Der Angst ein Lächeln schenken - Chögyam Trungpa - E-Book

Der Angst ein Lächeln schenken E-Book

Chögyam Trungpa

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Beschreibung

Ihr Herz zu öffnen, ist die einzige Möglichkeit, entspannt bei sich zu sein. So erhalten Sie die Chance zu sehen, wer Sie sind. Jeder Mensch erlebt Angst, sie ist Bestandteil unseres Daseins. Wie aber gehen wir am besten mit ihr um? Wie können wir sie produktiv nutzen? Wer sich nur von ihr ablenkt, vor ihr in Deckung geht, sie verdrängt und sich vor ihr verkriecht, wird ihr niemals wirklich begegnen. Im Gegenteil. Von der Angst können wir uns nur befreien, indem wir uns öffnen, sie an uns heranlassen und sie willkommen heißen, uns mit ihr anfreunden: ihr ein Lächeln schenken. Aber nicht irgendwann, sondern jetzt. Den Mut und die Stärke, die wir benötigen, um offen auf unsere Mitmenschen zuzugehen, kann nur entwickeln, wer die eigene Verletzlichkeit anerkennt. Ohne von Grund auf zu erfassen, was Angst ist, werden wir niemals furchtlos sein.

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Titel der Originalausgabe Smile At Fear

Erschienen bei Shambhala Publications, Inc.

4720 Walnut Street #106, Boulder, CO 80301 U.S.A.

© 1991 by Diana Mukpo

Aus dem Englischen übertragen von Michael Wallossek

Der Verlag dankt Barbara Märtens für die Durchsicht der Übersetzung im Sinne des Vermächtnisses von Chögyam Trungpa und des Copyrightinhabers.

Vollständige EBookausgabe der im Windpferd Verlag erschienenen Erstausgabe

1. Taschenbuchausgabe 2016

© 2009 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Covergestaltung: KplusH Agentur für Kommunikation und Design, CH Amden

Covermotiv: Gerhard Poschung

ISBN 978-3-86410-214-1

www.windpferd.de

Inhalt

Vorwort

Einführung der Herausgeberin

Teil eins

Der Weg des Kriegers

1 Mit sich selbst konfrontiert

2 Meditation: in Berührung kommen und weitergehen

3 Der Mond in Ihrem Herzen

4 Die Sonne in Ihrem Kopf

5 Von unzerstörbarer Natur

6 Heilige Welt

7 Die Erziehung zum Krieger

8 Gewaltlosigkeit

Teil zwei

Der Weg der Furchtlosigkeit

9 Den Zweifel überwinden

10 Was uns hilft, mutig zu sein

11 Unbedingte Furchtlosigkeit

12 Himmel und Erde vereinen

13 Mit der Angst Freundschaft schließen

14 Monumentale Nichtexistenz

Teil drei

Auf der Windpferdenergie reiten

15 Unbedingte Zuversicht

16 Windpferd entdecken

17 Der Funke der Zuversicht

18 Die andere Seite der Angst

19 Unbesiegbarkeit

20 Windpferd wachrufen

Resümee

Nachwort der Herausgeberin

Dank

Quellen

Lektürevorschläge und andere Anknüpfungspunkte

Über Chögyam Trungpa

Anmerkungen

Wenn Ihnen etwas Angst einjagt, sollten Sie sich mit der Angst befassen. Sie sollten untersuchen, warum Sie verängstigt sind, und zu einer Art innerer Gewissheit gelangen. Sie können sich die Angst tatsächlich anschauen. Dann verharren Sie nicht länger in einer von Angst bestimmten Situation, die Sie fertig macht. Die Angst kann besiegt werden. Sie können frei sein von Angst, sofern Sie sich klar machen, dass die Angst kein Menschen fressendes Monster ist. Sie können im Angesicht der Angst bestehen und furchtlos werden. Freilich setzt dies voraus, dass Sie beim Anblick der Angst ein Lächeln für sie übrig haben.

Chögyam Trungpa, Große Östliche Sonne*

* siehe auch „Quellen“

Vorwort

Vertiefe ich mich in die Unterweisungen Chögyam Trungpas, dann kommt es mir so vor, als tauchte ich in einen Brunnen ein, aus dem sich unaufhörlich Weisheit schöpfen lässt. Seit über dreißig Jahren kehre ich nun immer wieder an diese Quelle zurück. Und jedes Mal aufs Neue stelle ich fest, dass sie etwas enthält, das mich inspiriert, vor eine Herausforderung stellt oder auf meinem Weg voranbringt. Angesichts der großen Probleme, mit denen unsere Gesellschaft und jede/r Einzelne von uns heutzutage fertig werden müssen, gilt erst recht: Trungpa Rinpoches Unterweisungen sind da – sie sind da, um uns weiterzuhelfen.

