitation 1989 zum Thema »Kliniksuizid psychisch Kranker«, apl. Prof. 1996. 1997 Berufung zum Ärztlichen Direktor des Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Erlangen-Nürnberg, und zum Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Berufung in den Vorstand der Bundesdirektorenkonferenz, Mitglied bis 2012, Vorsitzender 2000 bis 2004. Mitglied des Vorstandes der DGPPN 2000 bis 2007. Gründung und Leitung des Referates Suizidologie 2007 bis 2017. Mitglied der International Association for Suicide Prevention (IASP) und der International Association for Suicide Research (IASR). Berufener Berater des BverfG zum Thema Suizidbeihilfe. 2000 bis 2016 jährlich tätig in der Psychiatrie in Lettland und in der Ukraine, Transkarpatien. Seit Okt. 2016 im sog. Ruhestand, tätig bis heute in Praxisgemeinschaft in Bayreuth, Schwerpunkt Depression.
Univ.-Prof. Dr. med. Elmar Etzersdorfer
Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV/IPA)). Chefarzt des Furtbachkrankenhauses, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Stuttgart.
1998 Lehrbefugnis an der Medizinischen Universität Wien, Thema der Habilitationsschrift: »Untersuchungen über verschiedene Aspekte der Suizidgefährdung«. Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention e. V. (DGS), von 2006–2014 Vorsitzender. Mitglied der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens der DGS, von 2001–2005 deren Sprecher. Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro), von 2002–2007 Vorsitzender. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift »Suizidprophylaxe«. Vorstandsmitglied der Dr. Elias und Hedwig-Gulinsky-Stiftung zur Förderung der Forschung in der Suizidprävention, stellvertretender Stiftungsvorstand. Mitglied der International Association for Suicide Prevention (IASP), Mitglied der task force on Suicide and Media der IASP. Full member der International Academy for Suicide Research (IASR).
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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037158-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037159-0
epub: ISBN 978-3-17-037160-6
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
1 Einführung
1.1 Anmerkungen zur Geschichte des Suizids
1.2 Suizidalität – »medizinisch-psychosoziales Paradigma«
2 Begriffsbestimmung und Formen von Suizidalität
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Klinische Benennungen von Suizidalität
2.3 Formen von Suizidalität
3 Zur Epidemiologie von Suizidalität
3.1 Suizid und Suizidversuch in Deutschland
3.2 Zur europäischen und internationalen Perspektive
3.3 Suizidalität und psychische Krankheit – zur Epidemiologie
3.4 Suizidalität und psychosoziale Faktoren
3.5 Suizidmethoden
4 Entwicklung von Suizidalität
4.1 Struktur von Suizidalität
4.2 Zeitabläufe suizidaler Handlungen
4.3 Stadien der präsuizidalen Entwicklung nach Pöldinger
4.4 Das präsuizidale Syndrom nach Ringel
4.5 Motivstruktur suizidalen Handelns
5 Ätiopathogenetische Modelle von Suizidalität
5.1 Krisen-Modell von Suizidalität
5.1.1 Zur Geschichte der Krisentheorie
5.1.2 Krise – Begriffsbestimmung
5.1.3 Lebensveränderungskrise
5.1.4 Traumatische Krise
5.1.5 Psychosoziale Krise und Suizidalität
5.1.6 Modellhafte Typen von Krisen
5.1.7 Psychosoziale Krise
5.1.8 Narzisstische Krisen
5.1.9 Existenziell vernichtende Krisen
5.1.10 Umgang mit menschlichen Krisen und Kritik des Krisenkonzepts
5.2 Das Krankheitsmodell von Suizidalität
5.2.1 Anmerkung zur heutigen biologischen Suizidforschung
5.2.2 Krankheitsmodell und psychische Krankheit
5.3 Einfache und integrative Krankheitsmodelle von Suizidalität
6 Suizidprävention und Krisenintervention
6.1 Ebenen der Suizidprävention und Krisenintervention
6.2 Einrichtungen der Suizidprävention
6.3 Grundzüge der Suizidprävention
6.4 Krisenintervention
6.4.1 Zur Historie
6.4.2 Krisenintervention – Notfallpsychiatrie
6.4.3 Stationäre Krisenintervention
6.4.4 Prinzipien von Krisenintervention
6.4.5 Konzepte von Krisenintervention
6.4.6 Psychotherapeutische Krisenintervention
6.4.7 Abgrenzung Krisenintervention – Psychotherapie
7 Suizidprävention – Einfluss von Waffengesetzen und der Verfügbarkeit von Suizidmitteln
8 Suizidprävention – Presseberichte, Medien, Suizidforen
8.1 Werther-Effekt
8.2 Heute: »Papageno-Effekt«
8.3 Schlussfolgerungen
8.4 Internet, Neue Medien, Suizidforen
9 Depressive Erkrankungen und Suizidprävention
9.1 Anmerkungen zur Epidemiologie
9.2 Das präsuizidale depressive Syndrom: Risikopsychopathologie und Fragen nach Suizidalität
9.3 Diagnostik und Behandlung suizidaler depressiver Patienten
9.4 Anmerkung zur Prävention von Depression und Suizidalität
10 Schizophrene Erkrankungen und Suizid
10.1 Einleitung
10.2 Epidemiologische Studien zu Risikofaktoren bei schizophrenen Patienten
10.3 Suizidprävention bei schizophren Kranken
11 Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörung, und Suizidprävention
11.1 Einleitung
11.2 Zur Epidemiologie
11.3 Krisenintervention
11.3.1 Vorbemerkung
11.3.2 Empfehlungen für die klinische Praxis
11.3.3 Abschlussbemerkung
12 Demenzielle Erkrankungen und Suizidprävention
13 Bipolare affektive Erkrankung und Suizidalität
13.1 Zur Epidemiologie
13.2 Risikofaktoren und Psychodynamik
13.3 Anmerkungen zur Suizidprävention
14 Suizid und Suizidprävention in psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychosomatischen Kliniken
14.1 Der Kliniksuizid: Suizid während stationärer psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung
14.2 Suizidprävention im psychiatrischen Krankenhaus
14.3 Suizidprävention in der psychosomatischen Klinik
14.4 Anmerkungen zur Suizidprävention im Allgemeinkrankenhaus
14.5 Juristische Aspekte beim Suizid in psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychosomatischen Einrichtungen – Anmerkungen
15 Anmerkungen zur Psychopharmakotherapie bei Suizidalität
16 Postvention – nach einem Suizid
16.1 Suizidhinterbliebene – »survivors«
16.2 Suizid im psychiatrischen Krankenhaus: sog. Kliniksuizid
17 Suizidbeihilfe – Ärztlich Assistierter Suizid
18 Abschlussbemerkung
Literatur
Stichwortregister
Suizidalität als menschliches Denken, Erleben und Verhalten beschäftigt das gesamte medizinisch-psychosoziale Feld im engeren Sinne seit über 200 Jahren. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde erstmals dezidiert der Anspruch von Medizin und damals entstehender Psychiatrie formuliert und damit der Übergang von einem das ganze Mittelalter hindurch religiös definierten Paradigma von Suizidalität zu einem bis heute gültigen »medizinisch-psychosozialen Paradigma« ermöglicht.
Suizidalität, wie Sexualität, süchtiges Verhalten oder auch Spiritualität, gibt es, seit es Menschen gibt, denn nur der Mensch kann über die willentliche Beendigung des eigenen Lebens nachdenken. Über Suizidalität wurde über Jahrhunderte hinweg unterschiedlich geurteilt. Das Spannungsfeld reicht von der Verpflichtung zur Selbsttötung aus gesellschaftlichen, kriegerischen, religiösen oder ethischen Gründen, über das Verständnis von Selbsttötung als Ausdruck der Freiheit des Menschen bis hin zur Haltung, dass es sich um eine zu verbietende oder sündhafte Verhaltensweise handelt, die strengstens abgelehnt und bestraft wird. Theologie, Philosophie, Psychologie, Medizin – das Spektrum ist weit, in welchem suizidales Verhalten diskutiert wurde und bis heute wird, wenngleich heute die medizinisch-psychiatrische bzw. -psychotherapeutische Theorie im Vordergrund steht.
Die Verpflichtung zur Suizidprävention als eine Aufgabe des medizinisch-psychosozialen Versorgungsfelds wurde in den letzten 20 Jahren unter dem Einfluss der epidemiologischen Forschung untermauert, die einen deutlichen Anstieg affektiver Erkrankungen, denen ja der Großteil von Suizidalität zugeschrieben wird, feststellte. Die Europäische Union ist genauso wie das deutsche Bundesgesundheitsministerium, ebenso wie die Fachverbände, die sich mit psychisch kranken Menschen beschäftigen, in das Themenfeld Suizidprävention eingestiegen und hat Suizidprävention zu einem wichtigen wenn nicht zentralen Thema der deutschen bzw. europäischen Gesundheitsfürsorge erklärt.
Die beiden Autoren sind seit Jahrzehnten in der deutschsprachigen Suizidprävention tätig und klinisch und wissenschaftlich mit derartigen Fragestellungen vertraut. Ziel dieses gemeinsamen Werkes ist eine umfassende Zusammenstellung der klinischen und der wissenschaftlichen Evidenz, wie sie heute zum Thema Suizid und Suizidprävention vorliegt. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig im psychiatrisch-psychotherapeutischen und -psychosozialen Bereich und dieses Buch ist aus der Perspektive des mit psychisch kranken Menschen arbeitenden Therapeuten entstanden.
