Der Alpdruck - Hans Fallada - E-Book + Hörbuch

Der Alpdruck Hörbuch

Hans Fallada

4,0

Beschreibung

Es ist die Zeit zwischen Krieg und Frieden: April 1945; der Untergang hat stattgefunden – Deutschland liegt am Boden. Die Gräueltaten der Nazis werden vielen erst jetzt bewusst. Die deutsche Bevölkerung ahnt, was auf sie zukommen mag. In den Köpfen und Herzen und Träumen der Menschen geht der Krieg unvermittelt weiter. Der Schriftsteller Doll kann sich von den Schrecken der Bombennächte nicht lösen. Um seine Mitschuld wissend, versucht er die Russen willkommen zu heißen. Doch diese machen keine Unterschiede zwischen den Deutschen. Die Handlung weißt nur allzu leicht erkennbare Parallelen mit dem Schicksal Falladas nach dem Kriege auf. Auch er ahnte die sich aufzeichnende Bürde der Schuld. Null Papier Verlag

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:6 Std. 3 min

Sprecher:Ulrich Noethen
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Fallada

Der Alpdruck

Roman

Hans Fallada

Der Alpdruck

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Aufbau-Verlag, Berlin, 1947 (235 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-53-6

null-papier.de/579

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Au­tors

Ers­ter Teil. Der Sturz

Ers­tes Ka­pi­tel. – Die eine Täu­schung

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Die an­de­re Täu­schung

Drit­tes Ka­pi­tel. – Das ver­las­se­ne Haus

Vier­tes Ka­pi­tel. – Die Her­ren Na­zis

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Die An­kunft in Ber­lin

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Die neue Last

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Tren­nung der Dolls

Zwei­ter Teil. – Die Ge­sun­dung

Ach­tes Ka­pi­tel. – Die selbst­stän­di­ge Ent­las­sung

Neun­tes Ka­pi­tel. – Ro­bin­son

Zehn­tes Ka­pi­tel. – Ro­bin­son geht in die Welt

Elf­tes Ka­pi­tel. – An­fang mit Streit

Zwölf­tes Ka­pi­tel. – Die Ge­ne­sung

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Vorwort des Autors

Der Ver­fas­ser die­ses Ro­mans ist kei­nes­wegs zu­frie­den mit dem, was er auf den fol­gen­den Sei­ten schrieb, was der Le­ser jetzt ge­druckt vor sich hat. Als er den Plan zu die­sem Buch fass­te, schweb­te ihm vor, dass ne­ben den Nie­der­la­gen des täg­li­chen Le­bens, den De­pres­sio­nen, den Er­kran­kun­gen, der Mut­lo­sig­keit – dass ne­ben al­len die­sen Er­schei­nun­gen, die das Ende des schreck­li­chen Krie­ges un­ver­meid­lich je­dem Deut­schen ge­bracht hat, auch Auf­schwün­ge zu schil­dern sein wür­den. Ta­ten ho­hen Mu­tes, Stun­den voll Hoff­nung – es war ihm nicht be­schie­den. Das Buch ist im we­sent­li­chen ein Krank­heits­be­richt ge­blie­ben, die Ge­schich­te je­ner Apa­thie, die den grö­ße­ren und vor al­lem den an­stän­di­ge­ren Teil des deut­schen Vol­kes im April des Jah­res 1945 be­fiel, von der sich vie­le heu­te noch nicht frei ge­macht ha­ben.

Dass er dies nicht än­dern konn­te, dass er nicht mehr Leich­tig­keit und Hei­ter­keit in die­sen Ro­man brin­gen konn­te, liegt nicht al­lein an des Ver­fas­sers Art, die Din­ge zu se­hen, es liegt vor al­lem an der Ge­samt­la­ge des deut­schen Vol­kes, die heu­te, fünf­vier­tel Jahr nach Been­di­gung der Kampf­hand­lun­gen, noch im­mer düs­ter ist.

Wenn der Ro­man der Öf­fent­lich­keit trotz die­ses Man­gels über­ge­ben wird, so dar­um, weil er viel­leicht ein »do­cu­ment hu­main« ist, ein mög­lichst wahr­heits­ge­treu­er Be­richt des­sen, was deut­sche Men­schen vom April 1945 bis in den Som­mer hin­ein fühl­ten, lit­ten, ta­ten. Vi­el­leicht wird man schon in na­her Zeit die Läh­mung nicht mehr be­grei­fen, die so ver­häng­nis­voll dies ers­te Jahr nach Kriegs­en­de be­ein­fluss­te. Eine Krank­heits­ge­schich­te also, kein Kunst­werk – ver­zeiht! (Auch der Ver­fas­ser konn­te nicht aus sei­ner Haut, auch der Ver­fas­ser war »ge­lähmt«.)

So­eben ist von »wahr­heits­ge­treu­em Be­richt« ge­spro­chen wor­den. Aber nichts von dem, was auf den fol­gen­den Sei­ten er­zählt wird, ist so ge­sche­hen, wie es hier be­rich­tet ist. Ein Buch wie die­ses kann schon aus räum­li­chen Grün­den nicht al­les sa­gen, was ge­sch­ah; es muss­te stän­dig eine Aus­wahl ge­trof­fen, es muss­te er­fun­den wer­den, Be­rich­te­tes konn­te in der be­rich­te­ten Form nicht ver­wen­det, son­dern muss­te ab­ge­wan­delt wer­den. Dass das Gan­ze dar­um doch »wahr« sein kann, wird da­von nicht be­rührt: Al­les hier Er­zähl­te konn­te so ge­sche­hen und ist doch ein Ro­man, also ein Ge­bil­de der Fan­ta­sie.

Das glei­che ist von den ein­ge­führ­ten Per­so­nen zu sa­gen: So, wie sie hier ge­schil­dert sind, lebt kei­ne au­ßer­halb des Bu­ches. Wie die Ge­scheh­nis­se den Ge­set­zen des Er­zäh­lens fol­gen muss­ten, so auch die Per­so­nen. Man­che sind er­fun­den, an­de­re sind aus meh­re­ren zu­sam­men­ge­setzt.

Es war nicht er­freu­lich, die­sen Ro­man zu schrei­ben, aber das Buch schi­en dem Ver­fas­ser wich­tig. Im­mer, zwi­schen Auf­schwün­gen und Nie­der­la­gen, blieb ihm wich­tig, was in­ner­lich und äu­ßer­lich nach Been­di­gung des Krie­ges er­lebt wur­de. Wie fast alle den Glau­ben ver­lo­ren und end­lich doch ein we­nig Mut und Hoff­nung wie­der­fan­den – da­von ist auf die­sen Sei­ten zu le­sen.

Ber­lin, Au­gust 1946

H. F.

Erster Teil. Der Sturz

Erstes Kapitel. – Die eine Täuschung

Im­mer in die­sen Näch­ten um den großen Zu­sam­men­bruch her­um wur­de Dr. Doll, wenn er wirk­lich ein­mal ein­sch­lief, von dem glei­chen Angst­traum heim­ge­sucht. Sie schlie­fen sehr we­nig in die­sen ers­ten Näch­ten, stets angst­voll ir­gend­ei­ne Be­dro­hung des Lei­bes oder der See­le er­war­tend. Längst war die Nacht ge­kom­men – nach ei­nem Tage vol­ler Qual –, und noch im­mer sa­ßen sie an den Fens­tern und späh­ten auf die klei­ne Wie­se, nach den Bü­schen, zu dem schma­len Ze­ment­fuß­weg hin­aus, ob ein Feind käme, bis ih­ren schmer­zen­den Au­gen al­les in­ein­an­der­floss und sie nichts mehr sa­hen.

Oft frag­te dann ei­nes: »Wol­len wir nicht doch lie­ber schla­fen ge­hen?«

Aber meist ant­wor­te­te nie­mand, son­dern wei­ter sa­ßen sie, starr­ten und fürch­te­ten sich. Bis Dr. Doll dann plötz­lich vom Schlaf wie von ei­nem Räu­ber über­fal­len wur­de, des­sen große Hand sich er­sti­ckend über sein gan­zes Ge­sicht leg­te. Oder es war auch wie dich­tes Spin­nen­ge­we­be, das mit der Atem­luft in sei­ne Keh­le drang und sein Be­wusst­sein über­wäl­tig­te. Ein Alp­druck …

So ein­ge­schla­fen zu sein, war schon schlimm ge­nug, aber sol­chem schlim­men Ein­schla­fen folg­te so­fort der Angst­traum, im­mer der glei­che. Und zwar träum­te Doll dies:

Er lag am Grun­de ei­nes un­ge­heu­ren Bom­ben­t­rich­ters, auf dem Rücken, die Arme fest an die Sei­ten ge­presst, im nas­sen, gel­ben Lehm. Ohne den Kopf zu be­we­gen, konn­te er die in den Trich­ter hin­ab­ge­stürz­ten Baum­stäm­me se­hen, auch die Fassa­den von Häu­sern mit den lee­ren Fenster­höh­len, hin­ter de­nen nichts mehr war. Manch­mal quäl­te Doll die Be­fürch­tung, die­se Din­ge könn­ten tiefer in den Bom­ben­t­rich­ter und da­mit auf ihn stür­zen, aber nie än­der­te eine die­ser be­droh­li­chen Rui­nen ihre Lage.