Wie aber kann es sein, dass die Worte von jemandem, der vor über zwei Jahrzehnten dahingeschieden ist, so erstaunlich frisch anmuten, hochaktuell sind und diejenigen Fragen betreffen, mit denen die heutige Zeit uns konfrontiert? Gar so verwunderlich ist das im Grunde nicht. Denn Rinpoche ist stets auf das eingegangen, was gerade im Raum stand, sich im gegebenen Augenblick abspielte. Und diese Art von unmittelbarer, spontaner Unterweisung bleibt allzeit aktuell und modern.

Darüber hinaus wusste er anscheinend auch, vor welchen Problemen wir in diesem Jahrtausend stehen würden. In uns und um uns herum herrscht allenthalben eine unwahrscheinlich große Beschleunigung, so viel Ängstlichkeit und Besorgnis. Und genau darauf spricht er uns an. Wir können versuchen, in Deckung zu gehen, uns zu verkriechen. Doch tief im Innern wissen wir, dass wir in Wahrheit gar keine andere Wahl haben, als die Ungewissheit und Unsicherheit der heutigen Zeit an uns heranzulassen, sie willkommen zu heißen und uns mit ihr anzufreunden. Dies gilt es jetzt zu tun. Das ist unbedingt notwendig. Denn Zeit zu vergeuden, das können wir uns hierbei nicht erlauben.

Wie Chögyam Trungpa uns wachrüttelt, ist provokativ, aufrichtig, und es bereitet große Freude. Ich finde, seine Shambhala-Unterweisungen, die das Kernstück dieses Buches ausmachen, versetzen uns in die Lage, uns von ganzem Herzen zu öffnen und genügend echten Wagemut zu entwickeln, um offen auf unsere Mitmenschen zugehen zu können. Dem liegt zugrunde, dass wir zwar verletzlich, aber dennoch stark sind. Im Nichtangreifen, in Nichtaggression, dem ruhigen Verweilen in innerem Frieden, liegt enorme Stärke. Genau das versteht Rinpoche unter einem Shambhala-Krieger. Danach strebt, glaube ich, jeder von uns. Nehmen wir doch seine Einladung an, in aller Aufrichtigkeit den Blick nach innen zu richten, damit wir furchtlose, freundliche Menschen sein können.

Pema Chödrön

Einführung der Herausgeberin

Dieses Buch handelt von all der Angst, die wir haben: angefangen mit vorübergehender Besorgnis oder Panik bis hin zu den größten Schrecknissen, mit denen wir im Umfeld von Leben und Tod möglicherweise konfrontiert werden. Darüber hinaus geht es um die elementaren Quellen einer uns alle betreffenden Angst und Besorgnis. Der Autor bietet praktische Ratschläge, jedoch keine Schnellschuss-„Lösungen“. Er möchte uns dabei helfen, unser Leben und unsere Wahrnehmung von Grund auf zu wandeln – in der Weise, dass wir die Angst überwinden können, statt sie lediglich eine Zeit lang zu verdrängen. Wollen wir uns von unserer Angst wahrhaft befreien, wollen wir wirklich furchtlos werden, dann dürfen wir, so legt er uns nahe, nicht länger vor ihr davonlaufen. Vielmehr sollten wir Freundschaft mit ihr schließen, wir sollten lernen, ihr ein Lächeln zu schenken. Darauf kommt es, wenn wir die Angst wirklich überwinden wollen, ganz entscheidend an.

Während ich dieses Vorwort schreibe, befinden wir uns gerade inmitten einer dramatischen Wirtschaftskrise. Und die von ihr ausgelösten Schockwellen rufen Erschütterungen hervor, in deren Gefolge sich weltweit Angst und Besorgnis breit machen. Daher könnte man meinen, für ein Buch, das der Frage nach einem produktiven Umgang mit der Angst auf den Grund geht, handele es sich nun um einen besonders gut geeigneten Zeitpunkt. Aber mit Blick auf die menschlichen Daseinsbedingungen und das nicht enden wollende Chaos in der Welt erweist sich wahrscheinlich jeder Zeitpunkt als ein guter Zeitpunkt, die Thematik von Angst und Furchtlosigkeit einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen.