Wir danken dem Verlag und insbesondere Frau Dagmar Kühnle und Herrn Dr. Ruprecht Poensgen für ihre lange Geduld und für ihre stete Intervention zur Erstellung dieses Buches, wir danken unseren Kolleginnen und Kollegen, deren Gedanken und Überlegungen in die hier vorgestellten Konzepte eingegangen sind, und wir danken all unseren Patientinnen und Patienten, von denen wir lernen durften, denn es heißt: »Wer sich mit Suizid beschäftigt, beschäftigt sich mit dem Leben!«
Manfred Wolfersdorf Mai 2011
Elmar Etzersdorfer
Die zweite Auflage dieses Buches war Wunsch Vieler. Es ist der Versuch, »Vieles« zusammenzufassen oder ein gemeinsames Verständnis anzustoßen. Warum Menschen sich umbringen, sich das Leben nehmen – warum eigentlich, wir wollen ja alle gerne und gut leben –, das ist die zentrale Frage. Auch in der zweiten Auflage wollten wir diesem Thema nachgehen – und wir sind dabei nicht unparteiisch als Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention e. V. (DGS) oder des Referats Suizidologie der DGPPN e. V. Wir sind »pro Leben«, was die Intimität einer Akzeptanz oder der Beihilfe zu einer suizidalen Handlung nicht grundsätzlich ausschließt, aber nicht möchte, weil wir als therapeutisch Tätige um die Abhängigkeit suizidaler Impulsivität von äußeren Faktoren wissen, von psychosozialen Notsituationen oder psychopathologisch krankhaftem Erleben der Existenz und des Geschehens. Suizid ist die – ungeschminkt –gewaltsame Beendigung des eigenen Lebens: Warum?
Das hier vorgelegte Buch, nun in 2. Auflage, kann diese Frage nicht beantworten, aber anbieten, Fakten kennenzulernen und sich selbst damit auseinanderzusetzen. Suizidalität ist ein sehr persönliches Thema, anderseits ein Thema von Psychiatrie und Public Health. Das war/ist unser Ansatz. Im Grunde hat sich an den Prinzipien und Techniken der Suizidprävention wenig geändert. Es ist und bleibt eine gesundheitspolitisch-gesellschaftliche Frage und ein Thema eigener Einstellungen.
Wir danken dem Verlag für die verlässliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit, insbesondere Herrn Dominik Rose und Herrn Dr. Ruprecht Poensgen.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Manfred Wolfersdorf Univ.-Prof. Dr. med. Elmar Etzersdorfer
Bayreuth/Hollfeld, Stuttgart, August 2022
Im Jahr 2013 legte die Weltgesundheitsoragnisation (WHO) einen Aktionsplan vor, der u. a. als Ziel die Reduktion der Suizidzahlen bis 2020 um 10 % enthielt. 2014 erschien dann die WHO-Publikation »Preventing Suicide: A global imperative« (Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Hrsg.) (2016) Suizidprävention: Eine globale Herausforderung). Gleich in der Einführung steht: »Es gibt keine einfache Erklärung dafür, warum Menschen durch Suizid sterben.« (S. 8)
Im Juni 2008 hat die EuropäischeUnion unter dem Stichwort »Depression and suicide in Europe« in Fortsetzung ihrer gesundheits- und psychiatriepolitischen Entwürfe des letzten Jahrzehnts die hochrangige Bedeutung des Themas Prävention von Suizidmortalität und Depressionserkrankung in den Ländern Europas herausgestellt. 2005 wurde im sog. »Greenbook« der EU-Kommission für Gesundheit diese Orientierung bereits festgelegt, als die Reduktion von Drogenmissbrauch, von depressiven Erkrankungen und Suizidmortalität in der Europäischen Union zu Präventionszielen erklärt und den Mitgliedsländern in die jeweiligen gesundheitspolitischen Programme geschrieben wurde.
Diese »high level-conference« im Sommer 2008 geht von zwei wesentlichen Fakten aus: Die Depression als Erkrankung ist häufig in Europa, die Lebenszeitprävalenz liegt bei über 13 %, bei europäischen Männern bei 9 %, bei europäischen Frauen bei ca. 17 %. Der Einfluss von depressiven Erkrankungen auf die Lebensqualität ist dem einer schweren körperlichen Erkrankung gleichzusetzen. Des Weiteren sind depressive Erkrankungen zu einem hohen Grad mit anderen psychischen Erkrankungen und insbesondere mit Alkoholmissbrauch und Angststörungen komorbid verbunden.
Im Jahr 2006 verstarben in den 27 EU-Ländern über 59.000 Europäer1 durch Suizid – ca. 45.000 Männer und ca. 14.000 Frauen. Die Anzahl der durch Verkehrsunfälle im gleichen Jahr verstorbenen Menschen liegt bei ungefähr 50.000, also einiges darunter. Damit versterben 12 von 1.000 Bürgern der EU nicht an natürlichen Todesursachen, sondern durch Suizid. Nach Ansicht der EU-Kommission für Gesundheit stehen 90 % aller Suizide in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und im Wesentlichen mit affektiven Störungen. Geschätzt wird, dass etwa 60 % aller Suizide im Zusammenhang mit depressiven Störungen geschehen, aber auch mit Alkoholmissbrauchs- und Abhängigkeitserkrankungen (Wahlbeck und Mäkinen 2008).
Die entsprechenden Aktivitäten in der deutschen Gesundheitspolitik in den letzten zwanzig Jahren lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Im Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen »Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit Band III: Über-, Unter- und Fehlversorgung« von 2000/2001 wird erstmals eine psychische Erkrankung, nämlich die Depression, als bedeutsames Ziel zukünftiger Gesundheitspolitik benannt. Das Forum des Bundesministeriums für Gesundheit »Gesundheitsziele.de« hat 2004 die Arbeitsgruppe »Depression« ins Leben gerufen, eine Expertenkommission, die über mehrere Jahre hinweg Ziele zu einer verbesserten Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation depressiver Erkrankungen formulierte; die entsprechende Publikation ist in der Zwischenzeit erschienen (BMG 2007) und beinhaltet auch Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgung suizidaler Menschen. Die im Dezember 2009 verabschiedete S3-Leitlinie/Nationale Versorungsleitlinie zum Thema »Unipolare Depression«, die von verschiedenen Fachgesellschaften unter der Leitung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) in den letzten drei Jahren entworfen wurde, beinhaltet ein eigenes Kapitel »Management bei Suizidgefahr« und fordert ein direktes Ansprechen des Themas, eine besondere Beachtung und Betreuung im Sinne einer Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung. Zudem gibt es auch Empfehlungen zu den Voraussetzungen einer stationären Einweisung sowie zur pharmako- und psychotherapeutischen Behandlung, wie auch zur Nachsorge bei suizidalen depressiven Patienten.
Seit 2002 existiert in Deutschland auch ein »Nationales Suizidpräventionsprogramm (NaSPro)«, lange unter der Leitung von Schmidtke und Fiedler (Schmidtke und Fiedler 2007), heute von Schneider und Lindner (Glasow und Henry 2016). Abgesehen von den Aktivitäten der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention – Hilfe in Lebenskrisen e. V. (DGS) seit nun fünf Jahrzehnten einschließlich der dort zugehörigen »Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens« der DGS und des vor einigen Jahren entstandenen »Referats Suizidologie« der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) wurde damit eine bedeutende weitere Initiative gestartet. Insgesamt wird offensichtlich, dass auf der gesundheitspolitischen sowie auf verbandspolitischer Ebene der Fachgesellschaften das Thema Suizidalität in den letzten Jahrzehnten einen neuen Stellenwert bekommen hat, sodass – und hier sei eine wichtige Hypothese gleich eingangs genannt – der Rückgang der Suizidzahlen und -raten in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten auch im Zusammenhang mit einer deutlich verbesserten Wahrnehmung von Suizidalität, von Menschen in suizidalen Krisen und belastenden Lebenssituationen, in der Verbesserung des Erkennens und des Behandelns depressiver, aber auch anderer psychischer Erkrankungen, die mit erhöhter Suizidalität einhergehen können, interpretiert wird. Anfang der 2000er Jahre begann in Deutschland eine gesellschaftlich breite Diskussion um das Thema »Suizidbeihilfe/(ärztlich) assistierter Suizid«, die zur Formulierung des § 217 StGB führte und der letztlich 2020 vom Bundesverfassungsgericht wieder aufgehoben wurde. Die aktuelle Diskussion spannt sich zwischen Suizidbeihilfe versus Suizidprävention aus. Wenn es ein Gesetz zur Beihilfe zum Suizid geben wird, muss es zwangsläufig auch ein Suizidpräventionsgesetz geben. Dass sich im Rahmen der Diskussion um »Suizidbeihilfe« mit Formulierung des ehemaligen § 217 StGB im Bundestag eine überfraktionelle Arbeitsgruppe gegen die Freigabe der Suizidbeihilfe gebildet hat und auch vom Bundestag ein Projekt »Suizidprävention Deutschland – Akueller Stand und Perspektiven« auf den Weg gebracht wurde, ist bemerkenswert.
Das Thema Suizid und Suizidgefahr bzw. Suizidprävention ist heute Standard in den Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen und in den Ausbildungsangeboten in allen »Psych«-Fächern, sei es die Ausbildung der Medizinstudenten, der Psychologen, die Ausbildung von Sozialpädagogen, Theologen oder auch Philosophen; sei es die Facharztweiterbildung oder die Ausbildung der Psychologischen Psychotherapeuten. In den somatischen Fächern scheint noch mehr Bedarf an Fort- und Weiterbildung zu bestehen, wie eine aktuelle Umfrage vermuten lässt (Wolfersdorf, Schneider et al. 2020 unveröffentlicht).
Immer noch sterben in Deutschland mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen oder Aids zusammen (Fiedler und Schmidtke 2007, Tab. 1).
