Der alte Trostdoktor - Lise Gast - E-Book

Der alte Trostdoktor E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Dr. Erich Bruckmann ist Landarzt. In ganz Krummhübel und den umliegenden Dörfern, die zu seinem Patientenkreis gehören, wird er für seine herzliche und behutsame Art geliebt. Alle schenken ihm ihr größtes Vertrauen – junge, werdende Mütter ebenso wie ältere Menschen, deren Lebensende bevorsteht. Für groß und klein hat er allzeit ein offenes Ohr und weiß eine heilende Behandlung. Deshalb nennen ihn die Dorfbewohner auch 'den alten Trostdoktor' – allein sein Erscheinen mildert bei den Patienten jegliches Krankheitsgefühl und bringt Hoffnung und Kraft für selbst betrübte Herzen.Seine Beliebtheit hat er seinem außergewöhnlichen Charme und seinem liebenswürdigen Wesen zu verdanken. Stets kennt der Trostdoktor eine herrliche, entzückende Geschichte, durch die er die Menschen beglückt und auf andere Gedanken bringt. Zum Beispiel die von Jörg Habermann, das Jahr achtundzwanzig oder dreißig herum...DER ALTE TROSTDOKTOR ist eine heitere und bedachtsame Erzählung über das turbulente Leben und Wirken eines Landarztes. Lesenswert!-

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Lise Gast

Der alte Trostdoktor

Eine heiter-ernste Erzählungfür alt und jung

Saga

Der alte Trostdoktor

German

© 1964 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508855

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Eligentlich hieß er Bruckmann, Dr. Erich Bruckmann, aber in ganz Krummhübel und allen umliegenden Dörfern, die zu seinem Patienten bereich gehörten – und er war ein richtiger Überlanddoktor, ein Landarzt vom alten Schrot und Korn –, überall nannten sie ihn den alten Trostdoktor. Wenn irgendwo ein Kind auf die Welt kommen wollte, und die junge Mutter hatte Grund zu bezweifeln, daß dies glatt und leicht geschehen würde, wen rief man? Den alten Trostdoktor. War ein Bauer verunglückt, eine Urgroßmutter am Sterben, breitete sich in einem der Dörfer Scharlach, Masern oder Keuchhusten aus wie die Heuschreckenplage in Ägypten, wer kam und half? Der Trostdoktor. Man konnte sich das Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen.

Er war groß, dick und von einem ungeheuren Charme. Wenn er hereinkam, nahm die Krankheit schon Reißaus, so jedenfalls empfanden es die Patienten. Und wenn er in Fällen, in denen nicht mehr zu helfen war, den Pflegenden die Wahrheit sagte, ruhig, freundlich und voll behutsamer Güte, da konnte niemand verzweifeln, da wußte man: es soll so sein. Und von seiner Herzenskraft floß Kraft über in die armen, betrübten Herzen der anderen.

Wir haben ihn noch gekannt, den alten Trostdoktor. Mein Vater hatte mit ihm zusammen in Breslau studiert, und später, zwischen den Kriegen, besuchten wir Bruckmanns immer, wenn wir ins Riesengebirge fuhren. Der alte Trostdoktor steckte voll der herrlichsten Geschichten, von denen mindestens die eine Hälfte erlogen war, aber so entzückend erlogen, daß man gar nicht wissen wollte, wie es sich eigentlich zugetragen hatte. Ich besinne mich noch genau auf ihn, auf seine wunderbar warmen, dunklen Augen hinter der Brille und auf seine schönen, großen Hände, die er einem manchmal ums Gesicht legte, wenn er einen eindringlich ansah. Die Geschichte von Jörg aber, von Jörg Hagemann, die ist so geschehen, wie ich sie hier erzählen will, um das Jahr achtundzwanzig oder dreißig herum. Jörg hat sie mir selbst erzählt.

