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Das Spekulantenepos der Zwischenkriegszeit Keiner wurde so schnell reich wie er: Als blutjunger Bankchef und Börsenguru wird der Wiener Finanzjongleur Sigmund Bosel Anfang der 1920er-Jahre zum „Trillionär“ hochgejubelt. Hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen lebt der spendable Plutokrat, wie es ihm gefällt. Doch reich zu sein, ist Bosel nicht genug. Der schillernde Millionensassa will die alteingesessene Hochfinanz an die Wand spielen. Dabei verstrickt er sich in grenzwertige Spekulationsdeals. Bosels Verlust-geschäfte werden ein riesiger Skandal. Der jüdische Glücksritter wird im damaligen anti-semitischen Klima zum alleinigen Sündenbock gestempelt. Hinter den Kulissen bleibt er aber ein mächtiger Strippenzieher. Kurz vor dem „Anschluss“ 1938 fährt Bosel noch einmal von Paris zurück nach Wien. Aus dem Wirtschaftskrimi rund um den schillernden Finanzabenteurer wird eine mörderische Holocaust-Tragödie ... Georg Ransmayr begibt sich auf die Spuren des legendären Inflationskönigs.
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Seitenzahl: 481
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Georg Ransmayr
Der arme Trillionär
Aufstieg und Untergang des Inflationskönigs SIGMUND BOSEL
Der Handelssaal der Wiener Börse in den 1920er Jahren.
Für Jutta, Flora und Moritz sowie für meine Eltern
Cover
Titel
Widmung
1 – EINLEITUNG samt einem Vorwort des Autors
2 – DIE TOCHTER EINES KÖNIGS
3 – DAS SPRUNGBRETT ZUM REICHTUM
4 – IM KLUB DER GLÜCKSRITTER
5 – DER BENJAMIN DER MILLIARDÄRE
6 – DAS NETZWERK DER MACHT
7 – CHRONIK EINES SKANDALS
8 – VON DEN FRAUEN UND VOM LIEBEN GELD
9 – KATZ UND MAUS
10 – DEM BARON ZU DIENSTEN
11 – DER MANN IM SCHATTEN
12 – STRAFSACHE SIGMUND BOSEL
13 – FLUCHTPUNKT PARIS
14 – DER NACHTZUG NACH BUDAPEST
15 – IN DER GEWALT DES MENSCHENJÄGERS
16 – DAS VERMÄCHTNIS DES TRILLIONÄRS
17 – EPILOG
Personenregister
Quellen- und Literaturverzeichnis
Danksagung
Impressum
Im Februar 2012 bin ich zum ersten Mal in New York vor dem Hochhaus gestanden, in dem Julie Bauer-Marks ihre Wohnung hat. Der freundliche Portier, der im Lift für mich auf den Knopf drückt, sieht aus wie ein Flugkapitän. Auf dem Stoff seiner Uniform ist über der Brusttasche die Adresse des Gebäudes am Central Park aufgestickt. Wir fahren hinauf in den zehnten Stock. Ich bin gespannt, was mir die Tochter des legendären Sigmund Bosel erzählen wird.
Kurz darauf kommt mir am Gang eine humorvolle Dame mit einer rauchigen Stimme entgegen, die trotz ihrer 85 Jahre recht quirlig wirkt. Wir haben schnell ein herzliches Gesprächsklima, Frau Marks erkundigt sich, ob ich nicht vielleicht einen „weißen Spritzer“ möchte. Nach etlichen E-Mails und Telefonaten können wir in Ruhe die Dreharbeiten besprechen, die für den folgenden Tag angesetzt sind. Julie Marks hat sich bereit erklärt, in einer ORF-Dokumentation über ihren schillernden Vater mitzuwirken, der mit seinem sagenhaften Reichtum in den 1920er Jahren ganz Österreich elektrisiert hat.
Deutsch möchte Frau Marks nicht unbedingt reden, obwohl das feine Wienerisch, das ihr sporadisch über die Lippen kommt, perfekt ist. Während der Nazi-Zeit sei sie in der Emigration in London mit ihrem Bruder dazu übergegangen, Englisch zu sprechen. Beim Plaudern über das geplante Interview kommen bei der Bosel-Tochter spontane Erinnerungen an ihre Kindheit hoch. Julie holt die Briefe hervor, die ihr von ihrem geliebten Papa geblieben sind, und die Familienfotos, die sie am Telefon erwähnt hat. „Mein Vater war ein sehr fescher Kerl. Er hatte schwarze Haare und sehr dunkle Augen“, sagt sie, während sie die Aufnahmen ausbreitet. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich auf seinem Schoß gesessen bin.“
An drei aufeinanderfolgenden Tagen beschäftigen wir uns viel mit der Geschichte der Familie Bosel. Das lange Doku-Interview klappt bestens, Julie Marks ist eine gute Erzählerin. Sie überlässt mir zahlreiche alte Fotos und schenkt mir einen Roman, der von ihrem Vater handelt. Die Briefe borgt sie mir über Nacht, damit ich sie im Hotelzimmer einscannen kann. Frau Marks hat auch die Noten eines alten Wienerliedes hervorgeholt, das Fritz Imhoff einst über ihren Vater gesungen hat. Julie lässt durchblicken, dass sie sich einsam fühlt, seit ihr zweiter Ehemann, der Richter Jerome Marks, im Alter von 95 Jahren verstorben ist. Mehr als vier Jahrzehnte waren die beiden verheiratet gewesen. Und ihr erster Ehemann, Ernest R. Bauer? Er starb mit 45 Jahren an einem Herzinfarkt.
Mir tut es fast leid, dass wir so viel über Sigmund Bosel und seinen Tod reden, der das Leben seiner Tochter bis zu einem gewissen Grad noch immer überschattet. Julie Marks kann sich nicht erklären, warum ihr Vater 1938 kurz vor dem „Anschluss“ nochmals von Frankreich zurück nach Österreich gefahren ist: „The reason my father went back to Vienna is the biggest question I ever had in my life“.1
Dieses Buch erzählt die dramatische Geschichte eines Grenzgängers. Sigmund Bosel war ein Finanzakrobat, der mit seinen halsbrecherischen Geschäften niemanden kalt gelassen hat. Seine Laufbahn verlief abenteuerlich und tragisch, sein Leben war eine Mischung aus Krimi und Groschenroman. Die Anfänge seiner Karriere hören sich an wie ein Märchen über den Kapitalismus, in dem ein junger Glücksritter nach dem Ersten Weltkrieg binnen kurzer Zeit mehr Geld anhäufen konnte als andere Millionäre in einem ganzen Jahrhundert.
Wir schreiben das Jahr 1922. Das junge Österreich wird vom Inflationsfieber geschüttelt, Banknoten haben nur mehr den Wert von besserem Klopapier. Deshalb steht den großbürgerlichen Chefitäten in den Wiener Bankpalästen der Schweiß aber nicht auf der Stirn. Die Herren im Nadelstreif müssen mitansehen, wie der junge Finanzjongleur Sigmund Bosel mit seinem explosionsartig gewachsenen Vermögen die Reichen ziemlich alt aussehen lässt. Manche Bankdirektoren ahnen, was der schmächtige Senkrechtstarter aus kleinen Verhältnissen vorhat: Bosel will als Schreckgespenst der Wiener Hochfinanz die Branche aufmischen und ein zweiter Rothschild werden.2
Seine Firmenzentrale hatte Sigmund Bosel hinter dem Wiener Rathaus am Friedrich-Schmidt-Platz Nummer 5. In diesem Bürohaus geht der schillernde Kommerzialrat mit seinem Beraterstab damals ein und aus. 18 Automobile sollen für Bosel und seine Prokuristen in den besten Zeiten in der Garage bereitgestanden sein. Ein ehemaliger k.u.k. Rittmeister war damit beauftragt, die neumodernen Pferdestärken im Fuhrpark zu betreuen. Bosel lebt auf großem Fuß. Er ist ein Unternehmer mit einem veritablen Hofstaat.3 Obwohl Bosel mit seinem Bankhaus mächtig Eindruck machte, haben viele seinen Broterwerb für ein liederliches Gewerbe gehalten. Denn Bosel war ein Inflationsgewinnler, der mit eiskalten Geschäftsmethoden aus dem Sturm der Geldentwertung Kapital geschlagen hatte. Auf diese Weise wurde er die umstrittene Ikone einer New Economy von Spekulanten, die ganz Österreich in ihren Bann zog. Eine kleine Schicht von talentierten Aufsteigern machte der Bevölkerung vor, wie man der grassierenden Inflation ein Schnippchen schlagen und dabei astronomische Vermögenswerte anhäufen konnte. Für viele Menschen hatte sich ein historisches Zeitfenster aufgetan. Die Geldentwertung hatte abertausende Vermögen ausradiert und Elias Canetti zufolge vorübergehend soziale Unterschiede aufgehoben, „die wie für die Ewigkeit geschaffen schienen“.4
Auf sonderbare Weise hatte die Inflation scheinbar Chancengleichheit geschaffen. Reichwerden war eine Beschäftigung für jedermann geworden – vorausgesetzt, man hatte Talent und auch die nötige Portion Rücksichtslosigkeit. Sigmund Bosel brachte beides mit, und er hatte obendrein das Glück, dass er den Grundstein für seinen Reichtum schon im Ersten Weltkrieg legen konnte – als Lieferant vieler Flüchtlingslager. Der Publizist Karl Kraus spuckte deshalb Gift und Galle auf Bosel, weil der Emporkömmling seiner Meinung nach zu einer Sorte Mensch gehörte, die Kraus um nichts in der Welt leiden konnte: Kriegsgewinnler. Kraus hielt solche Leute für abscheuliche Siegertypen, die „durch das Blut anderer“ zu Geld gekommen waren.5
Dem frischgebackenen Wiener Bürgermeister Karl Seitz wäre 1923 so eine Kritik wohl nicht in den Sinn gekommen. Er und die Sozialdemokratische Partei mussten froh sein, dass der Milliardär aus dem Rathausviertel die SP-eigenen Hammerbrotwerke mit einer Finanzspritze gerettet hatte. Womit der Bürgermeister und der Turbo-Kapitalist fortan gemeinsam im Verwaltungsrat der Brotfabrik saßen. Mit solchen Husarenstücken versetzte Bosel die Öffentlichkeit in Staunen, weil er sich nicht in die Schablone des ruchlosen Profiteurs pressen ließ und eine soziale Ader bewies. „Er gab mit vollen Händen und musste nicht immer erst gebeten werden“, meinte das Berliner Tageblatt. Bosels Erfolg war zwar vielen nicht ganz geheuer, aber sein wundersamer Aufstieg vom kleinen Textilverkäufer zum überdimensionalen „Kronen-Trillionär“ sorgte für eine Sensation. 1923 war Bosel gemeinhin der reichste Österreicher, und als Präsident der Unionbank war er Nachbar der berühmten Rothschilds geworden.6
Humorvolle Dame mit rauchiger Stimme: Julie Marks, die Tochter Sigmund Bosels, erinnert sich an glückliche Kindheitsjahre im fernen Wien.