Chögyam Trungpa, einer der größten buddhistischen Lehrer des 20. Jahrhunderts, verstarb im Jahr 1987. Dessen ungeachtet wirken diese Unterweisungen, die sich mit der Geisteshaltung und Lebensführung eines spirituellen Kriegers wie auch mit dem dazu notwendigen Wagemut befassen, als seien sie genau für den jetzigen Zeitpunkt geschrieben worden. Trungpa Rinpoche (der Titel Rinpoche bezeichnet einen verwirklichten Lehrer und bedeutet „Kostbarer“) hat gespürt, dass der Westen, und in der Folge zwangsläufig die ganze Welt, im 21. Jahrhundert mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde. Zu seinen Schülern hat er über diese potenziellen Nöte und Härten mit einer Mischung aus Zuversicht und Realismus gesprochen. Die Menschheit würde mit dem, was auf sie zukäme, gut zurechtkommen können. Dessen war er gewiss. Nicht minder groß war allerdings seine Gewissheit, dass wir dabei vor kapitalen Herausforderungen stehen werden. Persönlich habe ich an einigen ernüchternden Gesprächen mit ihm teilgenommen, bei denen es um die wirtschaftliche und politische Zukunft Nordamerikas und anderer Teile der Welt ging.

Rinpoche war eine menschliche Verkörperung der Furchtlosigkeit und des Mitgefühls. Im Jahr 1950 sind Chinas Kommunisten in seine tibetische Heimat einmarschiert. Und 1959 war er – in dem Wissen, dass man ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte – gezwungen, aus dem Land seiner Geburt zu flüchten. Von einem entlegenen Teil Osttibets aus trat er zu Fuß den Weg in Richtung Indien an, um dort Zuflucht zu suchen. Unter seiner Führung brach damals zugleich eine dreihundert Tibeter zählende Gruppe zu dieser letztlich mehr als zehn Monate dauernden Reise auf. Da braucht man wohl kaum noch zu erwähnen, dass alle Beteiligten mit extremen Herausforderungen konfrontiert worden sind und in reichem Maß Gelegenheit hatten, sich der eigenen Angst zu stellen.

Im Verlauf der letzten Reisemonate wurden die meisten Mitglieder der Gruppe bei der Überquerung des Brahmaputra in Südtibet von chinesischen Rotarmisten gefangen genommen. Kaum mehr als 50 von ihnen gelang es, den ganzen Weg bis nach Indien zurückzulegen. Während der gesamten Reise stützte Chögyam Trungpa sich auf meditative Einsicht: Sie bildete die Grundlage für seine Stärke und seinen Mut; und er wurde nicht müde, den übrigen Mitgliedern der Reisegruppe anzuraten, ebenfalls auf diese Weise mit den Situationen umzugehen.

Betrüblicherweise hat er, nachdem ihm die Flucht aus Tibet gelungen war, weder seine Mutter noch ein anderes Mitglied seiner Familie jemals wiedergesehen. Nichtsdestoweniger brachte er Jahre später großes Mitgefühl für Mao Zedong zum Ausdruck, der als Revolutionsführer den Einmarsch nach Tibet angeordnet hatte. Diejenigen buddhistischen Lehren, auf denen solch eine sanftmütige Beherztheit beruht, legt er in diesem Buch dar.

Jede/r von uns kann solch einen Mut jetzt in sich selbst zum Leben erwecken. Was uns in Angst und Schrecken versetzt, unterliegt weder von einem Jahrzehnt zum anderen noch von Mensch zu Mensch sonderlich großen Schwankungen und Veränderungen. Die Grundangst, mit der wir immer zu arbeiten haben, besteht in der Angst, uns selbst zu verlieren. Sobald die Ich-Festung sich bedroht sieht, bildet die Angst unser wohl stärkstes Abwehrbollwerk. Diese Angst abzubauen zählt zu den größten Geschenken, die wir uns selbst wie auch unseren Mitmenschen machen können.

Mit dem Bild des Kriegers veranschaulicht Chögyam Trungpa im vorliegenden Buch, welche Haltung wir einnehmen können, um Furchtlosigkeit und Beherztheit zum integralen Bestandteil unserer spirituellen Praxis und unseres Daseins zu machen. Damit die moderne Spiritualität den Erfordernissen dieser Zeit gerecht werden könnte, das war für Rinpoche klar, würden das Säkulare und das Religiöse in ihr eine vollständigere und umfassendere Verbindung eingehen müssen. Das hier Verwendung findende Bild von Shambhala, einem mythischen Land, dessen erleuchtete Bewohner von wohlwollenden Monarchen regiert werden, bringt diese Verbindung adäquat zum Ausdruck. Shambhala symbolisiert das Bestreben, eine gute Gesellschaft aufzubauen. Zugleich wird so unterstrichen, wie sehr es darauf ankommt, dass wir uns im Alltag voll und ganz auf unser Leben einlassen. Indem Trungpa Rinpoche über die Kraft der Shambhala-Welt spricht, verweist er etwa auch darauf, dass unsere Arbeit mit den weltlichen, den gewöhnlichen Aspekten des Lebens eine transzendente Dimension haben kann. Der Welt, so wie sie ist – das führt er uns auf diese Weise vor Augen –, wohnen Würde und Schönheit inne.