Das Doktorhaus lag in einem kleinen Garten, und der war umgeben von einem Zaun von so winziger Höhe, daß man im Schlußsprung hinübergekommen wäre – das war Jörgs erster Eindruck, als er ankam. Am Eingang hing das Schild: «Dr. Bruckmann, Sprechstunden von 5 bis 7»

und darunter ein zweites, darauf stand:

Jörg verzog ein bißchen das Gesicht. Das Haus war alt und sicher unpraktisch, mit nachgedunkeltem Holz um das obere Geschoß, der Garten ziemlich ungepflegt, die Stufen vor der Haustür ausgetreten. Wilder Wein verdeckte fast den ganzen Giebel. Ein weiß und braun gefleckter Hund kam ihnen entgegengesprungen, kläffte und schnupperte dann an seinem Knie, ehe er sich wild begeistert dem Doktor zuwandte.

«Ja doch, alter Kerle, natürlich!» sagte der und tätschelte den Hundekopf, «nu laß mich ock rein! Siehste, das ist der Jörg, der gehört ab heute zu uns.»

«Wie heißt er?» fragte Jörg, mehr höflich als interessiert. Der Doktor lachte.

«Er hat mindestens ein halbes Dutzend Namen. Herzele und Dummerle und Strickel, so sagt die Mutter – eigentlich heißt er Blitz. Ist ja auch ein komischer Name für eine Hundelerge. – Mutter, wir sind da-ha!» Das letzte Wort sang er in den Flur hinein, und sogleich kam die Antwort im selben Tonfall.

«Ja-ha!» sang es aus den hinteren Räumen, und dann kam Frau Bruckmann ihnen auch schon entgegen, klein, zierlich, alt – mit einem knittrigen, freundlichen und lieben Gesicht.

«Na, der Jörg, da ist er also. Gutten Tag, gutten Tag! Nu kommt ock, damit wir Kaffee trinken können!»

Sie sagte «Kaffee», mit der Betonung auf der ersten Silbe. Überhaupt sprachen beide schlesisch. Jörg hatte das nicht erwartet. Er dachte, überall in Deutschland würde hochdeutsch gesprochen, jedenfalls unter Erwachsenen. Daß es hier «Tierla» hieß statt Tür, sogar geschrieben, wie er gesehen hatte und «komm ock, mein Junge –», das befremdete ihn. Das Zimmer, in das sie jetzt traten, konnte freilich niemanden befremden, das war ihm sofort klar. Es schien ihm das gemütlichste, das er je gesehen hatte.

«Ich hab’ hier drin gedeckt, ’s is schon ein bissel kühl draußen, glaub’ ich», erklärte Frau Bruckmann und lief geschäftig hin und her. «Freilich, mittagessen tun wir noch immer auf der Veranda, hoffentlich noch lange –», sie deutete nach der Glastür. Jörg sah eine langgestreckte Holzveranda mit dunkler Brüstung, auf der Kästen mit brennroten Pelargonien standen; die Sonne lag nachmittäglich schräg darauf. Hier im Zimmer war der Kaffeetisch gedeckt, weiß mit blauweißen Tassen, in der Mitte stand ein Porzellanteller mit hochgetürmtem Streuselkuchen. Die «Streifei» waren genau geschichtet, acht nebeneinander mit kleinen Lücken dazwischen, acht wieder quer dazu, und das Ganze wiederholte sich, wie Jörg sogleich feststellte, sechsmal. Achtundvierzig Stück also – er lachte. Frau Bruckmann sah ihn wohlgefällig an.

«Na gell, das gefällt dir, mein Junge. Nu setz dich ock und lang zu – nee, warte, den Kaffee noch. Heidel, nu komm schon!»

«Ich bin ja hier!» Aus der Tür, die wohl direkt zur Küche führte, kam flink wie eine Bachstelze mit wippendem Schritt ein Mädel, höchstens fünfzehn, wie Jörg schätzte, kariertes Kleid, blaue Leinenschürze.

«Das ist die Heidel», stellte der Doktor vor, «ein ganz tummes kleines Madel, gell, Heidel? Zu tumm zum Milchholen!»