Weil Bosel als „bunter Hund“ aus der Wiener Bankiersriege hervorstach, ist er auch früh literarisch verewigt worden. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich trotz seiner gepflegten Umgangsformen in ein finanzielles Raubtier verwandeln konnte. Der Schriftsteller Felix Dörmann nahm in seinem Roman Jazz Bosel als Vorlage für seine Figur des Bankdirektors „Wiesel“, der es nicht nur auf Geldgeschäfte, sondern auch auf weibliche Beute abgesehen hat.7
War Bosel also ein Schürzenjäger mit anzüglichen Manieren? Wohl kaum: Der junge Aufsteiger soll ein charmanter Typ gewesen sein, der privat in festen Händen war. Nun ja, das zu behaupten, wäre nur die halbe Wahrheit. Sigmund Bosel ist nämlich über viele Jahre hin zwischen zwei attraktiven Frauen hin- und hergerissen gewesen. Zwischen der Mutter seiner Kinder und einer Nebenbuhlerin, die mit ihren resoluten Reizen dafür gesorgt haben soll, dass Bosel nie geheiratet hat. Inwieweit sich noch andere Damen für den steinreichen Junggesellen erwärmt haben, ist nicht verbürgt. In jedem Fall scheint es so gewesen zu sein, dass Bosel hinter dem Geld doch mehr her war als hinter den Frauen. Wobei dem Finanzabenteurer ein leicht gestörtes Verhältnis zu seinem Vermögen nachgesagt wurde. Ihm sei „nichts an dem Geld gelegen, das er auftürmte“, hieß es über Bosel, der persönlich so gar nicht wie ein Milliardär daherkam, sondern zum Beispiel mit einem altmodischen Schlapphut unterwegs war. Aus dem Rahmen fiel er damit nicht. Auch viele Adelige mit wuchtigen Stammbäumen stapften während der schlimmen Geldentwertung mit löchrigen Socken durch die Welt.8
Worauf war Bosel aber scharf, wenn es nicht der feine Zwirn und das süße Leben waren? Der öffentlichkeitsscheue Mann wurde als persönlich bescheidener Draufgänger beschrieben, der sich an waghalsigen Ideen berauschen konnte und von einzelnen Projekten nahezu hypnotisiert gewesen sei, wie die ihm nahestehende Boulevardzeitung Die Stunde schrieb: „Im Grund seines Herzens verachtete er das Geld, dem die anderen so nachjagen, und freute sich nur an der Macht, die an diesem Gelde hängt, und der Kombinationsfülle, die es erlaubt.“9
Manche Berichte waren hart an der Grenze zur Werbeeinschaltung – so, als wäre Bosel ein Meister der Selbststilisierung gewesen. Er habe „mit Geld gespielt wie Kinder mit Schnee“, meinte das Finanzblatt Die Börse, das ihm ebenfalls gut gesinnt war. „Der kleine Mann mit der mangelhaften Bildung, die er emsig sich zu stopfen bemühte“, habe herrschen und die öffentliche Meinung kontrollieren wollen.10 Haben wir es bei Sigmund Bosel mit einem Geld- und Machtmenschen zu tun, der innerlich mit dem Luxusleben auf Kriegsfuß gelebt hat?
Am Höhepunkt seines Erfolges rollte das offizielle Österreich für Bosel den Teppich aus. Es gab nämlich damals nur ganz wenige, die genug Kapital hatten, um die arme Republik aus der Lethargie zu holen. Weil Bosel an mehr als 210 (!) Aktiengesellschaften im In- und Ausland beteiligt war, galt er als Geldanlage-King.11 Wer konnte schließlich schon von sich behaupten, Bankier, Gutsbesitzer, Frauenfreund, Hotelier, Hundebesitzer, Immobilieninvestor, Industriekapitän, Mäzen, Ölbaron, Spekulant, Zeitungseigentümer und Nachtclub-Miteigentümer in einer Person zu sein? In Österreich konnte da bestenfalls der aus Triest stammende Finanzkapazunder Camillo Castiglioni mithalten. Nicht zuletzt deshalb sind Castiglioni und Bosel als Galionsfiguren der europäischen „Inflationsritterzeit“ in die Geschichte eingegangen.
Wer glaubt, dass Sigmund Bosel damit nur eine Figur aus der historischen Mottenkiste ist, täuscht sich. Der schräge Millionensassa hat Entwicklungen verkörpert, die für das moderne Wirtschaftsgeschehen und den Superreichtum unserer Tage typisch sind. Nicht selten sorgen ja die neuen Milliardäre von heute für eine Mischung aus Bewunderung und Argwohn, weil sie entweder als blutjunge Unternehmer auf die Forbes-Listen dieser Welt kommen oder ihr Geld im oligarchenhaften Dämmerlicht gescheffelt haben. Auf Sigmund Bosel trifft beides zu. Wie kein anderer hat er schon vor knapp hundert Jahren in einem wirren Konjunktur-Umfeld den „Traum vom schnellen Geld“ und vom „Aufstieg aus dem auch Nichts“ verkörpert.12
Eine bemerkenswerte Erscheinung war Bosel auch dadurch, dass er die Dauerkrise nach dem Ersten Weltkrieg als seine persönliche Jahrhundertchance begriffen hat und dabei die Coolness hatte, Geschäfte und Aufgaben zu übernehmen, die den Obrigkeiten zu heiß waren. Das war schon im Ersten Weltkrieg so. Die Zehntausenden Kriegsflüchtlinge, die ab Herbst 1914 aus den umkämpften Grenzgebieten ins Zentrum der Monarchie geströmt waren, mussten mit Bekleidung und Lebensmitteln versorgt werden. An manchen Tagen kamen in Wien 3.000 Flüchtlinge an.13
Bosel packte die Gelegenheit beim Schopf, um für viele Auffanglager auf österreichischem Boden der Hauptlieferant zu werden. Im Auftrag der Behörden betätigte er sich sogar als Schmuggler, um die notwendigen Versorgungsgegenstände aufzutreiben. Durch das Geschäft, das er im Schatten der Flüchtlingskrise machen konnte, wurde der gelernte Textilverkäufer noch zu Kaisers Zeiten ein Multimillionär.
Nach dem Krieg wurde Bosel dafür gerühmt, dass er die Erste Republik vor dem revolutionären Chaos gerettet hätte, weil er die Wiener Polizei zu Diskontpreisen mit Bekleidung und Lebensmitteln versorgt hatte. Während die Bevölkerung teilweise hungern musste, konnte Polizeichef Schober seine Ordnungshüter bei der Stange halten und mit der Exekutive als Hausmacht später leichter Bundeskanzler werden. Zitat Schober: „Ich bin meiner braven Wache zuliebe voll der dankbaren Gefühle für Bosels Wirken.“14
Die lobenden Worte waren ein Ausdruck dessen, dass der Privatbankier „hochmögende“ Fürsprecher hatte und in den Wandelgängen der Politik zeitweise bestens angeschrieben war. Im Bankenverband hatte Bosel dagegen mächtige Gegenspieler, die auf geschäftliche Außenseiter wie ihn allergisch reagierten. In der Öffentlichkeit wurde Bosel hochgejubelt, aber auch verflucht. Der „Inflationskönig“ war der Exponent einer Schicht von Glücksrittern, die durch ihren obszönen Reichtum inmitten der Nachkriegsnot viel Hass und Unmut auf sich gezogen hatte.15
Darüber hinaus ist Sigmund Bosel als Jude immer wieder mit antisemitischen Attacken konfrontiert gewesen. In NS-Zeitungen wurde er als „Aasgeier“ und „geldsaugender Vampier“ verteufelt, in linken Polemiken ist er als „verbrecherischer Kapitalist“ und „Schleichhändler“ gegeißelt worden. Bosel bekommt während seiner Karriere die offene und versteckte Judenfeindlichkeit der Zwischenkriegszeit zu spüren. Schon früh machen ihn die Nazis zu ihrem Feindbild. Wenn es ums Geschäft gegangen ist, hat Bosel allerdings eine erstaunlich dicke Haut bewiesen und sich in den 1930er Jahren auch mit erklärten Antisemiten abgegeben. Die dunkle Seite des Sigmund Bosel war sein kaltschnäuziger Umgang mit der Gefahr.16
Ende 1923 konnte Bosel bei seinen Geschäftspartnern noch wählerisch sein. Und die Regierung konnte es sich nicht leisten, den jüdischen Star-Investor zu vergraulen. Die konservativ-großdeutsche Koalition rümpfte zwar an sich über „Finanzjuden“ wie Sigmund Bosel die Nase. Aber der Ministerrat war rasch mit dem etwas impertinenten Vorhaben Bosels einverstanden, neben dem Bundeskanzleramt am Ballhausplatz einen neuen Bankpalast hochzuziehen. Das Prestigeprojekt wäre auch Wirklichkeit geworden, wenn den Hasardeur damals nicht das Glück verlassen hätte.