Chögyam Trungpa spricht verschiedene Ebenen an, auf denen es für uns ansteht, mit der Angst zu arbeiten. Unter anderem thematisiert er, wie wir extre­me Situationen angehen können: beispielsweise die Auseinandersetzung nicht nur mit einem Hindernis im eigenen Geist, sondern mit einem realen Widersacher. Die Zeiten, in denen wir heute leben, verlangen offenbar nach jener Art von echtem Mumm, von couragiertem Mut, wie er ihn verkörpert hat. Da er hatte lernen müssen, besonders schwierige Lebenssituationen zu verarbeiten, wusste er um die echten Herausforderungen im Leben. Ohne Scheu nimmt er hier in diesem Buch auch zu solchen Situationen Stellung. Ebenso spricht er davon, dass jeder Augenblick für uns die Gelegenheit sein kann, tieferes Vertrauen in uns wachzurufen, indem wir das Heilige im Alltag erblicken. Dadurch erhalten wir zugleich ein wirksames Gegenmittel gegen Angst und Besorgnis.

Trungpa Rinpoche lehnt Aggression als Strategie zur Überwindung von Hindernissen beharrlich ab. Das ist ein wesentliches Kennzeichen seines Ansatzes. Die Tapferkeit des Shambhala-Kriegers – jenes Praktizierenden, der sich ohne Anmaßung und Aggression voll und ganz auf das Leben einlassen will – entspringt einem in seine innerste Tiefe reichenden kraftvollen Quell der Freundlichkeit. Was könnte uns leichter fallen, als mit Wut zu reagieren, wenn wir uns einer Bedrohung ausgesetzt sehen? Werden wir geschlagen, regt sich in uns der Impuls zurückzuschlagen. Rinpoche führt uns Alternativen dazu vor Augen, die wirkungsvoll, jedoch niemals destruktiv sind. Solch eine Weisheit benötigen wir.

Trungpa Rinpoches Unterweisungen sind nicht nur schonungslos, sondern ebenso sehr von Herzenswärme durchdrungen. Sie unterstreichen unsere Verbundenheit mit dem innersten Herzen, dem Wesenskern der buddhistischen Lehren: dem Herz des Buddha wie auch dem Herz von Shambhala, so könnte man sagen. Der Liebe wohnt, wie wir alle wissen, ungeheure Kraft inne. Aus der Verbindung zu einem empfindsamen Herzen und zu Traurigkeit, so beschreibt es Chögyam Trungpa, erwächst jene Energie, die zur treibenden Kraft für die Entwicklung wahrer menschlicher Tapferkeit oder wahrhafter Kriegerschaft wird – ein Thema, auf das er ein ums andere Mal zu sprechen kommt. Auf dem Weg des Kriegers Sanftheit und Entschlossenheit miteinander zu vereinen stellt ein weiteres entscheidendes Element dar. Der Schlüssel zur Aktivierung solch eines Potenzials liegt in der meditativen Disziplin. Den Ratschlag erteilt er uns immer wieder.

Letztlich geht es im vorliegenden Buch darum, wie man natürlich und unverfälscht, wie man voll und ganz Mensch ist. Bringen wir die Bereitschaft auf, verletzlich zu sein, dann merken wir, dass diese Verletzlichkeit uns unüberwindlich macht. Da wir nichts zu verlieren haben, können wir keine Niederlage erleiden. Da wir nichts zu fürchten haben, können wir nicht bezwungen werden.

Möge diese Reise durch das Territorium von Angst und Furchtlosigkeit Ihnen Freude bereiten. Möge sie zu wahrhafter Tapferkeit führen. Möge sie das Lächeln des Furchtlosen auf Ihr Gesicht zaubern. Möge sie dazu beitragen, dass in aller Welt Frieden und allgemeines Wohlergehen Einkehr halten.

