Der Aufstieg des Technosozialismus - Brett King - E-Book

Der Aufstieg des Technosozialismus E-Book

Brett King

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Beschreibung

Wohin werden die technologischen Quantensprünge unserer Zeit die Gesellschaft führen? Werden konservative Regierungen in einer immer stärker automatisierten Welt mit hoher Arbeitslosigkeit die resultierenden sozialen Unruhen bekämpfen? Oder lassen sie sich doch auf das Schreckgespenst eines universellen Grundeinkommens ein? Welche Macht dürfen Lobby­isten noch haben, wenn es um Energie und Nahrung und somit letztlich ums Überleben geht? Werden Wahlen abgeschafft und wir gehen zur Echtzeit-Demokratie über? Wie werden unsere Kinder in einer Welt leben, die von Klimakatastrophen bedroht und von künstlicher Intelligenz gesteuert wird? Welche Volkswirtschaften kommen gut durch den Wandel und wo droht das Scheitern? Ein Buch mit vielen Antworten auf sehr spannende Fragen.

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Brett King | Dr. Richard Petty

DER AUFSTIEG DES

TECHNO

SOZIALISMUS

Wie Ungleichheit, KI und Klima eineneue Weltordnung einläuten werden

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Rise of Technosocialism: How Inequality, AI and Climate will Usher in a New World

ISBN 978-981-4868-95-2

Copyright der Originalausgabe 2021:

Copyright © 2021, Brett King & Dr Richard Petty.

All rights reserved. No part of this publication may be reproduced or transmitted in any form or by any means, or stored in any retrieval system of any nature without the prior written permission of Marshall Cavendish International (Asia) Pte Ltd.

The German translation rights arranged with Marshall Cavendish International (Asia)

Pte Ltd through Suasive Consultants Private [email protected]

Copyright der deutschen Ausgabe 2023:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Rotkel. Die Textwerkstatt

Covergestaltung: Maja Hempfling

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Lektorat: Claus Rosenkranz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-858-9

eISBN 978-3-86470-859-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

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Meinen großartigen Freunden Clayton Fitts und Stephen Phillips (alias „Living Legend“), die immer da sind, wenn ich sie brauche.

Brett King

Für JLA

Richard Petty

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

DANKSAGUNGEN

Kapitel 1Explosive Unsicherheit

FEATURE: Die Pyramide der Ungleichheit

Kapitel 2Der Wendepunkt der Menschheit

FEATURE: Chaos des Klimawandels

Kapitel 3Die Tech-Billionäre

Kapitel 4Abschied von Adam Smith?

Kapitel 5Optimale Menschlichkeit

Kapitel 6Gebt mir eure müden, armen, geknechteten Massen …

Kapitel 7Entschärfung des Risikos einer Revolution

Kapitel 8Technologie verändert alles

Kapitel 9Die Wirtschaft der Zukunft

FEATURE: Globale Governance

VORSCHLAG: Eine globale Unternehmensteuer

Besteuerung von KI und Robotern

VORSCHLAG: Zweistufiger Steuer- und Schuldenerlass für Klimaschutzmaßnahmen

Kapitel 10Der Aufstieg des Technosozialismus

ANHANGDie vier möglichen Zeitlinien

ÜBER DIE AUTOREN

VORWORT

Wie sieht Ihr Technosozialismus aus?

Mein bester Freund Peter Diamandis schreibt mir oft zu, dass ich den Begriff „Technosozialismus“ geprägt habe. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich habe diesen Begriff 1988 bei der Eröffnungsveranstaltung der International Space University (ISU) zum ersten Mal verwendet. Das war für mich eine magische Zeit mit über 100 Studenten aus aller Welt. Die Studenten aus Festlandchina und der Sowjetunion sprachen unter vier Augen über die schlechten Bedingungen und den Mangel an Möglichkeiten, die der Kommunismus mit sich brachte. Die sowjetischen Studenten äußerten sich begeistert über die Aussicht auf Veränderungen, vor allem, als ihre Regierung mitten im Sommer alle Geschichtsprüfungen abschaffte und zugab, dass allen eine Fiktion über die Vergangenheit ihres Landes beigebracht worden war.