Noch quäl­te ihn der Ge­dan­ke, dass tau­send Was­sera­dern und Quel­len, Doll über­schwem­mend, sei­nen Mund ganz mit dem gel­ben Lehm­brei fül­len wür­den. Dem war nicht zu ent­ge­hen, denn Doll wuss­te, er wür­de aus ei­ge­ner Kraft nie aus die­sem Trichter­grun­de auf­ste­hen kön­nen. Aber auch die­se Be­fürch­tung war grund­los, denn nie hör­te er einen Laut von den Quel­len und dem Rie­seln der Was­sera­dern, wie es über­haupt to­ten­still war in dem rie­si­gen Bom­ben­t­rich­ter.

Dann war auch der drit­te quä­len­de Ein­druck eine Täu­schung: Un­ge­heu­re Ra­ben- und Krä­hen­schwär­me zo­gen un­un­ter­bro­chen über den Him­mel des Bom­ben­t­rich­ters da­hin; er fürch­te­te sich sehr, sie könn­ten ihr Op­fer im Lehm er­spä­hen. Aber nein, al­les blieb wei­ter to­ten­still, es gab die­se un­ge­heu­ren Vo­gel­schwär­me nur in Dolls Ein­bil­dung, er hät­te we­nigs­tens ihr Kräch­zen hö­ren müs­sen.

Aber zwei an­de­re Din­ge wa­ren kei­ne Ein­bil­dung, von ih­nen wuss­te er ganz ge­nau. Das eine die­ser Din­ge war dies, dass end­lich Frie­de ge­wor­den war. Kei­ne Bom­be zer­riss mehr krei­schend die Luft, kein Schuss fiel mehr; es war Frie­de, es war still ge­wor­den. Eine letz­te un­ge­heu­re Ex­plo­si­on hat­te ihn noch in den Grund­lehm die­ses Trich­ters hin­ab­ge­ris­sen. Nicht al­lein lag er in die­sem Ab­grund. Ob­wohl er nie einen Laut hör­te und nichts wie das Be­schrie­be­ne sah, wuss­te er doch: Mit ihm lag sei­ne gan­ze Fa­mi­lie hier und das gan­ze deut­sche Volk und über­haupt alle Völ­ker Eu­ro­pas, alle eben­so hilf- und wehr­los wie er, alle von den glei­chen Ängs­ten wie er ge­quält.

Aber im­mer, in all den end­lo­sen qual­vol­len Traum­stun­den, da der am Tage tä­ti­ge und ener­gi­sche Dr. Doll aus­ge­löscht und nur Angst in ihm war – aber im­mer in die­sen mör­de­ri­schen Schlaf­mi­nu­ten sah er noch ein an­de­res. Und das, was er sah, war dies:

Am Ran­de des Trich­ters sa­ßen schwei­gend und still und ohne eine Be­we­gung die Gro­ßen Drei. Noch im Trau­me nann­te er sie nur mit die­sem Na­men, den der Krieg un­aus­lösch­lich in sein Hirn ge­brannt hat­te. Dazu fan­den sich dann die Na­men Churchill, Roo­se­velt und Sta­lin, ob­wohl ihn der Ge­dan­ke manch­mal quäl­te, dass es da vor kur­z­em noch eine Ver­än­de­rung ge­ge­ben habe.

Die­se Gro­ßen Drei sa­ßen dicht bei- oder doch nicht weit aus­ein­an­der; sie sa­ßen, wie sie eben aus ih­rer Welt­ge­gend ge­kom­men wa­ren, und starr­ten voll stum­mer Trau­er in den un­ge­heu­ren Trich­ter hin­ab, auf des­sen Grund Doll mit sei­ner Fa­mi­lie und das deut­sche Volk und alle Völ­ker Eu­ro­pas wehr­los und be­schmutzt la­gen. Und wäh­rend sie so stumm und vol­ler Trau­er sa­ßen und starr­ten, wuss­te Doll mit al­ler Be­stimmt­heit in sei­nes Her­zens tiefs­tem Grun­de, dass die Gro­ßen Drei un­un­ter­bro­chen dar­über nach­grü­bel­ten, wie ihm, dem Doll, und mit ihm al­len an­de­ren wie­der auf­zu­hel­fen und wie aus ei­ner ge­schän­de­ten wie­der eine glück­li­che Welt auf­zu­bau­en sei. Ja, dar­über grü­bel­ten sie un­un­ter­bro­chen, die Gro­ßen Drei, wäh­rend end­lo­se Krä­hen­schwär­me über das be­frie­de­te Land heim­zo­gen, von den Schlacht­fel­dern der Welt zu ih­ren al­ten Hors­ten, und wäh­rend stil­le Quel­len un­hör­bar rie­sel­ten, de­ren Was­ser den gel­ben Lehm­brei sei­nem Mun­de im­mer ge­fähr­li­cher na­he­brach­ten.

Er aber, Doll, konn­te gar nichts tun, mit den eng an sei­nen Leib ge­press­ten Ar­men muss­te er stil­le lie­gen und war­ten, bis die trau­rig grü­beln­den Gro­ßen Drei zu ei­nem Ent­schlus­se ge­kom­men wa­ren. Dies war viel­leicht das Al­ler­quälends­te in die­sem Angst­traum für Doll, dass er, noch im­mer von vie­len Ge­fah­ren be­droht, nichts tun konn­te, son­dern stil­le war­ten muss­te, eine end­lo­se, end­lo­se Zeit! Die lee­ren Häu­ser­fassa­den konn­ten noch über ihn ein­bre­chen, die lei­chen­hung­ri­gen Krä­hen­schwär­me den Wehr­lo­sen ent­de­cken, der gel­be Lehm sei­nen Mund fül­len: Er konn­te gar nichts tun, nur war­ten, und viel­leicht wur­de es über die­sem War­ten für ihn und die Sei­nen, die er sehr lieb­te, zu spät … Vi­el­leicht gin­gen sie doch noch alle zu­grun­de!

Es dau­er­te eine sehr lan­ge Zeit, bis die letz­ten Res­te die­ses quä­len­den Angst­traums Doll ver­lie­ßen; völ­lig frei wur­de er erst von ih­nen, als eine Wen­dung sei­nes Le­bens ihn zwang, das Grü­beln auf­zu­ge­ben und wie­der ein tä­ti­ger Mensch zu sein. Aber noch viel län­ger dau­er­te es, bis Doll klar er­kann­te, dass die­ser gan­ze, aus sei­nem In­nern ge­spens­tisch auf­ge­tauch­te Angst­traum ihn nur narr­te und täusch­te. So qual­voll die­ser Traum auch war, Doll hat­te an sei­ne Wahr­heit ge­glaubt.

Sehr lan­ge dau­er­te es, bis er be­griff, dass da nie­mand in der Welt war, be­reit, ihm aus dem Dreck auf­zu­hel­fen, in den er ge­stürzt war. Kein Mensch, nicht die Gro­ßen Drei, von sei­nen Lands­leu­ten ganz zu schwei­gen, in­ter­es­sier­te sich für Dr. Doll. Wenn er im Lehm­brei ver­kam, umso schlim­mer für ihn, aber nur für ihn! Kein Herz auf der Welt wur­de schwe­rer dar­um. Wenn er ernst­lich den Wunsch hat­te, noch ein­mal et­was zu ar­bei­ten und dar­zu­stel­len, so war es sei­ne Sa­che al­lein, die­se Apa­thie zu über­win­den, auf­zu­ste­hen, den Dreck von sich ab­zu­klop­fen und ans Werk zu ge­hen.

Aber von die­ser Er­kennt­nis war Doll in je­ner Zeit noch sehr weit ent­fernt. Nach­dem nun end­lich Frie­de ge­wor­den war, mein­te er noch lan­ge, die gan­ze Welt war­te nur dar­auf, ihm auf die Bei­ne zu hel­fen.

Zweites Kapitel. – Die andere Täuschung

Am Mor­gen die­ses 26. April 1945 war Doll end­lich ein­mal wie­der in gu­ter Stim­mung er­wacht. Nach Wo­chen und Mo­na­ten ta­ten­lo­sen War­tens auf das Kriegs­en­de schi­en der Au­gen­blick der Be­frei­ung nahe. Die Stadt Prenz­lau war ge­nom­men, der Rus­se konn­te jede Stun­de kom­men; am Vor­ta­ge hat­ten schon Flie­ger über der Stadt ge­kreist, und es wa­ren kei­ne deut­schen Flie­ger ge­we­sen!

Die bes­te Kun­de aber hat­te Doll am spä­ten Abend ge­hört: Die SS1 war im Abrücken, der Volks­sturm auf­ge­löst, die klei­ne Stadt wür­de nicht ge­gen die an­zie­hen­den Rus­sen ver­tei­digt wer­den! Da­mit war eine Ber­ges­last von sei­ner See­le ge­nom­men: Seit Wo­chen hat­te er nicht mehr sein Haus zu ver­las­sen ge­wagt, um nur nie­man­den auf sei­ne Per­son auf­merk­sam zu ma­chen. Denn er war fest ent­schlos­sen ge­we­sen, nicht im Volks­sturm zu kämp­fen.