Carolyn Rose Gimian

Halifax, Neuschottland (Nova Scotia)

Teil eins

Der Weg des Kriegers

Wollen Sie ein Krieger werden und sich ansehen, wer Sie wirklich sind, kommt es darauf an, aufrichtig zu sein, ohne sich selbst zu verurteilen. Bei solch einer Selbstbetrachtung werden Sie möglicherweise feststellen, dass Sie ein unartiger Junge oder ein ungezogenes Mädchen gewesen sind. Unter Umständen wird Ihnen dann ganz entsetzlich zumute sein. Vielleicht werden Sie den Eindruck haben, Ihr Dasein sei erbärmlich, in einem heillosen Zustand, durch und durch rabenschwarz, die reinste Hölle. Womöglich erblicken Sie in und an sich selbst allerdings auch mancherlei Gutes. Jedenfalls geht es hier einzig und allein darum, sich den Tatsachen zu stellen. Aufrichtigkeit spielt eine entscheidende Rolle. Sehen Sie einfach die schlichte, ungeschminkte und ungeschönte Wahrheit in Bezug auf sich selbst. Fangen Sie an, ehrlich zu sich zu sein, dann entwickeln Sie den nötigen Mumm, den man braucht, um unverbrüchlich zur Wahrheit zu stehen. Das heißt jedoch keineswegs, dass Sie sich selbst niedermachen sollen. Finden Sie lediglich heraus, was da ist. Sehen Sie es sich einfach an, und halten Sie dann inne! Betrachten Sie sich also erst einmal, aber verurteilen und verdammen Sie sich nicht. Seien Sie sachlich. Seien Sie nüchtern, sachlich und präsent. Darauf kommt es an. Sehen Sie schlicht und einfach hin. Und sobald Sie dann die Situation in größtmöglicher Vollständigkeit erblicken, hat Ihr Dasein als Krieger begonnen.

1 Mit sich selbst konfrontiert

Unser Thema ist Kriegerschaft. Wenn Sie daran interessiert sind, die Wahrheit – die wir im Buddhismus als Dharma bezeichnen – zu hören, wenn Sie herausfinden wollen, wer Sie sind, oder Interesse daran haben, Meditation zu praktizieren, sind Sie im Grunde schon ein Krieger. Vielfach steht jedoch der Zugang zur Spiritualität, zum Leben überhaupt, unter dem Einfluss von Feigheit. Falls Sie Angst davor haben, zu sehen, wer und wie Sie sind, könnten Spiritualität oder Religion Ihnen als eine Möglichkeit dienen, sich selbst anzusehen, ohne diejenigen Dinge, die Sie tatsächlich selbst betreffen, überhaupt in den Blick zu fassen. Genieren Menschen sich für das, was sie sind, dann hat das mit Furchtlosigkeit rein gar nichts zu tun. Wer hingegen die Bereitschaft hat, den Blick auf sich selbst zu richten, sich zu erforschen und sich in jedem Augenblick in Wachheit zu üben, ist ein Krieger.

Mit „Krieger“ übersetzen wir das tibetische Wort Pawo. Pa bedeutet „tapfer“ oder „mutig“. Durch die zweite Silbe wo wird daraus: „ein tapferer Mensch“. Die Kriegertradition, über die wir hier sprechen, ist eine Tradition des Mutes, der Beherztheit, der Unerschrockenheit. Möglicherweise haben Sie die Vorstellung, ein Krieger sei jemand, der Krieg führt. Hier in diesem Fall bezeichnen wir jedoch als Krieger nicht diejenigen, die in die Schlacht ziehen. Kriegerschaft verweist hier vielmehr auf eine elementare Form von Mut und Furchtlosigkeit.

Kriegerschaft beruht auf Überwindung der Feigheit und unseres Empfindens, verletzt worden zu sein. Wenn wir uns zutiefst verletzt fühlen, befürchten wir womöglich, jemand werde unsere Wunde mit ein paar Stichen nähen wollen, damit sie besser verheilt. Oder die Wunde könnte bereits genäht worden sein, wir trauen uns jedoch nicht, jemanden an diese Wunde heranzulassen, damit sie oder er die Fäden zieht. Sich all diesen von Angst oder Feigheit bestimmten Situationen zu stellen ist kennzeichnend für das Vorgehen eines Kriegers, keine Angst zu haben sein zuvorderst angestrebtes Ziel.

Den Ausgangspunkt und die Grundlage für die Kriegerschaft bildet freilich die Angst selbst: Um uns von ihr befreien zu können, müssen wir erst einmal herausfinden, was Angst ist.

