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Frank, gelernter Literaturübersetzer, Spezialist für das französische neunzehnte Jahrhundert, hat längst keine Aufträge mehr. Zuletzt arbeitete er im Teilzeitjob als sogenannter Integrationscoach für einen Flüchtlingsverein. Doch die politische Landschaft in Berlin rutscht gewaltig. Boris von Breest, charismatischer Moderator des Fernsehsenders BeNews, Erfolgsprodukt der Zusammenarbeit eines erzkonservativen französischen Medienmoguls mit einer deutschen Verlegerin, wird Regierender Bürgermeister. Seine Bewegung "Bürger für Berlin" hat die AFD erfolgreich beerbt. Von Breest hat ihr Programm geplündert, ihm ein neues Gesicht geschenkt. Besonders im Kampf gegen den Antisemitismus hat er eine politisch nützliche Waffe entdeckt. Seine Ehefrau ist eine französische Jüdin, was ihm Glaubwürdigkeit verleiht. Sein Kernthema ansonsten: Die seit Jahrzehnten in Abseits gedrängten Belange der deutschen Mehrheitsgesellschaft, besonders die der älteren Generation, gehören wieder in den politischen Fokus. Ebenso der Kampf gegen die drohende Überfremdung. Konsequenz für Frank: Seinem Verein werden alle Gelder gestrichen, er wird arbeitslos, soll sich einem Coaching-Programm für Jungsenioren unterziehen. Doch er hat Glück. Ein alter Freund besitzt enge Kontakte zum neuen Senat. Auch kulturpolitisch hat von Breest Großes vor. Ziel ist eine neue Leit- und Erinnerungskultur im Dienst einer gemeinsamen Identität. Nicht die Eliten sollen den Ton angeben, jedermanns Geschichte soll Platz darin finden. Den von Breest umgebenden High-Tech-Kommunikationsexperten mangelt es nicht an Ideen. Eine ist besonders ausgefallen. Das Ampelgeschichtenprojekt. Dank ihm soll der neue Geist auch die Straßen erobern. Das Narrativ bedarf begabter Erzähler. Frank wird einer von ihnen. Die Geschichte ist die Erzählung eines Stadtneurotikers, der aber ums Verrecken nicht aufs Land ziehen würde - melancholisch, ironisch, bissig, anarchistisch, aus der Zeit gefallen, zwischen allen Stühlen. Im Hintergrund geht es um Macht, die Besitzergreifung der Sprache, Bilder, den Dichter Baudelaire, aber nicht zuletzt auch um eine kleine Liebesgeschichte mit ihren unvermeidlichen Rätseln.
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Für Barben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Ja, ich gestehe: Ja, ich bin weiß, ja, ich bin ein Mann und zum dritten Mal: Ja, ich werde älter. Und am Vormittag dieses historischen Tages habe ich außerdem ein kleines Kind traumatisiert. Also bin ich jetzt auch ein böser Mann, ein Feind, an den es sich erinnern wird. Vielleicht sogar noch in vierzig Jahren, wenn es bei einem Psychiater auf der Couch liegt. Ich weiß, wie das geht, ich habe es ja selbst getan. Erlebt, wie vor den halb geschlossenen Augen plötzlich das vergrabene Bild auftaucht. Der böse Blick einer Frau mit Dutt, sie hatte mir eine Ohrfeige verpasst. Singprobe im Kindergarten für das Abschiedsfest der Direktorin. Ich hatte mir in die Hose gemacht, die Scham und der Stau, der sich plötzlich löst. Seitdem habe ich ein Sing- und ein Gruppentrauma, will fliehen, sobald man mich zum Mitsingen auffordert. Selbst beim Happy Birthday-Singen bewege ich höchstenfalls die Lippen, hoffe, dass es bald zu Ende ist. Dafür klatsche ich dann am lautesten, doch unbewusst will ich immer noch aufs Klo.
Dieses Kind dagegen: Ich habe mich ihm nicht mehr als einen Meter genähert und es nur ein dummes Blag genannt, das endlich die Fresse halten solle. Aber nicht etwa gebrüllt, ruhig und sachlich habe ich es ihm gesagt, und erst nachdem es eine geschlagene Viertelstunde im Treppenhaus brüllte, trampelte, wütete, spuckte, röchelte. Drama mit Erstickungstod spielte. Vor meiner Wohnungstür. Zum zehnten Mal innerhalb von einer Woche. Als ich sie öffnete, streckte es mir die Zunge raus.
„Nicht du!“
Eine Treppe höher saß der Vater. Ganz entspannt im Schneidersitz, die Hände ineinandergelegt. Florian Geiger, ein lockerer Hipster, Converse-Sneakers, blaues Mützchen auf dem Kopf und den unvermeidlichen Bartflaum im Gesicht. Machte irgendetwas in Kommunikation. Er schenkte mir ein erleuchtetes Lächeln. Wie lange dieses Theater wohl noch gehe, fragte ich. Da müssen wir durch, erwiderte er. Das „da“ zog er phlegmatisch in die Länge.
„Nein“, gab ich zurück. „Sicher nicht wir.“
Das Kind streckte mir noch mal die Zunge raus. Bäaah. Und da habe ich es ihm gesagt. Ein Volltreffer, denn das Rotzgesicht gefror. Dafür aber wurde der Hipster laut. Das Phlegma verschwand, er bekam plötzlich Farbe.
„So reden Sie nicht mit meinem Kind!“
Wie Batman sprang er die Treppe hinab. In drei Sätzen stand er neben mir. Beugte sich über sein kleines Monster wie über einen Schwerverletzten. Hob ihn auf. Der Junge rotzte.
„Sie sollten sich schämen.“
Es wirkt immerhin, erwiderte ich und genoss sie fast, diese Lächerlichkeit. Den offenen Hass, mit dem er mich anblickte. Die Anstrengung, die es ihn kostete, nicht zuzuschlagen. Ich dachte, wie es wäre, wenn das Kind jetzt auch anfangen würde zu pinkeln. Sah sie vor Augen, die kleine Pfütze, die sich damals um meine Füße gebildet hatte. Das Mädchen neben mir, fiel mir ein, hieß Margit und brüllte, Igitt, der Frank, der pinkelt.