Nun, nach die­sen güns­ti­gen Nach­rich­ten, konn­te er sich wie­der vor die Tür wa­gen, ohne Sor­ge um das Ge­re­de der lie­ben Nach­barn, von de­nen ihm min­des­tens drei über Zaun und He­cke schau­en konn­ten. Er trat also mit sei­ner jun­gen Frau in den herr­li­chen Früh­lings­tag hin­aus. Die Son­ne schi­en warm, und ihre Wär­me tat – na­ment­lich hier un­ten am Was­ser – nur gut. Das Grün hat­te noch die tau­send leich­ten fro­hen Schat­tie­run­gen des ers­ten Wachs­tums, und der Bo­den schi­en un­ter den Fü­ßen vor drän­gen­der Frucht­bar­keit zu schwel­len und zu schwan­ken.

Als Doll so mit sei­ner Frau be­hag­lich vor dem Hau­se stand, fiel sein Blick auf zwei lan­ge Stau­den­bee­te, die rechts und links von dem schma­len, ze­men­tier­ten Wege, der zu sei­ner Tür führ­te, la­gen. Auch auf die­sen Stau­den­bee­ten grün­te es, ja, es blüh­te dort so­gar schon ein we­nig mit den ers­ten Trau­ben­hya­zin­then, Pri­meln und Ane­mo­nen. Aber die­ser an sich er­freu­li­che An­blick war ver­dor­ben durch ein Ge­wirr von Dräh­ten, die, teils ab­ge­ris­sen, teils an häss­li­chen Pflö­cken fest­sit­zend, das jun­ge Wachs­tum durch Un­ord­nung be­lei­dig­ten und mit ih­ren hin­ter­lis­tig hän­gen­den Drah­ten­den so­gar das Be­tre­ten des Ze­ment­fuß­we­ges ge­fähr­lich mach­ten.

Kaum war sein Blick auf die­se Un­ord­nung ge­fal­len, als Doll schon aus­rief: »Da habe ich ja mei­ne Ar­beit für heu­te! Die­ser elen­de Draht­ver­hau hat mich schon lan­ge ge­är­gert!« Er hol­te Zan­ge und Ha­cke und mach­te sich eif­rig an die vor­ge­setz­te Ar­beit.

Wäh­rend er so in der Son­ne be­schäf­tigt war, hat­te er end­lich ein­mal wie­der Ein­blick in die An­we­sen sei­ner nächs­ten Nach­barn. Bald merk­te er dort eine un­ge­wohn­te Ge­schäf­tig­keit. Da war, nahe wie fern, ein stän­di­ges Hin- und Her­ge­lau­fe, ein Schlep­pen von Kof­fern und Mö­beln in die Schup­pen aus den Häu­sern und um­ge­kehrt, ein an­schei­nend ziel­lo­ses Um­her­wan­dern mit Spa­ten, die da und dort wie aufs Ge­ra­te­wohl in den Bo­den ge­sto­ßen wur­den.

Schon lief ein Nach­bar ei­lig auf den Boots­steg hin­aus und blieb auf ihm ste­hen, die Hän­de in den Ta­schen, als habe er plötz­lich viel Zeit. Dann plumps­te et­was ins Was­ser, und nach­dem der Nach­bar sich so un­auf­fäl­lig-auf­fäl­lig wie nur mög­lich um­ge­se­hen, ob er auch be­ob­ach­tet ge­we­sen – Doll hack­te mun­ter fort –, ging er breit­bei­nig, wie in tie­fen Ge­dan­ken, zu sei­nem Haus zu­rück, wo er als­bald eine neue fie­ber­haf­te Tä­tig­keit ent­fal­te­te.

Dann plötz­lich kam das al­les wie­der zum Still­stand. Grup­pen sam­mel­ten sich an den tren­nen­den Zäu­nen und flüs­ter­ten eif­rig mit­ein­an­der. Schon wech­sel­ten große Pa­ke­te über den Draht fort den Be­sit­zer, und al­les lief aus­ein­an­der, wie­der­um sich eif­rig um­schau­end, wie­der­um mit an­de­ren Heim­lich­kei­ten be­schäf­tigt.

Doll, der erst seit ei­ni­gen Mo­na­ten auf die­sem, sei­ner zwei­ten Frau ge­hö­ri­gen Grund­stück wohn­te, blieb von all die­ser Ge­schäf­tig­keit als »Frem­der« aus­ge­schlos­sen, und er freu­te sich des­sen. Denn alle die­se so of­fen­kun­di­gen Heim­lich­kei­ten wur­den fast nur von Frau­en und sehr al­ten Män­nern be­trie­ben und wur­den als »Wei­ber­kram« von ihm ent­spre­chend ver­ach­tet.

Frei­lich, lan­ge konn­te er sich nicht sei­ner Ve­rein­ze­lung freu­en, denn es er­schie­nen zwei Da­men auf sei­nem Grund­stück, vor­geb­li­che Freun­din­nen sei­ner Frau. Die­se Frau­en, die er nie hat­te aus­ste­hen kön­nen, blie­ben bei ihm ste­hen und ta­ten sehr über­rascht, dass er an sol­chem Tage zu sol­cher Ar­beit Zeit habe. Der Rus­se stün­de doch vor der Tür!

Mit ein we­nig spöt­ti­schem Lä­cheln er­klär­te Dr. Doll, zu dem sich nun auch sei­ne Frau ge­sellt hat­te, er ma­che eben ge­ra­de für die­se so lan­ge er­war­te­ten Be­su­cher die Wege frei. Über­rascht er­kun­dig­ten sich die Da­men, ob er denn den Feind hier an Ort und Stel­le zu er­war­ten ge­den­ke, das sei bei zwei Kin­dern, ei­ner al­ten Groß­mut­ter und ei­ner jun­gen Frau doch wohl kaum rat­sam. Sie hier im Aus­bau des Städt­chens we­nigs­tens hät­ten alle mit­ein­an­der be­schlos­sen, bei Ein­bruch der Däm­me­rung mit den Käh­nen das an­de­re Ufer des Sees zu er­rei­chen und, im tie­fen Wal­de ver­bor­gen, die wei­te­re Ent­wick­lung der Din­ge dort ab­zu­war­ten.

Für Doll ant­wor­te­te die Frau den Freun­din­nen: »Wir wer­den nichts Der­ar­ti­ges tun. Nicht einen Schritt ge­hen wir von hier, nichts ver­ste­cken wir; auf der Schwel­le un­se­res Hau­ses wer­den mein Mann und ich die so lan­ge er­war­te­ten Be­frei­er be­grü­ßen!«

Eif­rig spra­chen die Da­men da­ge­gen, aber je eif­ri­ger sie spra­chen, umso wan­ken­der wur­den sie in ih­rem ei­ge­nen Ent­schluss, umso zwei­fel­haf­ter er­schi­en ih­nen die eben noch ge­prie­se­ne Si­cher­heit der tie­fen Wäl­der, und als sie schließ­lich gin­gen, mein­te Doll lä­chelnd zu sei­ner Frau: »Du wirst se­hen, sie wer­den gar nichts ma­chen. Sie wer­den noch ein paar Stun­den, wie die Hüh­ner vor ei­nem Ge­wit­ter, ziel­los her­um­klu­cken, hier et­was ab­le­gen und dort et­was auf­neh­men. Aber schließ­lich wer­den sie sich er­schöpft ir­gend­wo hin­set­zen und tun, was wir alle seit Wo­chen tun: nur auf den Er­lö­ser war­ten.«

Was ihre Freun­din­nen an­ging, so war Frau Alma völ­lig ei­ner An­sicht mit ih­rem Man­ne, was sie selbst an­ging, so fühl­te sie sich we­der er­schöpft noch war­te­ge­dul­dig. Nach dem Es­sen er­öff­ne­te sie Doll, der sich nach der un­ge­wohn­ten Mor­ge­n­ar­beit ein we­nig auf die Couch le­gen woll­te, sie ra­de­le jetzt schnell noch ein­mal in die Stadt, um ih­ren Vor­rat an Gal­len­me­di­zin zu er­gän­zen, in den nächs­ten Ta­gen wer­de kaum Ge­le­gen­heit da­für sein.

Doll hat­te leich­te Be­den­ken, da die Rus­sen je­den Au­gen­blick kom­men konn­ten und am bes­ten ge­mein­sam im ei­ge­nen Heim er­war­tet wur­den. Er wuss­te aber aus man­cher Er­fah­rung, dass es voll­kom­men aus­sichts­los war, die jun­ge Frau mit dem Hin­weis auf etwa dro­hen­de Ge­fah­ren von ei­nem Vor­ha­ben ab­zu­brin­gen. Dut­zen­de­mal hat­te sie ihm im ärgs­ten Bom­ben­ha­gel, die Feu­ers­brüns­te Ber­lins be­kämp­fend, bei Tief­flie­ger­an­grif­fen be­wie­sen, dass sie völ­lig furcht­los war. Er sag­te also mit ei­nem leich­ten Seuf­zer: »Mei­net­hal­ben! Mach’s gut, mei­ne Süße!«, sah sie durchs Fens­ter ab­ra­deln, leg­te sich lä­chelnd auf die Couch und schlief ein.