Im Frühjahr 1924 gehen geheime Fremdwährungsspekulationen schief, die Bosel im Auftrag der staatlichen Postsparkasse unternommen hat. Zwei Jahre später fliegt die Sache auf, das PSK-Fiasko wird der größte Wirtschaftsskandal der 1920er Jahre. Ab diesem Moment kämpft der ehemalige Trillionär, der in Wahrheit fast alles verloren hatte, als „Bettler“ gegen den Abstieg. Wie lange sich der gewitzte Finanzmann damals aus der Affäre ziehen konnte, ist erstaunlich. Zehn Jahre lang spielt Bosel gegenüber der Postsparkasse den verarmten Milliardär, um seine Spekulationsschulden nicht abstottern zu müssen.
Die Politik behandelt ihn pfleglich. Hatte man ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen? Oder besitzt Bosel damals belastendes Material? 1936 ist mit der Komödie Schluss, die Justiz macht gegen Bosel mobil. Man wirft ihm vor, dass er seine wahren Vermögensverhältnisse verschleiert hat. Weil jedoch der damalige PSK-Gouverneur und frühere Bundeskanzler Karl Buresch in die Sache verwickelt ist und Selbstmord begeht, hat die Regierung Schuschnigg eine Staatsaffäre am Hals, die unter den Teppich gekehrt werden muss.
Vergleicht man die Aufreger-Themen unserer Tage mit den Krisen und Finanzskandalen der Zwischenkriegszeit, hat man unweigerlich Déjà-vu-Erlebnisse. So wie heute haben auch damals viele Staaten enorme Budgetprobleme. Die Finanzmärkte geben das Tempo vor, die Aufsichtsbehörden hecheln hinterher. Das Spekulationsfieber der Nachkriegsjahre führt zu Spekulationsblasen, hohe Fremdwährungsrisiken werden aufgetürmt. Die etablierten Banken lügen sich mit ihren Wertansätzen im Donauraum in den Sack, einzelne Megakredite sorgen für ein hohes Klumpenrisiko. Als die faulen Bilanzen der Kreditinstitute aufplatzen, ist auch damals wie heute Bankenrettung angesagt: mit Kapitalspritzen, rettenden Fusionen und der Notverstaatlichung der zu dieser Zeit wichtigsten Bank im Land, der österreichischen Credit-Anstalt.
Zwei Mega-Skandale haben bleibende Erinnerungen an die ruinösen Turbulenzen hinterlassen: das PSK-Fiasko 1926 und das noch viel größere CA-Finanzfiasko 1931. In beide Wirtschaftskrimis ist Bosel verstrickt gewesen. Das PSK-Fiasko punziert ihn als Buhmann der österreichischen Wirtschaftsgeschichte, während er in der CA-Causa im Hintergrund agiert, um die Skandalpleite juristisch glattzubügeln. Beide Finanzbeben lassen sich rückblickend mit dem Begriff „Multi-Organversagen“ beschreiben, den in unseren Tagen die Griss-Untersuchungskommission für die Kärntner Skandalbank Hypo Alpe Adria geprägt hat. Auch das österreichische Parlament hat sich in den 1920er Jahren in diversen Ausschüssen mit Finanzskandalen herumschlagen müssen. Damals zeigte sich, dass die zuständigen Behörden und Politiker der staatlichen Postparkasse zu wenig auf die Finger geschaut haben. Solange es Gewinne gab, durften die PSK-Manager mit der Staatsgarantie im Rücken herumfuhrwerken. Als es Verluste gab, hat man den Kopf in den Sand gesteckt. Schlussendlich können die Postsparkasse und die Credit-Anstalt nur mit Staatshilfe überleben. Die Kosten der Rettungsaktionen hat man genauso wie in der Finanzkrise nach 2008 hauptsächlich den Steuerzahlern umgehängt.
Die großen Geldgeschäfte, mit denen sich Bosel Zutritt zur Hochfinanz verschafft hatte, haben auch seinen Abstieg eingeläutet. Der Finanzjongleur war verschrien als „der böse Geist der Postsparkasse“, der gestandene Politiker mit unlauteren Spekulationstipps „verhext“ habe.17 Das war aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Bosel hat im PSK-Skandal als Sündenbock herhalten müssen, damit die Staatsbank andere Verlustbringer leichter kaschieren konnte. Sein größter Gegner, schrieb Bosel 1929, sei der christlich-soziale Finanzminister Viktor Kienböck gewesen, der ihn „mit unversöhnlichem Hass“ verfolgt habe.18 Es gibt tatsächlich Indizien dafür, dass Kienböck und der einstige Nationalbank-Präsident Richard Reisch Bosel über die Klinge springen haben lassen. Dieses Buch geht daher auch der Frage nach, ob für Sigmund Bosel hier nicht ein Stück historische Ehrenrettung angebracht ist.
Wer sich eingehend mit Sigmund Bosel beschäftigt, lernt eine Persönlichkeit mit charakterlichen Graustufen kennen. Dieser Mann war kein Heiliger, sondern das, was man umgangssprachlich einen Schlawiner nennt. Dort, wo der tüchtige Außenseiter durch Cleverness und Chuzpe frühzeitig Trends wittert und anderen Machtmenschen ein Schnippchen schlägt, ist man verleitet, ihm die Daumen zu drücken. Dort, wo er mit dem Gesetz in Konflikt gerät oder das Schicksal herausfordert, kann man über den Tausendsassa mit der Unschuldsmiene nur den Kopf schütteln. Und man wünscht sich als Beobachter an der Seitenoutlinie, der Finanzabenteurer hätte sich zu bestimmten Aktionen nicht hinreißen lassen. Aber Sigmund Bosel war eben ein Teufelskerl, der zeitlebens hoch gepokert hat und sich auch für verborgene Machenschaften einspannen ließ.
1931 übernimmt er nach der sündteuren Notverstaatlichung der Credit-Anstalt einen Geheimauftrag der Rothschild-Bankdynastie. Bosel zieht alle Register, damit die Justiz ihre Ermittlungen gegen den langjährigen CA-Mehrheitsaktionär Louis Rothschild aufgibt. Die Parteispenden, die Bosel dabei an einzelne Regierungspolitiker weiterreicht, bringen ihn 1934 in den Dunstkreis der Juli-Putsch-Verschwörer. Bosel hat alle Hände voll zu tun, um nach der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nicht zum Hochverräter gestempelt zu werden. Auch diese weitgehend unbekannte Affäre wird in diesem Buch beleuchtet.
Wer Sigmund Bosel über die Schulter schaut, erlebt beim Blick hinter die Kulissen der Ersten Republik so manche Überraschung. Übrig bleibt der Eindruck, dass Sigmund Bosel ein Mann der Geheimnisse war – und zwar in jeder Hinsicht. Angeblich hat er eine wertvolle Kollektion von pornographischen Antiquitäten besessen, die er an den ägyptischen König Farouk verkauft haben soll, über dessen Erotik-Sammlung bis heute gerätselt wird.19 Bosel soll außerdem der letzte Besitzer des berühmten Hortensia-Diadems gewesen sein, das Napoleon Bonaparte einst seiner Stieftochter Hortense de Beauharnais geschenkt hatte.20
Die besondere Tragik im Leben des Sigmund Bosel liegt darin, dass er nach seiner skandalträchtigen Laufbahn ein neues Leben im Ausland anfangen wollte. Im Februar 1938 war er in Paris bereits in Sicherheit vor den Nazis, die es viele Jahre davor schon auf ihn abgesehen hatten. Obwohl ihn Verwandte vor der Rückreise gewarnt haben, ist Sigmund Bosel zwei Wochen vor dem „Anschluss“ noch einmal nach Wien gefahren, um noch etwas zu erledigen. Dieser Entschluss war letztlich sein Todesurteil.21
Georg Ransmayr Wien, im Juni 2016
Interview mit Julie Marks, 17.2.2012.
Bosels Vorname ist in späteren Jahren oft mit einem langen „i“ geschrieben worden. Die ursprüngliche Schreibweise bestand aus einem Sigmund ohne „e“ wie bei Sigmund Freud.
Franz, Siegmund Bosel, 37f.
Canetti, Masse und Macht, 206.
Wahl, Die Könige der Inflation, in: Joachim Riedl (Hrsg.), Wien, Stadt der Juden, 238ff.; Kraus, Die Fackel Nr.632 (1923), 150.
Berliner Tageblatt, 14.11.1926.
Dörmann, Jazz, 27ff.; Schneider, Felix Dörmann, 345.
Interview mit Martha Genée, 14.12.2011; Franz, Siegmund Bosel, 12; Die Börse, 11.11.1926.
Habe, Eine Zeit bricht zusammen, 15; Die Stunde, 22.7.1923.
Die Börse, 11.11.1926.
BANB, 655/1925 Bankhaus Bosel: Rekapitulation der Effektenstände.
Wahl, Könige der Inflation, 240.
Lewinson, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, 251; Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, 841.
SchobA, (Karton) 95, Schober: „Wie ich Herrn Präsident Bosel kennenlernte“.
Scheffer, Bankwesen, 374; Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 283.
Hoffmann, Der Fall Sigmund Bosel, 17ff.; SchobA 95, „Brief an den Verwaltungsausschuss“, 15.10.1919; Interview mit Ursula Schwarz (DÖW), 24.10.2012; Wienbibliothek, Plakat P225767; Wahl, Kaffeehäuser zu Bankfilialen, in: Konrad/Maderthaner, … der Rest ist Österreich, 66.
PA, Bericht Reisch im Unterausschuss für das PSK-Gesetz, 6.11.1926.
SchobA 95, SB an Johann Schober, 31.12.1929.
Frischauer, European Commuter, 96; Al Arabiya News, King Farouk: The Forgotten Memoirs, King Farouk’s Fabulous Wealth, http://english.alarabiya.net/en/special-reports/king-farouk (17.1.2016).