Plötzlich schämte ich mich wirklich für die Gedanken in meinem Kopf und sagte mir, ich solle die Sache besser beenden. Das Kind war verstummt und ich könnte einfach in meine Wohnung zurückgehen. Ich sah kurz aus dem Fenster in den Hinterhof hinunter, wo zwei Frauen ihre Fahrräder parkten. Sie begutachteten die Pflanzenkübel, die vor ein paar Wochen dort aufgestellt worden waren. Zupften ein paar Blätter. Die Hofbegrünung, hatte mir der Hausmeister erzählt, sei bei der letzten Eigentümerversammlung beschlossen worden, und in Übereinkunft mit dem Nachbarhaus solle nächstes Jahr auch ein kleiner Weiher angelegt werden. Er würde sich aber bestimmt nicht darum kümmern, es sei denn, man verdoppele ihm die Pauschale. Er habe schon genug mit der Treppenhausreinigung zu tun. Und der Überwachung der Mülltrennung, deren Missachtung die Hausverwaltung immer monierte. Die Stadtreinigung habe im vergangenen Jahr vierhundert Euro zusätzliche Kosten berechnet. Und beim nächsten Mal machen sie mich verantwortlich, weil es ein paar welke Blätter gibt.
Der Hausmeister konnte die neuen Eigentümer nicht leiden, aber er war auf die Einnahmen angewiesen. Fünfhundert Euro Minijob. Im Hof erschien jetzt eine dritte Frau. Sie trug einen zitronengelben Trenchcoat. Er glich einer dieser Regenjacken, die ich als Kind getragen hatte. Sie wohnte ganz oben im Dachgeschoss. Sie und ihr Mann waren Architekten. Die Sache mit dem Weiher war ihre Idee. Vor zwei Jahren waren sie eingezogen, nach eineinhalbjährigen Bauarbeiten. Die Dachgaube glich einem Kirchturm und die Terrasse, die sie angelegt hatten, war so groß wie mein Wohnzimmer. Laut dem Hausmeister hatten sie vierhunderttausend Euro in den Umbau gesteckt.
Der Hipster-Vater bemerkte den Moment meiner Unschlüssigkeit. Gönnerhaft nickte er mir zu.
„Sie können sich gerne entschuldigen, Sie haben es ja vielleicht nicht so gemeint. Was meinst Du Liam?“
Er drehte den Kopf seines Sohnes in meine Richtung.
„Das wäre doch gut, Liam, findest du nicht?“
Er schlug nun einen pastoralen Ton an, der mich an den Bezirksbürgermeister erinnerte, der vor ein paar Wochen hier gewesen war, um am Haus eine Gedenktafel einzuweihen. Erinnerung an einen deportierten jüdischen Bewohner. Auch eine Umsetzung eines Beschlusses der Eigentümerversammlung. Die Frau des Hipsters war Beiratsvorsitzende. Frau Dr. Moser, Zahnärztin. Sie und das Architektenpaar standen natürlich in der ersten Reihe. Er genau wie jetzt mit dem Kind auf dem Arm. Zukunft sei eine von außen wiederkehrende Erinnerung, hatte der Bezirksbürgermeister verkündet. Darum sei Gedenken auch immer Zukunft. Den Satz hatte er vermutlich irgendwo geklaut. Nach der Rede gab es ein Klezmer Konzert. Ich hatte die Sache von oben verfolgt und als die Musik begann das Fenster geschlossen. Womöglich galt ich darum jetzt als Antisemit. So wie mein Vermieter, der eine Beteiligung abgelehnt hatte. Eine Gewissensabgabe sei das, er gebe kein Geld für diesen Schnickschnack. Er war Libanese, besaß einen Ramschladen und ein Restaurant auf der Gotzkowskystrasse. Ich traf ihn dort manchmal. Meine Wohnung hatte er vor ein paar Jahren gekauft, mir aber noch nie die Miete erhöht. Das war mir bei weitem wichtiger.
Der Hipster streckte mir die Hand hin.
„Tut mir leid“, sagte ich „Aber ich habe es genauso und nicht anders gemeint.“
Mit einem Ruck verschwand die Hand. Unten hörte ich die Hoftür gehen. Gleich würden wir Gesellschaft bekommen. Der Hipster betrachtete sein Kind wie ein Beweisstück. Atmete tief durch die Nase. Wahrscheinlich eine meditative Übung.
„Mit Schamgeschichten müssen Sie sich woanders hinwenden“, sagte ich.
Ich hörte einen energischen High-Heel-Schritt auf der Treppe.
„Sie sind wirklich …“
Er machte einen Schritt von mir weg.
„…ein Ekel!“
Die zitronengelbe Architektin erschien auf dem Treppenabsatz.
„Hallo Florian, Hallo Liam. Tag Herr …“
Ich ging langsam die Stufen hinunter. Sie drängte sich an mir vorbei.
„Gibt es irgendetwas?“, fragte sie. Sie besaß eine nasale Quengelstimme.
„Dieser Herr hat gerade meinem Kind ein paar Unanständigkeiten gesagt, weil es die Sonntagsruhe gestört hat.“
Die Frau stand nun über mir und neigte den Kopf. Schüttelte ihn leise, hob die geschwungenen Augenbrauen. Dann die Hände. Die Richterin im Treppenhaustribunal.
„Vielleicht sollte er einfach die Tür zumachen.“
„Oder ausziehen.“
Sie spreizte die Lippen und klackerte mit ihren High-Heels. Ich ersparte mir den Fortgang der Verhandlung und zog mich in meine Wohnung zurück. Eine Weile hörte ich sie noch durch die Tür im Treppenhaus diskutieren. Vermutlich berieten sie sich über die nun erforderlichen Strategien zur Evaluation hausgemeinschaftlicher Verhältnisse.
