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Goethe der Naturforscher – die große Biographie Einfühlsam und mit großer Erzählkunst zeichnet Stefan Bollmann ein überraschend neues Bild des Dichterfürsten und entdeckt den Naturforscher und Naturschriftsteller Goethe. Eine glänzend geschriebene Biographie, in deren Zentrum seine lebenslange Naturerfahrung und ihre hohe Aktualität für unsere Zeit stehen. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war nicht nur als Dichter und Schriftsteller ein Kristallisationspunkt seiner Zeit. Sein umfangreiches literarisches Werk bezeugt eine eingehende Beschäftigung mit Naturforschung und sein Leben ist von einem ununterbrochenen, intensiven Erleben der Natur in allen Erscheinungen tief geprägt und geformt. Souverän erschließt Stefan Bollmann in dieser Biographie dieses lange Zeit vernachlässigte Naturverständnis und vermittelt uns ein überraschend neues Goethebild. Auf einer spannenden Entdeckungsreise durch Goethes Landschaften, seine Texte und Gedanken begleiten wir ihn in Italien, in der Schweiz, beobachten ihn bei seinen Forschungen in Thüringen und im Harz. Wir nehmen teil an seinen geologischen, anatomischen, botanischen und optischen Untersuchungen, werden Zeuge seiner Freundschaft mit Alexander von Humboldt – und verstehen unsere eigene tiefe Sehnsucht nach der Natur neu. Goethe kann uns lehren, unsere Stellung in der Natur neu zu verorten. Eine große Geschichte der Naturwahrnehmung und zugleich ein hochaktuelles Buch, das zeigt, wie Goethes sinnlich anschauliche Erfahrung der Natur auch heute noch Grundlage unserer Humanität und Lebendigkeit sein kann.
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Seitenzahl: 1196
Stefan Bollmann
Der Atem der Welt
Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburgunter Verwendung einer Abbildung von © akg-images, Bridgeman Images; Shutterstock, Albert Russ, Mali lucky
Gesetzt von von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-96597-1
E-Book ISBN 978-3-608-12103-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Prolog
Teil I:
Erfahrungen
Ein Stadtkind
Erstes Kapitel, in dem Goethe beinahe nicht zur Welt kommt
Zweites Kapitel, in dem ziemlich viel Geschirr zerdeppert wird und wir zusammen mit dem kleinen Goethe die Stadt Frankfurt kennenlernen
Drittes Kapitel, in dem Nachrichten aus Lissabon den kleinen Goethe in revolutionäre Aufregung versetzen und er schließlich einen Naturaltar baut
Lehrjahre
Viertes Kapitel, in dem Goethe sein Liebesleid mit einem Waldbad kuriert
Fünftes Kapitel, in dem Goethe Erfahrungen macht, nicht zuletzt solche, die er gar nicht machen möchte
Sechstes Kapitel, in dem Goethe das Buch der Natur entdeckt und nach einem Lektüreschlüssel sucht
Siebentes Kapitel, in dem Goethe ein Nordlicht beobachtet, den Turm des Straßburger Münsters besteigt und einen brennenden Berg besichtigt
Achtes Kapitel, in dem lauter Bomben hochgehen und Goethe zum Wanderer wird
Wanderjahre
Neuntes Kapitel, in dem der Wanderer eine Bleibe sucht
Zehntes Kapitel, in dem Goethe aus der Erfahrung unmöglicher Liebe einen Bestseller macht
Elftes Kapitel, in dem Spinoza zu Goethes Hausheiligem wird und er eine Geniereise in die Schweiz unternimmt
Stein-Zeit
Zwölftes Kapitel, in dem das Unwahrscheinliche Wirklichkeit wird
Dreizehntes Kapitel, in dem Goethe unter Tage geht und auf Gipfel steigt und dabei entdeckt, dass die Natur eine Geschichte hat
Vierzehntes Kapitel, in dem Goethe eine Winterreise unternimmt
Fünfzehntes Kapitel, in dem Goethe mit Herzog Carl August in die Schweiz reist und über eine Eiszeit nachzudenken beginnt
Sechzehntes Kapitel, in dem Goethe einen Roman über das Weltall plant
Teil
II
:
Forschungen
Entdeckungen
Siebzehntes Kapitel, in dem ein Fragment große Schatten wirft
Achtzehntes Kapitel, in dem ein Knochen im Mittelpunkt steht
Neunzehntes Kapitel, in dem es noch einmal um Spinoza geht
Zwanzigstes Kapitel, in dem Goethe ins Mikroskop schaut, es mit Linné zu tun bekommt und schließlich seine Sachen packt
Metamorphosen
Einundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe nach Italien reist und den Vesuv belagert
Zweiundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe die Urpflanze sucht und eine durchgewachsene Rose findet
Dreiundzwanzigstes Kapitel, in dem es um die Metamorphose der Pflanzen geht
Vierundzwanzigstes Kapitel, das Farbe in Goethes Leben bringt
Abenteuer der Ideen
Fünfundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe beinahe den Impressionismus erfindet
Sechsundzwanzigstes Kapitel, in dem ein Füllhorn ausgeschüttet wird
Siebenundzwanzigstes Kapitel, in dem vor allem experimentiert wird
Achtundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe seinen Plan eines Romans über das Weltall erst an Schelling und dann an Humboldt abtritt
Der Atem der Welt
Neunundzwanzigstes Kapitel, in dem wir ins »Allerheiligste der Farben« vordringen
Dreißigstes Kapitel, in dem die Erde eine Atmosphäre bekommt
Einunddreißigstes Kapitel, in dem ein Mensch gemacht wird
Zweiunddreißigstes Kapitel, in dem der Wanderer Abschied nimmt
Epilog
Tafelteil
Anhang
Dank
Anmerkungen
Prolog
Erstes Kapitel, in dem Goethe beinahe nicht zur Welt kommt
Zweites Kapitel, in dem ziemlich viel Geschirr zerdeppert wird und wir zusammen mit dem kleinen Goethe die Stadt Frankfurt kennenlernen
Drittes Kapitel, in dem Nachrichten aus Lissabon den kleinen Goethe in revolutionäre Aufregung versetzen und er schließlich einen Naturaltar baut
Viertes Kapitel, in dem Goethe sein Liebesleid mit einem Waldbad kuriert
Fünftes Kapitel, in dem Goethe Erfahrungen macht, nicht zuletzt solche, die er gar nicht machen möchte
Sechstes Kapitel, in dem Goethe das Buch der Natur entdeckt und nach einem Lektüreschlüssel sucht
Siebentes Kapitel, in dem Goethe ein Nordlicht beobachtet, den Turm des Straßburger Münsters besteigt und einen brennenden Berg besichtigt
Achtes Kapitel, in dem lauter Bomben hochgehen und Goethe zum Wanderer wird
Neuntes Kapitel, in dem der Wanderer eine Bleibe sucht
Zehntes Kapitel, in dem Goethe aus der Erfahrung unmöglicher Liebe einen Bestseller macht
Elftes Kapitel, in dem Spinoza zu Goethes Hausheiligem wird und er eine Geniereise in die Schweiz unternimmt
Zwölftes Kapitel, in dem das Unwahrscheinliche Wirklichkeit wird
Dreizehntes Kapitel, in dem Goethe unter Tage geht und auf Gipfel steigt und dabei entdeckt, dass die Natur eine Geschichte hat
Vierzehntes Kapitel, in dem Goethe eine Winterreise unternimmt
Fünfzehntes Kapitel, in dem Goethe mit Herzog Carl August in die Schweiz reist und über eine Eiszeit nachzudenken beginnt
Sechzehntes Kapitel, in dem Goethe einen Roman über das Weltall plant
Siebzehntes Kapitel, in dem ein Fragment große Schatten wirft
Achtzehntes Kapitel, in dem ein Knochen im Mittelpunkt steht
Neunzehntes Kapitel, in dem es noch einmal um Spinoza geht
Zwanzigstes Kapitel, in dem Goethe ins Mikroskop schaut, es mit Linné zu tun bekommt und schließlich seine Sachen packt
Einundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe nach Italien reist und den Vesuv belagert
Zweiundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe die Urpflanze sucht und eine durchgewachsene Rose findet
Dreiundzwanzigstes Kapitel, in dem es um die Metamorphose der Pflanzen geht
Vierundzwanzigstes Kapitel, das Farbe in Goethes Leben bringt
Fünfundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe beinahe den Impressionismus erfindet
Sechsundzwanzigstes Kapitel, in dem ein Füllhorn ausgeschüttet wird
Siebenundzwanzigstes Kapitel, in dem vor allem experimentiert wird
Achtundzwanzigstes Kapitel, in dem Goethe seinen Plan eines Romans über das Weltall erst an Schelling und dann an Humboldt abtritt
Neunundzwanzigstes Kapitel, in dem wir ins »Allerheiligste der Farben« vordringen
Dreißigstes Kapitel, in dem die Erde eine Atmosphäre bekommt
Einunddreißigstes Kapitel, in dem ein Mensch gemacht wird
Zweiunddreißigstes Kapitel, in dem der Wanderer Abschied nimmt
Epilog
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Für Christiane
Und – hören Sie! Ich würde mich getrauen, den orthodoxen Satz zu vertheidigen, daß Goethe’s Geist eigentlich zum Naturforschen angewiesen war: Goethe’s Geist zergliederte; im Werther die Liebe, im Wilhelm Meister das Leben, in den Dramen Geschichte und Leben. Überall Sistematik, Ordnung, Logik in Vers und Prosa … Er arbeitet durch den Schacht der Gefühle zur Klarheit hinaus. Daher die Erscheinung, daß er den Leser so bewältigt, weil er fast mathematisch Alles beweist; da hängt Glied an Glied fest und aus der Kette ist kein Entrinnen möglich. Diese Eigenschaften sind aber alle die des Forschers. Ich verehre Goethe als Dichter, doch scheint es mir eine Ablenkung seines Geistes, der wir freilich mehr danken, als dem geradesten Wege manches selbst ausgezeichneten Geistes, daß er dichtete, während er zum Forschen am organisiertesten war. … Und – beweist er meine Ansicht nicht durch sein Leben selbst? Im letzten Drittheile seines Lebens forschte er der Natur nach, und wie einst die Liebe, das Leben, oder die Geschichte, so wurde jetzt die Farbe, die Pflanze oder ein Knochen das Objekt.