Algemeen Handelsblad, 23.4.1937; Reichspost, 17.4.1937.
Dieses Buch basiert auf meinen Recherchen für die TV-Doku „Der Massenmörder und der Trillionär“, die im Rahmen der ORF-Sendereihe „kreuz & quer“ im April 2013 erstmals ausgestrahlt worden ist.
Im Mittelpunkt dieser filmischen Doppel-Biografie steht das schicksalshafte Aufeinandertreffen Bosels mit dem berüchtigten Nazi-Kriegsverbrecher Alois Brunner. Nach der Arbeit an dem Film entstand der Gedanke, die Fülle des gesammelten Materials durch weitere Nachforschungen zu ergänzen und die mitreißende Bosel-Saga mithilfe der zusätzlichen Erkenntnisse in ein Sachbuch zu verpacken.
Sigmund Bosel ist ein Mann gewesen, der sein Wohnzimmer mit auf Reisen genommen hat. Für die Superreichen seiner Zeit war es selbstverständlich, dass eine Fahrt mit der Eisenbahn eine Fahrt im eigenen Luxuswaggon zu sein hatte. Was heutzutage der Privatjet ist, war vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Salonwagen, der meist an gewöhnliche Zugsgarnituren hinten angehängt wurde. Manchmal bekam so ein Waggon aber auch weiter vorne in der Zugsgarnitur eine Sandwich-Position zugewiesen – wenn ein „hochwohlgeborener“ Kunde diesen Sonderwunsch bei der Eisenbahnverwaltung angemeldet hatte, um sicherzugehen, dass der Waggon nur ja nicht entlang der Strecke versehentlich abgehängt werden konnte.
Ein Salonwagen bestand im Regelfall aus einem üppig mit Holz und feinen Tapeten dekorierten Aufenthaltsraum, der mit Schreibmöbeln und Plüschsesseln bestückt war. Daneben gab es ein Schlafabteil, ein Waschkabinett und ein Spülklosett. Häufig war auch ein Extrazimmer für Diener oder Privatsekretäre eingebaut. Über die Einrichtungsdetails im Bosel‘schen Salonwagen weiß man, dass schwarze Klubfauteuils und zwei Tische mit Schreibmaschinen zum Mobiliar gehört haben. Überliefert ist auch, dass es „vornehm nach Leder gerochen“ habe.1
Auf Dienstreisen oder Vergnügungsfahrten versprach so ein Luxuswaggon den bestmöglichen Reisekomfort auf Schienen und den gebotenen Abstand zu neugierigen Normalsterblichen. Das eigene Hinterteil war besser gefedert, das edle Haupt ruhte auf einem richtigen Polster und das Ein- und Aussteigen vor salutierenden Stationsvorstehern war umnebelt von touristischer Theatralik.2
Den Kindern bleibt der Beruf des Vaters verborgen: Sigmund Bosel mit Julie und Alfons. Foto: Franz Thurman, 1929.
Abgeschaut hatte sich Bosel das Reisen mit dem Salonwagen von den großen Industriebossen der Monarchie, die diese Gewohnheit wiederum von den hochherrschaftlichen Mitgliedern der Adelshäuser abgekupfert hatten. Auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein wollte das Privileg eines Salonwagens auf Reisen nicht missen, obwohl der exzentrische Industriellensohn ansonsten ein Aussteigerleben als armer Dorfschullehrer führte.3 Vilmos Kestranek, als Generaldirektor der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft ein Freund von Wittgensteins Vater, hatte vor seiner Villa am Wolfgangsee sogar eine eigene Zugshaltestelle. Als Zeichen der besonderen Ehre durfte Kestranek überdies für die Fahrt von Bad Ischl nach St. Gilgen den blauen Salonwagen von Kaiser Franz Joseph benützen.4 Nach dem Untergang der Monarchie kam dieser Waggon auf den Markt. Der Inflationsritter Camillo Castiglioni packte die Gelegenheit beim Schopf und kaufte sich das elitäre Fortbewegungsmittel. Sigmund Bosel wollte in dieser Hinsicht seinem großen Rivalen Castiglioni um nichts nachstehen. Der Moment war günstig, auch in der Weimarer Republik standen geschichtsträchtige Waggons zum Verkauf. Bosel besorgte sich einen Wagen aus dem Hofzug des deutschen Kaisers – womit sich die Frage erledigt, warum Bosels Salonwagen goldverzierte Wände hatte.5
Der Salonwagen war freilich nicht die einzige Erwerbung, mit der Bosel in Deutschland aufhorchen ließ. Er kaufte sich hier auch mehrere Häuser und die Privatbank Fester & Co., bevor er 1923 in Berlin die Wochenzeitung Der Montag Morgen aus der Taufe hob. Wien war Sigmund Bosel zu klein geworden.6
Daheim in Österreich war der Senkrechtstarter ohnehin schon eine legendäre Figur. Alle Geschäfte, die der geheimnisumwitterte Jungspund in die Hand nahm, schienen von Erfolg gesegnet zu sein. Bosel hatte sich zum Leithammel und „Kurs-Orakel“ der Wiener Börse entwickelt. Wenn der neureiche Finanzmagnat bestimmte Wertpapiere kaufte, dann kauften andere sie auch. Geschickt spekulierte Bosel mit Aktien und Fremdwährungen, um aus der anfangs schleichenden und später galoppierenden Geldentwertung Kapital zu schlagen. Eine junge Generation von Geschäftsleuten, die kühn und respektlos war, schien der alten zu erklären, wie der Kapitalismus künftig funktionieren würde. In der „Naturgeschichte des Reichtums“ sei die Epoche der „Geldentwertungskünstler“ angebrochen, jubelten Finanzjournalisten. Der Traum vom schnellen Geld hatte ein jugendliches Gesicht – das von Sigmund Bosel, dem „neuen österreichischen Vanderbilt“.7
Wenn Julie Marks an ihren Vater und dessen märchenhafte Karriere denkt, dann fallen ihr spontan die schwarzen Anzüge ein, die aus der Erinnerung nicht wegzublenden sind. „Schon als ich klein war, hab‘ ich mir gedacht, dass mein Vater gut aussieht. Er trug bis auf wenige Ausnahmen immer schwarze Anzüge mit weißen Hemden. Sogar im Winter beim Schlittschuhlaufen. Das war bei ihm wie eine Uniform.“8
Eine standesgemäße Bleibe hatte sich Sigmund Bosel schon gesucht, als er noch nicht der verwegene Spekulant war, der mit seinen Übernahmeplänen die mitteleuropäischen Finanzmärkte aufscheuchte. Bosel fand das Objekt seiner Begierde – eine prunkvolle Herrschaftsvilla – im Wiener Nobelbezirk Hietzing. Und zwar in der gleichermaßen stillen wie vornehmen Gloriettegasse nahe der Schlossmauer von Schönbrunn.
Auch Kaiser Franz Joseph hatte seinerzeit eine besondere Beziehung zur Gloriettegasse. Denn auf Nummer 9 hatte der Monarch in einer Eckhausvilla sein Liebesnest mit der um 23 Jahre jüngeren Schauspielerin Katharina Schratt. Wenn Franz Joseph aus Schönbrunn auf Besuch kam zur „Gnädigen Frau“, wie er in Briefen seinen „heiß geliebten Engel“ bisweilen titulierte, so konnte er durch eine kleine Seitenpforte in der Schlossmauer den Palastgarten diskret verlassen. Er musste dann nur mehr die (heutige) Maxingstraße überqueren und konnte nach ein paar hundert Schritten an Schratts Tür klopfen. War man in Hietzing ein Frühaufsteher, so konnte man gegen halb sieben Seiner Apostolischen Majestät über den Weg laufen.9
Die besagte Tür in der Gartenmauer dürfte der Monarch schon früher für seine sexuellen Eskapaden mit der Wienerin Anna Nahowski verwendet haben, die in der Nähe der Gloriettegasse wohnte. 1889 machte Franz Joseph mit Nahowski Schluss, um sich gänzlich Katharina Schratt zuzuwenden, die einige Jahre später die Villa in der Gloriettegasse – die sie bis dahin nur gemietet hatte – mit Franz Josephs Hilfe kaufen konnte. Dem Kaiser gab das Domizil die Möglichkeit, aus der „Gefangenschaft seiner verwitterten Erhabenheit auszubrechen“, wie es Frederic Morton formuliert hat.10
Eine illustre Wohnadresse war die Gloriettegasse vor dem Ersten Weltkrieg aber nicht nur wegen der kaiserlichen Herzdame. Auch der Seidenfabrikant August Schopp, der Industrielle Robert Primavesi und der Bankdirektor Theodor Ritter von Taussig, der Verwalter des kaiserlichen Familienfonds, hatten ihre Residenzen ein paar Häuser weiter. Die Gloriettegasse konnte man getrost eine Millionärsmeile nennen.11
Als 1919 in der Gasse die Villa mit der Hausnummer 17 zum Verkauf stand, wird Sigmund Bosel nicht lange gezögert haben. Denn das zweistöckige Anwesen hatte alles, was man sich nur wünschen konnte: ein schlossartiges Wohngebäude in bester Lage mit einem parkähnlichen Garten auf einem Gesamtareal mit über 13.000 Quadratmetern. Reizvoll war die feudale Residenz auch deswegen, weil sie mit illustren Vorbesitzern glänzen konnte. Der erste Eigentümer war der hannoveranische Bankier Israel Simon gewesen, der in Wien als Vizekonsul der Vereinigten Staaten auftrat und die Villa 1871 errichten hatte lassen. Sechs Jahre später zog ein anderer diplomatischer Würdenträger ein: Simon Zechany, Ritter von Racovizza. Er fungierte in Wien als Konsul für Griechenland, wie der Illustrierte Führer durch Wien und Umgebungen aus dem Jahr 1885 zu berichten wusste.12
1895 kam die Residenz in den Besitz des österreichischen Bankdirektors Julius Herz. Wie die gut erhaltenen und hübsch kolorierten Baupläne zeigen, die noch im Archiv der Wiener Baupolizei liegen, ließ Herz das imposante Gebäude 1897 erweitern. Seine Tochter Margarethe von Sonnenthal – die Schwiegertochter des berühmten Burgschauspielers Adolf von Sonnenthal, der auch mit Katharina Schratt auf der Bühne gestanden war – erbte das Anwesen im September 1914. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es Therese Terry von Ortlieb, deren Ehemann einer der größten Holzindustriellen der Monarchie war. Laut Grundbuch hat Terry ihre Villa in der Gloriettegasse im Dezember 1919 an Sigmund Bosel verkauft. Bosel hatte damit ein wahrlich repräsentatives Domizil gefunden, um seine großbürgerlichen Ambitionen zu untermauern.13