Ich schob meinen kalt gewordenen Kaffee in die Mikrowelle und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch. Las das bisher Geschriebene und löschte freudlos alles, was ich am Morgen zustande gebracht hatte. Es war nicht viel. Ich kam nicht weiter. Im Schein des Bildschirms sah ich eine Motte fliegen. Ihr Anblick ließ meine Stimmung noch tiefer sinken. Wo die Viecher nisteten, wusste ich nicht, begegnete ihnen aber überall. Seit Tagen vergaß ich, Fallen zu kaufen und heute war Sonntag. Immerhin gelang es mir, die Motte zu schnappen, doch als ich ihr nachsah, wie sie zu Boden trudelte, entdeckte ich die Staubflusen unter meinem Schreibtisch. Auch die vermehrten sich ohne mein Wissen. Ich empfand ein Gefühl von Wehrlosigkeit. Mal wieder. Nahm ein Blatt Papier, schrieb mit Filzstift Mottenfallen darauf und klebte es an meine Haustür. Dann saugte ich die Staubflusen weg. Dieser blöde Satz vom Gedenken fiel mir ein. Waren die Motten also meine Zukunft?
Ich trug den Staubsauger zurück in die Küche und holte den Kaffee aus der Mikrowelle. Er schmeckte alt. Während ich trank, suchte ich an der Decke nach weiteren Zeichen des Niedergangs. Spinnweben gab es keine in den Ecken, aber eine Menge gelber Flecken. Vor fünfzehn Jahren hatte ich sie zuletzt gestrichen, als Maja bei mir einziehen wollte. Kurz vor ihrem Einzug hatten wir uns getrennt, und nun war ich mit Katja zusammen, die mir in den Ohren lag, ich solle mit meinem Vermieter über eine Renovierung reden. Die ganze Küche sei ein absolutes No-Go, ebenso wie das Badezimmer. Vorkriegszeit. Das Wort No-Go nervte mich jedes Mal, aber Katja war Lehrerin und sprachlich auf der Höhe der Zeit. Ich versuchte ihr wenigstens zu erklären, ich könne die alte Sitzbadewanne besser verkraften als eine Mieterhöhung, die eine Sanierung in jedem Fall zur Folge hätte. Ich dachte an meinen Auftritt von eben. Den sollte ich ihr lieber verschweigen. Zumindest meine Wortwahl würde sie entschieden missbilligen. Auch ein No-Go. Aber immerhin hatte ich mich zur Wehr gesetzt und getan, was ich gegenüber den Motten versäumte. Was aber, wenn das dumme Blag morgen wieder vor meiner Türe plärrte, während ich hier saß und meinen Kopf nach einem unauffindbaren Wort absuchte? Es könnte eine Endlosschleife werden.
Ich kippte den restlichen Kaffee in den Ausguss, verließ die Küche und zündete mir zum Trost eine Zigarette an. Vielleicht sollte ich tatsächlich das Haus verlassen. Zumindest für heute. Einen Gang durch die Nationalgalerie machen? Die Manet-Ausstellung, die dort lief, hatte ich zwar bereits zweimal besucht, doch in diesen Bildern war ich wenigstens zu Hause. Meine alte Jugendliebe. Auf dem Weg dorthin würde ich vielleicht über das richtige Wort stolpern und das blöde Kind, den Hipster und die Mottenplage vergessen. Ohnehin wollte ich mir noch einmal das große Bild „Weltausstellung von 1867“ ansehen. Mit meinem Freund Bernard hatte ich am Telefon darüber gesprochen. Außer Katja war er der einzige, dem ich von meiner wiederaufgenommenen Arbeit an der Übersetzung von Baudelaires Parisgedichten erzählte. Nach dreißig Jahren. Damals war ich bei der Bettlerin stecken geblieben, jetzt war ich immerhin beim Schwan. Mit Bernard waren wir bei Baudelaires Begriff von Melancholie gelandet und der Frage, ob der Wunsch, alte Vorhaben aufzuwärmen, vielleicht ein Zeichen dafür sei, dass man langsam in das Alter kam, in dem man akzeptierte, dass sich der Horizont nicht mehr wirklich weiten würde und sich daher lieber auf das konzentrierte, was sich noch in Reichweite befand. Oder das Versäumte. Bernard meinte, Manets Blick auf Paris sei eine Analogie zu Baudelaires Gefühl der Fremdheit. Les chers souvenirs plus lourds que des rocs. Genau mein Thema. Vielleicht würde ich vor dem Bild endlich den richtigen Ton entdecken. Den Klang, der meinen Worten fehlte. Meine Sätze waren so trocken, dass sie beim Lesen am Gaumen kleben blieben. Beim Fußweg durch den Tiergarten würde ich wenigstens längs des Wassers gehen. Passend zum Schwan. Und augenblicklich besaß ich ja noch eine kostenlose Jahreskarte für die Berliner Museen, dank meines Teilzeitjobs als sogenannter Integrationscoach für Geflüchtete. Außerdem war heute auch Wahltag. Ich drückte meine Zigarette in den Aschenbecher und kramte nach meinem Ausweis. Noch eine Entscheidung, die ich treffen müsste. Oder die ich versäumen könnte. Jahrelang hatte ich es per Briefwahl gemacht, den Wahlschein auf den Schreibtisch gelegt, bis ich irgendwann eine Eingebung hatte, doch diesmal hatte ich den Antrag vergessen. Und ausgerechnet jetzt war überall von einer Schicksalswahl die Rede, bei der es gelte, Flagge zu zeigen. Im Flur betrachtete ich mich kurz im Spiegel. Außer Nazis und Tierschützern hatte ich fast alles schon gewählt.
Ich würde mich unterwegs entscheiden.