Der Naturforscher Kaspar Maria von Sternberg 1837, nach Aufzeichnungen von Ludwig August Frankl
Denk nicht, sondern schau!
Ludwig Wittgenstein
Wer Mitte der 1790er Jahre in Weimar weilte, dem konnte es passieren – so wird erzählt –, dass sie oder er einem Mann im fortgeschrittenen Alter und mit deutlich hervortretendem Bauchansatz begegnete, der beim Spazierengehen wild mit den Armen ruderte. Darauf angesprochen, was er damit bezwecke, erklärte er, dass diese Art der Fortbewegung an die der Tiere erinnere und mithin naturgemäßer sei. Nie um alles in der Welt würde er sich etwa unterstehen, mit einem Stock zu gehen.
Es kann aber auch sein, dass Karl August Böttiger(1), der boshafte Direktor des Weimarer Gymnasiums, diese Geschichte nur in die Welt gesetzt hat,[1] um dem allgemeinen Erstaunen darüber Ausdruck zu verleihen, dass der Dichter – denn ein Dichter war besagter Mann – sich schon wieder mit lauter Absonderlichkeiten abgab. Etwa mit einem »bis zur Affektation getriebenen Attachment an die Natur«, wie ein Autorenkollege das nannte, oder der Idee, dass wir erst Pflanzen und Tiere waren und ganz ungewiss sei, was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wie sich eine Dame(1) der Gesellschaft ausgedrückt hatte, zu einer Zeit, als sie noch die platonische Geliebte des Dichters gewesen war.[2]
Der Dichter war kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, vor gut fünf Jahren aus Italien heimgekehrt, von wo ihn schon niemand mehr außer dem Herzog Carl August(1) zurückerwartet hatte. Carl August war nicht nur sein Dienst- und Schirmherr, sondern seit Goethes Anfängen in Weimar mit ihm in einer alle gegenseitigen Irritationen überdauernden Männerfreundschaft verbunden.
Nach seiner zweijährigen Abwesenheit hatte Goethe in vielfacher Weise von sich reden gemacht – nach dem allgemeinen Urteil der Weimarer Gesellschaft vornehmlich negativ. Erst hatte er sich eine heimliche, völlig unstandesgemäße Geliebte zugelegt, die im Landes-Industrie-Comptoir des Unternehmers Friedrich Justin Bertuch(1) künstliche Blumen herstellte, und mit der er schon bald in wilder Ehe zusammenlebte, sogar einen Sohn zeugte. Dann hatte er Römische Elegien und Venezianische Epigramme gedichtet, wobei sich die letzteren von den ersteren nicht nur in Versmaß und -form unterscheiden, sondern vor allem dadurch, dass sie sich noch anstößiger ausnahmen. Und nun schien er sich nicht genug austauschen zu können mit diesem jungen Oberbergrat(1), der noch um einiges jünger war als seine Geliebte, von dem jedoch alle Welt ahnte, dass er homosexuell war, und mit dem gemeinsam er die seltsamsten Experimente unternahm – nicht nur in Weimar selbst, sondern auch in der nahen Universitätsstadt Jena. Da wurden etwa präparierte Froschschenkel auf eine Glasplatte gelegt und deren Nerven- und Muskelenden mit verschiedenen metallischen Leitern verbunden. Beugte man sich mit dem Gesicht und dem Mund darüber, kam es zum Erstaunen aller zu so heftigen Zuckungen, dass der Froschschenkel von der Platte herabflog. Mit dem Hauch des eigenen Atems schien man das Froschbein in Bewegung versetzen zu können. »Das Experiment sieht einem Zauber ähnlich, indem man bald – Leben einhaucht, bald den belebenden Odem zurücknimmt!«, meinte der junge Oberbergrat, der durch und durch Naturwissenschaftler war und sogar bekannte, nicht existieren zu können, ohne zu experimentieren.[3] Und auch Goethe zeigte sich beeindruckt: »Wie merkwürdig ist, was ein bloßer Hauch … thun kann!«[4]
Der Oberbergrat war Alexander von Humboldt(2), Absolvent der berühmten Bergakademie in Freiberg und laut Friedrich Schiller(1), dessen Freundschaft mit Goethe damals gerade begann, »in Deutschland gewiss der vorzüglichste in seinem Fache«. Er übertreffe »an Kopf vielleicht noch seinen Bruder, der gewiß sehr vorzüglich ist«.[5] Goethe und der Allervorzüglichste sind sich zum ersten Mal im Winter 1794/95 in der Universitätsstadt Jena begegnet, annähernd fünf Jahre, bevor Alexander von Humboldt(3) mit seinem Aufbruch in die Tropen als Entdeckungsreisender die Welt erobern und Geschichte schreiben sollte. Gleich kam man ins Gespräch über Naturwissenschaften, über Geologie, Botanik, Anatomie, Physiologie. Es war tiefe Sympathie auf den ersten Blick, unverständlich für alle, die in dem Jüngeren nur den »nackten schneidenden Verstand« sehen wollten, dem Älteren hingegen aus der Seele zu sprechen meinten, wenn sie verkündeten, die Natur müsse »angeschaut und empfunden werden, in ihren einzelnsten Erscheinungen, wie in ihren höchsten Gesetzen«.[6]
Das klingt zwar bis heute nach Goethe, stammt aber ebenfalls von Schiller(2). Dieser fand Alexander von Humboldt(4) schon bald gar nicht mehr so vorzüglich, nicht zuletzt weil er in ihm einen Konkurrenten in seiner Freundschaft zu Goethe witterte. Andererseits unterschätzte er die Bedeutung, die sein Freund Naturforschung und Naturwissenschaft, Beobachtung und Experiment beimaß.
Goethe ist zeitlebens nicht müde geworden, Humboldts(5) immense Kenntnisse, sein lebendiges Wissen, seinen Forscherdrang und seine Vielseitigkeit zu rühmen. Der junge Oberbergrat war vielleicht der einzige Mann, dem der Weimarer Geheime Rat sich zumindest teilweise unterlegen fühlte. Immer noch vom eigenen Lebenstempo und seiner raschen Auffassungsgabe überzeugt, pflegte der auf die Fünfzig zugehende Goethe trocken zu bemerken, die Leute hielten mit ihm nicht Schritt; wenn sie glaubten, er weile noch in Weimar, sei er schon längst in Erfurt angekommen. Mit Humboldt(6) aber bekam er es mit einem jungen Mann zu tun, dessen Sturmlauf ihn das Staunen lehrte: »Man könnte in acht Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt«, äußerte er sich gegenüber Carl August(2), als Alexander von Humboldt(7) einmal mehr in seiner Nähe weilte.[7]
Ermuntert durch ihn begann Goethe, im Januar 1795 den Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie zu verfassen – anders als der umständliche und spezialistisch klingende Titel vermuten lässt, eine grundlegende Skizze seiner Morphologie, Zentrum seines naturwissenschaftlichen Denkens. Jeden Morgen um sieben Uhr trat der junge Medizinstudent Max Jacobi(1) zu einem ersten Diktat an sein Bett, bevor Goethe dann um acht Uhr durch »tiefsten Schnee«, wie er sich erinnert, zur Jenaer Universität eilte, um dort gemeinsam mit Alexander von Humboldt(8) und dessen Bruder Wilhelm(1) einer Vorlesung des Anatomen Justus Christian Loder(1) über Bänderlehre beizuwohnen, die durch die Anwesenheit von so viel Prominenz fast den Charakter eines gesellschaftlichen Ereignisses bekam.[8] Loder war stolz, gerade für diese Vorlesung sechs Leichen für Demonstrationen zur Verfügung zu haben. Sie seien zwar »alle hart gefroren«, würden »sich aber nach und nach … auftauen lassen«, hatte er Goethe im Vorhinein frohgemut angekündigt. Und hinzugefügt: Fast wünschte er, der Tod wäre ihm und den anderen Medizinern immer so günstig.[9] Im Anschluss an den Vortrag von Loder fuhr Goethe dann häufig mit dem Diktat fort. Dabei habe sich auch Alexander von Humboldt(9) eingefunden, berichtet er, und gleichsam mitgedacht und mitgeschrieben an dem gerade entstehenden Konzept, als er seine »Ideen fast alle aphoristisch« von sich gab.[10]
Aber auch Alexander von Humboldt(10) profitierte von der Freundschaft mit Goethe. Als die beiden sich im Winter 1794/95 kennenlernten, war er ein so ehrgeiziger wie hochbegabter Experimentalwissenschaftler. Er stand an der Spitze einer Generation junger Forscher, die sich zunehmend auf Messungen verließen, dabei wenig Rücksicht auf Tradition und ethische Bedenken nahmen, aber große Erfolge vorzuweisen hatten. Nicht zuletzt durch spektakuläre, selbst den eigenen Körper nicht schonende Versuchsanordnungen verstand er es, in einzelnen Disziplinen wie der Physiologie, der Botanik oder der Geologie zu glänzen. Doch Humboldts(11) Ehrgeiz ging weiter: Er suchte nach einer leitenden Idee, unter der sich die einzelnen Disziplinen zu einer Art Metawissenschaft zusammenfassen ließen. Sie sollte es ermöglichen, die Erscheinungen der Natur in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu verstehen. Und da war die Begegnung mit Goethe ein großer Glücksfall.