Frau Alma Doll stram­pel­te un­ter­des eif­rig berg­auf und bergab dem Städt­chen ent­ge­gen. Ihr Weg führ­te sie zu­erst über ab­ge­le­ge­ne Pfa­de, an de­nen kaum ein Haus lag, dann durch eine Al­lee, de­ren Sei­ten mit Vil­len be­stan­den wa­ren. Schon hier fiel ihr auf, dass kein ein­zi­ger Mensch auf den Stra­ßen zu se­hen war und dass die Vil­len – viel­leicht durch die aus­nahms­los ge­schlos­se­nen Fens­ter – einen un­be­wohn­ten, fast ge­spens­ti­schen Ein­druck mach­ten. ›Wo­mög­lich alle schon im Wal­de‹, dach­te Frau Doll und fühl­te ihre Un­ter­neh­mungs­lust noch stei­gen.

Dort, wo die Al­lee in die ers­te wirk­li­che Stadt­stra­ße ein­mün­de­te, stieß sie end­lich auf ein Le­bens­zei­chen; es war ein großer Wehr­machts­last­wa­gen. Ein paar SS-Män­ner wa­ren ei­ni­gen jun­gen Frau­en und Mäd­chen beim Auf­stei­gen be­hilf­lich. »Kom­men Sie rasch, jun­ge Frau!« rief ei­ner der SS-Män­ner Frau Doll fast be­feh­lend an. »Dies ist das letz­te Wehr­machts­au­to, das die Stadt ver­lässt!«

Wie ihr Mann war Frau Doll sehr zu­frie­den ge­we­sen, dass die Stadt nicht ver­tei­digt, son­dern kampf­los über­ge­ben wer­den soll­te. Das hin­der­te sie aber nicht, jetzt zu ant­wor­ten: »Das sieht euch Scheiß­ker­len ähn­lich, jetzt, wo der Rus­se kommt, aus­zu­rei­ßen! Seit ihr hier seid, habt ihr ge­tan, als wä­ret ihr die Her­ren der Stadt, al­les habt ihr uns weg­ge­fres­sen und weg­ge­trun­ken, aber nun, wo’s ernst wird, reißt ihr aus wie Schafle­der!«

Noch am Vor­ta­ge hät­te sie nicht ohne die schlimms­ten Fol­gen für sich und ihre An­ge­hö­ri­gen so zu ei­nem SS-Mann spre­chen dür­fen. Die Lage muss­te sich in den letz­ten vier­und­zwan­zig Stun­den wirk­lich grund­le­gend ge­wan­delt ha­ben, denn der SS-Mann ant­wor­te­te ganz fried­lich: »Ma­chen Sie, dass Sie auf den Wa­gen kom­men, und re­den Sie kei­nen Kohl! Die rus­si­sche Pan­zer­spit­ze ist schon oben in der Stadt!«

»Umso bes­ser!« rief Frau Doll. »Da kann ich de­nen gleich Gu­ten Tag sa­gen!«

Trat auf die Pe­da­le und fuhr fort von dem wohl letz­ten Wehr­machts­au­to, das sie in ih­rem Le­ben se­hen soll­te, tiefer in die Stadt hin­ein.

Wie­der ver­stärk­te sich der Ein­druck, dass sie da durch eine ver­las­se­ne Stadt fuhr – viel­leicht wa­ren jene paar Frau­en bei dem Wehr­machts­au­to wirk­lich die letz­ten Ein­woh­ner der Stadt ge­we­sen und alle an­de­ren ge­flo­hen. Kein Mensch, ja nicht ein­mal ein Hund oder eine Kat­ze wa­ren auf der Stra­ße zu se­hen. Alle Fens­ter wa­ren ge­schlos­sen, alle Tü­ren sa­hen ver­ram­melt aus. Und doch, wäh­rend sie da, sich im­mer mehr dem Stadt­kern nä­hernd, durch die Stra­ßen fuhr, hat­te sie das Ge­fühl, als hal­te die­ses viel­hun­dert­köp­fi­ge We­sen nur den Atem an, als kön­ne es jetzt gleich hin­ter ihr, ne­ben ihr in einen schreck­li­chen Schrei ge­quäl­ter War­teangst aus­bre­chen! Als wohn­ten eben doch hin­ter all die­sen blin­den Fens­tern Men­schen, fast irr vor Angst um das, was nun kam, vor Hoff­nung, dass der grau­en­haf­te Krieg nun wirk­lich zu Ende ging.

Die­ses Ge­fühl wur­de noch ver­stärkt durch ein paar wei­ße Lap­pen, die da und dort, kaum hand­tuch­groß, über den Tü­ren hin­gen. In der ge­spens­ter­haf­ten At­mo­sphä­re, in der sich Frau Doll seit ih­rem Ein­tritt in die Stadt be­fand, dau­er­te es einen Au­gen­blick, bis sie ver­stand, dass die­se wei­ßen Tü­cher be­din­gungs­lo­se Er­ge­bung be­deu­ten soll­ten. Seit zwölf Jah­ren sah sie zum ers­ten Male an­de­re Fah­nen als die mit dem Ha­ken­kreuz an den Häu­sern hän­gen. Un­will­kür­lich be­schleu­nig­te sie ihre Fahrt.

Sie bog um eine Stra­ßen­e­cke, und so­fort war das Ge­fühl die­ser un­be­stimm­ten Ge­s­pens­terangst von ihr ab­ge­fal­len; un­will­kür­lich muss­te sie lä­cheln. Auf der holp­ri­gen Klein­stadt­stra­ße be­weg­ten sich, an­schei­nend re­gel­los in alle Rich­tun­gen fah­rend, acht oder zehn Pan­zer. An den Uni­for­men, an den Kopf­be­de­ckun­gen der Män­ner, die in den ge­öff­ne­ten De­cken­lu­ken stan­den, er­kann­te Frau Doll so­fort, dass dies kei­ne deut­schen Pan­zer wa­ren, nein, es war die rus­si­sche Pan­zer­spit­ze, vor der sie eben ge­warnt wor­den war!

Aber dies schi­en nichts zu sein, vor dem man ge­warnt wer­den muss­te. Wie da die­se Pan­zer in der schö­nen Früh­lings­son­ne hin- und her­fuh­ren, jetzt mü­he­los die Kan­te ei­nes Bür­ger­stei­ges neh­mend, nun wie­der, hart an den Lin­den­bäu­men vor­bei­strei­fend, auf die Fahr­bahn zu­rück­keh­rend, hat­ten sie nichts Be­droh­li­ches. Im Ge­gen­teil: es schi­en ein leich­tes, fast fröh­li­ches Spiel. Nicht einen Au­gen­blick über­kam sie eine Ah­nung von Ge­fahr. Sie fuhr mit ih­rem Rad zwi­schen die Pan­zer und sprang dann, an ih­rem Ziel, der Apo­the­ke, an­ge­kom­men, ab. In der be­frei­ten Stim­mung, in der sie plötz­lich war, hat­te sie nicht dar­auf ge­ach­tet, dass auch die Häu­ser die­ser Stra­ße ängst­lich ver­ram­melt und ver­schlos­sen wa­ren und dass sie die ein­zi­ge Deut­sche un­ter all den Rus­sen war, von de­nen üb­ri­gens auch ei­ni­ge mit Ma­schi­nen­pis­to­len auf der Stra­ße stan­den.

Nur zö­gernd lös­te Frau Doll ih­ren Blick von die­sem un­ge­wohn­ten Stra­ßen­bild und wand­te sich der Apo­the­ke zu, de­ren Ein­gang wie der al­ler Häu­ser fest ver­ram­melt und ver­schlos­sen war. Da Klop­fen und Ru­fen nichts hal­fen, zö­ger­te sie nur einen Au­gen­blick und ging dann rasch auf einen Rus­sen mit Pis­to­le los, der ganz in der Nähe stand. »Hör mal, Wan­ja«, sag­te sie zu dem Rus­sen, lä­chel­te ihm da­bei zu und zog ihn am Är­mel in der Rich­tung auf die Apo­the­ke, »mach mir doch den La­den da mal auf!«

Der Rus­se be­geg­ne­te dem lä­cheln­den Blick ih­rer Au­gen mit ei­nem gleich­gül­ti­gen Zu­rück­schau­en, einen Mo­ment hat­te sie das ein we­nig be­un­ru­hi­gen­de Ge­fühl, als wer­de sie an­ge­se­hen wie eine Haus­wand oder ein Tier. Aber die­ses Ge­fühl ver­ging so rasch, wie es ent­stan­den war, als sich der Mann wil­lig ge­nug von ihr zur Apo­the­ke zie­hen ließ und dort, rasch ihre Ab­sicht ver­ste­hend, mit dem Kol­ben sei­ner Ma­schi­nen­pis­to­le ein paar­mal don­nernd ge­gen die Tür­fül­lung schlug. Schon er­schi­en der Lö­wen­kopf des Apo­the­kers, ei­nes Man­nes in den Sieb­zi­gern, an ei­nem Glas­fens­ter­chen oben in der Tür, ängst­lich nach der Ur­sa­che die­ses Lär­mens spä­hend. Das sonst stets von ei­nem freund­li­chen Wein­rot ge­färb­te Ge­sicht sah jetzt fahl­grau aus.