Angst ist Nervosität; Angst ist Besorgnis; Angst besteht in dem Empfinden, einer Situation nicht gewachsen zu sein, in dem Gefühl, die Herausforderungen des Alltags gar nicht bewältigen zu können. Dann haben wir den Eindruck, das Leben wachse uns über den Kopf. Manche Menschen unterdrücken ihre Angst vielleicht mit Hilfe von Beruhigungsmitteln oder von Yoga: sie versuchen einfach, wie auf Wattewölkchen durchs Leben zu wandeln. Gelegentlich gönnen sie sich eine Pause, um zu Starbucks zu gehen oder sich in der Einkaufspassage zu tummeln. In der Hoffnung, Furchtlosigkeit einfach dadurch erleben zu können, dass wir den Geist von der Angst ablenken, lassen wir uns allerlei Dinge einfallen und machen von allem möglichen technischen Schnickschnack Gebrauch.

Woher aber rührt die Angst? Von einer fundamentalen Verwirrung. Und worauf geht die fundamentale Verwirrung zurück? Auf die Unfähigkeit, Geist und Körper miteinander in Einklang zu bringen, sie zu synchronisieren. Wenn Sie beim Sitzen, während der Meditationspraxis, auf dem Kissen eine schlechte Haltung einnehmen, sind Sie außerstande, Geist und Körper zu synchronisieren. Weder für den Platz, auf dem Sie sitzen, noch für Ihre Sitzhaltung haben Sie dann ein Gespür. Und gleichermaßen gilt dies für Ihr gesamtes übriges Leben. Wenn Sie sich nicht geerdet fühlen beziehungsweise nicht das Gefühl haben, in Ihrer Welt einen angemessenen Platz einzunehmen, können Sie zu Ihrer inneren Erfahrung ebenso wenig einen Bezug gewinnen wie zu Ihrer Umwelt.

Zunächst einmal handelt es sich also um ein ganz schlichtes Problem. Sind Körper und Geist nicht synchronisiert, fühlen Sie sich wie ein Abklatsch Ihrer selbst, wie eine Karikatur, wie Ihr eigenes Zerrbild. Beinahe wie ein urzeitlicher Hornochse oder wie ein Hanswurst kommen Sie sich dann vor. In solch einer Situation tut man sich im Umgang mit der übrigen Welt sehr schwer.

Das ist eine vereinfachte Darstellung dessen, was wir als die Sonnenuntergangsmentalität bezeichnen. Dieser Ausdruck besagt: Die Verbindung zur elementaren Harmonie des Menschseins ist Ihnen vollständig abhanden gekommen. Das Bild von der untergehenden Sonne beinhaltet, dass die Sonne in Ihrer Welt bereits immer tiefer sinkt und es Ihnen nicht gelingen will, die Dunkelheit zu überwinden. Darum ist da, so Ihr Gefühl, nichts anderes mehr vorhanden als Leid, finstere Wolken, das an einen Kerker erinnernde Kellerverlies, ein Leben in der Gosse. In dem Bestreben, das zu kompensieren, werden Sie sich womöglich in einer finsteren, dürftig beleuchteten Spelunke betrinken. So etwas bezeichnet man als einen Club oder als eine Diskothek. Und sie tanzen wie ein besoffener Affe, der sich der Bananen und seiner Dschungelherkunft längst nicht mehr entsinnt. Darum ergötzt er sich stattdessen, während er mit dem Schwanz wackelt, an billigem Bier. Gegen das Tanzen ist an sich ja gar nichts einzuwenden. In dem Fall handelt es sich jedoch um eine Form von Angstvermeidung, von Flucht vor der eigenen Angst. Wie traurig! So sieht in groben Zügen die Szenerie des Sonnenuntergangs aus. Welch eine Sackgasse – eine ganz üble Sackgasse.

Im Unterschied dazu steht die große östliche Sonne für eine in Ihrem Leben vollständig aufgegangene Sonne: für die Sonne der Wachheit, die Sonne der Menschenwürde. Groß ist sie, weil sie einen aufgerichteten und aufrechten Zustand mit Qualitäten wie Offenheit und Freundlichkeit versinnbildlicht. Der Platz beziehungsweise die Haltung, die Sie in Ihrer Welt einnehmen, ruft bei Ihnen ein erhebendes Empfinden hervor. Kopf und Schulter haben eine gute Haltung, sagen wir in diesem Zusammenhang. Im Osten steht die Sonne, weil auf Ihrem Gesicht ein Lächeln erstrahlt. Der Osten entspricht der Vorstellung von Morgenröte, dem Sonnenaufgang. Bereits vor dem eigentlichen Sonnenaufgang sehen Sie, wenn Sie frühmorgens zum ersten Mal nach draußen schauen, wie das Licht aus dem Osten kommt. Der Osten repräsentiert das Lächeln, das beim Erwachen auf Ihrem Gesicht erscheint. Jeden Moment wird die Sonne sich über den Horizont erheben. Mit der Morgendämmerung einhergehend regt sich ein frischer Luftzug. Die Sonne steht also im Osten, und sie ist groß.