Auch wenn es ziemlich nach Regen aussah, verzichtete ich darauf, einen Schirm mitzunehmen. Es war recht warm und ein paar Tropfen würden mich beleben. Im Treppenhaus herrschte jetzt völlige Stille. Im Flur neben der Haustür stand der Kinderwagen der Architektenfamilie mit einer Kette am Geländer befestigt. Es war das erste Mal, dass ich ihn mit einem Schloss versehen sah. Sollte ich das als Hinweis betrachten? Katja, fiel mir ein, bemerkte gerne, ich würde paranoide Tendenzen entwickeln und die Welt außerhalb meiner vier Wände zunehmend als potenzielles Feindesland betrachten. Völlig unrecht geben konnte ich ihr nicht, und vielleicht lag darin auch ein tieferer Grund meiner Beschäftigung mit Baudelaire. Bei ihm konnte ich unbehelligt reisen, mich auf eine Insel begeben, aus der mich niemand vertreiben konnte. Sie lag weit genug draußen, und ihre Landschaft und die Sprache ihrer Bewohner wurde durch niemanden verhunzt. Diese Worte waren zu lange gereist, um sich noch einsperren zu lassen. Ein Satz von Mallarmé fiel mir ein. Worte müssten stark genug sein, um den Ideen zu widerstehen.
Als ich die große Kreuzung von Alt-Moabit erreichte, sah ich auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen einen jungen Mann, die Hände als Flüstertüte um den Mund gelegt. Hinter ihm stand eine Phalanx von Wahlplakaten in XL-Format. Sie begann mit den Grünen und endete mit einem unwirklich blauen Berliner Himmel, auf dem der goldene Engel der Siegessäule und der Schriftzug der Berliner Bürgerbewegung die Erlösung von allem Übel versprach. Wir haben es satt zu schweigen. Genau vor ihm hatte sich der Mann platziert und rief Botschaften in Richtung der gegenüber liegenden Backsteinbauten der Justizvollzugsanstalt. Unter den Schwingen des Siegessäulenengels wirkte er auf mich wie ein Prediger, der etwas zu verkünden hatte. Womöglich nahm er die Parole der Bürgerbewegung ernst.
Ich blieb stehen und suchte die rötliche Fassade mit den Gitterfenstern ab. Im obersten Stock entdeckte ich eine Gestalt, deren Arme hinter den Eisenstäben gestikulierten. Die Bewegungen erinnerten an einen Flughafenlotsen, der eine Maschine in die Parkposition dirigierte. Unwillkürlich blickte ich nach oben, um zu sehen, ob etwas in der Luft unterwegs war. Eine Drohne? Dann sah ich ein paar Fenster weiter andere Arme, die ebenfalls irgendwelche Zeichen machten. Womöglich, dachte ich, spielte der Mann auf dem Grünstreifen den Übersetzer zwischen den beiden. Er bellte kurze, abgehackte Sätze, die ich nicht verstand. Sondierte er die Wahlempfehlungen der Insassen? Die Fassade belebte sich. Ein Fenster nach dem anderen wurde geöffnet, Rufe gingen hin und her. Es wirkte wie eine spontane Versammlung. Dann hörte ich, wie ein Fenster wuchtig zugeschlagen wurde. Der Mann auf dem Grünstreifen reckte wütend beide Fäuste und ich sah, dass der Lotse oben verschwunden war. Der Grünstreifenmann blickte böse zu mir hinüber, als sei mein Auftauchen schuld an der unterbrochenen Kommunikation. Dann hob er sein Bein wie ein Karatekämpfer, drehte sich um hundertachtzig Grad und trat mit voller Wucht in das Bürgerbewegungsplakat. Der Siegessäulengel erzitterte, unter ihm klaffte ein Loch. Arschloch, rief der Mann auf Deutsch, ließ jedoch offen, wem die Bezeichnung galt. Er riss einen großen Streifen aus dem Plakat, machte ein paar Schritte seitwärts und sprang in den benachbarten Reiter. Der Erfolg war derselbe. Er hielt inne, betrachtete zufrieden erst das Loch, dann nahm er seine Schuhsohle in Augenschein. Aus dem Bau antwortete ihm lautes Gejohle. Sichtlich ermutigt begab er sich zum Nächsten. Seine Bewegungen gewannen an Geschmeidigkeit, erinnerten an Jackie Chan. Plötzlich übertönte eine Polizeisirene den lautstarken Beifall aus dem Bau. Der Mann blickte sich um, trat noch schnell ein Loch in das letzte unversehrte Plakat und verschwand im Rücken der Wahlkampfmauer. Die Beamten parkten ihren blaulichtflackernden Wagen mitten auf der Fahrbahn. Sie ernteten ein Pfeifkonzert. Eine Polizistin, eine gut aussehende Blonde mit Pferdeschwanz, schritt recht gelassen die Plakatwand ab, während sie in ihr Handy sprach, sah kurz forschend zu mir hinüber und gab ihrem Kollegen ein Zeichen, das keinen besonderen Eifer verriet. Sie löschten das Blaulicht und fuhren weiter. Auch hinter den Mauern schien die Vorstellung beendet.
Auf dem Vorplatz der Nationalgalerie erwartete mich überraschende Leere. An einem Sonntag hatte ich mit einigem Betrieb gerechnet, doch ich sah nicht die Spur einer Warteschlange. Womöglich war die anstehende Wahlentscheidung den Leuten zu ernst, um hier schon zur Mittagszeit Zerstreuung zu suchen. Ich wurde sofort eingelassen. Sogar der Raum, in dem das Objekt der größten Neugierde und des wochenlangen Stadtgespräches hing, war nicht von Besuchern überfüllt. Die lasziv dahingegossene Victorine Meurant alias Olympia mit ihrem goldenen Armreif und der schwarzen Schleife um den Hals blickte kühl auf ihre Betrachter. Zu ihren Füßen die ebenfalls schwarze Katze und die negroide Dienerin, die in einem weißen Papier ein Blumenbouquet hielt.