Tab. 1: Todesursachen in Deutschland 2005 und 2018 (Fiedler und Schmidtke 2007, Müller-Pein 2020; Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Stand Mai 2020)
Daraus leitet sich die Verpflichtung ab, die Themen Suizidalität, Suizid und Suizidprävention sowie Hilfe für Menschen in suizidalen Lebenskrisen weiterhin und verstärkt nicht nur einer Fachöffentlichkeit, sondern im Bewusstsein der Allgemeinbevölkerung zu etablieren und damit die heute bereits bestehenden Hilfsmöglichkeiten weiter zu verbessern. Denn, wie es anlässlich eines der letzten World Suicide Prevention Days im Rahmen einer Öffentlichkeitsaktion formuliert wurde: »Keiner bringt sich gerne um!« Suizidprävention ist ein gesundheitspolitisches Thema geworden, ganz im Sinne der WHO-Position (2014): »Suizide sind vermeidbar«.
Johann Wolfgang von Goethe (Sprengel 1985, S. 617) schrieb: »Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon soviel gesprochen und gehandelt worden sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muss«. Und damit verlange die Frage des Suizids nach Lind (1999) jedem Menschen eine persönliche Stellungnahme ab und die Gesellschaft eines jeden Zeitalters sei gezwungen, diese Frage erneut zu thematisieren. »Jede Zeit kultiviert ihr Interesse am Selbstmord neu«, meint Roger Willemsen (2000, S. 13) im Vorwort seines Buches »Der Selbstmord« mit Briefen, Manifesten und literarischen Texten zum Thema und fährt später fort, dass sich im Suizid grundsätzlich gesellschaftliche Fragen stellten, auch wenn vergangene Epochen Pädagogik, Justiz, Moralphilosophie und Theologie gegen den Suizidenten in Stellung gebracht hätten. Die Sorge um ihn verrate ein gesteigertes Interesse am Einzelleben »und es habe anderseits kaum eine gesellschaftliche Institution gegeben, die sich durch den Suizid nicht in Frage gestellt und aufgerufen gefühlt hätte, ihm zu begegnen« (S. 17). Heute sei der Suizid weitgehend Arbeitsgebiet von Psychologie und Psychotherapie geworden und der wissenschaftliche Diskurs habe schon früh mit psychologischen, psychopathologischen, sozialpsychologischen, soziologischen und anthropologischen Argumenten operiert. Johann Wolfgang von Goethe, um noch einmal aus »Dichtung und Wahrheit« zu zitieren, meinte, dass keinem normalen und kultivierten Menschen das »temporäre ernste Selbsttötungsverlangen als ein der eigenen geistigen Verantwortung und der eigenen seelischen Macht ganz entzogenen Naturzwang als inneres, furchtbares »Muss« fremd bleibt« (zit. n. Simson 1976, S. 21); Goethe habe dies »die Krankheit zum Tode« genannt. Für den Juristen Simson (1976) bildet der »innere Selbstmordwunsch« eine naturbedingte und naturgewollte, heute in steigendem Umfang von menschlichem Dasein untrennbare, verzweifelte Reaktion auf Leid und Leiden. Und weiter meint er, zu Unrecht hätten Gesetzgeber, Richter und andere, die zu Wertungen berufen seien, den Suizid auf den Generalnenner »mangelnder sittlich-sozialer Standhaftigkeit« gebracht, die Tat auf dieser Basis mit einem Unwerturteil verbunden und dies in rechtlicher Konsequenz zum Ausdruck gebracht. In Wirklichkeit habe »ein Suizid selten nur eine einzige Kausalität« (ebd., S. 22). Damit sei die Spannweite der Betrachtung des Suizides in verschiedenen Zeitepochen, Kulturen und Ländern angedeutet, in denen sich einerseits Versuche finden, die Selbsttötung mit Hilfe strafrechtlicher Drohungen oder religiöser Ausgrenzung zu bekämpfen und zu bestrafen, oder anderseits Ansätze, sie als eine nicht selten gerechtfertigte, auf jeden Fall freie menschliche Entscheidung zu verstehen, zu respektieren und aus Strafgesetz und Strafpraxis herauszunehmen. Die aktuelle Diskussion (Wedler 2017, Borasio et al. 2017, Wolfersdorf 2020, Schneider et al. 2020) zeigt die Weite des Spannungsfeldes.
Suizidalität gibt es, seit es Menschen gibt. Nur der Mensch kann über die willentliche Beendigung des eigenen Lebens nachdenken. Ob der Vorzeitmensch die Selbsttötung bereits kannte, ist nicht überliefert. Kein Denken und Verhalten hat jedoch im Laufe der Menschheitsgeschichte eine derartig unterschiedliche Beurteilung erfahren wie Suizidalität.
Der Historiker George Minois (1996) hat eine große Untersuchung des Suizides im christlichen Abendland von der Antike bis ins 20. Jahrhundert vorgelegt. Hier wird der Suizid in historischer, gesellschaftlicher, religiöser, juristischer und philosophischer Perspektive und in der Literatur beleuchtet. Nach Minois (1996, S. 16) galt bis Ende des Mittelalters ein religiöses Paradigma von Suizidalität, nämlich dass Suizidenten im Jenseits bestraft werden würden, denn der Suizid stelle sowohl eine Beleidigung Gottes dar, der das Leben geschenkt habe, als auch eine Beleidigung der Gesellschaft, die für das Wohl ihrer Mitglieder sorge. Beides abzulehnen, die Gabe Gottes und die Fürsorge der Gesellschaft, seien als Vergehen angesehen worden, die weder von religiöser noch von politischer Seite her geduldet werden könnten. So galt in der frühen Neuzeit der Suizid sowohl im kirchlichen wie auch im weltlichen Recht als kriminelle und zu bestrafende Handlung (Lind 1999).
Allerdings, auch hier hatte der Suizid im Mittelalter bereits zwei Gesichter (Minois 1996, S. 31). Er schien fast ausschließlich bei dem »gemeinen Mann« zu grassieren und den Adeligen zu verschonen, denn diesem ersparten Ersatzhandlungen wie das Turnier, die Jagd, der Krieg oder auch der Kreuzzug den Suizid als Gelegenheiten, sich töten zu lassen und suizidale Neigungen zu »sublimieren«, während den Bauern und Handwerkern nur ein Strick oder das Wasser zur Verfügung stünden. Und dieser Unterschied spiegelte sich nach Minois (1996) auch im Recht und in der Moral wider, denn der indirekte Suizid des Adeligen galt als altruistisch, wenn letzterer sich für seine Sache aufopfere, oder hatte seine Ursache in der Liebe, im Zorn oder im Wahnsinn. In allen diesen Fällen sei er entschuldbar gewesen. Der Suizid des Bauern dagegen wurde als egoistische und feige Tat verstanden, denn dieser entziehe sich seiner Verantwortung, in dem er sich heimlich erhänge. Sein Motiv sei die Verzweiflung, ein verhängnisvolles Laster, das ihm der Teufel eingegeben habe. Später weist Minois (1996, S. 64) darauf hin, dass dem Suizid übergroße Schwierigkeiten und Leiden des Daseins zugrunde lagen, nämlich Hunger, Krankheit, wirtschaftlicher Ruin, Tod naher Angehöriger, große Armut, Gefangenschaft und Angst vor Folter, oder auch Eifersucht. Es hätten die Suizide aus Gründen der Ehre – eine Kategorie, welche die Literatur den Adeligen vorbehalten habe – gefehlt. Allein die Ansicht, das Leben lohne sich nicht mehr, wurde schon als Zeichen von Wahnsinn und geistiger Zerrüttung verstanden, die man als »Melancholie« zu benennen begann. Damit war ein körperliches Leiden der Schwermut benannt, ein »Übermaß an schwarzer Galle«, die das Gehirn verdunkle und düstere Gedanken hervorrufe.
Dieser Gedankengang als Grundlage somatischen und theologischen Verständnisses von Depressivität und Suizidalität findet sich bereits bei der Mystikerin Hildegard von Bingen (1098–1179), die in der Vorphase zur Blüte der Kultur des Mittelalters als Repräsentantin des 12. Jahrhunderts, als Äbtissin der Klostergemeinschaft der Benediktinerinnen in der Nähe von Bingen publikatorisch sehr aktiv war und in einem ihrer Werke »Causae et curae« depressive Männer und Frauen beschreibt (Hildegard von Bingen, zit. n. Lieburg 1992). Nach Hildegard von Bingen haben melancholische Männer eine düstere Gesichtsfarbe, auch seien ihre Augen ziemlich feurig und den der Vipern ähnlich. Depressive Frauen kommen dann nicht besser weg als die Männer, denn ihnen werden »mageres Fleisch, dicke Gefäße und mäßig starke Knochen« zugeschrieben, solche Frauen seien »windig und unstet in ihren Gedanken, auch übler Laune […]«. Was die Verursachung der Melancholie angeht, bezieht Hildegard von Bingen eine eindeutige Position, wenn sie in einer Vermischung der Vier-Säfte-Lehre und Vertreibung aus dem Paradies die Entstehung der Melancholie, d. h. »der schwarzen Galle« im menschlichen Körper im Zusammenhang mit dem Sündenfall Adams sieht. »Als aber Adam das Gebot übertreten hatte, wurde der Glanz der Unschuld in ihm verdunkelt, seine Augen, die vorher das Himmlische sahen, wurden ausgelöscht, die Galle in Bitterkeit verkehrt, die Schwarzgalle in Finsternis der Wortlosigkeit und er selbst völlig in eine andere Art umgewandelt. Da befiel Traurigkeit seine Seele und diese suchte bald nach einer Entschuldigung dafür im Zorn. Denn aus der Traurigkeit wird der Zorn geboren, woher auch die Menschen von ihrem Stammvater her die Traurigkeit, den Zorn und was ihnen sonst noch Schaden bringt, überkommen haben« (Wolfersdorf 2008). Dieses Konzept der das Gehirn des Menschen umnebelnden schwarzen Galle – das aus dem griechischen abgeleitete Wort Melancholie heißt »Schwarzgalligkeit« – geht später in das Konzept der Erklärung suizidaler Handlungen ein. Es wird von einer Erkrankung des Wahnsinns gesprochen, oft »Melancholie« genannt, die suizidale Menschen als Opfer einer teuflischen Verzweiflung, als Ausdruck einer Besessenheit im krankhaften Sinne sieht. Ebenso ist auch vom »Raptus melancholicus« als der spontan aus einer depressiven Gestimmheit heraus entstehenden suizidalen Handlung die Rede. Wer sich nachweislich im »Raptus melancholicus« suizidierte, wurde als »krank« mit christlichen Ritualien auf dem Friedhof beerdigt.