Denn Goethe kannte sich in allen diesen Wissenschaften bestens aus und hatte sich zum Zeitpunkt der Begegnung mit Alexander von Humboldt(12) in jeder einzelnen bereits Meriten erworben. Zudem hatte er schon 1785, also noch vor seiner Italienreise, als er den Zwischenkieferknochen beim Menschen entdeckte, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lektüre von Spinoza(1) von der »Übereinstimmung des Ganzen«[11] zu sprechen begonnen – einer umfassenden Harmonie der Natur. Damit war zwar keineswegs geklärt, wie alles zusammenhing, was ihn als Naturforscher interessierte, und unter welchem Gesichtspunkt die Verknüpfung der Einzeldisziplinen geschehen sollte, aber er hatte ein Suchbild entworfen, mit dem sich nach einer übergeordneten Fragestellung fahnden ließ.
Humboldt(13) wäre ohne Goethe zweifellos ein guter Wissenschaftler geworden, er hätte seine Feldforschungen betrieben, Messungen angestellt, Daten gesammelt, sie zusammengetragen und der staunenden Öffentlichkeit davon erzählt, dass in fremden Weltgegenden alles anders und doch irgendwie gleich sei. Aber er hätte nicht jenen untrüglichen Blick für Zusammenhänge ausgebildet, den alle Welt an ihm bewunderte, diesen Ehrgeiz, das Chaos der einzelnen empirischen Erkenntnisse zu einem organischen Ganzen zu gestalten, das er dann später mit einem alten Begriff »Kosmos« nennt.
Humboldt(14) selbst hat nach seiner Rückkehr aus Amerika darauf aufmerksam gemacht, wie viel er den wenigen und kurzen, aber äußerst intensiven und folgenreichen Begegnungen mit Goethe in den Jahren 1794 bis 1797 verdankte. Überall sei er auf seiner Reise »von dem Gefühl durchdrungen« worden, »wie mächtig jene jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethe’s Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war«, schreibt er im Mai 1806. »Liegen auch grosse Bergmassen und Meere, ja, was höher und tiefer noch ist, die Vergegenwärtigung einer fast schauderhaft lebendigen Natur zwischen jener Zeit und dieser«, so konnte die Begegnung mit dem Fremden doch an ältere Vorstellungen anknüpfen, »und in den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur Ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Thieren und in des Menschen schwellender Brust.«[12]
Das sind so schöne wie rätselhafte Worte. Nach damals geläufiger Vorstellung existierten drei Reiche der Natur: das Reich der Steine, das Reich der Pflanzen und das Reich der Tiere, zu dem auch die Menschen gezählt wurden. Wie die drei Reiche zusammenhingen, ob sie durch Abgründe voneinander getrennt waren, aufeinander aufbauten oder sogar in Wirklichkeit Bestandteile eines einzigen Reiches waren, wurde viel diskutiert. Goethe selbst hatte dazu nach seiner Rückkehr aus Italien einen so reflektierten wie gewichtigen Beitrag geliefert. Humboldt(15) jedenfalls scheint alle drei Reiche als Ausdruck und Bestandteil eines letztlich umfassenden Ganzen zu begreifen. Dass mit diesem Ganzen nichts anderes als unser Heimatplanet gemeint ist, geht aus seiner Formulierung »von Pol zu Pol« eindeutig hervor. Die Erde bildet den gemeinsamen Boden und ihre Atmosphäre das gemeinsame Dach der drei Reiche. Alles Leben auf ihr steht in engstem Zusammenhang, und schon die Steine und noch der Mensch haben daran Anteil.
Diese weitreichenden Gedanken gehen in der Tat im Wesentlichen auf Goethe zurück. Wie er in seinem Tagebuch vermerkt, tauschte er sich im März 1797 mit Alexander von Humboldt(16) über die Bildung der Gebirge aus.[13] Humboldt(17) war zu der Überzeugung gelangt, dass die Schichtung und Lagerung des Gesteins allgemeingültigen, erdumspannenden Gesetzmäßigkeiten folgen. Goethe erinnerten diese Spekulationen an seinen alten Plan, einen »Roman über das Weltall« zu schreiben. Das war Anfang der 1780er Jahre gewesen, als seine vielfältigen Naturerfahrungen sich allmählich in die Richtung eigener Forschungen entwickelt hatten. Eine entscheidende Rolle dabei hatten die Bergwerkbesichtigungen gespielt, die er anfangs im Auftrag des Herzogs(3), später immer stärker aus eigenem Antrieb unternommen hatte. In den Berg einfahren, das bedeutete zu dieser Zeit, auf Leitern, sogenannten Fahren, in engen, feuchten Schächten in die Tiefe zu klettern. In den Stollen selbst dann konnte man sich nur gebückt oder kriechend vorwärtsbewegen. Es war die Erkundung einer geheimnisvollen Welt unter dem Erdboden, auf dem wir so selbstverständlich wie sicher zu stehen meinen. Mit jedem Meter, den Goethe unter Tage stieg, tauchte er auch tiefer in die geheimnisvolle Vergangenheit der Erde ein und entdeckte dabei, dass auch das scheinbar Unbelebte und Unveränderliche auf lange Zeiträume hin beweglich und lebendig ist.
Daraus hatten sich Forschungen und Spekulationen über die Entstehung und Bildung unseres Heimatplaneten ergeben und damit zusammenhängend auch das besagte Romanprojekt. Der Titel, den Goethe ihm gab, kann allerdings in die Irre führen. Aus den Texten, die er dafür verfasst hat, geht hervor, dass es sich um einen Roman weniger über das Universum als über den »Erdkörper« und seine Bewohner handeln sollte, angefangen von den ältesten Gesteinsformationen bis hin zum Menschen. »Sie müssen noch eine Erdfreundinn werden«, schrieb er Charlotte von Stein(2), als er sie 1780 in seinen Plan einweihte, es sei gar zu schön.[14] Der Roman sollte das Werk eines Erdfreundes für Erdfreundinnen und Erdfreunde werden und er sollte mit der Darstellung der Erde und ihrer Geschichte auch den »Erdling« Mensch zum Thema machen. Der Mensch sei mit seinem Wohnort so nah verwandt, heißt es in einem Brief Goethes an seinen Weimarer Freund Knebel(1), »daß die Betrachtung über diesen auch uns über den Bewohner aufklären muß«.[15] Wollen wir wissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehören, so müssen wir die Erde erforschen, an deren Leben wir teilhaben. Noch auf seiner Italienreise hatte Goethe Material zu diesem bislang nicht aufgegebenen Projekt gesammelt.
Nun, unter den lebendigen und leidenschaftlichen Ausführungen Alexander von Humboldts(18), stand Goethe der alte Plan wieder vor Augen. Jener dagegen zeigte sich von den visionären Konzepten des Älteren beeindruckt. Goethe war ihm bei dem Vorhaben, Gesetzmäßigkeiten zu finden, die für die Erde insgesamt galten, vorausgeeilt. Mehr noch: Er hatte längst gefunden, wonach Humboldt die ganze Zeit suchte: Der Konvergenzpunkt seiner disparaten Forschungen war ein ganzheitliches Bild der Erde, ihrer Gestalt und Geschichte. Im Rückblick meint Humboldt(19), das zentrale Erkenntnisinteresse seiner Amerikaexpedition habe darin bestanden, Fakten zur Erweiterung einer Wissenschaft zu sammeln, »die noch kaum skizziert und ziemlich unbestimmt Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie genannt wird«.[16]
Dabei kam es weniger auf die genaue Bezeichnung als auf den Umstand an, dass bei Goethe wie bei Humboldt(20) die Erde ins Zentrum ihrer Erkundungen und ihres Erkenntnisinteresses rückte. Hier liefen die Fäden ihrer vielfältigen Beobachtungen und Forschungsvorhaben zusammen. In Goethes Fall reichten sie von der Geologie und Botanik bis hin zur Morphologie und zu ersten Ansätzen einer Meteorologie und Atmosphärenphysik. Selbst seine Farbenlehre sah Goethe in diesem Zusammenhang. Um 1800 war eine solche umfassende Perspektive alles andere als selbstverständlich, und so ist sie auch weitgehend unbeachtet geblieben. Bei Goethe wie auch bei Alexander von Humboldt(21) bereitet sich vor, was wir heute etwa Erdsystemforschung nennen. Die Bedeutung, die die Erde in ihrem Denken hat, geht dabei allerdings über bloße Wissenschaft hinaus: Insbesondere für Goethe war sie kein toter Planet, sondern glich einem lebendigen Organismus, der die ihn umhüllende Atmosphäre ein- und ausatmet, so wie die auf der Erde wohnenden Lebewesen das mit der sauerstoffgesättigten Luft tun, die sie umgibt und die sie zum Leben brauchen.