Auf dem Papier sah die kommunistische/sozialistische Verfassung der Sowjetunion Gleichheit und Wohlstand für alle vor, doch in Wirklichkeit führte ihr System zu den größten Gräueln, die die Welt je gesehen hatte. Diejenigen an der Spitze hatten nicht nur die ganze Macht, sondern auch den ganzen Reichtum.

Die Studenten aus Europa sprachen sich für den Sozialismus aus, eine abgeschwächte Version des Kommunismus, bei der man theoretisch sein Eigentum selbst besitzt. Viele, mich eingeschlossen, waren jedoch der Meinung, dass der Sozialismus mit denselben Problemen behaftet ist wie der Kommunismus: Die Elite zieht die Fäden und die staatlichen Leistungen sind nie gleich verteilt. Meiner Meinung nach sind Menschen keine idealen Maschinen, die bei der Arbeit ihr Bestes geben und die Ernte ihrer Anstrengungen freudig mit allen gleichmäßig teilen.

Seien wir ehrlich: Ehrgeizige Menschen arbeiten mit ihrem Geist und/oder Körper so hart, wie sie können. Einige sind uneigennützig, anderen fehlt es an Motivation und sie nutzen die Schwächen jedes politischen Systems aus, um sich durch Manipulation an die Spitze zu schlängeln. Leider braucht es nur wenige dieser schwarzen Schafe, um ein System zu ruinieren. Menschen können im Grunde edel sein, aber sie können auch mit großen Fehlern behaftet sein.

Was wäre, wenn der Mensch aus der Gleichung gestrichen würde? Was wäre, wenn man individuelle Bedürfnisse durch Technologie befriedigen würde? Es liegt auf der Hand, dass exponentielle Technologien wie KI und Robotik schließlich zu einer anderen Form des Sozialismus führen könnten und würden, einer, in der alle Bedürfnisse durch Innovation befriedigt werden könnten. Was würde passieren, wenn Wohnraum, Lebensmittel, Medizin, Energie, Bildung und Transport dank Innovation von hoher Qualität und nahezu kostenlos wären? Dann entsteht das, was ich Technosozialismus nenne.

Bei meiner Variante des Technosozialismus ist die Regierung nicht involviert, vielmehr werden die Innovationen und Unternehmen, die diese Bedürfnisse befriedigen, von klugen Entrepreneuren geschaffen. Wir leben bereits in der Anfangsphase dieses Systems. So haben beispielsweise das Internet und Suchmaschinen wie Google und Duck-DuckGo Wissen demokratisiert und entmonetarisiert. Die Mobilfunktechnologie und Smartphones ermöglichen heute 65 Prozent der Weltbevölkerung eine kostengünstige, qualitativ hochwertige Sprach- und Videokommunikation zu einem Bruchteil der Kosten, die früher anfielen. KI in Verbindung mit dem Internet der Dinge sorgt für eine rasante Weiterentwicklung des Bildungswesens. Bald wird eine umfassende Bildung durch einen Online-KI-Lehrer für ein paar Euro die Woche für jedermann verfügbar sein. Die Ausbildung wird auf die individuellen Fähigkeiten und Interessen jedes einzelnen Schülers zugeschnitten sein – das ist viel besser als das, was wir jetzt haben.

Das Aufkommen von humanoiden und anderen Robotern mit KI wird von vielen gefürchtet, weil dadurch die meiste, wenn nicht sogar die gesamte menschliche Arbeit wegfallen wird. Um ganz offen zu sein: Ich leite ein Unternehmen namens Beyond Imagination (BE), das von mir, Ray Kurzweil, Paul Jacobs, Tony Robbins und anderen Persönlichkeiten gegründet wurde. In diesem Jahr haben wir den Bau von Beomni abgeschlossen, einem hochmodernen, universell einsetzbaren humanoiden Roboter mit einer KI-Engine, die von einem Menschen trainiert wird. Zunächst wird Beomni den Robotern die Arbeitsplätze wegnehmen, da die Arbeitgeber nicht mehr gezwungen sind, aufgrund steigender Löhne eine autonome, robotergesteuerte KI-Belegschaft aufzubauen. Die bahnbrechende Innovation besteht darin, dass Beomni im Avatar-Modus von einem Menschen gesteuert wird. Wo immer es einen Beomni gibt, können Menschen auf der ganzen Welt, die über eine Mobilfunk- oder WLAN-Verbindung verfügen, darauf zugreifen und aus der Ferne arbeiten. Beomni wird die Möglichkeiten für alle demokratisieren und eine Welt der Sofortdienste schaffen, die nicht nur im Gastgewerbe, Baugewerbe, Bergbau und in der Landwirtschaft Anwendung finden wird, sondern auch bei Angestelltenberufen wie Ingenieuren, Krankenschwestern und Ärzten.