Dass sie zur Hauptattraktion geworden war, verdankte sie den heftigen Debatten, die das Gemälde ausgelöst hatte, nachdem im letzten Winter ein Säureattentat im Musée d‘Orsay in Paris nur durch das couragierte Eingreifen eines Wächters vereitelt werden konnte. Der Wächter hatte es mit einer verätzten Hand bezahlt, wurde aber zur Kompensation vom Kulturminister zum Helden der Nation ernannt und mit der Ehrenlegion dekoriert. Zu der Tat hatte sich eine militante Feministinnen-Gruppe bekannt und gefordert, Schluss zu machen mit dem ungenierten Zeigen frauenverachtender, sexistischer und rassistischer Kunst. Ob dieses Vorfalls hatten die Franzosen mit der Ausleihe bis zuletzt gezögert, weil es auch hier Drohungen gab. Angeblich war die Freigabe erst nach einem Telefonat des Kanzlers mit der Staatspräsidentin und unter Zusicherung höchster Sicherheitsmaßnahmen erfolgt. Nun hing es da wie eingebunkert, die Kuratoren hatten sich alle Mühe gegeben, die Szene durch Kontextualisierungen jeglicher Art zu entschärfen. Ohnehin kam man nicht näher als eineinhalb Meter an das Bild heran. Ringsherum waren Texttafeln und Abbildungen über den Kampf gegen Prostitution und Rassismus und die Fragwürdigkeit von Akten jugendlicher Modelle. Ein Text von Zola, in dem dieser das Meisterwerk lobte und die Präsenz der schwarzen Frau und der Katze mit der farbkompositorischen Notwendigkeit dunkler Flecken im Bild erklärte, wurde als Beispiel struktureller, männlich dominierter Verworfenheit zitiert. „Dunkle Flecken“ stand in Majuskeln, damit niemand den Skandal missverstehen konnte. Daneben prangten als weiterer Beweis Sätze aus Baudelaire-Gedichten. Meine Gespielin war nackt und um mich zu reizen, trug sie ihren klingenden Schmuck. Eine andere holprige Übersetzung verwies auf das Gedicht „À une Malabraise“. Du bist hier, um die Pfeife deines Herrn zu entzünden und ihn zu erfrischen, mit Wasser und Düften, die Mücken von seiner Bettstatt zu verjagen, und wenn der Morgen in den Platanen singt, besorgst du auf dem Markt Ananas und Bananen. Als Gegentext diente eine Begriffserklärung zur Intersektionalität der Bekämpfung von Diskrimination, Rassismus und Kolonialismus. Zur historischen Einordnung des Bildes, aber im Kontext wohl eher zu Beruhigung, hing gegenüber eine Abbildung des Gemäldes von Tizian, das Manet als Vorbild genommen hatte. Die Venus von Urbino. Dort war die Welt jedenfalls noch in Ordnung. Das Mädchen hatte einen unschuldsvollen Blick, und zu seinen Füssen lag ein schlafender Hund.
Ich ging vorüber am Dejeuner sur l’herbe, das nahezu unbeachtet schien, in den Raum, in dem die Pariser Stadtlandschaften hingen. L’enterrement, Courses à Longchamp und die Exposition Universelle Paris 1867. Die Erwiderung Baudelaires auf Manets kokette Klage über den damaligen Skandal um seine Bilder, fiel mir ein. Er solle sich Wagner zum Vorbild nehmen, hatte Baudelaire geschrieben. Auch der sei an der Kritik nicht gestorben, und er, Manet, sei eben der Erste in der décrépitude seiner Kunst. Dieses Wort wurde meist mit Niedergang und Verfall übersetzt, mir kam eher der Gedanke an Enthüllung und abblätternden Putz. Baustellen, rieselnde Zeit, die schräg stehende Sonne, sandiges Licht. Für die Weltausstellung hatte Manet den Blick von einem Hügel auf der anderen Seine-Seite gewählt, auf dem die von der offiziellen Ausstellung Ausgeschlossenen ihren Privatsalon veranstalteten, mit dem freien Blick auf einen Horizont, der ihnen vertraut war, aber fremd zu werden drohte. In Gedanken mischte ich mich in die kleine Gesellschaft der auf dem Hügel versammelten Figuren, die sich gepflegt zu langweilen schienen, während vor ihren Augen ein Panorama entstand, in dem sie nicht mehr oder noch nicht vorkommen durften. Bernard hatte recht. Sie erinnerten an den Schwan von Baudelaire, der über das staubige Pflaster stolzierte und von einem kommenden Regen träumte. Die Sehnsucht der Vertriebenen, ihr Hoffen und ihr lächerlicher Stolz.
Vorbei an Kaiser Maximilian, den die Schützen nie trafen, und den Arbeitern, wo sie das Gegenteil taten, gelangte ich zu den Porträts. Neben Eva Gonzales hing Berthe Morisot. Der sinnlich-herausfordernde Blick und ihre turmartige Kopfbedeckung erinnerten mich immer an eine Freundin aus Schulzeiten, die sich ähnlich gekleidet hatte, Morisot verehrte und ebenfalls malte. Mit zwanzig waren wir zusammen nach Paris gereist. Wir waren in dieselben Dinge und auch ein wenig ineinander verliebt, später aber jeder auf seine Weise gescheitert. Sie war dreimal an der Kunstakademie abgelehnt worden und betrieb heute ein Strickwarengeschäft am Niederrhein. Vor fünf Jahren hatten wir das letzte Mal miteinander telefoniert. So wie ich in meinen Schubladen stöberte sie in alten Mappen.