Nach Minois (1996) war Brunetto Latine einer der ersten, der diesen Gedanken im Mittelalter (um 1265) verwandte. Etwa ab dem 14. Jahrhundert, so Minois, sei es zu einer Milderung der Kriminalisierung des Suizids gekommen; Minois zitiert Jean Boutillier (gest. 1395), der beim Vorliegen von Krankheit, hier »Wahnsinn«, eine normale Beerdigung des Suizidenten forderte: »Wenn einer wegen Krankheit oder Wahnsinn oder durch sonst ein Unglück wie den Verlust seiner Frau, seiner Kinder oder seiner Güter, in welchem Fall, wie man weiß, ein jeder der Verzweiflung anheim fällt, das Leben verliert, so darf er weder seiner Habe noch seines Leibes verlustig gehen: er darf nicht wegen Verbrechens hingerichtet werden, und er darf weder gehängt noch öffentlich vor Gericht gestellt werden: denn der Leib hat sich nicht gegen die Justiz vergangen, sondern gegen sich selbst« (Minois 1996, S. 67). Dabei erscheint der Suizid derart unmenschlich, dass er entweder nur durch das unmittelbare Eingreifen des Teufels oder durch die Erkrankung des »Wahnsinns«, bzw. »Melancholie«, zu erklären ist. Im ersteren Fall sei der Mensch Opfer einer teuflischen Verzweiflung, gegen welche die Kirche den Beistand der Beichte anbiete. Wer trotz dieser Hilfe dem Suizid erliege, fahre zur Hölle. Im zweiten Fall sei der Unglückliche für seine Tat nicht verantwortlich und könne gerettet werden. Zudem erkenne die Literatur die Größe der Suizide aus Liebe und Ehre an und verleihe dem Adel damit sein eigenes Substitut für den Suizid.
In diesem Sinne hat sich auch die Position der christlichenKirchen über die Jahrhunderte hinweg vom Verständnis (Konsil von Ancyra 340 n. Chr.) hin zur offiziellen Verurteilung des Suizidenten mit Verweigerung jeglicher Bestattung und mit Exkommunikation (z. B. Konsil von Toledo 693 n. Chr.) gewandelt. Dabei sind im Alten und Neuen Testament mehrere Suizide einschließlich des Opfertodes Jesu Christi geschildert, ohne Bewertung oder gar Verurteilung. Illhardt (1991) hat dazu eine Bewertungsgeschichte des Suizids zusammengestellt (Tab. 2).
Tab. 2: Zur Bewertungsgeschichte des Suizides (nach Illhardt 1991)
Das 18. Jahrhundert sollte dann, so Lind (1999, S. 45) das Jahrhundert der Infragestellung und teilweisen Veränderungen von strafrechtlichen und anderen Grundsätzen werden, und in einer Epoche zunehmender Säkularisierung konnte auch die von Kirche und Staat gemeinsam getragene Verurteilung des Suizids nicht länger unwidersprochen hingenommen werden. Im 1743 erschienen Band von Zedlers Universallexikon (Zedler 1743, zit. n. Lind 1999, S. 45 ff.) wird zwischen einem »groben« und einem »subtilen« Suizid differenziert und ersterer als vorsätzlich gewalttätiges Handansichlegen definiert, letzterer als Verhalten, durch das man sich zwar nicht suizidieren wolle, das gleichwohl aber »Anlass giebet, dass die Gesundheit verderbet und das Leben verkürzet wird«. Heftigkeit der Affekte, unordentliche Lebensart, Fressen, Saufen, übermäßige Arbeit, unnötiges sich in Lebensgefahr begeben, etwa beim Duell, werden aufgelistet. Als traditionelle mittelalterliche Verbotsargumente des Suizids werden angeführt, Suizid sei wider das Gesetz der Natur, verstoße gegen den Selbsterhaltungstrieb, der von Gott eingeplant sei, ignoriere den dokumentierten Willen Gottes und verletzte alle Pflichten gegen sich selbst und den Nächsten. Als Ausnahme, in der nicht von einem »Selbstmörder« gesprochen werden könne, galt die Durchführung des Suizids in »Raserey« oder im »höchsten Grad der Melancholey«, ein Zustand, in dem jemand »also nicht wissen könne, was er thut«. Eine ausgesprochen radikale Gegenargumentation formulierte der französische Aufklärer Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach (Übersetzung 1978, S. 246), als er das Suizidverbot zurückwies mit dem Hinweis, Suizid sei weder ein Bruch der Verpflichtung gegenüber Gott noch gegenüber der Gesellschaft, denn jede Verpflichtung sei wechselseitig und eine Gesellschaft, »die uns kein Gut verschaffen kann oder will, verliert alle Rechte an uns«. Auch bei der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott handle es sich um Verpflichtungen, die weder von Seiten des Menschen freiwillig eingegangen worden seien, noch von Seiten der Natur oder ihres Schöpfers wechselseitig behandelt würden, und er argumentiert, eine Natur »die darauf beharrt, unsere Existenz unglücklich zu machen, gebietet uns damit, sie zu verlassen; wenn wir sterben, erfüllen wir ebenso einen ihrer Beschlüsse, wie wir es getan haben, als wir ins Leben traten«.
Medizinische Publikationen reflektierten den Wandel der Einstellung gegenüber dem Suizid im 18. Jahrhundert. Damit wird postuliert, Suizid sei Ausdruck einer Krankheit, verursacht durch körperliche und/oder seelische Faktoren (Lind 1999, S. 86). Lind führt den Arzt Melchior Adam Weikard an, der 1773 einen Artikel mit dem Thema »Der philosophische Arzt« publizierte und auf die grundsätzliche Feststellung des Suizids als Ausdruck einer Erkrankung abhob und konsequenterweise für die Abschaffung aller Suizidstrafen argumentierte. Die erste deutschsprachige Monografie über Suizid stammt von dem Wiener Arzt Leopold Auenbrugger (1722–1809), der in erster Linie als Erfinder der Perkussion als Untersuchungstechnik bekannt geworden ist, und erschien 1783 unter dem Titel »Von der stillen Wuth oder dem Triebe zum Selbstmorde als einer wirklichen Krankheit, mit Original-Beobachtungen und Anmerkungen«. Er definierte den Suizid als eine Gemütskrankheit, die sowohl seelische wie auch körperliche Ursachen haben könne, und führt einige Auslöser an, nämlich »eine vorhergesehene unvermeidliche Erniedrigung des überstolzen Eigensinns, […] eine qualenvolle Sehnsucht nach einem verlorenen und unersetzlichen Gute, […] ein unverdaulicher Verlust der wuchernden Habsucht und des Geitzes, […] eine angstvolle Beklemmung der untröstlichen Kleinmüthigkeit – die verzweifelnde Vorstellung einer bevorstehenden peinlichen Noth, Armut, Unglück, Schande – die ununterbrochenen Vorwuerfe eines bösen Gewissens und mehr dergleichen«. Interessanterweise nennt der Autor auch einige Hinweise für beginnende Suizidalität, nämlich Blässlichkeit des Körpers, kalte Stirn, Schlaflosigkeit, dann eine stille Gemütsart und die Meidung der Gesellschaft, die später in Schwermut, Gefühllosigkeit, plötzliche Gefühlsausbrüche, Seufzer und Äußerungen wie »mit mir ist es aus; mir ist nicht mehr zu helfen« (zit. n. Lind 1999, S. 91) übergingen und im Endstadium sich in Misstrauen, Zorn, Unruhe und Gefühllosigkeit verändern würden.
Man kann also zusammenfassen, dass im Laufe der Frührenaissance und der frühen Neuzeit sich die ursprüngliche Position, dass Suizid im kirchlichen wie auch im weltlichen Recht als sündhaft-kriminelle Handlung zu bestrafen sei, änderte und dass ein aufklärerischer Diskurs den Suizid zunehmend als Ausdruck von Krankheit bzw. als Akt menschlicher Willensfreiheit diskutierte und für Straflosigkeit plädierte. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch heute die Diskussion (z. B. Wedler 2017, Wolfersdorf 2020).
Die Bewertung von Suizidalität war also über die Jahrhunderte hinweg in den früheren Jahren nach Christus zuerst im Wesentlichen moralisch und juristisch nicht belastet, erfuhr dann zunehmend Ächtung von kirchlicher und weltlicher Seite, federführend durch Augustinus, der die Selbsttötung in jeder Situation, auch zu Ehren Christi oder zur Rettung der körperlichen Keuschheit bei Frauen als einen Bruch des fünften Gebotes und als eine verabscheuenswerte Schändlichkeit verworfen hatte. Die Konsile von Arles (452), Orleans (533), Braga (563), Auxerre (613) und Toledo (693) folgten der Autorität von Augustinus. Die Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses, die Exkommunikation und später auch die Verknüpfung mit der weltlichen Kriminalisierung folgten.