Goethe hatte als junger Mann die Erfahrung gemacht, dass nur gewinnen kann, wer sich auf das Kräftespiel der Natur einlässt. Der Mensch gehörte zur Erde; nur die Natur verlieh ihm die Kräfte, die er brauchte, um sein Leben zu meistern. Verlor er hingegen den Kontakt zur Erde, so war er über kurz und lang selbst verloren. 1783 war der erste Ballon gestartet, der erwärmte Luft zum Auftrieb nutzte. Die Gebrüder Montgolfier(1)(1) schrieben damit Geschichte – es war nichts weniger als der Beginn der Luftfahrt. Bald schon füllte man die Ballons mit Wasserstoff statt mit heißer Luft, so der Pariser Physiker Jacques Alexandre César Charles(1), dessen »Charlière« Ende August 1783 ihren Jungfernflug hatte – anfangs noch unbemannt oder mit Tieren als Passagieren. Goethe selbst hatte sich an Versuchen beteiligt, Ballone »auf Montgolfierische Art« steigen zu lassen, wähnte sich im Rückblick sogar der Entdeckung und Entwicklung der Heißluftballone ganz nahe, was stark übertrieben war. Das gilt aber kaum für die zeitkritische Überlegung, die er in diesem Zusammenhang anstellt. Sie hat seitdem nicht an Aktualität verloren, im Gegenteil. »Wie es vor alten Zeiten, da die Menschen an der Erde lagen, eine Wohltat war, ihnen auf den Himmel zu deuten und sie aufs Geistige aufmerksam zu machen«, schreibt er 1785 an Knebel(2), »so ists jetzt eine größere sie nach der Erde zurückzuführen und die Elastizität ihrer angefesselten Ballons ein wenig zu vermindern.«[17] Auch dazu sollten die Erdwissenschaft und der geplante Roman beitragen.
Bis heute trägt das Bild Goethes als Naturforscher ambivalente Züge. Einen ersten Höhepunkt erreichte das bereits zu Lebzeiten mit der Veröffentlichung der umstrittenen, gegen Newton(1) polemisierenden Farbenlehre, die immerhin sein umfangreichstes Werk ist, und setzte sich nach seinem Tod verstärkt fort. Einerseits schien die Zeit über ihn, seine Art zu forschen und die Ergebnisse seiner Forschung hinwegzugehen, wie viele meinten. Andererseits hielt er dem rasanten Fortschritt der Wissenschaft den Spiegel vor und wies auf den Preis hin, den dieser hatte. Neben einem ganzheitlichen Verständnis von Natur steht auf den vorderen Rängen dieser Verlustliste auch der »Wechseleinfluss«, wie Goethe sich ausdrückte, von Naturforschung und Selbsterforschung. Goethes großartige Idee war: Je besser wir die Natur verstehen lernen, desto besser lernen wir auch uns selbst als Lebewesen kennen, denn wir sind selbst Natur. Die gesamte Geschichte der Erde von der Entstehung der Atmosphäre über den Landgang der Pflanzen und Wirbeltiere bis zu Eiszeiten, zu deren Mitentdecker Goethe zählt, hat mitgewirkt an unserer Existenz und Entwicklung. Schiller(3) nannte das eine »wahrhaft heldenmäßige Idee«, den Menschen »genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen«.[18] Goethe, weniger idealistisch und auch weniger heroisch gesinnt, sprach eher von der Durcharbeitung seines armen Ich, die ihm auf keinem anderen Wege als dem der Naturforschung zuteilwerde.[19]
Während wir uns inzwischen damit angefreundet haben, Goethes Person und seine literarischen Werke in ihrem Zeitcharakter zu verstehen und erst auf dieser Grundlage nach ihrer Aktualität für die Gegenwart zu fragen, nehmen wir gewöhnlich seine naturwissenschaftlichen Schriften von dieser historischen Betrachtungsweise aus. Wir befragen sie unmittelbar daraufhin, was an ihnen wahr oder falsch ist, was als widerlegt oder als noch haltbar gelten kann. Diese Vorgehensweise entspricht zwar dem Selbstverständnis der Naturwissenschaften, verwehrt uns aber ein tieferes Verständnis dessen, was Goethe da eigentlich gemacht und gedacht hat, als er fünfzig Jahre seines Lebens Naturforschung betrieb. Wie wir sehen werden, erschließen sich große Teile von Goethes naturwissenschaftlichen Interessen, Bemühungen und Überlegungen nur vor dem Hintergrund der Naturforschung seiner Zeit, ihrer Vorgehensweise wie ihres Selbstverständnisses. Erst wenn man Goethes Forschungen in diesen historischen Kontext zurückversetzt und ihren Zeitcharakter ernst nimmt, lässt sich auch verstehen, was daran noch für uns relevant ist.
Goethe hat es im Alter ein »schönes Glück« genannt, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchlebt zu haben, und es für einen »großen Vorteil« gehalten, »gleichzeitig mit großen Entdeckungen gewesen zu sein«. Ein Schema des Anfang Siebzigjährigen parallelisiert skizzenhaft die eigene Biographie mit der dynamischen Entwicklung der Naturforschung zwischen 1750 und 1820, als die Grundlagen sowohl der Elektrizitätslehre als auch der modernen Biologie und Chemie gelegt wurden.[20] Man mag sich fragen, welches Bild wir wohl von Goethe hätten, wenn er diese Skizze ausgeführt hätte, womöglich sogar in einem Parallelunternehmen zu seiner Autobiographie der ersten fünfundzwanzig Lebensjahre und erweitert um die Geschichte seiner botanischen und anatomischen Studien sowie der Farbenlehre. Aber selbst wenn daraus lediglich ein großer autobiographischer Aufsatz entstanden wäre, würde das unser Bild von Goethe sichtlich verändern. »Ja, wenn ich gescheit gewesen wäre, hätte ich dies getan«, soll Goethes Reaktion gewesen sein, als Karoline von Wolzogen(1) dem schon alten Mann vorschlug, ein populäres Buch nach der Art von Charles Bonnets Betrachtung über die Natur zu schreiben, »wo alle Fortschritte des Naturstudiums unsrer Zeit benutzt wären«.[21]
Diese Biographie ist auch ein Versuch, das Unterlassene nachzuholen. Goethe nur als Dichter zu verstehen, heißt zwar nicht, ihn grundsätzlich misszuverstehen, aber die Hälfte auszublenden. Immer wieder hat Goethe betont, das von ihm auf dem Gebiet der Naturbeobachtung und Naturforschung Geleistete sei dem, was er als Schriftsteller in die Waagschale zu werfen habe, mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, jedenfalls wichtiger. Man tut das bis heute als kokettierendes Selbstmissverständnis des Dichters ab. Aber dahinter steht ein so einseitiges wie fragwürdiges Goethe-Bild, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat, als der Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gezogen wurde. Goethe galt den meisten seither als Schöngeist mit einem Naturspleen, über den eine verständnisvolle Nachwelt in der Regel gnädig hinwegzusehen bereit war.
Statt Goethe nachträglich die Kompetenz als Naturforscher abzusprechen oder ihn zum Ahnherrn eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels wie der Evolutionstheorie zu erklären, stellt diese Biographie Goethe gewissermaßen wieder auf die Füße, wogegen die anderen in der Regel nur den Kopf oder das Herz betrachten. Lange schon bevor sich Goethe als Naturforscher betätigt, ist er Naturerfahrender, und er bleibt dies auch als Naturforscher. Seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Natur liegt stets der erfahrende Umgang mit ihr zugrunde, wie er prinzipiell jedem zugänglich ist. Dazu gehören der Waldspaziergang genauso wie sich auf eine Wiese zu legen, dem Wind zu lauschen und den Wolken hinterherzuschauen; einen Berg zu besteigen oder nackt in einem abgelegenen See zu schwimmen; auf allen Vieren durch Höhlen zu kriechen oder selbst Blumen und Gemüse zu ziehen; Pflanzen und Tiere zu beobachten und auf weglosen Pfaden, bei Wind und Wetter die Wildheit auch gezähmter Natur zu erleben. Goethe hat dies alles und noch viel mehr am eigenen Leib erfahren, wie man früher sagte. Und er hat auch den eigenen Körper als Natur erlebt, als Hort sinnlicher Freuden und Leiden und als höchst sensitives Instrument der Erfassung natürlicher Wahrheiten.
Goethes Leben ist eine Geschichte der Erfahrung der Natur. Erfahrung der Natur war für ihn nicht eine Angelegenheit unter vielen, sondern so etwas wie die geheime Mitte alles seines Tuns, das Schreiben eingeschlossen. Darin liegt eine weitere Aktualität Goethes: dass er die Erforschung der Natur an ihre konkrete Erfahrung bindet, und zwar nicht unter Laborbedingungen, sondern an der frischen Luft. Und dass er uns dabei vormacht, wie eine Erforschung der Natur aussehen könnte, der es vorderhand nicht um ihre Beherrschung und Verwertung geht, sondern die uns mit Staunen und Respekt erfüllt.
Zum Kritiker von Naturzerstörung wurde Goethe erst spät in seinem Leben, ganz ausdrücklich etwa im Schlussakt des zweiten Teils des Faust, als bereits absehbar war, dass die beginnende Industrialisierung zu einer Umgestaltung der Natur in großem Maßstab führte. Goethes Verhältnis zur Natur war positiv: Früh in seinem Leben entdeckte er die Natur als eine Ordnung, die größer ist als er selbst. Er sah sich selbst als Teil der Natur – eine Erfahrung, deren Tragweite wir nach dem Durchgang durch den Prozess der Industrialisierung mit einem Resultat wie dem des Klimawandels erst zu ermessen beginnen und deren Verständnis wir uns langsam zurückerobern. Zugleich machte er die Erfahrung, dass die Natur in Zeiten der Krise und des Umbruchs Orientierung bieten kann – nicht als Urzustand, den wir wiederherzustellen versuchen, sondern als das, was bleibt, was in allem ist und sich nicht selbst vernichtet.