Anfänglich wird unser System Arbeitsplätze schaffen, nicht beseitigen, aber mit der Zeit wird das System durch die menschliche Bedienung Prozesse erlernen und sich zu einem halbautonomen System weiterentwickeln, das es einer Person ermöglicht, an vielen Orten gleichzeitig zu arbeiten. Letztendlich werden unsere Systeme vollkommen autonom sein, wodurch zwar Arbeitsplätze wegfallen werden, aber das ist eine gute Sache. Beomni wird zusammen mit anderen autonomen Robotern dafür sorgen, dass der Wohlstand für alle wächst, die weltweite Armut abnimmt, ebenso wie die Kosten für alles – von der Medizin bis hin zum Transportwesen. In dem Maße, in dem Roboter wie Beomni allgegenwärtig werden, werden auch viele andere Bedürfnisse der Menschheit demokratisiert und demonetarisiert werden.

Automatisierte technische Arbeit bedeutet, jederzeit und überall einen Arzt aufsuchen zu können. Die Möglichkeit, einen KI-gesteuerten Roboterarzt zu konsultieren, der tatsächlich präventiv tätig werden kann, wird zu maximaler Gesundheit für alle führen, insbesondere in Verbindung mit dem Internet der Dinge, das Ihren KI-Doktor in die Lage versetzen wird, sowohl gesundheitliche Fortschritte als auch Probleme zu erkennen und sofort zu handeln. In Verbindung mit Quantencomputing wird sich künstliche Intelligenz rasch weiterentwickeln, was zu erstaunlichen technologischen Verbesserungen bei erneuerbaren Energien und Akkuspeichern führen wird. Billige, saubere Energie in Verbindung mit der Entwicklung von Robotern, die all diese Arbeit erledigen können, wird dazu führen, dass die Kosten für Lebensmittel, andere materielle Güter und Infrastruktur wie Häuser und Straßen verschwindend gering sein werden.

Nun argumentieren einige Versionen des Technosozialismus, dass mit der Ersetzung von Arbeitsplätzen durch Technologie allgemeine Geldmittel benötigt werden, um die Grundbedürfnisse zu decken. Meiner Meinung nach ist dies eine fehlerhafte Argumentation, die zu weit mehr Problemen führen wird, als sie lösen kann. Aber stimmen Sie mir nicht einfach zu, sondern denken Sie selbst nach und analysieren Sie die Möglichkeiten. Deshalb gefällt mir dieses Buch, das Sie gleich lesen werden: Der Aufstieg des Technosozialismus wird eine Diskussion über eine Reihe von Themen und mögliche zukünftige Wege eröffnen. Man muss nicht zustimmen, aber man muss über sie nachdenken und sie diskutieren.

Der Diskurs kann Ihren Blickwinkel auf den Technosozialismus erweitern – Sie erkennen vielleicht, dass in der Vergangenheit in jeder Phase der technologischen Entwicklung, als Innovationen bestimmte Arbeitsplätze vernichteten, mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden. Die Automatisierung in der Landwirtschaft und im verarbeitenden Gewerbe führte zu mehr Arbeitsplätzen, weniger Verletzungen und Todesfällen und einem größeren Ertrag. Ja, es wird Menschen geben, die arbeitslos werden, und wir müssen dafür sorgen, dass es ein Sicherheitsnetz und Umschulungsmöglichkeiten für arbeitsfähige Menschen gibt. Aber der Sinn des Technosozialismus ist es, die Bedürfnisse aller zu befriedigen und gleichzeitig die Einmischung des Staates zu beenden.