Die Sonne ist hier eine voll entwickelte, eine vollständig aufgegangene Sonne und entspricht jener Sonne, die man ungefähr um zehn Uhr vormittags zu sehen bekommt. In ihr haben wir das Gegenbild zu dem besoffenen Affen vor Augen, der gegen Mitternacht im fahlen Lichtschein der elektrischen Beleuchtung das Tanzbein schwingt. Welch ein bemerkenswerter, welch ein außerordentlicher Kontrast! Die große östliche Sonne bietet einen erhebenden Anblick, und sie verhilft uns zu einer wachen, frischen und präzisen Sicht der Dinge.

Auf weitere Einzelheiten dazu können wir später eingehen. Zunächst einmal sollten wir über das Grundverständnis von Angst und Furchtlosigkeit sprechen. Zu den größten Hindernissen auf dem Weg zur Furchtlosigkeit zählen die durch Gewohnheit geprägten Muster, die unserer Selbsttäuschung den Boden bereiten. Denn gewöhnlich lassen wir nicht zu, dass wir uns voll und ganz erfahren. Mit anderen Worten: Wir haben Angst, uns selbst ins Auge zu blicken. Ein Großteil der Menschen fürchtet sich davor, den innersten Kern des eigenen Daseins zu erleben. Viele Menschen versuchen, einen spirituellen Weg zu finden, auf dem sie nicht mit sich selbst konfrontiert werden, sich aber dennoch befreien können – sich also im Grunde genommen von sich selbst befreien können. Das ist indes ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu sind wir außerstande.

Lassen Sie uns doch ehrlich zu uns selbst sein. Wir sollten uns schon genau anschauen, was wir da in uns haben, all den Mist, unsere unwillkommensten Teile. Das gilt es zu sehen. Dadurch legen wir ein Fundament für die Kriegerschaft, schaffen eine echte Basis, von der aus wir die Angst überwinden können. Gerade unserer Angst müssen wir uns stellen, sie uns anschauen, sie studieren, mit ihr arbeiten und mit ihr Meditation praktizieren.

Zugleich sollten wir unbedingt die Vorstellung von einem göttlichen Erlöser aufgeben. Mit unserer Religionszugehörigkeit hat das nichts zu tun. Vielmehr betrifft es die Vorstellung, jemand oder etwas werde uns retten beziehungsweise erlösen, ohne dass wir uns selbst einem schmerzlichen Prozess unterziehen müssten. Falsche Hoffnungen dieses Zuschnitts aufzugeben, darin besteht in der Tat der erste Schritt. Ganz entscheidend kommt es darauf an, dass wir bei uns, ein wirklicher Mensch sind. Um den heißen Brei herumzureden, während wir ansonsten einfach bloß auf das Beste hoffen, bringt uns nicht weiter.

Sofern Sie echtes Interesse daran haben, mit und an sich selbst zu arbeiten, dürfen Sie nicht eine Art Doppelleben führen, indem Sie sich alle möglichen Ideen, Techniken und Konzepte zu eigen machen, nur um von sich selbst loszukommen. Letzteres bezeichnen wir als spirituellen Materialismus: Unter Einsatz von – wie auch immer beschaffenen – Betäubungsmitteln verharren Sie in einem hübschen, erhol- und geruhsamen Schlummerzustand und hoffen einfach, irgendwie würden beim Wiedererwachen schon sämtliche Wunden fein säuberlich vernäht und alles verheilt sein. Das hieße natürlich, dass Sie keinerlei schmerzliche Erfahrungen zu durchlaufen oder Probleme zu bewältigen bräuchten.

Im Rahmen einer authentischen spirituellen Schulung können Sie so aber nicht vorgehen. Womöglich schaffen Sie es ja, sich selbst einzureden, dass es doch eine religiöse Schulung gibt, die Ihnen einen unmittelbaren Zugang zu spiritueller Ekstase verschafft. Womöglich können Sie sich selbst glauben machen, dass diese Welt hier nicht existiert, es für Sie hingegen allein den geistigen Bereich gibt. Früher oder später werden Sie dann allerdings mit der Nase auf etwas gestoßen werden. Denn die als Karma – oder als das Gesetz von Ursache und Wirkung – bezeichnete grundlegende Gesetzmäßigkeit können wir nicht übers Ohr hauen. Sie lässt sich nicht austricksen.