Robert Burton schrieb 1621 (S. 325): »Selten endet die Melancholie tödlich, außer in den Fällen – und das ist das größte und das schmerzlichste Unglück, das äußerste Unheil –, in denen ihre Opfer Selbstmord begehen, was häufig geschieht. So haben schon Hippokrates und Galen feststellen müssen: Wenngleich sie den Tod fürchten, legen sie doch meistens Hand an sich, und das wird aller ärztlichen Kunst zum Verhängnis. Ihr äußerstes Elend peinigt und quält diese Menschen derart, dass sie keine Freude mehr am Leben finden und sich gleichsam gezwungen sehen, sich den Kelch anzutun, um ihr unerträgliches Leid abzuschütteln. So begehen einige in einem Anfall von Raserei, die meisten aber aus Verzweiflung, Sorge, Angst und Seelenpein Selbstmord, denn ihre Existenz ist unglücklich und jammervoll.« Hier wird also die Position formuliert, Suizid sei Ausdruck einer psychischen Erkrankung.
Der französischer ReformpsychiaterEsquirol (deutsche Übersetzung 1838) hatte gemeint: »Der Selbstmord bietet alle Merkmale der Geisteskrankheit« und plädierte damit für eine medizinisch-psychiatrische Betrachtungsweise suizidaler Handlungen im Kontext von psychischen Störungen. Differenzierter schrieb Griesinger (1845) als einer der Altväter der deutschen Psychiatrie im Kapitel 4 »Die Schwermuth mit Aeusserungen von Zerstörungstrieben« seines Buches »Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende«: »Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des Selbstmords gehört der Psychiatrie an – was auch einzelne Autoritäten sagen mögen [Anmerkung: Er bezieht sich hier auf die oben gemachte Äußerung des französischen Reformpsychiaters Esquirol, eine Aussage, die dieser später selbst relativiert hat] – er ist nicht immer das Symptom oder das Ergebnis einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Verhältnis zu den gegebenen Umständen, zu den aeusserlich nachweisbaren psychischen Ursachen steht. Wenn ein feinfühlender Mensch sich tödet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen, mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend, in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Berechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten – der Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz zur Selbstvernichtung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke und die That wird mit Besonderheit beschlossen und vollführt. Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zustand mäßiger aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt. […] Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb zum Selbstmord, als eine Form des Raptus Melancholicus, mit Umnebelung des Bewußteins und allen Zeichen großer Exaltation auftreten […]. Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne dass eine Spur von Delirium vor läge; bei näherer Untersuchung findet man alsdann sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie, von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging, dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit wie früher zu denken und zu wollen, über allgemein Ermattung mit wagen Symptomen körperlichen Uebelbefindens namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten.«
Fast hundert Jahre später, am 20. April 1910, referierte David Ernst Oppenheim, ein Wiener Gymnasiallehrer, bei den Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung über eine Schrift von Dr. Baer »Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine sozial-hygienische Studie«, die 1901 in Leipzig erschienen ist und sich besonders mit dem kindlichen und dem sog. »Schülerselbstmord« befasste (Etzersdorfer 2019). Dieses letztere Wort zieht sich durch die gesamte suizidologische Literatur des letzten Jahrhunderts, auf der Suche nach einem besseren tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Verständnis der Selbsttötung von Schülern (Kächele 2008). Der damalige Vorsitzende, Alfred Adler, regte an, über die Disposition zur Suizidalität zu sprechen, die Psychologie des Suizidenten zu beleuchten, die Frage nach den Motiven aufzuwerfen und den Einfluss der Suggestion durch Presse oder Schule zu thematisieren. Freud selbst äußerte sich kritisch, aus den landläufigen Statistiken sei kein Urteil über die Sache zu gewinnen und die sorgfältige Untersuchung einzelner Fälle trage mehr zur Erkenntnis bei. Über 100 Jahre später spricht die WHO davon, es gebe keine einfache Erklärung für Suizid (2016, S. 8). Im Schlusswort der Diskussion, die an einem zweiten Abend fortgesetzt wurde, hält Freud fest, dass »[…] eine eigentliche Lösung des Problems in unserem Sinne nicht geglückt zu sein scheint. Es darf nicht vergessen werden, dass der Selbstmord nichts anderes ist als ein Ausgang, eine Aktion, ein Ende von psychischen Konflikten und dass es sich darum handelt, den Tatcharakter und die Überwindung der Widerstände zu erklären« (Nunberg und Federn 1977, Band II, S. 466). Er deutet die Richtung seiner weiteren Überlegung dort bereits an: »Der Zugang zum Selbstmordkomplex vom Studium der Kranken liegt in der Melancholie, über deren Wesen derzeit nichts bekannt ist; besonders ist deren Mechanismus noch gar nicht studiert« (ebd.). Einige Jahre später findet Freud die theoretische Fundierung in seinem Aufsatz »Trauer und Melancholie« (Freud 1917): »Wir wussten zwar längst, dass kein Neurotiker Selbstmordabsichten verspürt, der solche nicht von einem Mordimpuls gegenüber anderen auf sich zurückwendet […] nun lehrt uns die Analyse der Melancholie, dass das Ich sich nur dann töten kann, wenn es durch die Rückkehr der Objektbesetzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann, wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die einem Objekt gilt« (S. 438–439).
In der heutigen Sprache der Suizidologie könnte also festgestellt werden, dass neben dem Jahrhunderte lang gültigen religiösen Paradigma bereits im Mittelalter der Zusammenhang zwischen Melancholie und Suizidalität formuliert und Suizidalität der Charakter eines Symptoms zugewiesen wurde, wenngleich dabei auch ein theologischer Bezug hergestellt wurde. Griesinger hat bereits zwischen einem Krankheitskonzept und einem Krisenkonzept von Suizidalität unterschieden und auch Verständnis für suizidale Handlungen in einem nicht-krankhaften Zusammenhang, einem für ihn adäquaten Zustand zwischen einem Ereignis und der suizidalen Reaktion, geäußert. Sigmund Freud arbeitete vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Depression (damals als Melancholie bezeichnet) den Beziehungsaspekt und das »Selbstmörderische« heraus. Der narzisstische Aspekt ist in »Trauer und Melancholie« über die Beschreibung des »narzisstischen Typus der Objektwahl« bereits aufgenommen, wurde jedoch erst später mehr in den Vordergrund gerückt. Paul Federn (1929), ebenfalls Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, formuliert einige Jahre später: »Kaum jemals bringt jemand sich um, solange eine Person, die für den Gefährdeten maßgebend ist, mit dem sich sein Über-Ich identifiziert oder die sein Über-Ich gebildet hat, oder eine Person, die er liebt, ihn, so wie er ist, am Leben erhalten will, und das unter allen Bedingungen. Und das ist die wichtigste libidinöse Selbstmordprophylaxe« (Federn 1929, S. 388). Damit formuliert Federn zwei zentrale Grundzüge von Suizidprävention, nämlich Suizidprävention als Beziehungsarbeit und Suizidprävention im Kontext von Werten, also der Sinnhaftigkeit einer Person im Leben.
Die soziologische Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts geht von der klassischen Arbeit von Emil Durkheim »Der Suizid« aus, wobei als Vorläufer das 1879 in Mailand erschienene Buch »Il suicidio« von Enrico Morselli bzw. das in Wien erschienene Buch von Tomas Masaryk (1891) »Der Selbstmord als soziale Erscheinung« gelten. Insbesondere Masaryk, der heute vor allem als erster Staatspräsident der Tschechoslowakei bekannt ist, hat bereits auf die sozialen Zusammenhänge hingewiesen, die Durkheim dann in seiner Konzeption des altruistischen und anomischen Suizids konzeptuell fasste.
Es gab also bereits im 19. Jahrhundert eine aufstrebende psychiatrische und soziologische Suizidologie in Europa, die sich dann nicht nur mit epidemiologischen Fragen bzw. Krankheitskonzepten von Suizidalität beschäftigte, sondern die schon damals therapeutische Empfehlungen wie die sog. moralische Behandlung im Sinne einer frühen, aus heutiger Sicht an einem Narzissmuskonzept orientierten Psychotherapie entwickelte. Auf dieser Vorgeschichte konnten die Altväter der Psychoanalyse aufbauen. In Freuds Werk lassen sich Überlegungen zur Suizidalität durch die gesamte Schaffenszeit nachweisen und verschiedene Erklärungmodelle unterscheiden (Etzersdorfer, 1998). Eine frühe Beschäftigung insbesondere mit dem »Schülerselbstmord« fand schon 1910 in Freuds Mittwochgesellschaft statt, und die gut dokumentierte Diskussion lässt auch heute noch erstaunlich aktuelle Überlegungen finden (Etzersdorfer, 2019). Das bekannteste und expliziteste Erklärungsmodell für Suizide entwarf Freud in »Trauer und Melancholie« (Freud, 1917) sowie danach u. a. in »Jenseits des Lustprinzips«, wo er 1920 den Suizid als Triebäußerung des Thanatos oder Todestriebes beschrieb, entsprechend der zweiten Triebtheorie, die er in dieser Arbeit einführte. Einer der wichtigsten und bis in die heutige Zeit hinein wirksamen Ansätze war dann die Auffassung von Menninger (1938), der Suizidalität als Ausdruck von – primär unbewussten – Wünschen sah, zu töten, getötet zu werden oder zu sterben. Menninger beschäftigte sich erstmals auch mit chronischer Suizidalität und nahm generell eine enorme Erweiterung dessen vor, was er unter suizidalem Verhalten verstand. Neben Drogenmissbrauch subsumierte er darunter etwa auch Essstörungen oder viele neurotische Erkrankungen. Bedeutsam waren auch die Publikationen von Gaupp im Jahr 1905 und von Gruhle 1940, die, unterbrochen durch die Zeit der beiden Weltkriege, bis heute gültige psychodynamische und psychiatrische Aspekte von Suizidalität formuliert haben. Ersterer hat psychologische, soziale und biologische Komponenten des Suizids diskutiert und zwischen Ursache und Motiv unterschieden, wobei als Ursache von ihm eine abnorme psychische Verfassung zum Zeitpunkt der Selbsttötung definiert wurde. Dies ist eine bis heute aktuelle Unterscheidung. Letzterer betonte die Bedeutung von Depression und Alkoholismus für suizidales Verhalten, also aus heutiger Sicht die Krankheitskonzeption, führte aber auch extreme Lebenssituationen als Suizidmotive an. Man könnte formulieren, dass Gruhle hiermit die Unterscheidung der beiden großen Konzepte Krankheit bzw. Krise, ähnlich wie Griesinger ein Jahrhundert vorher, vorweggenommen hat. In den letzten Jahrzehnten kommt es dann zu einer differenzierten Betrachtung der Psychodynamik suizidalen Verhaltens, und noch jünger sind heutige neurobiologische und integrative Betrachtungsweisen des komplexen Denkens, Erlebens und Verhaltens von Suizidalität.