Dabei ist Goethes Naturverständnis, wie wir sehen werden, keineswegs statisch, sondern dynamisch. Alles ist geprägte Form, zugleich aber auch im Fluss. Nicht nur keimende Samen und sich entfaltende Schmetterlinge, die Hörner des Stiers und die Federn des Vogels, umgestürzte Bäume und verwitterte Fossilien, das Reich der Farben und das der Wolken, selbst die Steine schaut er so an: Die Wolkigkeit des Marmors etwa ist ihm Hinweis auf »Augenblicke des Werdens«, die sich auch im »Mineralreich« finden – »mehr als gewöhnlich gedacht wird« und zugänglich durch genaue Beobachtung und Beschreibung.[22] Zeitlebens hat Goethe Worte für seine intuitive Einsicht gesucht (und gefunden), dass das Wesen der Natur in Veränderung besteht. »Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke«, schreibt er etwa 1817. »Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht«.[23] Als Goethe 1806 vor einem Kreis Weimarer Damen populärwissenschaftliche Vorträge über Naturforschung, angefangen vom Magnetismus bis hin zur »Bildung der Erde« hielt, notierte Sophie von Schardt(1), eine Schwägerin Charlotte von Stein(3)s und eine von Goethes aufmerksamsten Zuhörerinnen: »Nichts ist, nichts ist geworden, alles ist stets im Werden, in dem ewigen Strom der Verändrung ist kein Stillstand. Der Mensch ist mit jeder Minute ein Andrer, doch sich selbst sonderbar gleich, beharrlich, in der Verändrung, dies ist ein Vorzug des höheren Wesens.«[24]
Nach wie vor haben wir Schwierigkeiten mit dieser Entdeckung Goethes, die ja auch eine Forderung enthält. Nicht nur die Natur ist beweglich, auch wir als ihre Beobachter sollen es sein. Selbst Ökologen und Naturschützer neigen dazu, der Natur ein Gleichgewicht zu unterstellen, das ihr fremd bleiben muss. Natur ist Veränderung. Goethe war einer der wenigen Naturforscher seiner Zeit, die diesen Gedanken zu fassen vermochten, weil er zwar leidenschaftliches Interesse an der Idee des Ganzen nahm, wie er einmal schrieb, andererseits aber jedem System abgeneigt war. Er traute seinen Augen, nahm ernst, was er beobachtete, und zog daraus zuweilen kühne Folgerungen.
Wenn auch das Jahrhundert vorgerückt sei und die Welt im Ganzen vorschreite, so fange doch jeder Einzelne immer wieder von vorne an, hat Goethe zum Ende seines Lebens hin gemeint.[25] Und damit beginnen wir.
Teil I:
Die Geburt war schwer. Schon vor drei Tagen hatten die Wehen eingesetzt, waren zwischenzeitlich wieder abgeklungen, um dann abermals mit ungeahnter Heftigkeit über die junge Mutter(1) hinwegzurollen, begleitet von starken Schmerzen. Als am frühen Morgen des dritten Tages endlich die Austreibungsphase begann, waren die Schreie der jungen, gerade achtzehnjährigen Frau durch das ganze Haus zu vernehmen, Arme, Beine und der Unterleib zitterten, ihr Blick war wild und blitzend, der Atem kurz und keuchend. Doch dann geriet der Geburtsvorgang ins Stocken. Der Arzt Johann Christian Senckenberg(1) berichtet jedenfalls »vom langen Anstehen« Goethes unter der Geburt, und dass er »ohne Wendung« zur Welt gekommen sei.[1] Senckenberg selbst war bei der Entbindung nicht zugegen, wohl aber Goethes Großmutter(1), die seine Patientin war und ihm von der komplizierten Geburt ihres Enkels erzählt haben dürfte. Stellte sich während der Geburt heraus, dass das Kind ungünstig lag, versuchten die Hebammen seinerzeit, es mit viel Feingefühl und Erfahrung erfordernden Handgriffen in der Gebärmutter zu wenden. Vielleicht war es dafür in diesem Fall schon zu spät, weil der Kopf schon zu weit vorgerutscht war. Gut möglich jedenfalls, dass die Hebamme Goethe zum Schluss regelrecht aus dem Mutterleib gezogen hat, immer die drohende Gefahr vor Augen, beide, Mutter(2) wie Kind, könnten unter einer stockenden Geburt sterben. Eine Saugglocke gab es Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht, und ein (ohne Betäubung vorgenommener) Kaiserschnitt war lediglich die Ultima Ratio, um ein ungeborenes Kind von der im Sterben liegenden Gebärenden zu trennen. Die Anwendung der erst kürzlich entwickelten Geburtszange hingegen war einem sogenannten Accoucheur vorbehalten, einem männlichen Geburtshelfer mit medizinischer Ausbildung, doch der war bei Goethes Geburt nicht zugegen. Endlich gelangte Goethe ins Freie. Es war der 28. August 1749 »mittags mit dem Glockenschlage zwölf«.[2]
Das Neugeborene war ein Junge, wie Hebamme, Großmutter(2) und die anderen anwesenden Frauen unschwer erkennen konnten – der erwünschte Stammhalter. Doch das spielte in dem Moment eine untergeordnete Rolle. Denn das Kind hatte nicht nur eine heftige Blutgeschwulst am Köpfchen und war blauschwarz angelaufen, sondern gänzlich ohne Bewegung – wie tot anzusehen. Es schrie nicht und atmete nicht. Von »Scheintod« sprach man damals, wenn keine äußeren Lebenszeichen festzustellen waren, aber noch Hoffnung bestand, und wusste doch, dass die Verwechslung mit dem wirklichen Tode leicht möglich wäre. Andererseits lehrte die Erfahrung, es könnte auch bei komplizierten Geburtsverläufen Rettung geben. Schon mancher für tot gehaltene Säugling hatte plötzlich zu schreien und zu atmen begonnen. Hebamme und Großmama betteten den kleinen Goethe in eine sogenannte Fleischarde, ein muldenförmiges Gefäß, das eigentlich zum Transport und zur Lagerung von Wurst- und Fleischwaren gedacht war und den Vorteil hatte, dass es den kleinen Körper nicht beugte, was das Einsetzen der Atmung weiter erschwert hätte.[3] Gefüllt wurde die Mulde bis zum Überlaufen mit angewärmtem Wein – das war das Mittel der Wahl, wenn ein Neugeborenes nicht atmete oder ein Gesichtsödem aufwies. Wein wurde seit Alters her belebende Wirkung nachgesagt und war im Haus der Eltern(1)(3) reichlich vorhanden. In den geräumigen Kellern der beiden verschachtelten Häuser am Frankfurter Hirschgraben müssen an die 12 000 Liter Wein gelagert haben, darunter viel Wein für jeden Tag, sogenannter Gartenwein, aber auch alte Spitzenjahrgänge von der Mosel. Der Wein war ein Erbe des Großvaters(1) väterlicherseits, der sich seit seiner Zeit in Frankreich Göthé genannt und in Frankfurt erst als Haute-Couture-Schneider, später als Gastronom reüssiert hatte; mit dem Wein soll er sogar spekuliert haben.[4] Goethes Elternhaus, auch sein Geburtszimmer, waren jedenfalls von Weinduft geschwängert, und gewiss war Wein auch während der Geburt gereicht worden – um die Schmerzen der Gebärenden zu lindern, die Wehen anzuregen und die Gemüter der helfenden Frauen und der draußen wartenden Männer zu beruhigen. Doch nicht der Duft des Weins war es wohl, der den Säugling wieder zum Leben erweckte, sondern es waren die zupackenden Hände der Hebamme, die den wie tot im warmen Lebenselixier schwimmenden Goethe zum Atmen zu bringen versuchte, indem sie Druck auf sein Brustbein ausübte. Und siehe da – plötzlich regte sich der gerade noch für tot Geglaubte. »Rätin, er lebt«[5] – den entzückten Ruf der Großmutter(3), der durch das Haus hallte, sollte so schnell niemand vergessen. Um zu leben, musste Goethe erst wiederbelebt werden: Bereits seine Geburt war eine Wiedergeburt.