Katharina Schratt und Sigmund Bosel dürften sich übrigens gekannt haben. Es ist zwar nicht überliefert, wann der zugezogene Multimillionär der berühmten Nachbarin vier Häuser weiter seine Aufwartung gemacht hat. 1922 war es aber jedenfalls so weit, dass die gute Frau Schratt wieder Geld gebraucht hat – so wie das früher öfters der Fall war, als Franz Joseph ihre Casino-Spielschulden in Monte Carlo begleichen musste. Was Katharina Schratt nun anzubieten hatte, waren zwei Schmuckstücke, die ihr der Kaiser einst geschenkt hatte und die sich Bosel ob seiner Schwäche für teure Preziosen nicht entgehen ließ.14
Leider ist kein einziges Fotos von der opulenten Einrichtung erhalten geblieben, mit der sich Sigmund Bosel umgeben hat. Weil Bosel jedoch 1926 riesige Steuerschulden aufgetürmt hatte und kurzzeitig sogar eine Pfändung im Raum stand, haben Gutachter den gesamten Hausrat damals genauestens katalogisiert. Die amtshandelnden Personen hatten nachher einiges zu erzählen – über den riesigen gelbweißen Teppich in der Eingangshalle, das pompöse Stiegenhaus mit den mannshohen chinesischen Vasen und die Salons, die mit Marmorbüsten römischer Kaiser, Standuhren in Versailles-Optik und üppigen Bronze-Lustern bestückt waren. Während der Inflationsjahre hatte Bosel zahlreiche Stilmöbel und Dekorationsgegenstände angeschafft, die vornehme Patrizierhaushalte verkaufen mussten, um finanziell über die Runden zu kommen. An den Wänden in der Gloriettegasse hingen flämische Gobelins, alte Meister, Bildteppiche mit Jagdszenen aus dem 17. Jahrhundert und persische Prunkteppiche.15
Einiges deutet darauf hin, dass Sigmund Bosel seine Prunkvilla lange Zeit nur als Schlafquartier verwendet hat. Anfangs soll er in der Gloriettegasse sogar nur ein einziges Zimmer bewohnt haben. Bosel war statushungrig, aber im Alltag relativ bedürfnislos. Obwohl er sich so etwas wie einen kleinen Hofstaat leistete, schlief er oft tagelang mit einem Ohr neben dem Telefon auf einem Klappbett in seinem Bankhaus. Gelebt haben soll er nur von schwarzem Kaffee, Zigaretten und leicht verdaulichem Gemüse, das ihm ein Kammerdiener servierte.16
Seine Herkunft soll der spartanisch lebende Aufsteiger nie vergessen haben. „Bosel ist an sich ein milder, gütiger Mensch, der mit innerer Zärtlichkeit an seinen alten Freunden hängt, die … mit ihm noch dritter Klasse gefahren sind, ehe ihm die erste Klasse und der Salonwagen offenstanden.“ War der Millionensassa ein Emporkömmling mit Bodenhaftung oder hatten untertänige Journalisten hier etwas dick aufgetragen? Bosel konnte sich bei solchen Schilderungen alle Finger abschlecken. Er war zwar einer der berühmt-berüchtigten „Könige der Inflation“, die den Kapitalismus auf die Spitze getrieben hatten. Aber er war viel besser angeschrieben als andere Spekulanten. „Als Mensch sticht Bosel vorteilhaft von vielen seines Schlages ab. Er war nie zugeknöpft, ja teilweise gab er mit vollen Händen“, schrieb der gewerkschaftsnahe deutsche Wirtschaftsjournalist Paul Ufermann.“17
Interessierte Zeitungsleser konnten erfahren, dass Bosel ein ungeheuerliches Arbeitspensum absolvierte. Bis zwei Uhr früh sei er in seinem Bankhaus über den Abrechnungen gesessen. „Wer ihn sprechen wollte, musste zu ihm kommen, auch Frauen, die ihm die Sorgen von der Stirn wegstreicheln wollten“, wusste Die Börse zu berichten. „Der große Milliardär Bosel ist an den Freuden des Lebens vorbeigegangen.“18
Bosel war auch zu scheu und viel zu wortkarg, um sich auf rauschenden Banketten wohlzufühlen. Bei gesellschaftlichen Verpflichtungen ließ sich er sich häufig von einem früheren österreichischen Vatikan-Botschafter vertreten, der in seinen Diensten stand. Die Nachtclub-Szene dürfte Bosel jedoch gut gekannt haben – vor allem die Femina-Bar in der Wiener Innenstadt. In den „sündigen Jahren der Inflationszeit“, wie Hugo Bettauer in seinem Roman Der Kampf um Wien schreibt, war die Femina ein angesagtes Revuelokal. Die Figuren in Bettauers Roman landen – nachdem sie vergnügungssüchtig um die Häuser gezogen sind – bisweilen in der Femina. Wer dort mit wem turtelte oder geheimnisvoll mauschelte, blieb Bosel nicht verborgen. Er war ein „nachtaktives Arbeitstier“ mit vielen Informanten, und ab 1926 dürfte die Femina überhaupt zur Hälfte ihm gehört haben.19
Bei Tageslicht ließ sich Sigmund Bosel selten in der Öffentlichkeit blicken, weil die Gefahr von Attentaten aufgetaucht war. Der Wiener Polizeichef Schober ließ Bosel daher auf Schritt und Tritt bewachen. Sowohl vor dem Bankhaus Bosel am Friedrich-Schmidt-Platz als auch vor der Hietzinger Villa waren ständig Sicherheitsbeamte postiert. Auf allen Autofahrten saß ein Kripobeamter neben dem Chauffeur. Eine Ahnung davon, dass Bosel als jüdischer Milliardär gefährdet war, konnte man im Februar 1924 bekommen, als Zeitungen in Wien und Prag über einen Attentatsplan gegen ihn berichteten. Ein Beamter hatte der Polizei den Hinweis geliefert, wonach ein Arbeiter in einem Wiener Gasthaus gesagt hätte, er werde „Bosel erschießen“. Die Polizei nahm den Mann fest und fand in seiner Wohnung einen Armeerevolver mit 70 Patronen. Im Verhör soll der Arbeiter, der ein Nazi-Parteimitglied war, zugegeben haben, dass er einen Anschlag auf Bosel geplant hatte, weil dieser als Spekulant die wirtschaftliche Notlage verschuldet hätte.20
Ende 1924 bekam es Bosel auch mit einer Erpressungsserie samt Todesdrohungen zu tun. Den ersten Erpresserbrief erhielt er im Dezember 1924. Ein junger Mann verlangte, dass beim Portier eines Wiener Hotels 150 Millionen Kronen deponiert werden. Wie vom Erpresser verlangt, ging Bosel mit dem Inserat „Schreiber, Wien, XIII – Bewilligt“ in der Tageszeitung Die Stunde auf die Forderung ein. Die Kriminalpolizei observierte den Ort der Geldübergabe – das „Hotel zur Goldenen Birne“. Der Erpresser hatte jedoch einen Dienstmann geschickt, der das Kuvert abholte und damit zum Wiener Westbahnhof fuhr. Hier konnten die Polizisten den bewaffneten Erpresser bei der Geldübernahme überwältigen.21
Durch den Vorfall hatte Die Stunde, an der Bosel nebenbei bemerkt finanziell beteiligt war, eine heiße Story auf Lager: „Es ist das Schicksal reicher Leute, dass sie von Zeit zu Zeit von Erpressern oder politischen Narren mit Drohungen, die sich gegen ihr Leben und ihren Besitz richten, belästigt und in Schrecken versetzt werden. Eine der beliebtesten Persönlichkeiten bei diesen Verbrechern ist der Präsident der Unionbank, Sigmund Bosel“, so das Blatt. „Nach den Hakenkreuzlern, die es als eines der wichtigsten ihrer politischen Ziele betrachten, Herrn Bosel um die Ecke zu bringen“, habe diesmal ein 21-jähriger Mann aus gutem Hause die weitere Sicherheit des Finanzmannes an das geforderte Erpressungsgeld geknüpft.22
Dass Attentate gegen prominente Persönlichkeiten eine reale Gefahr waren, führt der Tod von Hugo Bettauer vor Augen. Bekannt geworden war der umstrittene Bestsellerautor durch seine sozialkritischen Fortsetzungsromane. Den Roman Der Kampf um Wien hatte Bettauer in der Tageszeitung Der Tag herausgebracht, die von Sigmund Bosel finanziert wurde. Der wahre Aufreger war aber Bettauers Erotik-Zeitschrift Er und Sie, mit der sich dieser für eine progressive Sexualmoral starkmachte. Obwohl man Bettauer in einem Pornografie-Prozess freisprach, wurde er von rechtsgerichteten Gegnern und Antisemiten als „Jugendverderber“ und „perverses Kloaken-Tier“ verteufelt. Nazi-Propagandaschriften riefen zu „radikaler Selbsthilfe und Lynchjustiz gegen den Volksschänder“ auf. Bettauer bekam Morddrohungen, Polizeischutz lehnte er jedoch ab.23
Der Anschlag passierte schließlich am 10. März 1925 in Bettauers Büro. Der junge NSDAP-Anhänger Otto Rothstock streckte den Autor mit fünf Revolverschüssen nieder. Zwei Wochen später starb Bettauer an seinen Verletzungen. Die Ermordung des Schriftstellers, der ein Aushängeschild seiner Zeitung war, dürfte Bosel darin bestärkt haben, dass Leibwächter ihre Berechtigung hatten. Auch der Verleger Imre Békessy, mit dem Bosel geschäftlich zu tun hatte, bekam Polizeischutz, nachdem man in den Räumlichkeiten der Nazi-Jugendorganisation eine „Todesliste“ gefunden hatte. Bosel hatte sich bereits Monate davor eine unauffällige Autonummer besorgt, damit sein Wagen nicht mehr wie eine Staatskarosse daherkam.24 Aus dieser Zeit stammt wohl auch das Gerücht, dass Bosel nie einen Fuß in den Garten seiner Villa gesetzt hätte. Irgendeine Erklärung musste es geben, warum der steinreiche Workaholic mit den dunklen Augen immer so blass war.