Wenn die Kosten unserer Bedürfnisse drastisch gesenkt werden und gleichzeitig die Qualität dieser Dienstleistungen und Güter grundlegend verbessert wird, verringert sich die Zahl der Stunden, die wir alle arbeiten müssen. Das Mehr an freier Zeit kann dann für die Familie, Sport, Unterhaltung und höhere Ziele genutzt werden. Bis die Roboter die meisten Arbeiten vollständig übernehmen, können die Menschen ein Einkommen erhalten, um anderen zu helfen, um sich im Umweltschutz zu betätigen oder um ältere Menschen zu pflegen.

Bis zum Auftreten von Corona habe ich jedes Jahr zwei Wochen freigenommen, um Mittelstufenschülern beizubringen, dass sie „die exponentielle Generation“ sind – dass sie in einer Welt der künstlichen Intelligenz und der Roboterdiener aufwachsen. In meinem Unterricht ging es um das Internet der Dinge, Quantencomputing, 3-D-Druck und autonome Autos. Die Schüler haben schnell begriffen, dass ihnen solche einfachen Arbeitsplätze wie die ihrer Eltern in Zukunft nicht zur Verfügung stehen werden und dass sie mehr denn je eifrig lernen müssen, um ihre Intelligenz, ihre Kreativität, die künstlerischen wie auch die logischen Bereiche ihres Gehirns zu entwickeln. Stellen Sie sich vor, meine Lektion für sie wäre stattdessen: „Hey, ihr werdet ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen, wenn ihr groß seid, also macht euch keine Sorgen um das Lernen, die Regierung wird sich um euch kümmern.“

Meine Variante des Technosozialismus wird für Sie sorgen, solange Sie ein wenig arbeiten. Für die Kinder und Enkel reicher Leute gibt es bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen, aber laut David Kleinhandler werden 90 Prozent dieser Enkel das Vermögen ihrer Familie verlieren, weil sie den Wert der Arbeit nicht verstehen, sich nie etwas erkämpft haben und kein Gefühl für den Umgang mit Geld haben. Die Schaffung einer globalen Wirtschaft mit uninspirierten Menschen klingt wie ein Albtraum.

Und schließlich glaube ich fest an technologische Lösungen für die Umwelt. Deshalb habe ich mit meinen Freunden Jon und Jeff bei der XPRIZE-Visioneering-Veranstaltung 2017 den Carbon Extraction Prize ins Leben gerufen. Elon Musk hat diesen Preis in diesem Jahr mit über 100 Millionen finanziert. Es reicht nicht aus, die Schädigung der Umwelt zu stoppen, wir müssen sie reparieren, und das können wir mithilfe des Technosozialismus tun. Stellen Sie sich eine Million Roboter vor, die jeden Fluss und jeden Ozean von all den Abfällen säubern, die die Menschheit dort hineingekippt hat. Das ist meine Variante – welche ist Ihre?

Dr. Harry Kloor

CEO und Executive Founder

Beyond Imagination

EINLEITUNG

Das 21. Jahrhundert wird die umwälzendste und kontroverseste Zeit sein, die die Menschheit je erlebt hat. Sie wird unsere heiligsten Ideologien in Bezug auf Politik, Wirtschaft und soziale Konstrukte infrage stellen. Sie wird die Menschheit zwingen, sich in einer Weise anzupassen, die wir uns noch nicht vorstellen können.

Es gibt viel, worüber man sehr optimistisch sein kann, aber dazu muss sich die Menschheit im Hinblick auf unsere kollektiven Ziele und Zwecke zusammenschließen. Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz (KI) stehen wir kurz davor, vielleicht die größten Rätsel des Universums zu lösen, aber die KI wird es uns auch erlauben, die Gesellschaft zu automatisieren, um ungeahnten Reichtum und Wohlstand zu schaffen. Wir werden bald über die Technologie verfügen, um unser Leben zu verlängern, die Menschheit zu einer multiplanetaren Spezies zu machen und die Grundbedürfnisse eines jeden Mannes, einer jeden Frau und eines jeden Kindes auf der Erde zu befriedigen.

In ein oder zwei Jahrzehnten werden wir die meisten Energiesysteme der Welt vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt haben und wir machen uns auf den Weg, die Bereiche Bildung, Gesundheitswesen, Wohnen, Konsum, Ernährung und Landwirtschaft mit einer Wirtschaft für das 21. Jahrhundert neu zu gestalten.