Frau Doll nick­te dem al­ten Man­ne auf­mun­ternd zu und sag­te zu dem Rus­sen: »Es ist gut, dan­ke auch schön. Du kannst jetzt wie­der ge­hen.«

Der Sol­dat trat, ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, ohne sich auch nur nach ihr um­zu­se­hen, auf die Stra­ße zu­rück. Jetzt dreh­te sich der Schlüs­sel im Schloss, und Frau Doll konn­te in die Apo­the­ke, in der sich au­ßer dem Sieb­zig­jäh­ri­gen noch sei­ne we­sent­lich jün­ge­re Frau und de­ren nach­ge­bo­re­nes Kind von zwei oder drei Jah­ren be­fan­den. So­fort nach Frau Dolls Ein­tritt war die Apo­the­ken­tür wie­der ver­schlos­sen wor­den.

So leb­haft jede ein­zel­ne Erin­ne­rung an die­sen ers­ten Be­set­zungs­tag noch viel spä­ter in ihr leb­te, so un­be­stimmt war Frau Dolls Erin­ne­rung an das, was in der Apo­the­ke ge­spro­chen wor­den war. Ja, ihr Me­di­ka­ment be­kam sie mit der ge­wohn­ten Prä­zi­si­on aus­ge­hän­digt, sie wuss­te auch noch, dass die Be­zah­lung da­für zu­nächst ab­ge­lehnt, dann mit ei­nem trü­be lä­cheln­den Auge wie das Spiel ei­nes tö­rich­ten Kin­des an­ge­nom­men wor­den war. Nach­her aber kam nur Ge­schwätz, zum Bei­spiel, sie kön­ne jetzt kei­nes­falls zwi­schen den Rus­sen den wei­ten Weg nach Haus ma­chen, sie müs­se un­be­dingt hier in der Apo­the­ke blei­ben. Und doch be­zwei­fel­ten die Über­re­den­den ei­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter selbst, ob die­ses Haus noch ei­ni­ge Si­cher­heit bie­te, ob es nicht doch bes­ser ge­we­sen wäre, sich in den Wäl­dern zu ver­ste­cken. Schon be­gann man sich Vor­wür­fe zu ma­chen, warum man nicht schon viel frü­her in den Wes­ten Deutsch­lands ge­flo­hen sei – kurz, Frau Doll stieß hier auf das glei­che un­se­li­ge, sinn­lo­se Ge­schwätz der von end­lo­sem, ge­quäl­tem War­ten Zer­mürb­ten, wie es um die­se Tage her­um in fast je­dem deut­schen Hau­se zu hö­ren war.

Hier aber war es – an­ge­sichts der vor den Apo­the­ken­fens­tern her­um­rol­len­den Pan­zer – be­son­ders sinn­los; kei­ne Ent­schei­dung war mehr zu tref­fen – al­les war ent­schie­den und das War­ten vor­bei! Dazu kam Frau Doll von drau­ßen, aus der son­ni­gen Früh­lings­luft, sie war zwi­schen den Pan­zern ge­fah­ren, hat­te kurz ent­schlos­sen einen Rus­sen beim Är­mel ge­packt, der letz­te Rest von Ge­s­pens­terangst war von ihr ab­ge­fal­len – sie konn­te dies Ge­schwätz ein­fach nicht mehr er­tra­gen. Sie bat schließ­lich ziem­lich kurz, ihr die Tür wie­der zu öff­nen, trat auf die Stra­ße, in die Hel­le zu­rück, be­stieg ihr Rad und fuhr, im­mer zwi­schen den stets zahl­rei­cher wer­den­den Pan­zern hin­durch, wei­ter in die Stadt hin­ein.

Ver­mut­lich ist Frau Doll die letz­te ge­we­sen, die den Apo­the­ker mit Frau und Kind an die­sem Nach­mit­tag am Le­ben ge­se­hen hat: Ein paar Stun­den spä­ter gab er sich, sei­ner Frau und dem Kin­de Gift, an­schei­nend völ­lig sinn­los, im letz­ten Au­gen­blick hat­ten die ge­quäl­ten Ner­ven ver­sagt. So vie­les hat­ten sie nun durch Jah­re er­tra­gen, nun, da es doch aus­sah, als kön­ne man­ches bes­ser, nichts mehr aber schlim­mer wer­den, wei­ger­ten sie sich, die Un­ge­wiss­heit al­ler­kür­zes­ten War­tens noch zu er­tra­gen.

Aber die glei­che Apo­the­ker­hand, die eben noch Frau Doll mit größ­ter Prä­zi­si­on ihr Nar­ko­ti­kum ge­gen ein Gal­len­lei­den zu­ge­mes­sen, war nicht so glück­lich in der Be­mes­sung des Gif­tes für sich und die ei­ge­ne Fa­mi­lie: Der sehr alte Mann und das sehr jun­ge Kind star­ben. Die Frau aber ge­nas nach län­ge­rem Lei­den zum Le­ben und wie­der­hol­te – ob­wohl ver­ein­samt – den Selbst­mord­ver­such nicht.

Alma Doll war noch nicht viel wei­ter ge­fah­ren auf ih­rem Rade, als ein we­sent­lich an­de­res Bild ihre Auf­merk­sam­keit fes­sel­te und sie zu ei­nem neu­en Halt be­wog: Vor dem größ­ten Ho­tel des Städt­chens hat­te sich eine Grup­pe von etwa ei­nem Dut­zend Kin­dern ver­sam­melt, zehn- bis zwölf­jäh­ri­ge Jun­gen und Mäd­chen. Sie sa­hen dem Fah­ren der Pan­zer zu, schri­en und lach­ten, wäh­rend die rus­si­schen Sol­da­ten sie über­haupt nicht zu se­hen schie­nen.

Die fast wild aus­ge­las­se­ne Stim­mung die­ser sonst länd­lich stil­len Kin­der er­klär­te sich durch die Wein­fla­schen, die sie in ih­ren Hän­den hiel­ten. Eben ge­ra­de, als Frau Doll von ih­rem Rade sprang, schlüpf­te ein Jun­ge aus dem Tor des Ho­tels, die Hän­de voll neu­er Fla­schen. Die Kin­der auf der Stra­ße be­grüß­ten ih­ren Ka­me­ra­den mit ei­nem Ju­bel­ge­schrei, das fast dem Auf­heu­len ei­nes jun­gen Wolfs­ru­dels glich. Sie lie­ßen die Fla­schen, die sie in der Hand hat­ten, ob sie nun ganz, teil­wei­se oder gar nicht ge­füllt wa­ren, acht­los auf dem Pflas­ter zer­split­tern und stürz­ten sich auf die neu­en, de­nen sie ohne wei­te­res die Häl­se auf den Stein­stu­fen der Ho­tel­trep­pe ab­schlu­gen, wor­auf sie die Fla­schen zu den Kin­der­mün­dern er­ho­ben.

Die­ser An­blick rief in Frau Doll so­fort den äu­ßers­ten Zorn wach. War ihr schon als Mut­ter der An­blick ei­nes be­trun­ke­nen Kin­des ver­hasst, so stei­ger­te es noch ih­ren Zorn, dass die­se noch nicht Halb­wüch­si­gen den ers­ten Ein­marsch der Ro­ten Ar­mee durch Trun­ken­heit schän­de­ten. Fast lau­fend stürz­te sie sich auf die Kin­der, ent­riss ih­nen die Wein­fla­schen und ver­teil­te so aus­gie­big Ohr­fei­gen und Püf­fe, dass einen Au­gen­blick spä­ter der gan­ze Spuk um die nächs­te Ecke ver­schwun­den war.

Au­fat­mend blieb Frau Doll ste­hen. Der eben noch hef­ti­ge Zorn war schon wie­der ver­ebbt, und fast hei­ter blick­te sie auf die von ih­ren Ein­woh­nern ver­las­se­ne Stra­ße, auf der es au­ßer ihr nichts gab als Pan­zer und ver­ein­zel­te rus­si­sche Sol­da­ten mit Ma­schi­nen­pis­to­len. Dann er­in­ner­te sie sich dar­an, dass es nun doch wohl an der Zeit sei, heim­wärts zu fah­ren, und mit ei­nem leich­ten glück­li­chen Seuf­zer wand­te sie sich wie­der ih­rem Rade zu. Sie hat­te es aber noch nicht er­reicht, als dies­mal ein rus­si­scher Sol­dat auf sie zu­trat, der, auf ihre Hand wei­send, ein Päck­chen aus der Ta­sche zog, das er auf­riss.