Nach Goethes eigener Schilderung in Dichtung und Wahrheit, der Autobiographie seiner Jugendjahre bis zum Aufbruch nach Weimar, geschrieben von dem Sechzigjährigen, trug die Hebamme die Schuld an seiner schweren Geburt. Von ihrer »Ungeschicklichkeit« ist die Rede; Bettina(1) von Arnim, der Goethes Mutter(4) im Alter Auskunft über die Umstände der Geburt ihres Sohnes gegeben hat, spricht gar von »schändlicher Misshandlung«. Das ist mit Vorsicht zu genießen, denn es handelt sich um ein Stereotyp: Wenn Entbindungen komplikationsreich verliefen und nicht selten mit dem Tod des Kindes, der Mutter(5) oder gar beider endeten, wurden traditionell die Hebammen dafür verantwortlich gemacht. Dass diese allesamt gar kein Wissen hätten und zudem durch ihre Nachlässigkeit weit und breit die Kinder ins Verderben stürzten, wusste bereits Anfang des 16. Jahrhunderts eines der ersten Druckwerke über Geburtshilfe zu berichten.[6] Die neun Jahre nach Goethes Geburt verstorbene Hebamme Anna Dorothea Müller hatte laut ihres Nachrufs den Beruf über vierzig Jahre ausgeübt und zehntausend Kinder zur Welt gebracht. Ganz so unerfahren, wie bis heute kolportiert wird, kann sie also nicht gewesen sein. Vielmehr dürfte sie es des Öfteren mit schwierigen, sie überfordernden Situationen zu tun bekommen haben, in denen es medizinischer Maßnahmen bedurft hätte, um das Kind zur Welt zu bringen. Bereits drei Jahre vor Goethes Geburt war wegen dieser Fälle von der Stadt Frankfurt die Anstellung eines Chirurgen als Geburtshelfer beschlossen worden; er sollte auch den Hebammen Unterricht erteilen. Da man sich aber nicht über dessen Bezahlung einigen konnte, war die Sache zurückgestellt worden. Nun, nach den Komplikationen bei der Geburt des ersten Kindes der Tochter von Schultheiß Johann Wolfgang Textor(1), des höchsten Beamten der Reichsstadt, wurde das Vorhaben umgesetzt und der Chirurgus Georg Sigismund Schlicht(1) als Stadt-Accoucheur eingestellt. In der ihm eigenen Lakonie vermerkt Goethe, »manchem der Nachgeborenen mag zu Gute gekommen sein«, dass er selbst beinahe nicht auf die Welt gekommen wäre.[7]
Goethes Zeitalter war an schwere Geburten mit gravierenden Folgen für Mutter(6) und Kind weit mehr gewöhnt als unsere. Ohne den Begriff schon zu kennen, hatten die Menschen damals sehr konkrete Vorstellungen vom Trauma der Geburt: von den körperlichen wie seelischen Verletzungen, zu denen es durch den so gewaltsamen wie quälenden Vorgang der Entbindung kommen kann. Kaum eine Schwangere, die keine Horrorgeschichten über im mütterlichen Becken festgekeilte Babys gehört hätte, deren Köpfe durchbohrt oder zerbrochen werden mussten, um die Entbindung zu beenden. Christoph Wilhelm Hufeland(1), eine medizinische Kapazität seiner Zeit und später Goethes Leibarzt, hat die bei der Geburt auftretenden Komplikationen als Folge des gravierenden Einschnitts verstehen wollen, den sie ohnehin darstellt. Denn mit ihr entstehe etwas völlig Neues, ein eigenständiges Wesen: »Der Übergang aus dem Mutterleibe in die Licht- und Luftwelt, aus dem bisherigen parasitischen Leben in ein selbstständiges, ist ein so wichtiger und außerordentlicher Schritt, daß man mehr darüber erstaunen und die Weisheit der Natur bewundern muß, daß so viele Kinder ihn ohne allen Nachtheil machen, als daß manche krank dabei werden, und auch wohl dabei sterben.«[8]
Goethe selbst hat seine komplizierte Geburt mit den Sternen und Planeten in Verbindung gebracht. »Die Konstellation war glücklich«, lautet der berühmte zweite Satz von Dichtung und Wahrheit; er folgt unmittelbar der Mitteilung von Geburtsjahr, Geburtsstunde und Geburtsort. Um den genauen Stand der Planeten am Tag seiner Geburt zu eruieren, hat er sich wohl von einem der seinerzeit beliebten Nativitätsalmanache belehren lassen, die Tag für Tag das Geburtshoroskop verzeichneten. So stand also die Sonne im Zeichen der Jungfrau kulminierend, Jupiter und Venus waren freundlich, Merkur nicht widerstrebend, Saturn und Mars, fürs Negative zuständig, zumindest gleichgültig. Nur der soeben volle Mond widersetzte sich der Geburt, weshalb sie auch erst zum Abschluss gebracht werden konnte, als die Mittagsstunde gekommen war. Goethe war, wie die meisten von uns heute auch, von der Wahrheit astrologischer Vorhersagen keineswegs überzeugt, im Gegenteil. Die Berufung auf die Sterne hat bei ihm unverkennbar einen ironischen Unterton. Aber sie erinnert daran, dass, wo nicht höhere Mächte über uns walten, unser Leben doch Schwerkräften folgt, wie die Sterne es tun. Wie und unter welchen Umständen wir zur Welt kommen, in welcher Verfassung und mit welchen Folgen – daran hat das Schicksal mächtigen Anteil. Sigmund Freud(1), der Begründer der Psychoanalyse, hat Goethes Verknüpfung seiner beinahe schiefgegangenen Geburt mit dem Blick auf den gestirnten Himmel in einem kleinen Aufsatz so dechiffriert: »Ich bin ein Glückskind gewesen; das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur Welt gekommen bin.«[9]
Die annähernd vier Jahrzehnte jüngere Schriftstellerin Bettina(2) von Arnim hingegen hat Goethes Berufung auf die Astrologie anders bewertet und sie bereits als Beschäftigung des kleinen Jungen geschildert: »Oft sah er nach den Sternen, von denen man ihm sagte, daß sie bei seiner Geburt eingestanden haben«, schreibt sie in ihrem Briefwechsel Goethes mit einem Kinde, »und so hatte er bald heraus, daß Jupiter und Venus die Regenten und Beschützer seiner Geschicke sein würden; kein Spielwerk konnte ihn nun mehr fesseln, als das Zahlbrett seines Vaters(2), auf dem er mit Zahlpfennigen die Stellung der Gestirne nachmachte, wie er sie gesehen hatte; er stellte dieses Zahlbrett an sein Bett und glaubte sich dadurch dem Einfluß seiner günstigen Sterne näher gerückt; er sagte auch oft zur Mutter(7) sorgenvoll: die Sterne werden mich doch nicht vergessen und werden halten, was sie bei meiner Wiege versprochen haben? – da sagte die Mutter(8): warum willst Du denn mit Gewalt den Beistand der Sterne, da wir andre doch ohne sie fertig werden müssen, da sagte er ganz stolz: mit dem was andern Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden, damals war er sieben Jahr alt.«[10]
Dass einem nicht reicht, womit andere zufrieden sind, um sich über ihr Schicksal zu beruhigen, kann ein Zeichen großen Selbstvertrauens sein. Wahrscheinlicher aber hat es mit einem so stark ausgeprägten Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit zu tun, dass auch die Kompensationen entsprechend umfassender ausfallen müssen. Von Goethes Mutter(9) hat sich Bettina(3) nicht nur die näheren Umstände seiner Geburt berichten lassen, sondern auch, dass »er schon mit neun Wochen ängstliche Träume gehabt« habe und sein Gesichtsausdruck »sonderbar«, voller Furcht gewesen sei. Kaum aufgewacht sei das Baby »in ein sehr betrübtes Weinen verfallen und habe oft sehr heftig bis hin zur Atemnot geschrien«, was die Eltern, denen sich das Bild des nicht atmenden Neugeborenen tief eingeprägt hatte, mit Sorge um sein Leben erfüllte. Sie bewachten seinen Schlaf, und sobald der Kleine unruhig zu werden begann, lärmten sie mit einer Rassel und mit Glöckchen, um die Angstträume zu vertreiben, die sie bei ihm vermuteten. Als eine Tante einmal das Baby hielt, geschah es – in diesem Fall wohl tatsächlich durch Ungeschicklichkeit –, dass sein Gesicht auf ihres fiel; wie die Mutter(10) erzählte, geriet der kleine Goethe dadurch »so außer sich, daß ihm der Vater(3) Luft einblasen musste, damit er nicht ersticke«. Atemnot scheint beim kleinen Goethe also wiederholt vorgekommen sein, und der Vater(4) behalf sich damit, dass er das Baby beatmete. Man mag das als übersteigertes Verhalten besorgter Eltern(5)(11) abtun. Bis heute ist der plötzliche Kindstod nach wie vor ein mysteriöses Phänomen, eine Quelle großer elterlicher Ängste. Auch führt bei kleinen Kindern oft ein minimaler Auslösereiz zu Wutanfällen, sogenannten respiratorischen Affektkrämpfen: Das Kind beginnt zu schreien, die Atmung setzt aus, es läuft blau an. Das kann bis zur Bewusstlosigkeit gehen.
So hat das Leben von Deutschlands größtem Dichter im Anfang »von einem Lufthauch abgehangen«,[11] wie bereits seine Mutter(12) mit Erstaunen festgestellt hat. Es hat nicht viel gefehlt, und Goethe hätte zu den zahlreichen Kindern seiner Zeit gehört, die in der Welt keine Spuren hinterlassen haben, weil sie unter der Geburt oder kurz danach verstarben. Vier seiner fünf nach ihm geborenen Geschwister überlebten die ersten Monate oder Jahre nicht; auch die lediglich fünfzehn Monate jüngere Schwester Cornelia(1) verstarb schon im Alter von sechsundzwanzig Jahren. Goethes erste, noch ganz unwillkürliche Erfahrung der Natur jedenfalls war keineswegs von Geborgenheit oder Erfüllung getragen, sondern im Gegenteil eine Erfahrung des Mangels, der Defizienz: keine Luft zu bekommen. Das, was wir lebensnotwendig brauchen im Moment der Abnabelung von der Mutter(13) – mit genügend Sauerstoff angereicherte Luft –, darum rang er, danach schnappte er, davon hatte er auch später zumindest oft nicht genug. So darf man wohl in Marie von Beaumarchais’(1) verzweifeltem Seufzer »Ach! Luft! Luft!«[12] auch eine autobiographische Reminiszenz vermuten. Es wäre nicht das einzige Mal, dass Goethe eine weibliche Figur – in diesem Fall die Geliebte Clavigos – mit eigenen Zügen ausgestattet hätte.