Als ich die Ausstellung verließ und wieder auf dem Vorplatz stand, blendete mich das Tageslicht. Der Himmel war aufgerissen, Wolken trieben wie Schollen im Meer. In den Glasbauten des Potsdamer Platzes spiegelte sich die Sonne. Auch die Besucherschlange war nun da. Sie reichte bis weit über die Stufen. Zufrieden machte ich mich auf den Heimweg längs der Palisaden der Bauzäune, wo die ewigen Ankündigungen des kommenden Museums der Moderne nun mit den temporären Versprechen der Wahlkämpfer konkurrierten - die der Bürgerbewegung waren ausnahmslos mit Hakenkreuzen versehen worden, die der AfD hatte man merkwürdigerweise verschont. Ich erreichte die Esplanade vor der Philharmonie, deren gelbe Fassade, wie sie jetzt im Nachmittagslicht lag, eine zärtliche Zeitlosigkeit verbreitete. Wenn irgendein Bau dieser Stadt je ein großes Gemälde verdient hatte, war es dieser, dachte ich. Seine schwungvollen, ineinander geschachtelten und gefalteten Formen, ein Ozeandampfer aus der Entfernung, ein Papierflieger von nahem, ein Zirkuszelt oder ein Segelschiff; Feininger hätte ihn malen sollen, er war nur ein paar Jahre zu früh gestorben.
Im Tiergarten kam mir die Idee, ich könne statt am Schreibtisch hier im Freien weiterarbeiten. Ich dachte an eine versteckte Bank am Wasser, auf der ich mal mit Katja gesessen hatte. Mit ein wenig Glück würde sogar ein Schwan vorbeischwimmen, damals war jedenfalls einer gekommen. Plötzlich tauchte in meinen Erinnerungen Friedbert Lohschütz, meinen früheren Französischlehrer, auf. Bei ihm hatte ich Baudelaire zum ersten Mal gelesen, und vielleicht weil er neben Französisch Biologie unterrichtete, war er versessen gewesen auf die Betonung Baudelaires animalischer Allegorien. Wenn er eines der Gedichte rezitierte, unterstrich er es mit den entsprechenden Gesten und Mienen. Katze, Eule, Albatros, den auf staubverklebten Schwimmhäuten watschelnden Schwan, die Federn im Dreck und den Schnabel zum Himmel gereckt. Alle hielten Lohschütz für schwul, was er vermutlich wirklich war, nur zu seinem Unglück durfte man es damals noch nicht offen sagen. Irgendjemand hatte ihm den Spitznamen Frieda verpasst.
Wie als Gruß von ihm fand ich die gesuchte Bank von einem knutschenden Männerpaar besetzt. Der eine blickte mich über die Schulter des anderen mit hochgezogenen Augenbrauen an. Pech gehabt, Alter, schien er zu sagen. Frustriert ging ich weiter. Die Bänke längs der Wege waren ebenfalls belegt und die Wiesen waren voller Leute. Alle wirkten sehr zufrieden. Im Gegensatz zu mir hatten sie ihre Wahl vermutlich bereits getroffen, Flagge gezeigt und genossen nun die Sonne.
Ich ging weiter in Richtung Spree. Statt im Sitzen versuchte ich im Gehen zu arbeiten, murmelte die Sätze vor mich her. Paris change! Mais rien dans ma mélancolie/ n’a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs/ vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie/ et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. Ich betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Sauber angeordnete Türme und Quader, die in den vergangenen Jahren aus dem Boden gewachsen waren. Schwarz-grau-weiße Rechtecke und Quadrate mit den üblichen bodentiefen Fenstern und glasumrandeten Balkonen. Bauten, die sich einzig durch die jeweilige Höhe und Breite unterschieden. Wie ging sie noch, die Baudelaire-Übersetzung von Stefan George? Paris wird anders, doch meine Betrübnis zu mildern vermag keine Änderung, Gerüst und neuer Palast. Plötzlich hörte ich ein lautes Quaken und Flattern. Ein Mann stand mit einem kleinen Jungen an der Uferbrüstung. Das Kind griff in eine Plastiktüte und warf eine Hand voll Brotkrumen ins Wasser. Im nächsten Moment sah ich tatsächlich drei Schwäne sich ihren Weg durch einen Entenpulk bahnen. Majestätisch. Der Junge stieß einen Begeisterungsschrei aus, und ich stand ihm in meiner Freude kaum nach. Fehlten nur noch die Witwe Andromache und ein paar Heimatvertriebene, die von verlorenen Horizonten träumten, die schöne Schwarze und die vergessenen Schiffer, meine Gedichtbesetzung wäre komplett.
Erst an meiner Haustür wurde ich aus meiner Bilderwelt gerissen. Der Kinderwagen stand nicht mehr da. Statt ihm hing ein Blatt Papier mit einem fett gedruckten Text an der Wand über dem Geländer. „An unsere lieben Mitbewohner! Zu unserer Bestürzung mussten wir heute um 12 Uhr 30 feststellen, dass unser Kinderwagen mutwillig verunreinigt wurde. Es befanden sich dort Spuren einer übel riechenden Flüssigkeit. Wir haben zwar bereits einen begründeten Verdacht, was den Verursacher betrifft, möchten Sie aber um Mithilfe bei der Aufklärung bitten. Wir denken, es ist im Interesse aller Bewohner und eines friedlichen Zusammenlebens solche Vorkommnisse zu verhindern und ggf. anzuzeigen. Herzlichen Dank. Yvonne, Jonathan und Sourya.“
Es war die Architektenfamilie.