Sie sah auf ihre Hand und ent­deck­te erst jetzt, dass sie sich beim Weg­neh­men der Fla­schen die Hand zer­schnit­ten hat­te: Blut tropf­te von ih­ren Fin­gern. Mit lä­cheln­der Mie­ne ließ sie sich von dem hilf­rei­chen Rus­sen die Hand ver­bin­den, klopf­te ihm zum Dank auf die Schul­ter – er sah fremd durch sie hin­durch –, stieg aufs Rad und fuhr nun ohne wei­te­re Aben­teu­er nach Haus. An eben je­ner Stel­le aber, an der vor ei­ner Stun­de noch das Wehr­machts­au­to ge­hal­ten, fuh­ren nun auch schon rus­si­sche Pan­zer. Ob der Wa­gen wohl noch fort­ge­kom­men war? Sie wuss­te es nicht, sie wür­de es wohl nie er­fah­ren.

Als Frau Doll mit die­sen neu­en Nach­rich­ten vor ih­rem Man­ne er­schi­en, hör­te er aus dem Be­richt nur eine Be­stä­ti­gung des Ent­schlus­ses, an der Schwel­le sei­nes Hau­ses die Sie­ger und Be­frei­er zu er­war­ten. Aber da die An­kunft der Rus­sen auch an die­ser ab­ge­le­ge­nen Stel­le des Städt­chens nun je­den Au­gen­blick er­fol­gen konn­te, brach Doll das Ge­spräch mit sei­ner Frau kurz ab und kehr­te mit ei­ner in sol­cher ent­schei­den­den Stun­de fast un­be­greif­li­chen Hart­nä­ckig­keit zu sei­ner Ar­beit an den Stau­den­bee­ten zu­rück, um die letz­ten Draht­sch­lin­gen zu ent­fer­nen und säu­ber­lich auf­zu­rol­len und die letz­ten häss­li­chen Pfäh­le zu ent­fer­nen.

We­der Ab­fahrt noch Rück­kunft der jun­gen Frau wa­ren auf den Ne­ben­grund­stücken un­be­merkt ge­blie­ben. Bald fan­den sich die­se Nach­barn – na­tür­lich stets un­ter schick­li­chen Vor­wän­den, wie etwa, ein Werk­zeug zu ent­lei­hen – bei Doll ein, schau­ten sei­ner Ar­beit zu und such­ten hin­ten­her­um zu er­kun­den, was Frau Doll wohl in der Stadt ge­wollt und etwa Neu­es ge­se­hen habe? Doll, der auf eine di­rek­te, in sol­cher Lage völ­lig be­rech­tig­te Fra­ge so­fort Aus­kunft ge­ge­ben hät­te, hass­te die­ses fein­tu­en­de, kat­zen­haf­te Her­um­schlei­chen um den hei­ßen Brei sehr und dach­te nicht dar­an, eine so ver­hoh­le­ne Neu­gier zu be­frie­di­gen.

So hät­ten die Nach­barn un­ver­rich­te­ter Sa­che wie­der ab­zie­hen müs­sen, wenn sich nicht Frau Alma, aus dem Hau­se kom­mend, zu ih­rem Man­ne ge­sellt hät­te. Nach Art der meis­ten jun­gen Men­schen brann­te sie dar­auf, ihre Er­leb­nis­se zu er­zäh­len, und dies umso mehr, da sie doch höchst er­freu­lich und be­ru­hi­gend ge­we­sen wa­ren.

Wirk­lich führ­ten die Er­zäh­lun­gen der jun­gen Frau einen völ­li­gen Um­schwung in der Mei­nung der Nach­barn her­bei: Kein Ge­dan­ke war noch dar­an, in den Wald zu flüch­ten. Alle wür­den sie, wie Dolls, ihre Be­frei­er in den Häu­sern er­war­ten. Ja, man­che fin­gen schon mit deut­li­chen Wor­ten da­von zu re­den an, dass es viel­leicht gut sein wür­de, Ver­steck­tes oder Ver­gra­be­nes auf den ge­wohn­ten Platz zu­rück­zu­brin­gen, schon um die Sie­ger nicht durch Miss­trau­en zu krän­ken. Sol­che Be­mer­kun­gen wur­den frei­lich von den Fa­mi­li­en­mit­glie­dern mit är­ger­li­chen Aus­ru­fen und Kopf­schüt­teln auf­ge­nom­men: »Du wirst doch nicht, Olga!« – »Was du auch re­dest, Eli­sa­beth, si­cher bleibt si­cher!« – Oder auch: »Ich weiß bei uns von nichts Ver­steck­tem, Min­nie, du fan­ta­sierst wohl!«

Dies nach­bar­li­che Ge­spräch fand sei­ne Krö­nung durch zwei grei­se Män­ner, von Al­ter schon in den Sieb­zi­gern, de­ren Fan­ta­sie sich an der Schil­de­rung der kind­li­chen Trink­sze­ne vor dem Ho­tel ent­zün­de­te. Zu­erst war die Wut der bei­den Al­ten un­be­schreib­lich ge­we­sen. Wa­ren sie denn nicht seit Wo­chen und Mo­na­ten ge­ra­de zu die­sem Ho­te­lier, des­sen Stamm­gäs­te sie seit un­denk­li­chen Zei­ten wa­ren, ge­pil­gert – und das trotz ih­rer ho­hen Jah­re und des wei­ten We­ges fast all­täg­lich –, und hat­te die­ser Schur­ke, die­ser Ver­bre­cher, die­ser Ver­rä­ter am ei­ge­nen Vol­ke ihre Bit­ten um eine Fla­sche, ja nur um ein Glas Wein nicht stets mit dem Be­mer­ken zu­rück­ge­wie­sen, er habe selbst nichts mehr, die SS habe ihm al­les weg­ge­trun­ken?! Und jetzt stell­te sich her­aus, dass doch noch Wein da war, viel Wein ver­mut­lich, ein Kel­ler voll, vie­le Kel­ler voll, der ih­nen ge­gen al­les Recht vor­ent­hal­ten war, den jetzt Kin­der auf die Stra­ße schüt­te­ten!

Und die bei­den Grei­se stell­ten sich ein­an­der ge­gen­über, ihre eben noch sor­gen­grau­en Ge­sich­ter wa­ren wie vom Wi­der­schein des Weins lieb­lich ge­rötet, bis in ihr wei­ßes Haar hin­ein. Sie klopf­ten sich ge­gen­sei­tig auf die im letz­ten Jah­re so schlaff ge­wor­de­nen, längst nicht mehr ho­sen­fül­len­den Bäu­che und schri­en ein­an­der die ge­lieb­ten Na­men der von ih­nen be­vor­zug­ten Kres­zen­zen ins Ge­sicht. Der eine, klei­ne, im­mer im grü­nen Jä­ge­r­an­zug, rei­ner An­be­ter des Mo­sel­weins, der an­de­re, lan­ge, stets in Hemds­är­meln, mehr den fran­zö­si­schen Wei­nen hold. Wie sie da bäu­che­klop­fend um­ein­an­der­tanz­ten und brüll­ten, schie­nen sie be­reits trun­ken von dem Wein, den sie noch gar nicht hat­ten. Die höchst un­ge­wis­se Stun­de, der kaum erst zu Ende ge­hen­de Krieg, die viel­leicht nahe Ge­fahr wa­ren ver­ges­sen, jede Erin­ne­rung an lan­ge er­tra­ge­ne Qual ver­drängt durch die Aus­sicht auf einen Trunk. Und als sie nun, ein­an­der stän­dig stei­gernd, be­schlos­sen, mit zwei Hand­wa­gen so­fort in die Stadt zu zie­hen und auf der Stel­le die ih­nen wi­der­recht­lich vor­ent­hal­te­nen Wei­ne zu ho­len, gli­chen sie Doll völ­lig je­nen, die sich auf ei­nem aus­bre­chen­den Ve­suv zum Tan­zen an­schi­cken.

Gott­lob hat­ten sie bei­de Frau­en, und die­se Frau­en sorg­ten da­für, dass heu­te aus dem ge­plan­ten Aus­flu­ge nichts mehr wur­de, zu­mal der Lärm von durch­fah­ren­den schwe­ren Fahr­zeu­gen sich, von der Stadt her klar über den See schal­lend, stän­dig ver­stärk­te. »Aber«, sag­te Doll und kehr­te da­mit zu sei­nen Drah­ten­den zu­rück, »aber kommt et­was an­ders, als wir jetzt er­war­ten, wer­den wir im­mer schuld sein, dass sie nicht in den Wald flo­hen. Wie wir über­haupt an al­lem, was kom­men wird, schuld sein wer­den …«

»Ich habe ih­nen doch mit kei­nem Wor­te ab- oder zu­ge­re­det«, ver­tei­dig­te sich die jun­ge Frau.