Leben kam in den parkähnlichen Garten erst viele Jahre später durch die Bosel-Kinder Julie und Alfons, die sich – als sie schon größer waren – auf dem Gelände austoben konnten und vor allem die Kegelbahn hinterm Haus geliebt haben. „Wir sind uns manchmal wie Gäste vorgekommen, weil wir uns auf unseren Streifzügen durch das Anwesen ‚ordentlich‘ benehmen mussten“, schmunzelt Frau Marks. Warum das? Die Nachbarschaft sollte nicht allzu viel davon mitbekommen, dass Julie und ihr Bruder die unehelichen Kinder des Hausherrn waren. Bis 1937 waren die beiden Sprösslinge daher nur fallweise am Wochenende in der Gloriettegasse zu Besuch. Gewohnt haben die Kinder im Wiener Nobelbezirk Döbling, wo sie mit ihrer Mutter Ilona Schulz in einer Villa in der Silbergasse aufgewachsen sind. Behütet und eingepackt in erzieherische Zuckerwatte.
In der Silbergasse gibt es damals eine Köchin, zwei Stubenmädchen und einen Hausbesorger. Auch eine Anstandsdame schwirrt durch den Haushalt. Auf winzigen alten Fotos sieht man, wie die Gouvernante die kleinen Bosel-Sprösslinge bei einem Schaukelpferd bemuttert. „In der Silbergasse war es fantastisch“, erinnert sich Julie Marks. „Im Garten gab es in einer Hütte sogar ein Ringelspiel. Und mit meinem Bruder habe ich mich sehr gut verstanden. Wir beide sind in Wien auch nie in eine Schule gegangen.“ Die Kinder werden von einem Hauslehrer namens Eduard Landskron unterrichtet. Der pensionierte Schuldirektor stellt Julie und Alfons damals Zeugnisse wie in einer richtigen Schule aus, die er fein säuberlich mit Tinte schreibt.25
Den Kindern blieb verborgen, was der Vater während der Woche beruflich macht und warum er an vielen Abenden nicht zu Hause ist. Donnerstags durften die Bosel-Kinder den Papa jedoch in seinem eleganten Bürohaus in der Kramergasse besuchen. Nachher gab es mit der Mama öfters einen Abstecher in den Prater. Der Donnerstag war der Höhepunkt der Woche, an diesem Tag ist immer Kirtagsstimmung aufgekommen. „Wenn wir mit dem Auto in der Stadt herumgefahren sind und zu einer Kreuzung gekommen sind, dann haben die Polizisten immer beim Vorbeifahren salutiert“, erzählt Frau Marks. „Mein Bruder und ich waren sehr beeindruckt, und wir haben auch salutiert.“ Julie muss kurz kichern. „Das war wirklich spaßig. Die Beamten haben sogar dann salutiert, wenn nur mein Bruder und ich im Auto gesessen sind.“26
Von Berufs wegen kannten die Verkehrspolizisten damals die wichtigsten Autonummern der Stadt. Als Freund und Gönner der Exekutive war Bosel jedem Sicherheitsmann ein Begriff. Die Polizei hielt Bosel deshalb auch dann noch in Ehren, als es finanziell mit ihm bergab ging, was Bosel geschickt zu übertünchen wusste. Frau Marks kann sich noch gut an einen Fackelzug in der Ära Dollfuß erinnern, bei dem die Familie Bosel Ehrenplätze auf der VIP-Tribüne hatte.
Beim Plaudern mit Frau Marks wird mir plötzlich klar, dass sie seit 1950 nicht mehr in Österreich gewesen ist. Nach ihrer Rückkehr aus London, wo sie die Nazizeit überlebt hat, habe sie Wien nicht ausstehen können, sagt sie mir. Tief in ihr drinnen sind die Häuser in der Silbergasse und der Gloriettegasse aber lebendig geblieben. Julie zeigt mir auch alte Urlaubsbilder, auf denen sie Seite an Seite mit ihrem Vater und ihrem Bruder knöcheltief im Meer steht. Sigmund Bosel trägt auf dem Foto ein dunkles Badekleid, das in den 1930er Jahren für Männer nach wie vor gängig war und in diversen Seebädern noch Vorschrift gewesen ist. „Wir waren mit unseren Eltern auch auf Reisen. Wir waren in Venedig und in Viareggio in Italien am Strand. Es war absolut phantastisch, ich kam mir vor wie eine kleine Prinzessin.“27
Habe, Ich stelle mich, 102.
„Allerhöchste Eisenbahn“, Deutsche Stiftung Denkmalschutz, www.monumente-online.de.
ZEIT Online, 20.9.1991.
Herz-Kestranek/Arnbom, … also hab‘ ich nur mich selbst!, 11.
Stiefel, Camillo Castiglioni, 325f., Erman, Bei Kempinski, 107f.; Habe, Ich stelle mich, 102.
SchobA (Karton) 95, SB an Schober, 31.12.1922; Ufermann, Könige der Inflation, 83; WStLA, Vr 2562/373/226C, Einvernahme SB, 30.9.1936.
Wiener Wochenausgabe, 25.2.1950; Die Stunde, 21.7.1923; Neues Wiener Journal, 12.11.1922.
Interview mit Julie Marks, 17.2.2012.
Unterreiner, Die Habsburger, 92ff.; Markus, Katharina Schratt, 74ff. und 114ff.; Kurier, 22.2.2015.
Anna Nahowskis Tochter Helene, die spätere Frau des Komponisten Alban Berg, soll eine uneheliche Tochter von Kaiser Franz Joseph gewesen sein. Vgl. Markus, Katharina Schratt, 78f.; Kurier, 22.2.2015; Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, 76; Wohlfahrt, The Emperor close up and personal, in: Vocelka/Mutschlechner, Franz Joseph 1830–1916, 74; Morton, Wetterleuchten 1913/1914, 79f.
Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, 306ff.
Grundbuch Hietzing, EL 809, ZL 78, Umschreibeband S.89; AEF, Schiedsinstanz für Naturalrestitution, 724/2010, 9-42; Bermann, Illustrirter (sic!) Führer durch Wien und Umgebungen, S. X.
Zwischen 1915 und 1918 gehört die Villa Richard von Ortlieb.
WStLA, Vr 2562/373/226C Einvernahme SB, 1.10.1936; Markus, Die zweite Frau des Kaisers, 186ff.
HAPSK, M 28/3, Pfändungsprotokoll, 2.11.1926; Wiener Zeitung, 10.7.1938. // Die Schätzgutachter kamen 1926 auf die stolze Summe von 155.000 Schilling. Um den Wert der Einrichtung hätte man für sich genommen in Hietzing schon eine Villa mit Garten bekommen.
Franz, 14 und 37f.; Habe, Eine Zeit bricht zusammen, 14f.; Frischauer, Twilight in Vienna, 198.
Die Stunde, 22.7.1923; Ufermann, 83.
Die Börse, 11.11.1926.
Interview mit der US-Historikerin Gertrude Schneider. Ihr Vater Pinkas Hirschhorn erwarb in den 1920er Jahren durch seine Bekanntschaft mit Sigmund Bosel eine 2%ige Beteiligung an der Femina. Die Anteilsscheine warfen Zinsen ab, die von einer Bankfiliale in der Wiener Thaliastraße periodisch ausgezahlt wurden. Die jüdische Familie Hirschhorn hatte dadurch nach dem „Anschluss“ noch drei Jahre lang ein kleines finanzielles Zubrot. 1941 wurde die Femina-Bar von den Nazis geschlossen. Siehe zur Femina auch Frischauer, European Commuter, 116.
Die Stunde, 14.2.1924; Prager Tagblatt, 14.2.1924; Neuigkeits-Welt-Blatt, 14.2.1924.
SchobA, „Bewilligt“, Erpresserbrief vom 18.12.1924; Die Stunde, 7.4.1925.
Die Stunde, 11.1.1925.
Bettauer, Der Kampf um Wien, Nachwort von Murray G. Hall (2012); Hall, Der Fall Bettauer, 78; Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus, 147ff.; taz, 30.1.2013.
Neue Freie Presse, 26.3.1925, Habe, Ich stelle mich, 111; Franz, Siegmund Bosel, 14 u. 27.
WStLA, Vr 2562/373/226C, „Prüfungszeugnis von Eduard Landskron für Julchen Bosel, III. Klasse“.
Interview mit Julie Marks, 17.2.2012, Gespräch mit Julie Marks, 25.3.2016.
„My father was definitely a self-made man“, sagt Julie Marks. An ihrem Tonfall hört man, dass sie noch immer ungemein stolz ist auf die Lebensleistung ihres Vaters. Für Frau Marks ist es das erste Interview, das sie einem österreichischen Journalisten gibt. Am Abend davor hat sie mir beim Vorgespräch eine kleine Zigarettendose gezeigt, in der die Buchstaben „SB“ eingelassen sind. Neben einigen Briefen und alten Fotos ist die braune Holzschachtel das einzige Erinnerungsstück an den Vater. Ja, der Papa habe ziemlich viel geraucht, diese Gewohnheit sei ihr von ihm geblieben, meint Julie mit einem scherzhaften Augenzwinkern. Wie es überhaupt ganz schön hart gewesen sein müsse, dass er als starker Raucher aus religiösen Gründen jeden Freitagabend und den ganzen Samstag über keine Zigaretten angerührt hat.