Mit ziemlich vielem müssen wir uns auseinandersetzen. Vieles müssen wir aufgeben. Schon möglich, dass Ihnen das nicht schmeckt. Nichtsdestoweniger müssen Sie es tun, wenn Sie freundlich zu sich selbst sein wollen. Darauf läuft letztendlich alles hinaus. Sollten Sie sich hingegen lieber selbst Leid oder Schaden zufügen, indem Sie sich der Sonnenuntergangsneurose überlassen, geht das nur Sie allein etwas an und niemanden sonst. Niemand kann Sie vor sich selbst bewahren. Nur zu! Später werden Sie es aber unweigerlich bereuen, und zwar gründlich. Bis dahin werden Sie unter Umständen derart viel Müll, derart viel Unrat angehäuft haben, dass Sie nicht mehr imstande sind, ihn wegzuschaffen, die Situation sich nicht mehr bereinigen lässt. Würden Sie sich am Ende in solch einer Lage wiederfinden, säßen Sie böse in der Patsche.

Vielfach ziehen wir es vor, zum eigenen Schaden zu handeln. Weiter unseren gewohnten Mustern entsprechend handeln zu können vermittelt uns, wie es scheint, oft ein größeres Wohlgefühl, als wenn wir Dinge tun, die uns wirklich weiterbringen. In der Schule hat man Ihnen vielleicht beigebracht, angestrengt zu lernen sei gut für Sie. Ihre Eltern haben Sie vielleicht aufgefordert, den Teller leer zu essen, weil das gut für Sie sei: Schließlich leiden doch so viele Menschen überall auf der Erde Hunger, und Sie befinden sich in der glücklichen Lage, dass diese appetitliche Mahlzeit vor Ihnen auf dem Tisch steht. „Iss also auf, was du auf dem Teller hast!“ Hin und wieder mag solch ein Ratschlag ja tatsächlich hilfreich sein. Wahrscheinlich stand Ihnen jedoch, als Sie diese Dinge gehört haben, ganz und gar nicht der Sinn danach, und sie erschienen Ihnen kein bisschen hilfreich. Dessen ungeachtet kann sogar in solch orthodoxen Positionen und solchen Ausdrucksformen von Disziplin durchaus ein Körnchen Wahrheit enthalten sein.

Wir aber sollten beschließen, uns selbst in aller Aufrichtigkeit zu betrachten und zu erleben. Manch eine/r von uns befindet sich in einer erbärmlichen und zutiefst entwürdigenden Situation. Für andere mag es dagegen unwahrscheinlich gut laufen. Alles sieht bei ihnen picobello aus. Wie auch immer unsere Lage sein mag, egal ob die Selbsterkundung uns Anlass zu Hoffnung oder zu Furcht gibt – wir betrachten uns einfach selbst. Denn wir stehen vor der Notwendigkeit, zu uns zu finden, die Auseinandersetzung mit uns selbst zu suchen und darüber hinaus unsere Privatheit aufzugeben, unsere Befangenheit, unsere Hemmungen.

Eventuell wirft mein Gebrauch des Wortes Privatheit im Englischen beziehungsweise im Deutschen dieses oder jenes semantische Problem auf. Jedenfalls können Sie, das ist der entscheidende Punkt, nur dann bei sich sein, wenn Sie davon ablassen, sich ins Private zurückzuziehen. Denn was wir normalerweise als Privatheit ansehen, beinhaltet eigentlich keine Privatheit. Falls Sie sich in Ihrer sogenannten Privatsphäre abkapseln, stehen Sie sich selbst im Weg. Eine derartige Situation ist keineswegs durch Privatheit gekennzeichnet. In Wahrheit ist in solch einem Rahmen Privatheit nicht gegeben. Vielmehr fühlen Sie sich dort ganz und gar dem Bombardement der Emotionen und Gedanken ausgesetzt, die in Ihnen vorhanden sind, und sich dadurch der Möglichkeit beraubt, völlig entspannt bei sich zu sein.

Beginnen Sie hingegen, eine so beschaffene Privatheit aufzugeben, öffnen Sie der übrigen Welt Ihr Herz und Ihr ganzes Dasein: Daraufhin erst gelangen Sie zu größerer Privatheit. Und dies markiert, so stellen Sie dann fest, tatsächlich den Beginn einer Reise, in deren Verlauf Sie sich selbst entdecken.