«Nu laß schon», mahnte seine Frau, «die Heidel glaubt’s doch nicht mehr, und ’s is auch nicht wahr.

Und der Jörg soll’s auch nie glauben.»

Jörg setzte sich, als die andern Platz genommen hatten, Heidel ging um den Tisch und schenkte Kaffee ein, aus einer dickbäuchigen, buntgeblümten Kanne. Als Heidel zu ihm herum kam, sah er sie einen Augenblick lang näher an. Sie hatte eine Stubsnase und das ganze Gesicht voller Sommersprossen, die ihr ausgezeichnet standen – so etwas hatte er noch nie erlebt –, darüber braunrotes Haar und dazu ein Paar Augen, die so lustig guckten, daß man unwillkürlich auch lustig wurde. Freilich, viel von diesen Augen sah man nicht, eigentlich nur zwei vergnügte Spältchen über den prallen, blanken Backen, die vor Gesundheit glänzten. Ein Bauernmädel, geradezu wie aus einem Bilderbuch herausgeschnitten. War sie die Tochter hier?

«Nein, Junge», lachte der Doktor, nachdem er die erste Tasse in einem Zug getrunken hatte, als habe Jörg wirklich gefragt. «Die Heidel ist nicht unsere. Wir haben auch Töchter, aber die sind schon groß und alle ausgeflogen. Die Jungen auch. Die Heidel ist bei uns, weil es der Mutter sonst ein bissel schwer wird, so unter die Kommoden zu kriechen und den Staub wegzuwedeln, damit er sich endlich wo anders hinsetzt, wo man ihn mehr sieht.»

Noch während der Vesper schrillte das Telefon, und der Doktor mußte fort.

«Eßt und trinkt nur weiter, ich gönn’s euch, wenn ich auch selber hungern muß», sagte er im Abgehen. Jörg sah ihm ein wenig betreten nach. Frau Bruckmann und Heidel lachten. «Mach dir nichts draus. Er sieht schon, wo er bleibt!»

Als sie dann fertig waren und Heidel den Tisch abräumte, trat Jörg auf die Veranda hinaus. Von hier aus sah man den Kamm und die Koppe im späten Nachmittagslicht. Jörg war noch nie in Schlesien gewesen, er kannte Berlin und die Ostsee, den Odenwald und das Zillertal, und ein wenig hochmütig hatte er immer gedacht: Riesengebirge, was das schon ist! Nicht ’mal ein Zweitausender dabei, und da tun die Leute, als wär’ es Hochgebirge. Jetzt stand er hier und sah zu den Bergen hinauf, und gleichzeitig schnupperte er ein bißchen. Es roch so merkwürdig, natürlich ganz anders als in Berlin, aber auch anders als in den Alpen. Nach Holz und Holzrauch, seltsam würzig – Jörg war ein Mensch, der immer und überall schnuppern mußte. Heidel lachte, als sie nach einer Weile angelaufen kam und ihn so stehen sah, mit geschlossenen Augen und etwas zurückgelegtem Kopf witternd.

«Na, riecht’s gut bei uns?» fragte sie vergnügt.

«Hm.» Er öffnete die Augen und runzelte ein wenig die Stirn. Auslachen ließ er sich nicht gern, noch dazu von so einer Göre. Heidel lief an ihm vorbei in den Garten, sammelte die herumliegenden Augustäpfel in eine Emailleschüssel und setzte sich dann auf die Verandastufen. Ihre Hände waren geschickt und flink, während sie die Äpfel putzten und schnitten. Es sah sich gut zu.

«Du brauchst gar nicht so zu gucken, ich tu dir nichts», sagte sie nach einer Weile. Jörg mußte lachen.

«Denkst du, ich hätte Angst vor dir?»

«Nimm dich nur in acht!» Sie lachte auch. «Ich hab’ eine Menge Brüder, da lernt man, sich zu wehren.»