Am Schluss lag ein Großteil des erst kürzlich erworbenen Geschirrs in tausend Scherben zerbrochen auf der Straße – als hätten soeben Braut und Bräutigam fröhlich Polterabend gefeiert. Vor Freude patschte der kleine Goethe in die Hände, wenn wieder ein »Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen« lustig knallend auf dem Pflaster auftraf. Vermutlich trugen auch die Anfeuerungsrufe der »drei gegenüber wohnenden Brüder von Ochsenstein« dazu bei, dass der Winzling nicht müde wurde, immer neues Geschirr herbeizuschaffen. »Noch mehr! Noch mehr«, riefen sie, bis schließlich die goethesche Küche nichts Erreichbares mehr hergab, der Große Hirschgraben hingegen übersät mit zerbrochenem Geschirr war.[1]
Kleine Kinder lieben es, Gegenstände auf den Boden zu werfen. Ihre Freude daran steigert sich noch, wenn der Aufprall gehörigen Lärm verursacht oder die Dinge dabei Schaden erleiden, gar zerbrechen. Das hat wenig mit Aggression oder gar Zerstörungswut zu tun. Viel eher ist es das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das sich dabei einstellt, Macht über die Dinge auszuüben, die einem sonst ihre Regeln aufzwingen. Und verstärkt wird es noch, wenn die Handlung, die dies ermöglicht, die Anerkennung anderer, in diesem Falle Älterer findet, denen man imponieren möchte. Sie werden dann zu Verbündeten gegen die Eltern mit ihren ständigen Ermahnungen, sorgsam und verständig mit den Dingen umzugehen.
Goethe war diese Episode aus seiner Kindheit so wichtig, dass er sie gleich auf der ersten Seite von Dichtung und Wahrheit erzählt, unmittelbar im Anschluss an den Bericht darüber, wie er beinahe nicht auf die Welt gekommen wäre. Den bereits bemühten Sigmund Freud(2) hat das dazu geführt, in einer berühmt gewordenen Interpretation das Geschehen als Schlüsselszene von Goethes »Lebensbeichte« zu verstehen, die uns die »Geheimfächer seines Seelenlebens« aufschließe. Das Geschirrhinauswerfen sei eine »magische Handlung« gewesen, durch die das Kind seinen Wunsch nach Beseitigung eines störenden Eindringlings zum Ausdruck gebracht habe, meint er. Der störende Eindringling, das war nach dieser Sicht Goethes kleiner Bruder Hermann Jakob(1), bei dessen Geburt er annähernd vier Jahre alt war (Hermann Jakob aber sollte das siebte Jahr nicht überleben). Jeder zerbrochene Teller war danach eigentlich eine symbolische Exekution des unerwünschten Konkurrenten um die Gunst der Eltern.
Für Freuds(3) Deutung des Geschehens ist es zentral, dass der kleine Goethe die Dinge aus dem Fenster wirft. Er vergleicht Goethes Kindheitserinnerung mit Erzählungen seiner Patienten und kommt zu dem Schluss, nicht die Lust am Zerbrechen und am Klirren sei das Wesentliche, sondern das »Hinausbefördern (durchs Fenster auf die Straße)«. Da dürfen ruhig auch andere Dinge fliegen, Bürsten etwa oder Schuhe, Hauptsache: »Hinaus«. Denn: »Das neue Kind soll fortgeschafft werden, durchs Fenster möglicherweise, weil es durchs Fenster gekommen ist.«[2] Die Legende vom Storch lässt grüßen.
Doch der kleine Goethe hat das Geschirr gar nicht aus dem Fenster geworfen. Er befand sich schon außerhalb des Hauses, als er jeweils zum Wurf ansetzte. Das mag wie eine Kleinigkeit anmuten, es setzt aber Freuds(4) Deutung genauso eine Grenze, wie der Umstand, dass die kleine Geschichte sicherlich nicht denselben Effekt entfaltet hätte, wenn Bürsten oder Schuhe geflogen wären. Nicht ohne Grund wirft man auch am Polterabend nicht mit Bürsten. Zur Magie der Handlung gehört das Zerspringen: Scherben bringen Glück. Magisch daran ist neben dem Geräusch vor allem eine Umdeutung: Das, was sonst als Unglück erfahren wird, nämlich wenn etwas versehentlich kaputt geht, wird, verbunden mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit, zu einem Akt der Bestätigung.
Wichtig war Goethe bei der Schilderung dieses Kinderstreichs der Ort, an dem er stattgefunden hat. In seiner Autobiographie geht er so ausführlich darauf ein, dass man meinen könnte, es gehe ihm vor allem darum, seine Leser mit dem Schauplatz des Geschehens vertraut zu machen. Neben der Tür seines noch mittelalterlich anmutenden Geburtshauses, so berichtet Goethe, sei ein »großes hölzernes Gitterwerk« angebracht gewesen, »wodurch man unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele Häuser versehen waren, nannte man ein Geräms. Die Frauen saßen darin, um zu nähen und zu stricken; die Köchin las ihren Salat; die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Straßen gewannen dadurch in der guten Jahreszeit ein südliches Ansehen. Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut war. So kamen auch durch diese Gerämse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung« – und der kleine Goethe mit den Brüdern von Ochsenstein, den anfeuernden Zuschauern seines Geschirrzerstörungswerks.[3]
Der Eindruck des Südlichen ist unverkennbar eine nachträgliche Reminiszenz des Italienreisenden Goethe. Dort sollte der auf die Vierzig Zugehende auf den Straßen von Vicenza, Verona und Venedig sowie dann später auch von Rom und Neapel eine Vertrautheit mit dem Öffentlichen und ein sich daraus ergebendes Freiheitsgefühl wiederfinden, wie er es aus Kindertagen kannte. Nicht eine Tür führe hier in den Laden oder das Arbeitszimmer, notiert er etwa beim Besuch Veronas, »nein die ganze Breite des Hauses ist offen, man sieht alles was drinne vorgeht, die Schneider nähen, die Schuster arbeiten alle halb auf der Gasse«, und auch die Läden böten ihre Waren auf der Straße an. Insbesondere abends, wenn Lichter brennten, mache die Szenerie einen lebendigen Eindruck. Goethe nennt das »eine freie Art Humanität«, und er ist sich sicher, dass sie »aus einem immer öffentlichen Leben herkommt«.[4]
Die Erinnerung an südliche Ungezwungenheit im Kontakt mit der Straße ist aber nicht der einzige Grund, warum Goethe die Geschichte mit dem Geschirrwerfen im Rückblick so wichtig war. Sagen wir es so: Kaum ist der kleine Mann auf der Welt, erregt er schon öffentliches Aufsehen. Das ist auch Vorausblick auf Kommendes: Als Schriftsteller sollte Goethe später noch manches Porzellan zerschlagen und damit sowohl Applaus einheimsen als auch Unverständnis und Kritik provozieren. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie grundlegend er sich selbst als öffentliche Person sieht. Er agiert zwar von einem eingehegten, geschützten Ort aus, bleibt dabei jedoch stets der Straße zugewandt. Dort findet er nicht nur sein Publikum; der Kontakt mit der Öffentlichkeit – und gerade nicht der Rückzug ins Private – ist auch die Basis seiner Selbstwirksamkeit und seiner Freiheit.
Das Erdgeschoss von Goethes Geburtshaus ist samt dem Geräms fest in weiblicher Hand. Hier herrschen die Mutter(14), die Großmutter(4), der das Haus eigentlich gehört und die zu ebener Erde auch ihr Zimmer hat, sowie das weibliche Hauspersonal. Hier befinden sich die Küche und eine einfache Stube sowie der weiträumige Hausflur, in dem ein Kommen und Gehen ist, in dem sich die Familie, das Hauspersonal sowie Freunde und Nachbarn begegnen, privates und geselliges Leben mischen und der durch das Geräms eben auch in den Straßenbereich ausgreift. Und während Köchin und Mägde die Hausarbeit erledigen, Boten Waren anliefern und Nachbarinnen oder Freunde vorbeischauen, um ein Schwätzchen zu halten, frönen die lebenslustige und kontaktfreudige junge Frau Rat und ihre Schwiegermutter – winters in der Stube und sommers im Geräms – einer »sitzenden Lebensweise«, wie dies der Literatursoziologe Ian Watt genannt hat.[5] Bei Goethes Großmutter(5) hatte das mit Alter und Gebrechlichkeit, bei seiner jungen Mutter(15) hingegen neben den vielen Schwangerschaften – sechs in elf Jahren – mit einer Zunahme an weiblicher Freizeit in bürgerlichen Kreisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu tun. Selbst eine Tochter aus wohlhabendem Hause hatte Goethes Mutter(16) nicht nur einen über zwanzig Jahre älteren, sondern auch einen vermögenden Mann(6) geheiratet, was sie von den traditionellen hausfraulichen Pflichten freistellte. Dafür gab es Personal; darüber hinaus waren viele Dinge des täglichen Bedarfs, die man ehedem selbst hergestellt hatte, in einer Handels- und Marktstadt wie Frankfurt käuflich zu erwerben, etwa Seife und Kleidung – oder auch Geschirr. So bleibt reichlich Zeit, den eigenen Interessen nachzugehen, und das bedeutet bei Catharina Elisabeth Goethe(17) wie bei vielen Bürgersfrauen der damaligen Zeit neben Beschäftigungen wie Handarbeit vor allem Lektüre, insbesondere von Romanen. Die Meinung, dass zu viel Lesen gefährlich sein könnte, kam in diesen Jahrzehnten auf und führte zu einer breiten öffentlichen Diskussion, wie heute etwa die übermäßige Nutzung von Smartphones. Goethes Mutter(18) war eine typische Vertreterin des sich herausbildenden, Belletristik konsumierenden weiblichen Lesepublikums, und ihr Einfluss auf den Sohn in dieser Hinsicht ist kaum zu überschätzen.