In den USA hatte Edwin S. Shneidman (University of Stanford, Cal.) mit Norman L. Farberow und Robert E. Litman vom »Suicide Prevention Center« des »Institute of Selfdestructive Behavior and Suicide Prevention« in Los Angeles (LASPC) (University of Southern California) 1968 die »American Association of Suicidology« mit den Zielen »research, education and practice in suicidology and advancing suicide prevention« gegründet. Es entstanden zahlreiche »Crisis Center«, dann die »Survivors of Suicide Support Groups« (Angehörigengruppen von Suizidbetroffenen, in Deutschland AGUS seit 1990). Der »Weltsuizidpräventionstag«, jeweils am 10. September, wurde von IASP und WHO 2003 eingeführt.
In Wien gründete Erwin Ringel 1948 im Rahmen der Caritas Wien ein Selbstmordverhütungszentrum, 1977 entstand dort das von Gernot Sonneck, einem Schüler Ringels, maßgeblich entwickelte Kriseninterventionszentrum (Sonneck et al., 2008). Gernot Sonneck gab auch maßgebliche Anstöße für die Gründung der »Wiener Werkstätte für Suizidforschung« 2007, einem der heute auch international aktivsten Netzwerke der Suizidforschung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Hilfe in Lebenskrisen e. V.« (DGS) – entstand 1972, die »International Association for Suicide Prevention« (IASP) war davor bereits 1960 u. a. von Edwin Shneidman und Erwin Ringel initiiert worden. Schwerpunkte der universitären Suizidforschung waren in Deutschland lange Jahre München, Hamburg, Dresden, Ulm, Stuttgart, Leipzig, um einige anzuführen, aktuell sind es Hamburg/Kassel, Dresden, Halle, Frankfurt/Köln u. a.
Es wäre ein interessantes Unterfangen, die Geschichte der Suizidprävention und der Krisenintervention in Deutschland darzustellen, um das Spannungsfeld zwischen universitärer Forschung und praktischer Suizidprävention in Psychiatrie-Psychotherapie, zwischen Allgemeinmedizin/Fachmedizin und psychiatrisch-psychosozialer Krisenintervention in suizidalen Krisen bei Telefonseelsorge (TS), Arbeitskreisen Leben (AKL) und spezifischen Suizidpräventionseinrichtungen aufzuzeigen.
Heute ist Suizidalität vor dem Hintergrund eines »medizinisch-psychosozialen Paradigmas« (z. B. Wolfersdorf 2000; Wolfersdorf 2020), ein Querschnittsfach durch alle medizinischen, psychosozialen, theologischen und philosophischen Fächer. Eine Suizidforschung von soziologischer und medizinisch-psychiatrischer Seite begann in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine systematische Suizidforschung – »Suizidologie« – gibt es in Deutschland seit den letzten 30 bis 40 Jahren, und eine Verdichtung in Qualität und Quantität von Suizidologie steht international in engem Zusammenhang mit der Gründung der International Association for Suicide Prevention (IASP) 1960 in Wien, später der International Academy for Suicide Research zu Padua (IASR), der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) 1972, bis hin zur Einrichtung des Referates Suizidologie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) vor wenigen Jahren, sowie der Gründung des »Nationalen Suizidprävention Programms« (NasPro) für Deutschland Anfang der 2000er Jahre und der Deutschen Akademie für Suizidprävention (DASP) vor wenigen Jahren. Aktuell gibt es in Deutschland ein von der Politik gefördertes Projekt »Suizidprävention Deutschland – Aktueller Stand und Perspektiven«, andererseits eine nicht zur Ruhe kommende Diskussion um »Suizidbeihilfe«.
Die Wurzeln der heutigen Suizidologie, der Suizidforschung und der Suizidprävention liegen also einerseits in einer schon sehr früh differenziellen psychiatrisch-psychotherapeutischen Formulierung auf der einen Seite, auf der anderen Seite im Bereich der soziologischen, heute einer epidemiologisch-psychosozialen, gesundheits- und palliativmedizinischen Suizidforschung, wie sie in den letzten Jahren entstanden ist.
Dabei müssen wir uns heute im klaren sein darüber, dass es jenseits einer im Rahmen eines »medizinisch-psychosozialen Paradigmas von Suizidalität« erkenn- und behandelbaren Selbsttötungstendenz eine Suizidalität gibt, die über den engeren medizinischen Rahmen hinausreicht und Suizidalität auch in einem kulturell-gesellschaftlichen (Selbsttötung als von der Gesellschaft erwünschte Handlung), in einem spirituellen Kontext (Opfertod Jesu Christi, Märtyrertum) oder auch als Ritual innerhalb definierter Gemeinschaften versteht (siehe folgende Übersicht). Hier wird das ganze Spannungsfeld suizidalen Verhaltens deutlich (siehe folgende Übersicht). Ebenso gibt es konkurrierende Sichten auf die Bedeutung und Motivierung suizidpräventiver Aktivitäten. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat ein äußerst umfangreiches Werk über den Suizid in der Moderne vorgelegt, dem er den doppeldeutigen Titel »Das Leben nehmen« gab (Macho, 2017). Er beschreibt darin die Moderne als eine »Epoche der Umwertung des Suizids«, sieht aber eine »umfassende Pathologisierung« (S. 445) an die Stelle von Heroisierung, Moralisieren oder Kriminalisierung treten. Er sieht heute eine Tendenz, den eigenen Tod selbst gestalten zu wollen, eine Art »Selbsttechnik« im Sinne von Foucault, und allgemein eine »suizidfaszinierte Kultur« (S. 448) vorherrschen. Die Besonderheit des Buches liegt in der Untersuchung der Suizidthematik aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, auch wenn die Bemühungen der Suizidprävention nur sehr knapp erwähnt werden (Wedler, 2018).
• Suizid im Rahmen psychischer Erkrankung
• Suizid im Rahmen psychosozialer Krisen und Lebensbelastungen
• Suizid als Opfertod: Sich-töten (z. B. Selbstverbrennung) bzw. Sich-töten-lassen vor dem Hintergrund religiöser Ideen (z. B. Märtyrer)
• Suizid unter Einbeziehung anderer (erweiterter Suizid, Doppelsuizid, Mitnahmesuizid): »Murder-suicide«/sog. Terroristensuizide/»Suicide-Homicide«, Geisterfahrer
• Amok als individuelle aggressive Auseinandersetzung mit einer Zielgruppe unter Einsatz des eigenen Lebens
• Suizid als Ritual des Stammesschutzes: Selbsttötung des kranken alten Mannes, manche Eskimo-Stämme, Reitervölker; aktive Euthanasie alter Menschen, »silent suicides« in Pflegeeinrichtungen
• Freizeitrisikoverhalten (wenn mit Inkaufnahme des Versterbens)
• Autoaggressives Verhalten mit suizidaler Intention bzw. Inkaufnahme der Selbsttötung
• Suizidales Verhalten als Ausdruck einer Selbstwertkrise (narzisstische Krise)
• Suizidales Verhalten im Kontext von Scham und Schuld
• Suizidales Verhalten als Ausdruck einer Wendung der Aggression gegen sich selbst bzw. gegen andere und sich selbst
• Altruistisch erweiterter Suizid (Mitnahmesuizid), Doppelsuizid
• Fremdaggressiv erweiterter Suizid (z. B. Geisterfahrer)
• Opfer-Suizid (für andere Menschen oder eine Überzeugung sich töten lassen)
• Massensuizid (Tötung – Selbsttötung)
• Homizid-Suizid (»murder-suicide«, Kamikaze-Selbstmord, Terroristensuizid, u. Ä.)