«Wieviele denn?»

«Vier. Und zwei Schwestern. – Und du?»

«Ich hab’ keine Geschwister», sagte Jörg. «Meine Mutter ist Schauspielerin. Jetzt grade gastiert sie in der Schweiz.»

«Ach, so weit weg! Und wo seid ihr zu Hause? In Berlin?»

«Ja, eigentlich. Aber ich bin – ich war in verschiedenen Schulen, weißt du. Zuletzt in einer im Odenwald, ehe ich nach Berlin kam.»

Heidel schüttelte den Kopf. «In verschiedenen Schulen. Ich war nur in einer. In unserer. Bis Ostern vorm Jahr.» Sie beugte sich über ihre Schüssel und suchte unter den Äpfeln einen heraus, der recht appetitlich aussah, schnitt Blüte und Wurmstelle heraus – wurmig waren sie alle –, und warf ihn Jörg zu. «Da, sie schmecken wunderbar. Und wie war es in der Schule?» Jörg biß in den Apfel. Schaumig süß schmeckte das Fruchtfleisch, sonnengewärmt und trotzdem frisch. Er setzte sich neben Heidel auf die oberste Stufe. «Wie es in der Schule war? Da fragst du? Wer geht schon gern in die Schule!» Er langte nach einem zweiten Apfel.

«Nein, den nimm nicht, der ist innen schwarz. Hier, nimm den! Und hol’ mir noch welche, drüben liegen bestimmt noch viele.» Sie deutete in die Gartenecke, wo dichtes Himbeergesträuch wucherte. «Du mußt halt bissel wühlen. Ich brauch’ noch mehr, wenn ich Apfelmus koch’, muß es sich lohnen. Du magst doch welches?»

«Klar.» Aber Jörg blieb sitzen. Er hatte keine Lust, den Handlanger zu spielen. Wie kam sie dazu, ihn zu schicken? Das sollte mal von vornherein feststehen: Anstellen ließ er sich nicht, dazu noch von einem Mädel, das ein Jahr jünger war als er.

«Gern in die Schule?» nahm Heidel das Gespräch wieder auf, «ich zum Beispiel. Wir sind alle gern reingegangen. Unser Lehrer ist so lustig.»

«Das war wohl eine Volksschule?»

«Natürlich. Und seit ich raus bin, bin ich in Stellung.» Sie lachte und sprang auf. «Jetzt hol’ ich mir die Äpfel selber, wenn du das nicht kannst.»

Jörg sah ihr ein wenig unsicher entgegen, als sie wiederkam, die Schürze prall voller Fallobst. Nein, beleidigt schien sie nicht zu sein, sondern unbefangen vergnügt. Mit der kommt man aus, dachte er befriedigt, die zieht kein Gesicht. Ist nur gut, wenn sie gleich kapiert: Ich bin hier nicht in Stellung.

«So sehr schön denke ich mir das eigentlich nicht, wenn man viele Geschwister hat», sagte er und biß in den nächsten Apfel, daß der Saft spritzte. «Immerzu Krach und Durcheinander und Abgeben und Teilen. Ist das nicht so? Ich weiß es von welchen aus meiner Klasse. Die waren froh, wenn sie wegdurften von zu Hause. Du wohl auch?»

«Ach, gar nicht. Freilich, hier hab’ ich eine Stube für mich allein, das ist schon hübsch. Zu Hause schlief ich mit den Kleinen zusammen – aber was denkst du, wie niedlich die sind! Und wenn ich mal auf Besuch komm’, da freuen sie sich! Der Jüngste, das Martindel, ist eigentlich meiner, denn ich hab’ ihn großgezogen, weißt du. Meine Mutter hat so viel zu tun, da war sie froh, wenn ich ihn ihr abnahm.»

«Und wie alt ist er jetzt?»

«Vier. Aber mein ältester Bruder ist schon achtzehn, der wird Ingenieur. Und unsere zweite lernt im Krankenhaus, die will Schwester werden.»