Der kleine Wolfgang, zärtlich Wölfi genannt, wuselt zwischen all den Frauen, lesenden wie schwätzenden oder arbeitenden, herum. Ist die Großmutter(6) bettlägerig, was mit den Jahren zunehmend häufiger vorkommt, dehnt er seine Spiele bis an ihr Krankenlager aus. In der schönen Jahreszeit steht die Haustür tagsüber weit offen, und die Schwelle des Hauses, jener magische Übergang zwischen drinnen und draußen, ist so gut wie nicht existent. Nicht der Bruder(2) ist es, der symbolisch aus dem Haus fortgeschafft werden sollte, wenn der kleine Goethe sich darin gefällt, das Geschirr auf die Straße zu werfen, ihn selbst zieht es nach draußen, den fliegenden Tellern hinterher.
Natürlich ist die Reichweite eines kleinen Kindes begrenzt. Anfangs noch ist das Geräms Goethes am weitesten vom Innern des Hauses entfernter Außenposten. Aber mit den Jahren erobert er sich auch das Terrain jenseits davon, zuerst noch auf dem Arm, später an der Hand von Kinderfrau oder Mägden, noch später auch allein oder mit Kameraden umherstromernd. Zwischen 1752 und 1755, also drei Jahre lang, besucht er den privaten Kindergarten der Erzieherin Maria Magdalena Hoff(1), in dem er wahrscheinlich bereits Lesen lernt. Später dann geht er zur Grundschule Johann Tobias Schellhaffers(1), der ihm darüber hinaus Schreiben und Rechnen beibringt. Und eine Zeitlang wohnt er zusammen mit seiner Schwester Cornelia(2) bei einer Schwester der Mutter(19), der Tante Melber(1), die einen Baustoffhändler geheiratet hat und deren Haus und Hof am Hühnermarkt liegen. Im Erdgeschoss hat die Tante(2) einen Laden. Freitags und an Samstagen findet hier ein großer Markt statt, auf dem Bauern, Gärtner und sogenannte Hockinnen (Kleinhändlerinnen) aus dem Umland zum Kauf anbieten, was sie selbst angepflanzt und geerntet haben. Hier sieht Goethe dem Gewühl und Gedränge der Straße vergnüglich vom Fenster aus zu – mit dem distanzierten, zugleich aber aufmerksamen und beeindruckbaren Blick des Kindes, das seine Umgebung noch weitgehend ohne Vorurteile wahrnimmt. Von einer rein häuslichen »Erziehung« Goethes kann also nicht die Rede sein.
Weite Teile des ersten Kapitels von Dichtung und Wahrheit handeln von den Erfahrungen, die der kleine Goethe in den Straßen und auf den Plätzen, den Wällen und der Alten Brücke Frankfurts macht. Die Berichte darüber setzen ein, als der Vater(7) mit dem Tod seiner Mutter(20) den Anlass gekommen sieht, endlich den schon lange beabsichtigten Umbau des Hauses in Angriff zu nehmen. Geld dazu ist aus dem ererbten Vermögen vorhanden, aus den beiden mittelalterlich anmutenden, im Innern stark verschachtelten und düsteren Häusern wird ein großes repräsentatives mit einem zentralen Treppenaufgang und einer großzügigen Raumaufschließung. Das goethesche Geräms muss den Umbaumaßnahmen weichen, das Holzwerk, aus dem es besteht, wird versteigert. Das war beileibe kein Einzelfall. Mit dem Niederreißen der kleinteiligen, noch mittelalterlich anmutenden Bebauung und ihrer Ersetzung durch größere moderne Stadthäuser verschwanden die Freisitze nicht nur aus dem Frankfurter Straßenbild. Einige Jahrzehnte später sollte sich kaum noch jemand an ihren Namen und ihre Existenz erinnern. Statt eines Geräms, das das Haus zur Straße hin öffnet und Kommunikation in die Öffentlichkeit hinein ermöglicht, erhält das Frankfurter Goethe-Haus nach dem Umbau eine Fassade, die so repräsentativ wie nach außen hin abgeschlossen wirkt. Über dem zentralen Eingang mit den drei geschwungenen Stufen und den zwei großen Laternen wird im Schlussstein des Türbogens ein Wappen angebracht, das Goethes Vater(8) selbst entworfen hat. Es zeigt drei Leiern, die seinen kulturellen Anspruch symbolisieren sollen. Böse Zungen hingegen zischelten, dass die drei Leiern eher den Hufeisen der urgroßväterlichen Schmiede ähnelten oder gar den Bügeleisen, mit denen Goethes Großvater(2) als Schneidergeselle in Frankfurt eingewandert war.[6]
Die Familie Goethe stammte ursprünglich aus dem Thüringischen. Erst der Großvater(3), der Göthé mit dem »ö« und dem französischen Akzent auf dem »e«, der bei der Geburt des Enkels schon nicht mehr lebte, hatte seiner Heimatgegend dauerhaft den Rücken gekehrt. Nach längerer Wanderschaft, die ihn bis nach Paris und Lyon führte, brachte er es schließlich zum Frankfurter Bürger und kam zu Reichtum. So war Geld vorhanden, um Johann Caspar, Goethes Vater(9), auf die besten Schulen zu schicken und ihm ein Studium der Rechte zu finanzieren, das ihm nach der Promotion eine Laufbahn bei der Frankfurter Stadtverwaltung ermöglichen sollte. Zuvor aber absolvierte Goethes Vater(10) noch eine Grand Tour, eine einjährige Bildungsreise nach Venedig und Rom und bis nach Neapel. Nach der Rückkehr war er bestrebt, sich von Karl VII.(1), der in Frankfurt soeben zum deutschen Kaiser gekrönt worden war und eine Zeitlang in der Reichsstadt im Exil weilte, den Titel eines Kaiserlichen Rates verleihen zu lassen. Doch der Wittelsbacher Karl starb kurze Zeit darauf: Johann Caspar Goethe(11) hatte karrieretechnisch auf das falsche Pferd gesetzt. Vielleicht fehlte es ihm auch an Durchsetzungsvermögen oder an Begabung zum Networking. Nach allem, was wir wissen, fand er aber Gefallen an einem Leben, dessen Eckpfeiler die Verwaltung des ererbten Vermögens, das Kultivieren von Hobbys – das Sammeln von Büchern und Bildern, die jahrelange Niederschrift seiner Reiseerinnerungen auf Italienisch, schließlich etwas Seidenraupenzucht –, nicht zuletzt aber die bestmögliche Ausbildung seiner Kinder, insbesondere des Erstgeborenen, waren.
Soweit die vom Vater(12) mit großem Eifer betriebene Ausbildung und der erkennbar bürgerliche Lebensstil der Familie dies zuließen, trieb es den heranwachsenden Goethe auf die Straßen der Stadt und in ihr Umland. Das Frankfurt seiner Kinder- und Jugendtage war voller Widersprüche. Der hervorstechendste und weitreichendste war, dass Frankfurt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar eine florierende, moderne Handels- und Finanzmetropole war, die Dynamik, die es entfaltete, aber eingeschnürt blieb vom Korsett einer mittelalterlichen Stadtanlage. Die gewaltigen Befestigungsanlagen mit mächtigen sternförmigen Bastionen waren so hoch, dass sie die meisten Häuser überragten. Zudem verliehen 55 Wachtürme sowie Wassergräben zur Stadt- wie zur Feldseite hin, dort auch noch zusätzlich durch Erdaufschüttungen geschützt, Frankfurt nicht nur den Charakter einer Festungsstadt, sie hemmten auch seine Expansion in das Umland und sorgten insbesondere an Markttagen und zu Messezeiten für eine qualvolle innerstädtische Enge. Sie wurde noch durch die Höhe der Häuser und dadurch betont, dass Überhänge bis zu einem Meter in die Gassen hineinragten, und das auf beiden Seiten. Auch die Gliederung der Stadtteile stammte noch aus dem Mittelalter. Ein Ausweg aus dieser Situation wurde erst gefunden, als Anfang des 19. Jahrhunderts die alten Festungsanlagen geschliffen und durch einen Ring von Grünanlagen ersetzt wurden. Da aber war Goethe längst nach Weimar übergesiedelt und ließ sich von der Mutter(21) berichten: »Die alten Wälle sind abgetragen die alten Thore eingerißen um die gantze Stadt ein Parck, man glaubt, es sei Feerey … bey dem kleinsten Sonnenblick sind die Menschen ohne Zahl vor den Thoren Christen – Juden – pele mele alles durcheinander in der schönsten Ordnung es ist der rührendste Anblick den man mit Augen sehen kann.«[7]
Goethe selbst hingegen kommt das Frankfurt seiner Kinder- und Jugendtage im direkten Vergleich mit dem idyllisch in Ilmnähe gelegenen Weimarer Gartenhaus wie eine »enge Ausdünstungspfütze« vor.[8]