Von der Fifth Avenue kommt ein hupendes Brummen herauf ins Wohnzimmer. Dennis, der Tontechniker, presst mit beiden Händen die Kopfhörer an die Ohren. Unten auf der Straße ist die Müllabfuhr vorgefahren. Ärgerlich, wo doch Julie beim Erzählen gerade so richtig in Fahrt war und angefangen hat, von ihrer Mutter zu berichten. Und davon, wie sich die Eltern kennengelernt haben dürften. Ein Blick des Tontechnikers sagt mir, dass wir das Interview leider unterbrechen müssen. Julie merkt, dass wir Tonprobleme haben, doch sie redet noch eine Weile weiter. Bis sie auf einmal „Yeah, I can hear it“ sagt und aufsteht, um sich eine von ihren dünnen langen Damenzigaretten zu holen.
Immer wieder hätten sie das in New York, meint Scott, der Kameramann, dass bei Fernseh-Interviews der Straßenlärm von draußen akustisch durchkommt. Ich gehe vom Wohnzimmer hinaus auf den Balkon. Der Blick hinunter auf den Central Park und hinüber zur Skyline der Upper Westside von Manhattan ist großartig. Das Wetter ist mild, der Park liegt in einem zarten Winterlicht. Die Müllabfuhr hat sich mittlerweile einige Blocks nach vorne gearbeitet. Während der Drehpause hat Julie langsam ihre Zigarette geraucht. „I can have a look in the mirror and put a little more lipstick on, if you want“, sagt sie vor einem kurzen Abstecher ins Badezimmer. Dann können wir weitermachen.
Die alte Dame sitzt für unsere Aufnahmen vor einer Kommode, über der ein großes Gemälde hängt, auf dem ein Herr mit gezwirbeltem Schnurrbart und dem Habitus eines altösterreichischen Industriekapitäns in die Ferne blickt. „He was a good-looking guy, wasn’t he, our grandpa!“, sagt Julie Marks freudig, während sie für eine Nahaufnahme zu ihrem Großvater Leopold hinaufschaut. Bosel senior posiert in eleganter Kleidung, mit dunkler Plastron-Krawatte und einem weißen Hemd mit Vatermörderkragen. Die linke Hand hält er lässig am Hosenbund. Das Bildnis seines Vaters hat Sigmund Bosel einst für viel Geld beim berühmten Porträt-Maler John Quincy Adams bestellt. Dieser hat Leopold Bosel, der ein schlecht verdienender Handelsvertreter war, nobel in Szene gesetzt. Wollte Bosel seinen eigenen Lebensentwurf dadurch stylen, dass Quincy Adams dem armen Vater nachträglich eine großbürgerliche Statur überstülpte?
Einen anderen Reim kann man sich auf das wunderschöne Gemälde eigentlich nicht machen. Wenn man sich Bosels märchenhaften Aufstieg vor Augen hält, ist es verständlich, dass der „Trillionär“ seinen familiären Hintergrund in ein eleganteres Licht tauchen wollte. Mit diesem Bemühen war Bosel auch nicht allein. Er und andere Aufsteiger buhlten um die Aufnahme in die Wiener High Society, die neureiche Parvenüs lange auf Respektabstand gehalten hat. Der Presse blieb dieses Schauspiel nicht verborgen: „Die jungen Reichen, die … mit gut gespielter Grandezza ihre Visitenkarten in der ganzen Welt abgeben, haben sich den alten Reichen in ihren Sitten und Gebräuchen so genähert, dass ihre Vergangenheit beinahe so entschwindet wie die Landschaft dem Eisenbahncoupé.“1
Bosel mag zwar innerlich mit dem Luxus auf Kriegsfuß gelebt haben. Nach außen hin hat er aber sehr wohl den Lebensstil imitiert, den der Geldadel vor dem Ersten Weltkrieg gepflogen hatte. 1923 gab es über sein Auftreten auch nichts mehr zu lachen. Als Großaktionär der Unionbank hatte er sich das Tor zu einem richtigen Bankpalast aufgestoßen. Nun war er in der Lage, nach Lust und Laune durch die Etagen eines Gebäudes zu streifen, in dem die Klinken der gepolsterten Türen in Schulterhöhe angebracht waren und jeder Kreditnehmer das Gefühl haben musste, für ewig ein Bittsteller zu bleiben. Dass die alteingesessenen Generaldirektoren über das Tempo pikiert waren, mit dem junge Emporkömmlinge wie er ans Werk gingen, hat Bosel kalt gelassen. Ihn trieb der Ehrgeiz, im Zeitraffer ein zweiter Rothschild zu werden. „Am Anfang seiner Laufbahn hat mein Vater nichts gehabt“, betont Julie Marks. „Auch mein Großvater hat ursprünglich nichts besessen. Ich finde es großartig, dass mein Vater so viel Geld verdienen konnte und so reich geworden ist.“2
Nicht mal ein Jahrzehnt hat Sigmund Bosel gebraucht, um es vom kleinen Textilunternehmer im Schicksalsjahr 1914 zum überlebensgroßen Banker des Jahres 1923 zu schaffen. Von Null auf Hundert in nur neun Jahren. Eigentlich eine amerikanische Tellerwäscher-Karriere, nur halt in Bosels Fall auf Wienerisch. Der Papa sei eben brillant gewesen, meint Frau Marks, und wirklich clever.
Eine gute Figur hatte Bosel schon als Lehrling gemacht, im Wiener Textilwaren-Geschäft „König & Goldner“. Hier beginnt der junge Sigmund 1908 mit 15 sein Berufsleben – nach fünf Jahren Volksschule, drei Jahren Bürgerschule und einem Jahr Handelsschule. Ein guter Schüler soll Bosel nicht gewesen sein. Doch die Inhaber der Firma sind begeistert, wie der neue Mitarbeiter an seine Aufgaben herangeht. Firmenchef Philipp Goldner wird später dem Wiener Tagblatt erzählen, dass Bosel ein Mitarbeiter war, wie man ihn sich nur wünschen konnte, ein „Praktikant par excellence – brav, anständig, fix, fleißig und vif“. Bosels Abteilungsleiter Michael Rosenbaum wird rückblickend sagen, dass der Super-Lehrling ein junger Mann mit „unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit“ gewesen sei. Bosel erweist sich bei „König & Goldner“ bald als Verkaufskanone.3 Auf Wunsch übernimmt der junge Sigmund auch die Zustellung von Wäschepaketen an so mache Hofratswitwe. Nebenbei erledigt er als dienstbeflissener Handlungsgehilfe für treue Kunden die eine oder andere Besorgung. Zu diesen Botengängen gibt es eine Anekdote, die fast zu gut ist, um wahr zu sein. Demnach hat sich Bosel von zusammengesparten Trinkgeldern eine Aktie gekauft, und zwar eine der Unionbank – jener Großbank, in der er am Höhepunkt seiner Karriere im Chefsessel thronen sollte.4
Im Frühjahr 1914 macht sich Sigmund Bosel selbständig. Mit seinem Arbeitskollegen Rosenbaum, der viel auf ihn hält, gründet er im Mai eine Firma für Wäschewaren, die im Handelsregister als „Pfaidlergewerbe“ eingetragen wird – dem damaligen Begriff für Kleidergeschäfte, die typischerweise Schürzen, Blusen und Hemden führen durften. Bosel ist tüchtig und zielstrebig, er will es in der Textilbranche weiter bringen als sein Vater Leopold, der als „armer Hausierer“ die Familie anfangs nur mit Müh‘ und Not ernähren konnte.5
Nach Wien gekommen war die Familie Bosel ursprünglich um das Jahr 1850 herum aus der Gegend um die südböhmische Stadt Znaim. Die k.u.k. Metropole erlebt damals einen Zuwanderboom, der durch die Industrialisierung und die Hoffnung auf bessere Arbeitsplätze ausgelöst worden ist. So wie die Familie Bosel zieht es auch viele andere jüdische Familien aus der Provinz in die Kaiserstadt. Manche von ihnen haben den Wiener Textilhandel bis in die Zwischenkriegszeit hinein geprägt.6
Bosels Mutter hieß mit Mädchennamen Nossig. Sie war mit ihren Eltern aus Lemberg in Galizien nach Wien übersiedelt, wo die beiden Zuwandererfamilien im selben Zinshaus landen. Leopold Bosel und Julie Nossig wachsen als Nachbarskinder auf und werden ein Liebespaar. Die beiden bekommen sechs Kinder: Max, Elsa, Sigmund, Olga, Robert und Alfred, wobei der älteste Sohn Max noch vor der Heirat geboren wird. Der kleine Sigmund erblickt das Licht der Welt als Nummer drei der Kinderschar am 10. Jänner 1893. Sein Zuhause ist ein rechtschaffenes kleinbürgerliches Elternhaus in Wien-Brigittenau, in dem das Geld kaum reicht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Bosel mit unermüdlichem Arbeitseifer hinaufarbeiten will.7
Bosel und Rosenbaum haben als Firmengründer eine interne Arbeitsteilung: Rosenbaum kümmert sich um die Finanzen, Bosel um den Verkauf. Vor allem die Damen-Kundschaft wird von ihm glänzend bedient.8 Obwohl Bosel ein begnadeter Verkäufer war, wäre ihm durch den Handel mit Leinen und anderen Stoffen aber keine außergewöhnliche Laufbahn geglückt. Denn der Textilsektor ist im Fin-de-Siècle-Wien alles andere als ein Wachstumsmarkt. Kleiderfabrikanten wie die Familiendynastie Mandl und andere haben ihre Marktanteile nach der Jahrhundertwende längst abgesteckt. Kaufhausmillionäre wie August Herzmansky oder Alfred Gerngroß und die vielen exklusiven Modesalons der Stadt können auf eine Fülle von Zulieferfirmen zurückgreifen. In den traditionellen Branchen ist die Luft für Neueinsteiger bereits dünn gewesen. Zum Reichwerden in der Ringstraßengesellschaft war Bosel zu spät auf die Welt gekommen.9
Sigmund Bosel ist 21 Jahre alt und gerade erst zwei Monate lang Unternehmer, als Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Hunderttausende bekommen ihren Einrückungsbefehl, und viele wollen vor lauter Kriegsbegeisterung schnell weg von ihrem Arbeitsplatz an die Front, um nur ja nichts vom mannhaften „Abenteuerausflug“ ins Feindesland zu versäumen. Nach den blutigen Verlusten bei den Sommerschlachten im Osten schlägt die anfängliche Kriegseuphorie der Bevölkerung jedoch bald um. Die Wirtschaft der Donaumonarchie muss auf einen langen und zermürbenden Krieg umgestellt werden. Die Militärmaschinerie beginnt, gewaltige Mengen an Lebensmitteln, Rohstoffen und Versorgungsgütern zu verschlingen.10
Für die Firmengründer Bosel und Rosenbaum ist der Kriegsausbruch kein guter Start. Im Geschäft bleiben kann Bosel nur dann, wenn er nicht eingezogen wird. Während sein Partner Rosenbaum 1915 einrücken muss, wird Bosel von der zuständigen Stellungskommission „aus gesundheitlichen Gründen“ für untauglich erklärt. Angeblich sollen auch „einflussreiche Damen“ dabei mitgeholfen haben, dass dem schmächtigen, aber charmanten Jungunternehmer der Militärdienst erspart geblieben ist.11
Diese Weggabelung des Schicksals hat in späteren Berichten über Bosels Aufstieg vom „allerkleinsten Ladenbesitzer zum Mitbeherrscher Österreichs“ eine wichtige Rolle gespielt. Viele haben sich gefragt, wie es Bosel nur angestellt hat, dass er ohne seinen Kompagnon bei der Versorgung von Kriegsflüchtlingen in großem Stil Kasse machen konnte. Die einen rühmten sein kaufmännisches Genie, während die anderen seinen Erfolg als das Produkt glücklicher Verbindungen abgetan haben.