Die Wahl wurde ohne mein Zutun entschieden, ich verließ das Haus an diesem Nachmittag nicht mehr. Kurz war ich versucht gewesen, eine ironische Erwiderung über übel riechende Flüssigkeiten zu verfassen und neben den Aushang zu kleben, doch die Vorstellung dabei einem meiner Nachbarn zu begegnen, brachte mich schnell von diesem Vorhaben ab. Ich hatte mich genug exponiert. Außerdem war ja nicht ausgeschlossen, dass es wirklich einen Täter gab. Möglicherweise die Frau aus dem Hinterhaus, die zwei widerliche Bulldoggen besaß, denen sie immer ähnlicher wurde. Ihr wäre es zuzutrauen, aber für die Architektenfamilie und den Hipster war jetzt natürlich ich im Visier. Der Kinderfeind aus dem dritten Stock. Seit achtzehn Jahren wohnte ich hier, und außer mit einem früheren Nachbarn, dessen Hund mich oftmals mit Winsel- und Bellkonzerten tyrannisierte, hatte ich bisher mit niemandem im Streit gelegen. Allerdings war ich, bis auf die beiden Parteien im Hochparterre, mittlerweile der einzige Mieter im Haus. Eine Altlast gewissermaßen. Frau Werner, die links wohnte, hatte mir vor Monaten erklärt, man werde sie nur tot aus dem Haus tragen können, und Herr Rinke rechts dachte vermutlich ähnlich wie sie. Er war ein paar Jahre älter als ich, zur Zeit meines Einzugs verdiente er sein Geld mit der Organisation von Ü-Vierzig Partys, später hatte er Ü-Fünfzig gemacht. Mit Corona war er wohl in Rente gegangen. Oder auch bankrott. Über einen freundlichen Gruß waren wir nie hinausgekommen, anders als mit Frau Werner, mit der ich mich gerne unterhielt. Sie nahm manchmal Post für mich an. „Sie haben wieder Bücher bekommen, wie machen Sie das bloß, um das alles zu lesen.“ Der Gedanke führte mich zurück zu Friedbert Lohschütz. Vorausgesetzt, er lebte noch, musste er in etwa so alt sein wie sie. Sein Gesicht stand mir jetzt lebhaft vor Augen. Die hohe Stirn, freigelegt von einer beginnenden Glatze, die eindringlichen Augen. Vor allem aber die scharfen Falten, die sich von der Nasenwurzel herabzogen und mit seinem Mund ein Dreieck formten. Die sinnlichen Lippen. Ich zog einen Band mit Fotos von Etienne Carjat aus meinem Regal und fand sofort das Bild, an das ich dachte. Es war von 1861. Baudelaire war damals gerade vierzig gewesen, Lohschütz war seinerzeit vielleicht ein paar Jahre älter. Die Ähnlichkeit sprang ins Auge. Baudelaire trug auf dem Foto einen weiten langen Mantel, wie auch Lohschütz ihn gerne trug. Genauso wie die aus einem Seidentuch gebundene Kragenschleife. Meistens weinrot. Er musste wirklich ein leidenschaftlicher Leser gewesen sein. Aber warum begriff ich erst jetzt diese Verbindung? Noch dazu hatte Lohschütz es gewagt, sich mit dieser bis in sein Äußeres getragenen Leidenschaft vor eine Klasse von pubertären Schülern zu stellen. Vielleicht sogar in der Hoffnung, diese Leidenschaft weiterzugeben. Gemocht wurde er nur von wenigen, eher den Mädchen, die weniger verklemmt waren als die Jungs, die sich vor einem Lateinlehrer mit Krawatte sicherer fühlten. Eine leise Traurigkeit beschlich mich, als sei ich mitschuld an einem Unglück. Ich setzte mich an meinen Computer und tippte seinen Namen ein. Vielleicht gab es ihn noch. Eine Szene tauchte mir vor Augen auf. Die Pausenhalle meines alten Gymnasiums. In der Mitte die breite Treppe. Lohschütz war gestolpert und mehre Stufen runtergerutscht. Als er aufstand und sich den Rücken hielt, rief jemand, den ich kannte „Heul doch, Frieda“. Lohschütz hatte den Kopf in Richtung des Rufers gewendet und sich die Hand hinters Ohr gehalten. War auf dem Treppenabsatz stehen geblieben, wenigstens zehn Sekunden lang und hatte einfach nach unten geschaut. Niemand hatte ein weiteres Wort gewagt, und Lohschütz hatte mit den Achseln gezuckt und war einfach weitergegangen. Ich scrollte über den gleichnamigen Schriftsteller ohne H, der die ersten drei Seiten einnahm, hinweg, fand einen Wolfram, der Violine spielte aber keine Spur von Friedbert. Ich ging weiter bis auf Seite zehn, dann versuchte ich es mit dem Telefonregister. Doch auch dort gab es nur einen Günter, einen Helmut. Keine Spur, die mich weiterbrachte. Mir blieb also nur das Bild von Baudelaire. Und meine Übersetzung. Ich sollte sie ihm widmen, dachte ich, aber wahrscheinlich war er ein viel besserer Leser als ich gewesen. Und im Gegensatz zu mir hatte er sich nicht versteckt.
Als vor meinem Fenster die Dämmerung begann, hatte ich den letzten Satz des Schwans beendet und feierte ihn mit der Öffnung einer Flasche Wein.
Ich denke an die vergessenen Schiffer auf der Insel, die Gescheiterten, die Gefangenen! …all die anderen noch!
Das Telefon unterbrach mich in meiner Lektüre. Es war Bernard.
„Hast du es schon gesehen?“, fragte er.
„Ich habe gearbeitet.“
„Dann mach mal den Fernseher an.“
„Lohnt es sich denn?“
Ich blickte zur Uhr, es war kurz nach sieben. Auf einem Balkon auf der anderen Straßenseite erschienen ein paar johlende Leute. Ich stellte mein Weinglas ab und griff zur Fernbedienung. Im Bild waren vier Frauen und drei Männer. Die bekannten Gesichter. Das Hauptstadtstudio. Ernste Mienen, feierlich betrübt.
„Siehst du ihn?“
„Ich sehe nur eine Trauergemeinde.“
„Dann schalt mal rüber auf BeNews.“
Tatsächlich war das Bild ein anderes. Ausgelassenes Siegerglück.
„Fast vierunddreißig Prozent“, rief Bernard. „Du wirst sehen, er wird es schaffen.“
Eine Bühne erstrahlte in azurblauem Licht. In einem Halbrund saßen sechs fröhliche Menschen, in der Mitte stand ein Pult. Dahinter frohlockte der Siegessäulenengel und als warte er nur darauf abzuheben, stand zwischen seinen Schwingen der Mann des Tages.