• Sog. Freitod (Selbsttötung in Abwesenheit psychischer, somatischer, sozialer Not)
• Suizidbeihilfewunsch bei anhaltender Erkrankung
Neben diesen über ein medizinisch-psychosoziales Paradigma von Suizidalität hinausreichenden Selbsttötungsformen hat sich in den letzten Jahrzehnten eine wissenschaftliche Erforschung von Suizidalität entwickelt, deren Themen in Tab. 3 stichwortartig zusammengefasst sind. Dabei geht es um Fragen der Epidemiologie, der Versorgungsforschung, z. B. bezüglich der Frage der suizidpräventiven Wertigkeit von Kriseninterventionseinrichtungen, um Forschung zum besseren Verständnis von Suizidalität im Sinne der Psychodynamik sowie auch der biologischen Anteile von Selbsttötungsverhalten, oder auch um Fragen der Suizidprävention in bestimmten Settings bzw. unter bestimmten soziokulturellen Rahmenbedingungen. Dabei war die deutschsprachige Suizidologie in den letzten beiden Jahrhunderten weltweit führend, heute gibt es eine schwerpunktmäßige suizidologische Forschung in den USA, gruppiert um die Zentren in New York, Chicago oder Los Angeles, und auch im skandinavischen Raum, hier insbesondere in Finnland und Schweden.
Tab. 3: Suizidologie – heutige wissenschaftliche und gesundheitspolitische Themen
Neben den im medizinischen Bereich angesiedelten suizidologischen Fragestellungen existiert heute eine andere und äußerst grausam wirkende Form von suizidaler Gewalt, die als »Terroristensuizid/Selbstmordattentat« Mittel von Kriegsführung geworden ist (Croitoru 2003). Damit wird die große Spannweite sichtbar, in der die Suizidologie heute angesiedelt ist. Das reicht vom Opfersuizid für andere bis hin zur erzwungenen Einbindung anderer Menschen in die eigene suizidale Handlung, bei der die Fremd- (z. B. school shooting, Amok »postal suicide«) und nicht die Selbsttötung im Vordergrund steht, wie bei Amok, Kamikaze oder dem sog. »murder-suicide«, wie die Verbindung von Mord und Suizidhandlung im Amerikanischen genannt wird.
Wenn heute Suizidalität als eine allen Menschen mögliche und nicht per se krankhafte Denk- und Verhaltensweise betrachtet wird, ähnlich wie Sexualität, süchtiges Verhalten und auch Spiritualität, also letztendlich in der Bewertung neutral und erst in der qualitativen oder quantitativen Abweichung pathologisiert, dann steht nicht mehr die Frage nach einer Legitimation von Suizidprävention und einer Beurteilung von Suizidalität aus einer sich im engeren Sinne durch Krankheit definierenden medizinisch-psychiatrischen Position im Vordergrund. Stattdessen stellt sich die Frage, wodurch der einzelne Mensch in seinem Leben, in seiner individuellen Biografie näher an Suizidalität in Form von Suizidgedanken, -absichten oder -versuchen heranrückt und wo er dort hilfs- und behandlungsbedürftig wird.
Ein »medizinisch-psychosozialesParadigmavon Suizidalität« stellt also heute die ethische Legitimation für Suizidprävention und Suizidforschung dar, wobei aktuell suizidales Verhalten auch unter Einbeziehung anderer Menschen angesichts der veränderten Lebensverhältnisse und insbesondere des veränderten medizinischen Versorgungssystems, angesichts von Veränderungen in der Alterspyramide oder auch angesichts einer aktuell besonders betonten Methode der Kriegsführung durch Terroristensuizide das Thema neu belebt (Wolfersdorf 2008). Aus suizidpräventiver Sicht steht also die Fragestellung an,
1) welche Faktoren Menschen näher an suizidales Denken und Handeln heranführen und
2) wer dann in solchen Situationen Hilfe, Therapie und soziale Unterstützung benötigt,
vor dem banalen Hintergrund, dass keiner sich gerne umbringt. Osiander (1813, zit. n. Willemsen 2002, S. 122) meint dazu in seiner Arbeit »Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen den selben«: »Der vollkommen gesunde und vollkommen vernünftige Mensch hat eine heftige Liebe zum Leben, und lässet wie der Satan zu Hiob sagte, Haut für Haut, und alles, was ein Mensch hat, für sein Leben. […] Diese Liebe zum Leben aber dauert solange, als wir an Geist und Körper gesund sind«. Freud hat diese Liebe zum Leben in »Trauer und Melancholie« zu beschreiben versucht und sah im Selbstmord »[…] eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt« (Freud 1917, S. 431 f.).
1 Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).
Ein genaue Definition der Begriffe »Suizid« und »Suizidversuch« ist nicht leicht. Welz (1992) beispielsweise vertritt die Meinung, dass es sich bei suizidalen Handlungen um ein breites Spektrum von Verhaltensweisen handle, die durch eine unterschiedliche Ernsthaftigkeit der Absicht zu sterben und durch ein die unterschiedlichen Suizidmethoden bedingtes verschiedenartiges Letalitätsrisiko gekennzeichnet seien. Die Gemeinsamkeiten der Psychodynamik lassen für Scharfetter (1973) jedoch die Berechtigung ableiten, Suizid und Suizidversuch gemeinsam unter dem Stichwort »Suizidalität« zu besprechen.
Letztlich gibt es keine Definition von Suizidalität, welche das gesamte Spektrum dieses Phänomens menschlichen Denkens, Erlebens und Verhaltens vom Opfersuizid, vom Suizid in existenzieller Bedrohtheit bis hin zum Suizid in der akuten psychotischen Episode abdeckt (Wolfersdorf 2008). Bei der hier vorzunehmenden Begriffsbestimmung von Suizidalität geht es nicht um eine breite psychiatrische, philosophische bzw. theologische Diskussion, sondern um eine klinische und vor allem eine klinisch nutzbare Definition suizidalen Denkens und Verhaltens und ihrer verschiedenen Formen im medizinischen und psychosozialen Feld. Autoren wie Menninger (1938) oder Farberow et al. (1966) haben auch Risikoverhalten einbezogen, was letztlich wegen der Unschärfe abgelehnt wurde (Wolfersdorf et al. 2000).
Der Bereich, in welchem uns heute Suizidalität bzw. suizidale Menschen überwiegend begegnen, ist das Feld der direkten medizinischen bzw. der psychiatrisch-psychotherapeutischen und -psychosomatischen (Notfall-)Diagnostik und Behandlung, beginnend vom Hausarzt über Kliniken bis hin zur Psychiatrischen Institutsambulanz oder zum niedergelassenen Facharzt. Sie decken das weite psychosoziale Feld von Telefonseelsorge, Face-to-face-Beratung, theologisch-seelsorgerischer Unterstützung bis hin zu institutionalisierter Beratung in den entsprechenden Einrichtungen ab. Das mögen in Deutschland Einrichtungen der Krisenintervention sein, die speziell für Suizidgefährdete geschaffenen Einrichtungen des Krisendienstes beim Roten Kreuz (Krisendienst) oder von regionalen Hilfsvereinen, die sich der Krisenintervention und damit auch der Suizidprävention gewidmet haben. Dass es sich hier um ein sehr breites Spektrum handelt, ist offensichtlich, und dass damit auch verschiedene Orientierungen zu finden sind, ist ebenfalls zu erwarten, so z. B. unterschiedliche Zielsetzungen wie Verhüten von suizidalen Handlungen, Verhüten und Verstehen, Begleitung durch eine Krise unabhängig vom Ausgang bis hin zur Organisation von akuter Krisenintervention auch gegen den Willen des Hilfesuchenden. Mit diesen Einschränkungen seien Begriffsbestimmungen von Suizidalität zusammengestellt (Wolfersdorf 2008a, b).
Die breiteste Definition im deutschsprachigen Raum stammt von Haenel und Pöldinger (1986), die unter Suizidalität »das Potential aller seelischer Kräfte und Funktionen, das auf Selbstvernichtung tendiert« verstehen. Das ist eine derart breite Definition, dass sozusagen nach allen Seiten große Überschneidungsbereiche, so zum Freizeitrisikoverhalten oder auch zu nicht-suizidalem auto- und fremdaggressivem Verhalten deutlich werden. Zubin (1974) erklärt: »Suicide is the end result of a process not the process itself«. Und für Silberman und Maris (1995) gilt, dass Suizid definitionsgemäß »not a disease, but a death that is caused by a self-inflicted intentional action or behaviour« ist. Nach den Autoren sind suizidale Verhaltensweisen Aktivitäten, die mit einem hohen Risiko der Selbstzerstörung einhergehen. Oft sei es nicht das beobachtbare Verhalten, welches für das Verstehen der Ursachen von Suizidalität wichtig sei, sondern häufiger der weite Bereich nicht beobachtbarer und interner Mechanismen. Dabei verweisen sie auf Werte, Überzeugungen, Einstellungen und Kenntnisse, neurobiochemische Gegebenheiten, die Gemütslage und auf Zukunftsperspektiven. Die genannten Mechanismen sind nicht zwangsläufig suizidaler Zielrichtung, aber sie können in selbstdestruktive Handlungen münden.
Möller (1992) hat als Suizid die »absichtliche Selbstbeschädigung mit tödlichem Ausgang« definiert und unter »Parasuizid« eine Handlung mit nicht-tödlichem Ausgang verstanden, bei der eine Person sich absichtlich Verletzungen oder Beschädigungen zufüge oder eine Droge außerhalb des allgemein anerkannten Dosisbereiches einnehme. Er trennt dabei die parasuizidale Handlung vom Suizidversuch, denn erstere beinhalte nicht eine Selbsttötungsintention und sei deswegen wesentlich weiter gespannt. Dieser erweiterte Begriff passe auf all das, was allgemein zwar unter Suizidversuch subsumiert werde, aber den Wunsch nach vermehrter Zuwendung durch die Umgebung oder das Bedürfnis nach Ruhe und nach einer Pause ausdrücke. Norman Kreitman hatte 1969 in einem »letter to the editor« den Begriff des Parasuizids vorgeschlagen und damit begründet, dass sich ein Großteil der Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, nicht wirklich das Leben nehmen wollen. Er blieb jedoch vorsichtig und schrieb: »Before adopting it and possibly making a confused situation worse, however, we feel a duty to ascertain the views of our colleagues […]« (Kreitman et al., 1969, S. 747). Diese Unterscheidung blieb umstritten, da es keine scharfe Trennlinie zwischen Vorliegen und Fehlen, oder auch dem Ausmaß von suizidaler Intention gibt (Etzersdorfer 2006). So wurde auch die in den 1980er Jahren durchgeführte große internationale Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Suizidversuche von der ursprünglichen Benennung »WHO/EURO Multicenter Study on Parasuicide« nach Diskussionen und der Feststellung, dass der Begriff Parasuizid sehr unterschiedlich verwendet wird, umbenannt in »… Study on Suicidal Behavior« (Bille-Brahe et al. 1994, DeLeo D 2001).