Und so taucht in den schillernden Erzählungen über seine Anfänge als Flüchtlingslagerlieferant eine holde Fee auf, die Bosel die Hand zum Millionärsleben reicht. Und zwar in der Person einer hübschen Offiziersgattin, die als Tochter eines ehemaligen Sektionschefs beste Beziehungen zu diversen Entscheidungsträgern gehabt hätte, wie in der linken Boulevard-Zeitung Der Abend zu lesen war. „Das Milchgesicht Bosel, zitternd vor Aufregung, da er hier den Schlüssel zum Sesam wittert, setzt ihr mit allen Mitteln der Schauspielerei, mit Versprechungen, flehentlichen Bitten zu, sie möge sich seiner annehmen … und gibt es ihr mündlich und schriftlich, dass er den Gewinn aus allen Geschäften, die er ihrer Fürsprache verdankt, redlich mit ihr teilen werde.“12
Nachdem Der Abend an Bosel nie ein gutes Haar gelassen hat, überrascht es nicht, dass er der Zeitung zufolge seine Geschäftspartnerin später „mit einem Butterbrot abgespeist“ haben soll. Einer anderen Version nach hätte Bosel instinktiv erkannt, dass sich durch die Flüchtlingswellen im Windschatten der missglückten Feldzüge geschäftliche Chancen auftun könnten. Demnach soll er 1914 durch frühzeitige Hamsterkäufe ein Warenlager angelegt haben, mit dem er später bei der Belieferung von Flüchtlingslagern auftrumpfen konnte.13
Tatsache ist: Die Flüchtlingslager auf österreichischem Boden sind deshalb entstanden, weil der Krieg große Menschenmassen in Bewegung gesetzt hatte. Anfangs handelte es sich um die Bewohner der Grenzgebiete zu Serbien und Russland. Ganz Landstriche wurden evakuiert, um die gefährdete Zivilbevölkerung vor den Kampfhandlungen in Sicherheit zu bringen. Die Kriegsplaner wollten die Truppen auch ungestört und unbeobachtet bewegen können. Zehntausende Untertanen des Kaisers wurden zwangsweise umgesiedelt. Im August 1914 kam es deshalb in Galizien und in der Bukowina zu einer ersten Völkerwanderung in das Innere der Monarchie, wie der Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem Standardwerk über den Ersten Weltkrieg schreibt.14
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn musste die k.u.k. Armee schwere Niederlagen gegen russische Truppen einstecken. Es kam der Befehl zum Rückzug, der eine gewaltige Flüchtlingslawine ins Hinterland der österreichischen Reichshälfte auslöste. Im November 1914 gab es in Wien bereits 140.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina. Weil die beiden Gebiete zur österreichischen Reichshälfte gehörten, musste Österreich weit mehr Flüchtlinge aufnehmen als Ungarn, wo man sich mit allen Mitteln der Kunst gegen die k.u.k. Landsleute gewehrt hat. Die österreichischen Behörden sind deshalb vor der Herausforderung gestanden, dass hunderttausende Menschen entweder nach Böhmen, nach Mähren oder ins Innere Österreichs gelenkt werden mussten. Somit hat sich das Innenministerium in Wien darum kümmern müssen, dass die vielen mittellosen Flüchtlinge möglichst rasch in österreichischen Auffanglagern untergebracht werden. Aufgebaut wurden diese Lager meist von Kriegsgefangenen und von Privatfirmen. Ortsansässige Handwerker sind dadurch zu Aufträgen gekommen. Mit der Errichtung der Lager war es aber nicht getan. Die Menschen in den Barackensiedlungen mussten laufend mit Nahrung versorgt werden. Sie haben auch Taschengeld bekommen und sie wurden mit Bekleidung, Schuhwerk und Decken ausgerüstet.15
So wie viele andere Geschäftsleute versucht auch Sigmund Bosel, ab dem Herbst 1914 bei den verschiedenen Flüchtlingslagern Lieferaufträge aufzureißen. Ende Dezember müssen in der österreichischen Reichshälfte schon mehr als 290.000 Flüchtlinge und Zwangsevakuierte versorgt werden, Anfang Jänner 1915 sind es schon über 320.000. Die Aufteilung der Flüchtlingsmassen führt zu heftigen Konflikten zwischen dem Ministerium und den lokalen Behörden, die sich häufig gegen die „Ostflüchtlinge“ wehren. Die größten Aufnahmelager entstehen in Niederösterreich, wo die Heimatlosen abhängig von ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, ihrer Sprache und ihrer Religion in unterschiedlichen Orten untergebracht werden.16
Während die Flüchtlingslawine für die Behörden eine enorme logistische Herausforderung war, entstand für umtriebige Lieferanten wie Sigmund Bosel vor der Haustür ein riesiger Absatzmarkt. „Unter all den Lieferanten, die sich bemühten, Lieferungen in den benötigten Bedarfsartikeln zu erlangen, glückte es hauptsächlich Sigmund Bosel, ins Geschäft zu kommen. Er bekam anfangs kleinere Aufträge, die er zur vollsten Zufriedenheit seiner behördlichen Auftraggeber erledigte“, wie es in der Schilderung von Karl Franz heißt. „Das Vertrauen zu ihm hob sich. Immer mehr und mehr kam er ins Geschäft, immer größere Aufträge wurden ihm zugeteilt.“ Bosel erwirbt den Ruf, ein Tausendsassa zu sein, der einfach alles beschaffen und liefern kann.17
Der damalige niederösterreichische Statthalter Oktavian Regner Freiherr von Bleyleben und sein Landesamtsdirektor Bruno Graf Castell-Rüdenhausen werden auf den tüchtigen Lieferanten aufmerksam. Bosel handelt ein Vergütungsschema aus, das ihm von den Einkäufen im Auftrag der Behörden eine entsprechende Provision garantiert: sechs Prozent von jeder Rechnungssumme als Honorar und 9 Prozent als Aufwandsersatz. Hat eine Rechnung 100 Kronen ausgemacht, sind somit 15 Kronen in Bosels Kassen geflossen. Da er im Auftrag der niederösterreichischen Statthalterei riesige Liefermengen organisiert, wird die ganze Sache ein Bombengeschäft.
Damit die Bediensteten in der niederösterreichischen Statthalterei keine allzu langen Zähne bekommen, sorgt Bosel dafür, dass auch sie an seinen Beschaffungsaktionen mitnaschen können. Er richtet einen Lebensmittellagerbetrieb ein, in dem die Beamten günstig einkaufen können, und er beliefert die Statthalterei mit Bekleidung, damit es den dortigen Beamten an nichts fehlt.18
Als Kaufmann in Kriegszeiten gehört Bosel auch zu jenen, die Geld fürs Vaterland hergeben und Kriegsanleihen zeichnen. Wer solche Anleihen gekauft hat, konnte Patriotismus demonstrieren und seine Kaisertreue finanziell unter Beweis stellen. Bei den entsprechenden Erhebungen musste das Kriegsministerium allerdings erkennen, dass die Hälfte der Großlieferanten nicht in Kriegspapiere investiert hatte. Auch überraschend viele Hocharistokraten drückten sich davor, die Kriegsführung mit ihrem persönlichen Vermögen zu unterstützen. Die Firma Bosel & Rosenbaum hat sich nichts nachsagen lassen. Bosel beteiligte sich im April 1916 mit 50.000 Kronen an der 4. Kriegsanleihe. Für einen Lieferanten von seinem Kaliber war das allerdings nicht wirklich viel. Zuversicht in den militärischen Sieg hat er damit nicht dokumentiert.19
Im November 1916 wird Bosel wird von der „Bekleidungsstelle für Kriegsflüchtlinge“ im k.k. Innenministerium mit einer patriotischen Shoppingtour beauftragt.20