„Das ist ein großer Tag“, rief er in das Mikrofon. „Ein großer Tag für uns, für Berlin und alle Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Stimme mehr als ein Zeichen setzen wollen. Gemeinsam haben wir heute bewiesen, dass wir uns dem Niedergang widersetzen können, wenn wir den Mut haben, uns aus der Umklammerung durch das alte Machterhaltungskartell zu befreien. Zusammen haben wir es geschafft, zusammen sind wir frei und sind wir stark. Wir haben die Mauer des Schweigens eingerissen, und wir sind zur Verantwortung bereit.“
Frenetischer Jubel brandete auf. Die Kamera schwenkte ins Publikum. In Reihe eins erhob sich eine dunkelhaarige Schönheit in einem hautengen, smaragdgrünen Designerkleid. In kurzen, federnden Schritten stöckelte sie auf die Bühne, in der Hand einen riesigen Blumenstrauß. Der Sieger ergriff ihn, reckte ihn in die Höhe und erfasste mit der Rechten die Hand der Frau. Boris von Breest und seine Frau Sarah, geborene Cohen, verschmolzen im Licht zu einem Triumphbogen. Das Auditorium brüllte, trampelte mit den Füßen, Blitze hagelten auf das Paar, ihn, den King, einen Zweimetermann. Im Gesicht die geballte Entschlossenheit. Kantiges Entscheiderkinn, aristokratische Wangenknochen, eine hohe Stirn, gekrönt von einer in der Emotion etwas zerzausten Silbertolle. Es wirkte wie eine Begegnung aus Hollywood. Mediterrane Schönheit trifft nordischen Adel. Sie erreichte mit dem Kopf nur knapp seine Schulter, doch die Intensität ihrer dunklen Mandelaugen und die herausfordernde Natürlichkeit ihres Lächelns verbreiteten das Flair einer Oscar-Verleihung. Zusammen bildeten sie ein Märchenpaar. Passend zur Bühne eines früheren Kinosaals mit Platz für über tausend Leute. Das heutige Studio 101 des Senders B-News. Er hatte dieses Märchen produziert. Und wie es aussah, war die Stadt bereit, seiner Inszenierung den Hauptpreis zu verleihen.
Begonnen hatte es vor etwas mehr als drei Jahren. An einem Sommertag auf einer winzigen, der bretonischen Küste vorgelagerten Insel, die sich im Privatbesitz eines französischen Milliardärs befand. Mit Blick auf die malerische Felsenküste und die rauen Wellen des Atlantiks suchten der Milliardär und seine Familie gerne Erholung von den Alltagsgeschäften, sannen neuen Ideen nach und empfingen die dazu passenden Gäste. Die Familie hatte ihr Vermögen ursprünglich in der Verpackungsindustrie und im Transportwesen gemacht. Doch wie viele Unternehmerdynastien hatte sie anfangs der zweitausender Jahre beschlossen, die ihr zur Verfügung stehenden Liquiditäten für eine Diversifizierung ihrer Aktivitäten zu nutzen. Sie hatte sich für den Kommunikationssektor entschieden, der sich damals im Umbruch befand und dessen Potenzial umso verlockender war. Binnen weniger Jahre gelang es ihr, ein Gutteil der französischen Medienlandschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Zeitungen, Verlage ebenso wie Radiostationen und Fernsehsender. Der Milliardär verfuhr dabei nach einem Prinzip, das zur familiären Tradition gehörte. Renitente Konkurrenten kaufte man auf oder brachte sie zur Strecke. Missliebigen Elementen machte er das Leben schwer, bis sie von sich aus kapitulierten und eine Intensivbehandlung akzeptierten. Sonst wurden sie durch Leute ersetzt, denen man vertrauen konnte, dass sie in die neue Ordnung passten.
Im Fernsehsegment hatte er sich auf den in Frankreich sehr erfolgreichen Sektor der News-Show spezialisiert. Eine Mischung aus Nachrichtensendung, Talk und Entertainment, bunt, aber fein strukturiert, um den Zuschauern ein ansprechendes und leicht verdauliches Menü zu servieren, mundgerecht mit appetitanregenden, herzhaften Ingredienzen, ganz nach seinem Gusto portioniert. Das Publikum hatte ihn für das Rezept mit beträchtlich wachsenden Einschaltquoten belohnt. Da er es aber - ebenfalls aus familiärer Tradition - gewohnt war, international zu denken, wurde es ihm in Frankreich bald zu eng. Im vergangenen Jahrhundert war das Unternehmen in seinen Kernbereichen Transport, Logistik, Papier und Verpackung im gesamten Kolonialreich aktiv gewesen. Daher entsprach es nahezu einer genetischen Veranlagung, wenn er seine Fühler auch in dem neuen Unternehmenssegment nach entwicklungsfähigen Märkten ausstreckte. Deutschland war schnell in den Fokus geraten, denn der News-Bereich im Fernsehen galt hier als besonders verschnarcht. Da er dieses Land mit seinen Eigenheiten aber wenig kannte, benötigte er einen geeigneten Partner. Einen, mit dem er, darauf legte er großen Wert, gewisse grundlegende Vorstellungen teilte. Ob seiner vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Kontakte - seit Jahrzehnten ging er bei den Präsidenten ein und aus - fiel ihm die Suche nicht sonderlich schwer. An einem sonnigen Augusttag empfing er schließlich eine deutsche Millionärin zu einem intensiven, vertrauensvollen Gespräch im großen Salon seines Inselanwesens. Ein Hausfotograf schoss ein Bild von diesem Treffen. Wichtig war der Hintergrund. Die Ahnengalerie des Milliardärs und in deren Mitte ein Bronzeschild mit dem eingravierten Leitspruch der Familie: A genoux devant Dieu, debout devant les hommes. Vor Gott in die Knie, standfest vor den Menschen. Ein solideres Fundament für ihr gemeinsames Programm konnte es nicht geben. Es war einfach, aber klar gestrickt und für beide außerdem historisch. Eine Mission. Das Abendland musste gerettet werden, bevor es vor Muslimen, Öko-Ayatollahs und Gender-Apologeten schmachvoll in die Knie ging,