Bronisch (2007) bezieht sich auf die Definition von Erwin Stengel (1964), der unter Suizidalität »eine auf einen kurzen Zeitraum begrenzte absichtliche Selbstschädigung« verstand, »von der der Betreffende, der diese Handlung begeht, nicht wissen konnte, ob er es überleben wird oder nicht«. Für Bronisch ist ein Suizid eine Handlung, die der Betroffene für sich selbst als letzten oder besten Ausweg aus seiner für ihn unerträglich erscheinenden Situation durchführt. Ermann (1997) versteht unter Suizidalität »die Neigung, sich selbst zu töten, und einen Zustand, der durch Selbstmordgedanken, -absichten und -versuche gekennzeichnet« ist. Haltenhoff (1999) definiert den Suizid als absichtlich herbeigeführte Beendigung des eigenen Lebens durch gezielte Handlungen und den Suizidversuch als Handlung mit eindeutiger Selbsttötungsabsicht, jedoch nicht tödlichem Ausgang im Sinne einer unvollendeten suizidalen Handlung. Als Suizidgefährdung definiert er eine in bestimmten Lebenssituationen oder bei bestimmten Erkrankungen empirisch erwartbare Suizidalität. Forkmann et al. (2016) fügen Suizidalität in eine Klassifikation selbstverletzenden Verhaltens ein, was an die klassische Diskussion erinnert, ob »nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten« im Kontext von »suizidalem Verhalten (mit der Absicht zu sterben) gesehen werden kann. Ein Wunsch sich zu töten, ist ein Todeswunsch, und Schnittverletzungen als Entspannungsschnitte sind psychodynamisch und motivational etwas Anderes. Allerdings, das Problem ist offensichtlich: Eine Metzgereiverkäuferin schnitt sich die Arme auf, das war »Borderline«, je näher sie der Halsschlagader kam, desto mehr wurde »suizidal« diskutiert. Der klinische Alltag führt an Grenzen, da müssen Entscheidungen getroffen werden, dann auf Basis von ärztlich-psychologischer und pflegerischer Beziehung, von Vorerfahrungen mit dem Patienten, eigenem Erfahrungshintergrund und eigenem Verständnis der Psychodynamik und Psychopathologie.
Eine heute übliche Definition von Suizidalität vor klinisch-psychiatrischem Hintergrund ist in folgender Übersicht gegeben. Unter Suizidalität wird hier die Summe aller Denk-, Verhaltens- und Erlebnisweisen von Menschen verstanden, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder durch passives Unterlassen eines lebenserhaltenden Verhaltens (z. B. Non-Compliance bezüglich lebensnotwendiger Medikation) den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung bzw. einer Unterlassung in Kauf nehmen. Suizidalität ist ein grundsätzlich allen Menschen mögliches Verhalten, tritt jedoch häufig in psychosozialen Krisen und insbesondere bei psychischer Erkrankung auf, was als »medizinisch-psychosoziales Paradigma« bezeichnet wird. Unter der Annahme, dass Suizidalität ein allen Menschen mögliches Denken und Verhalten ist, stellt sich die Frage, was den einzelnen Menschen näher an die Umsetzung von Todes- und Ruhewünschen oder Suizidgedanken in suizidale Absichten und Handlungen heranführen mag. Psychische Erkrankungen sind dabei neben anderem zentrale Risikofaktoren, eng verbunden mit der Psychopathologie, die für sich selbst bereits näher an die Umsetzung von Suizidalität heranbringen kann.
• Suizidalität ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, Handeln lassen oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung in Kauf nehmen
• Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich, tritt jedoch häufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf (medizinisch-psychosoziales Paradigma)
• Psychodynamisch ist Suizidalität ein komplexes Geschehen aus Bewertung der eigenen Person, der Wertigkeit in und von Beziehungen, aus Einschätzung von eigener und anderer Zukunft, der Veränderbarkeit eines unerträglich erscheinenden Zustandes, aus durch psychische und/oder körperliche Befindlichkeit verändertem Erleben, wesentlich beeinflusst von unbewussten verinnerlichten früheren Erfahrungen und damit verbundenen Gefühlen.
• Motivational spielen appellative, manipulativ-instrumentelle, altruistische sowie auto- und fremdaggressive Elemente eine Rolle.
• Suizidalität ist bewusstes Denken und Handeln und zielt auf ein äußeres oder inneres Objekt, eine Person, ein Lebenskonzept. Suizidales Verhalten will etwas verändern, den Anderen, die Umwelt, sich selbst in der Beziehung zur Umwelt.
• Suizidalität ist meist kein Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern von Einengung durch objektive und/oder subjektiv erlebte Not, durch psychische und/oder körperliche Befindlichkeit bzw. deren Folgen, durch gesellschaftlich-kulturelle bzw. ideologische Rahmenbedingung. Die Benennung »Freitod« ist für den Großteil suizidaler Menschen/Suizide falsch.
Eine aktuelle Definition im deutschen Sprachraum aus psychoanalytisch-psychotherapeutischer Sicht stammt von Lindner (2006), der Suizidalität als Ausdruck der Zuspitzung einer seelischen Entwicklung versteht, in der ein Mensch hoffnungslos und verzweifelt über sich selbst wird, das eigene Leben, seine Perspektiven und die Situation als ausweglos erlebt.
Psychoanalytische Konzeption von Suizidalität
»Suizidalität (und darin enthalten auch Suizidversuch und Suizid) lässt sich verstehen als Ausdruck der Zuspitzung einer seelischen Entwicklung, in der die Menschen hoffnungslos und verzweifelt über sich selbst, das eigene Leben und seine Perspektiven sind und ihre Situation als ausweglos erleben. Selbstentwertung, Verachtung und wahnhafte Impulse der Rache können sich steigern und in Wut und Ärger umschlagen. Hinzu kommen Gefühle der Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit und Schuldgefühle, die bei zunehmender Intensität entdifferenzieren können. Die zentrale Angst besteht vor Verlust, und zwar sowohl vor dem Verlust wichtiger Menschen als auch wichtiger Fähigkeiten und Aspekte der eigenen Person. Zum Beispiel droht Kontrollverlust bei Überschwemmung durch eigene Affekte oder der Verlust zentraler Lebenswünsche und -ziele, wenn die eigene psychische und soziale Realität nicht mehr verleugnet werden kann […]«
(n. Lindner 2006, S. 42–43)
Suizidalität ist bewusstes Denken, Handeln und Erleben und will etwas verändern – den anderen, die Umwelt, sich selbst in der Beziehung zur Umwelt. Psychodynamisch ist Suizidalität ein komplexes Geschehen aus bewussten und unbewussten Einflüssen. Diese führen zu einer mitunter eingeengten Bewertung der eigenen Person, einer verzerrten Einschätzung der Wertigkeit in und von Beziehungen, der Einschätzung der Zukunft der eigenen sowie von anderen Personen, evtl. einer gemeinsamen Zukunft, der Einschätzung der Veränderbarkeit eines unerträglich erscheinenden Zustandsbildes aus durch psychische und/oder körperlicher Befindlichkeit heraus verändertem Erleben. Motivational spielen dabei Wünsche wie Totseinwollen, aber auch appellative, manipulativ-instrumentelle, altruistische sowie auto- und fremdaggressive Elemente eine bedeutsame Rolle.
Suizidalität ist fast nie Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern meistens von Einengung durch objektiv und/oder subjektiv erlebte Not, durch psychische und/oder körperliche Befindlichkeit bzw. deren als unerträglich erlebten Folgen, von unerträglicher Not durch gesellschaftlich-kulturelle bzw. ideologische oder auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Benennung »Freitod«, wie sie auch heute noch in den öffentlichen Medien und vielfach in der Justiz zu finden ist, ist für den Großteil suizidaler Menschen bzw. von Menschen mit suizidalen Handlungen schlichtweg falsch: Dieser Begriff würde letztlich nicht nur das Vorhandensein der eigenen Verfügbarkeit über sich selbst und damit im juristischen Sinne die Möglichkeit einer freien Willensbestimmung bedeuten, sondern auch die Abwesenheit von psychischer, körperlicher, sozialer, wirtschaftlicher, politischer Not, Einengung und Abhängigkeit.
Wir müssen heute zur Kenntnis nehmen, dass es auch eine Suizidalität außerhalb eines medizinischen Störungskonzepts gibt – zu denken ist hier an den Opfertod der Märtyrer oder an Terroristensuizide als Methode der Kriegsführung. Eine nicht stellbare Diagnose, wie sie z. B. aus der Metaanalyse von Bertolote et al. (2004) in Höhe von 2,0 % für eine Gesamtgruppe von 15 629 Suizidenten hervorgeht, bedeutet ja nicht die Abwesenheit einer psychischen Störung zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung, sondern letztendlich nur die Abwesenheit oder die unzureichende Stellung einer psychiatrischen Diagnose. Allerdings deckt der im medizinisch-psychoso