»Es kommt nicht dar­auf an, was du ge­re­det hast«, ant­wor­te­te Doll und riss mit ei­ner Zan­ge eine Draht­kram­pe vom Pfos­ten los. »Son­dern es han­delt sich viel­mehr dar­um, dass die lie­ben Nach­barn jetzt einen Sün­den­bock für al­les, was schief­geht, ge­fun­den ha­ben.« Er wi­ckel­te einen Draht auf. »Sie wer­den uns nichts er­spa­ren, ver­lass dich dar­auf! Sie wa­ren in den ver­gan­ge­nen Jah­ren schon im­mer dar­auf aus, die Schuld für al­les, was ge­sch­ah, stets bei den an­de­ren, nie bei sich zu su­chen – warum soll­ten sie sich ge­än­dert ha­ben?!«

»Wir wer­den es mit Fas­sung er­tra­gen«, ant­wor­te­te die jun­ge Frau mit lä­cheln­dem Trotz. »Wir sind schon im­mer die best­ge­hass­ten Men­schen im Städt­chen ge­we­sen – ein biss­chen mehr oder we­ni­ger macht da auch nicht viel aus, nicht wahr?«

Da­mit nick­te sie ihm zu und ging in das Haus zu­rück.

Der Rest des Nach­mit­tags ver­ging qual­voll lang­sam. Noch ein­mal ka­men sie wie­der in die­ses schreck­li­che War­ten hin­ein, das sie doch end­gül­tig vor­über hoff­ten – und wie oft soll­ten sie in den nun fol­gen­den Ta­gen und Mo­na­ten noch war­ten, war­ten, war­ten! Manch­mal un­ter­brach Doll sei­ne Ar­beit und ging al­lein oder mit sei­ner Frau bis an das Seeu­fer, von wo sie über das Was­ser fort eine Zei­le der Stadt­stra­ße se­hen konn­ten. Aber sie sa­hen al­lein die hoh­len, to­ten Häu­ser, ohne ein Zei­chen mensch­li­chen Le­bens, nur ihr Ohr wur­de er­füllt von dem Geräusch nicht ab­rei­ßen­den Rol­lens, Dröh­nens, Hu­pens, ei­nes rie­si­gen Tros­ses, der un­ge­se­hen, ge­spens­ter­haft west­wärts durch die Stadt zog.

End­lich – die Däm­me­rung war schon nicht mehr fern – rief die jun­ge Frau aus dem Haus, es wer­de gleich Abendes­sen ge­ben. Doll, der in der letz­ten Stun­de mehr ge­spielt als ge­ar­bei­tet hat­te, pack­te sein Hand­werks­zeug zu­sam­men, trug es in den Schup­pen und wusch sich in der Som­mer­kü­che. Dann sa­ßen sie in der Ecke um den run­den Abend­brot­tisch: die alte Groß­mut­ter, Doll, sein Weib und die bei­den Kin­der. Die Un­ter­hal­tung lief nur zwi­schen der al­ten Groß­mut­ter und ih­rer Toch­ter hin und her. Die grei­se Frau, die, fast ge­lähmt, nur in ih­rem Lehn­stuhl saß, war be­gie­rig nach Neu­ig­kei­ten und ihre Toch­ter heu­te Abend wil­lig ge­nug, sie ihr zu ge­ben (was durch­aus nicht im­mer der Fall war). Die Groß­mut­ter woll­te al­les ganz ge­nau wis­sen, sie hör­te eine Sa­che lie­ber drei- als ein­mal und setz­te der Toch­ter ge­wal­tig mit Fra­gen wie die­sen zu: »Und was sag­te sie dann? – Und was hast du dazu ge­sagt? – Und was hat sie dar­auf ge­sagt?«

Sonst hat­te Doll ger­ne die­sen weib­lich breit da­hin­plät­schern­den Ge­sprä­chen ge­lauscht, im­mer ge­spannt dar­auf, wel­che Ver­än­de­run­gen bei der nächs­ten Wie­der­er­zäh­lung der Stoff im al­ten Kopf der Groß­mut­ter er­fah­ren ha­ben wür­de. Aber heu­te Abend, da sei­ne gute Stim­mung vom Mor­gen bis auf den al­ler­letz­ten Rest ver­braucht war, konn­te er nur mit äu­ßers­ter Über­win­dung die­ses »Ge­schwätz« ohne Wi­der­spruch er­tra­gen. Er wuss­te, das war un­ge­recht, aber eben un­ge­recht zu sein, ge­lüs­te­te es ihn jetzt.

Plötz­lich rief der Jun­ge am Tisch halb­laut: »Rus­sen!!!« Ein Geräusch an der Tür ließ alle ver­stum­men und star­ren, die Tür öff­ne­te sich, und drei Rus­sen tra­ten in die Stu­be.

»Alle sit­zen blei­ben!« be­fahl Doll halb­laut und trat, die lin­ke ge­ball­te Faust zum Gruß er­ho­ben, den Be­su­chern ent­ge­gen, an sei­ner Sei­te die jun­ge Frau, die den Be­fehl, sit­zen zu blei­ben, nicht auf sich be­zo­gen hat­te. Jetzt konn­te Doll wie­der lä­cheln, die Span­nung, die zor­ni­ge Un­ge­duld wa­ren von ihm ge­wi­chen, die Zeit des War­tens war vor­über, im Bu­che des Schick­sals war eine ganz neue Sei­te auf­ge­schla­gen … Er sag­te lä­chelnd: »To­wa­rischtsch!« und streck­te den drei Be­su­chern die rech­te Hand zum Gruß ent­ge­gen.

Nie wür­de Doll Art und Aus­se­hen je­ner ers­ten drei Rus­sen ver­ges­sen, die da­mals sein Haus be­tra­ten. Der vor­ders­te von ih­nen war ein jun­ger schlan­ker Mann mit ei­ner schwar­zen Bin­de über dem lin­ken Auge. Er war flink in sei­nen Be­we­gun­gen, et­was Hel­les ging von ihm aus, er trug einen blau­en Waf­fen­rock und eine Lamm­fell­müt­ze auf dem Kop­fe.

Der hin­ter ihm wirk­te ge­gen die­se eher drah­ti­ge, zier­li­che Ge­stalt wie ein Rie­se, er schi­en bis an die De­cken­bal­ken der Stu­be zu rei­chen. Er hat­te ein großes, grau­es Bau­ern­ge­sicht mit ei­nem rie­si­gen, hän­gen­den Schnauz­bart, in des­sen Schwarz sich schon vie­le graue Fä­den misch­ten. Das Auf­fallends­te an die­sem Rie­sen war ein kur­z­er, krum­mer Sä­bel in ei­ner schwar­zen Le­der­schei­de, den er schräg vor sei­nem in einen grau­en Rock gehüll­ten Lei­be trug. Der drit­te Mann, der hin­ter die­sen bei­den stand, war ein ein­fa­cher, noch sehr jun­ger Sol­dat, mit ei­nem Ge­sicht, das sich erst zu bil­den an­fing. Er trug eine Ma­schi­nen­pis­to­le mit seg­ment­för­mig ge­bo­ge­nem La­de­strei­fen un­ter dem Arm.

Dies wa­ren die drei Rus­sen, die so lan­ge er­war­te­ten Gäs­te, auf die Doll mit er­ho­be­ner, ge­ball­ter lin­ker Faust und aus­ge­streck­ter Rech­ter zu­trat, das Wort »To­wa­rischtsch« auf den Lip­pen.

Aber wäh­rend er so tat, wäh­rend er so noch vor den drei­en stand, ge­sch­ah et­was Selt­sa­mes. Die ge­ball­te lin­ke Faust sank her­ab, Dolls Rech­te ver­kroch sich in eine Ta­sche, und sein Mund wie­der­hol­te das Wort nicht, das doch eine Ver­bin­dung zwi­schen ihm und den drei­en her­stel­len soll­te. Auch lä­chel­te er nicht mehr, son­dern sein Ge­sicht hat­te einen fins­te­ren, grüb­le­ri­schen Aus­druck an­ge­nom­men. Plötz­lich senk­te er die Au­gen, die eben noch die drei an­ge­se­hen hat­ten, und blick­te auf die Erde.

Wie lan­ge die­se Sze­ne ge­dau­ert ha­ben moch­te, ob zwei oder drei Mi­nu­ten oder nur we­ni­ge Se­kun­den, konn­te Doll spä­ter nicht sa­gen. Plötz­lich ging der Blau­rock zwi­schen ihm und der Frau durch, die bei­den an­de­ren folg­ten, ins In­ne­re des Hau­ses hin­ein. We­der Herr noch Frau Doll gin­gen ih­nen nach, sie stan­den stumm da, ei­nes ver­mied des an­de­ren Blick. Dann hör­ten sie den Jun­gen ru­fen: »Da sind sie schon wie­der!«

Wirk­lich sa­hen sie die drei Rus­sen jetzt auf der Rück­sei­te des Hau­ses. Sie hat­ten es durch die Som­mer­kü­che ver­las­sen; das ra­sche Durch­ge­hen durch die frei­lich nicht mehr als vier Räu­me, die das Block­haus ent­hielt, hat­te nur einen Au­gen­blick ge­dau­ert. Nun gin­gen sie, als wüss­ten sie ge­nau Be­scheid, ohne zu zö­gern oder sich nur um­zu­se­hen, an den Schup­pen ent­lang, be­tra­ten den Boots­steg, stie­gen ins Boot, war­fen es los und wa­ren ein we­nig spä­ter hin­ter dem Ufer­ge­büsch ver­schwun­den.

»Die sind weg!« rief der Jun­ge wie­der.

»Es wer­den schon noch mehr kom­men!« mein­te die jun­ge Frau. »Dies war wohl nur eine ers­te Kon­trol­le, wer in den ein­zel­nen Häu­sern lebt.« Sie warf einen ra­schen Blick auf den Mann, der im­mer noch, die Hän­de in den Ta­schen, fins­ter grü­belnd da­stand. »Komm!« sag­te sie. »Wir wol­len rasch es­sen, ehe die Sup­pe ganz kalt ist. – Dann wer­den die Kin­der und die Groß­mut­ter gleich ins Bett ge­steckt. Wir aber blei­ben noch ein Weil­chen auf; ich habe das Ge­fühl, es kom­men heu­te Abend oder in der Nacht noch mehr.«

»Es ist recht«, ant­wor­te­te Doll und ging mit ihr an den Abend­brot­tisch zu­rück. Da­bei dach­te er, dass auch die Stim­me der Frau sich völ­lig ge­wan­delt hat­te: nichts mehr von der Leb­haf­tig­keit, die sie beim Er­zäh­len der Nach­mit­tagser­eig­nis­se ge­habt hat­te. ›Sie hat auch et­was ge­merk­t‹, dach­te er. ›A­ber ge­nau wie ich will sie nicht dar­über spre­chen. Das ist gut.‹

Spä­ter ge­fiel es ihm dann bes­ser, sich ein­zu­bil­den, dass sei­ne Frau viel­leicht doch nichts ge­merkt hat­te, dass ihre Stim­me nur dar­um so ver­än­dert ge­klun­gen hat­te, weil schon wie­der ein neu­es War­ten be­gann, das näm­lich auf wei­te­re rus­si­sche Gäs­te. War­ten war ent­schie­den jetzt das, was für je­den Deut­schen am schwers­ten er­träg­lich war, und ge­ra­de das wur­de ih­nen in vie­len, ja fast al­len Din­gen auf­er­legt – in den nächs­ten Ta­gen, Mo­na­ten, ja viel­leicht Jah­ren …

Durch die Groß­mut­ter und die Kin­der kam doch noch ein leb­haf­tes Ge­spräch zu­stan­de, an dem sich auch die jun­ge Frau be­tei­lig­te. Na­tür­lich dreh­te es sich in der Haupt­sa­che um die drei Be­su­cher, die ein so bunt­sche­cki­ges Äu­ße­res ge­habt hat­ten, wie man es von den ei­ge­nen, den deut­schen Trup­pen nicht ge­wohnt war (oder eben, weil längst ge­wohnt, nicht mehr se­hen konn­te). Spä­ter wur­de eif­rig die Fra­ge er­ör­tert, ob man wohl das Boot zu­rück­be­kom­men, ob es die Rus­sen zu­rück­brin­gen wür­den?

Doll be­tei­lig­te sich nicht an die­sem Ge­spräch, er moch­te an die­sem Abend über­haupt kein Wort mehr spre­chen. Da­für war er in­ner­lich viel zu stark er­regt. Nur ein­mal hat­te er sei­ne Frau lei­se ge­fragt: »Sahst du auch, wie sie mich an­sa­hen?«

Alma hat­te dar­auf – eben­so lei­se und sehr rasch – geant­wor­tet: »Doch! Es war ge­nau so, wie mich heu­te Nach­mit­tag der Rus­se vor der Apo­the­ke an­sah: als sei ich eine Wand oder ein Tier.« Dazu nick­te Doll kurz mit dem Kopf, mehr wur­de zwi­schen den Ehe­leu­ten über die­sen Fall nicht ge­spro­chen, we­der heut noch spä­ter.

Aber Doll sah sich wie­der da­ste­hen vor die­sen drei­en, mit grin­sen­dem Ge­sicht, das Wort »To­wa­rischtsch!« auf den Lip­pen, mit der er­ho­be­nen Faust, die Rech­te zum Gruß aus­ge­streckt – wie falsch das al­les ge­we­sen war, wie er sich doch schä­men muss­te! Wie ver­kehrt er al­les an­ge­fan­gen hat­te, vom frü­hen Mor­gen an, als er so fröh­lich auf­ge­wacht war und sich in die Ar­beit an den Stau­den­bee­ten ge­stürzt hat­te, um den Weg für die Be­frei­er »ge­fahr­los« zu ma­chen, wie falsch er al­les ge­se­hen hat­te!

Und so ein Mann wie er hat­te noch vor den Nach­barn da­mit ge­protzt, er wer­de die Rus­sen an der Schwel­le sei­nes Hau­ses emp­fan­gen und als Er­lö­ser be­will­komm­nen. Statt über die Er­zäh­lung sei­ner Frau am Nach­mit­tag ein biss­chen nach­zu­den­ken und sie sich zur War­nung die­nen zu las­sen, hat­te er dar­in nur eine Be­kräf­ti­gung sei­ner un­ein­sich­ti­gen, dum­men Hal­tung er­blickt. Wahr­haf­tig, er hat­te in die­sen zwölf Jah­ren nicht das Ge­rings­te da­zu­ge­lernt, so si­cher er das auch in man­chem Lei­den ge­glaubt hat­te!

Mit recht hat­ten ihn die Rus­sen an­ge­se­hen wie ein klei­nes, bö­ses, ver­ächt­li­ches Tier, die­sen Kerl mit sei­nen plum­pen An­bie­de­rungs­ver­su­chen, der glau­ben ma­chen woll­te, dass mit ei­nem freund­li­chen Grin­sen und ei­nem kaum ver­stan­de­nen rus­si­schen Wort all das aus­zu­lö­schen war, was der Welt in den letz­ten zwölf Jah­ren von den Deut­schen an­ge­tan war!

Er, Doll, war ein Deut­scher, und er wuss­te es doch, we­nigs­tens in der Theo­rie, dass seit der Machter­grei­fung, dass seit den Ju­den­ver­fol­gun­gen der schon im ers­ten Welt­krie­ge er­schüt­ter­te Name »Deut­scher« von Wo­che zu Wo­che und von Mo­nat zu Mo­nat im­mer mehr an Klang und An­se­hen ver­lo­ren hat­te! Wie oft hat­te er selbst ge­sagt: »Das kann uns nie ver­zie­hen wer­den!« Oder: »Hier­für wer­den wir ei­nes Ta­ges alle bü­ßen müs­sen!«

Und er, der ge­nau wuss­te, der wuss­te, dass der Be­griff Deut­scher ein Schimpf­wort ge­wor­den war in der wei­ten Welt, er stell­te sich da so hin, in der blö­den Hoff­nung, sie wür­den schon mer­ken, dass es »auch an­stän­di­ge Deut­sche« gab.

Al­les, was er sich seit lan­ger Zeit von die­sem Kriegs­en­de er­hofft hat­te, es brach schmäh­lich zu­sam­men vor den Bli­cken von drei rus­si­schen Sol­da­ten! Er war ein Deut­scher, also ge­hör­te er zu dem ge­hass­tes­ten und ver­ach­tets­ten Vol­ke des Erd­balls! Es stand tiefer als der pri­mi­tivs­te Stamm im In­nern Afri­kas, der nicht so viel Zer­stö­rung, Blut, Trä­nen, Un­glück über die­sen Erd­ball brin­gen konn­te, wie es das deut­sche Volk ge­tan hat­te. Plötz­lich wur­de es Doll klar, dass sein Le­ben ver­mut­lich nicht mehr aus­rei­chen wür­de, um die Rei­ni­gung des deut­schen Na­mens in der Welt Au­gen noch zu er­le­ben, dass viel­leicht sei­ne ei­ge­nen Kin­der und En­kel un­ter der Schmach ih­rer Vä­ter zu lei­den ha­ben wür­den. Die Täu­schung, es wür­de nur ei­nes Wor­tes, ei­nes Blickes be­dür­fen, um sich mit den an­de­ren Völ­kern dar­über zu ver­stän­di­gen, dass nicht alle Deut­schen mit­schul­dig wa­ren, auch die­se Täu­schung war ver­gan­gen.

Und die­ses Ge­fühl hilflo­ses­ter Scham, das oft von lan­gen Pe­ri­oden schwers­ter Apa­thie ab­ge­löst wur­de, ward nicht schwä­cher mit den vor­über­wan­dern­den Mo­na­ten, nein, es ver­stärk­te sich noch durch hun­dert klei­ne Er­leb­nis­se. Spä­ter, als es dann zu dem Pro­zess ge­gen die Kriegs­ver­bre­cher in Nürn­berg kam, als Tau­sen­de von schreck­li­chen Ein­zel­hei­ten den Um­fang der deut­schen Ver­bre­chen im­mer wei­ter ent­hüll­ten, woll­te sich sein Herz da­ge­gen auf­leh­nen, nicht noch mehr er­tra­gen, woll­te er sich nicht noch tiefer in den Schlamm sto­ßen las­sen. ›Nein!‹ rief er dann zu sich. ›Das