Wir glauben, dass sich die wahrscheinlichen Ergebnisse am besten so beschreiben lassen, wie wir das auf diesen Seiten getan haben. Dies wird der Aufstieg eines technologiegesteuerten, kollektiven sozialen Bewusstseins und Sinns sein. Wenn Sie bei diesem Begriff an eine klassische rechtskonservative Sichtweise des Sozialismus, an Debatten über den wirtschaftlichen Zusammenbruch Venezuelas oder an die Schriften von Karl Marx denken, dann wollen wir Sie an dieser Stelle direkt unterbrechen. Das ist absolut nicht das, was wir befürworten.

Wir sehen einfach die Tatsache, dass mehrere Trends, konvergierende Kräfte und sich abzeichnende soziale Probleme die ganze Welt dazu veranlassen werden, traditionelle Ansichten über funktionierende Demokratien, Kapitalismus und westliche politische Ideale infrage zu stellen angesichts der Krisen, die sich fortwährend auf den gesamten Globus auswirken. Man könnte es am besten als eine globale soziale Bewegung bezeichnen, die den Staat, den privaten Sektor und ebenso Nichtregierungsorganisationen zu großen Veränderungen in Bezug auf Inklusion und Politik zwingt. Wenn wir einen besseren Begriff finden könnten, um die sich entwickelnde geopolitische und wirtschaftliche Landschaft zu beschreiben, würden wir ihn gern übernehmen. Neokapitalismus? Nein – der Kapitalismus ist eine der Hauptursachen für unbeabsichtigte Folgen, die zu sozialer Spaltung und mangelnden Anreizen führen. Demokratie des 21. Jahrhunderts? Nein. Das beschreibt nicht annähernd den Einfluss, den soziale Medien, künstliche Intelligenz und Technologie auf die Politik hatten – und weiterhin haben werden. Populismus? Nein, populistische Bewegungen sind eher Symptome eines scheiternden Systems und eine Reaktion auf die Globalisierung, nicht eine Lösung für die politische und soziale Spaltung.

Abbildung 1: Historisches politisches Spektrum der letzten 200 Jahre. (Quelle: Eigene Illustration des Autors)

Denken Sie an das breite politische Spektrum, das wir im 20. Jahrhundert erlebt haben. Während die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten oft zwischen der Mitte und der radikalen Linken angesiedelt wird, ist sie aus globaler historischer Sicht eher Mitte-rechts als kommunistisch. Dinge wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung und eine starke soziale Absicherung machen Regierungen historisch gesehen nicht weit links; tatsächlich sind viele Demokratien, die diese grundlegenden Leistungen anbieten, heute eher rechts der Mitte angesiedelt.

Es gibt einige wichtige Kräfte, die das klassische politische Spektrum im 21. Jahrhundert wahrscheinlich auf den Kopf stellen werden. Erstens wird der hohe Automatisierungsgrad die Idee einer „Big Government“-Kultur wieder in den Mittelpunkt rücken, da die Technologie es uns erlaubt, alle Leistungen anzubieten, die wir von einer modernen Regierung erwarten, aber zu einem Bruchteil der Kosten und des Aufwands im Vergleich zu denen des 20. Jahrhunderts. Zweitens werden die Auswirkungen des Klimawandels, anhaltende Pandemien und die wachsende Ungleichheit dazu führen, dass sich die Global Governance zunehmend auf umfassende kollektive Rechte und Maßnahmen konzentriert. Schließlich wird der Wandel der Wertesysteme die Prioritäten der Gemeinschaften weg vom klassischen Kapitalismus hin zu nachhaltigeren und integrativen Optionen verschieben. Mehr dazu in unseren ersten Kapiteln.

Die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen auf der ganzen Welt zur Bekämpfung des Klimawandels und sich ausbreitender Pandemien muss zu einer stärkeren kooperativen Governance führen. In dieser Zukunft werden die Unternehmen gezwungen sein, den hohen Automatisierungsgrad, der menschliche Arbeit aufs Abstellgleis schickt, durch Strategien abzumildern, die sich auf ihr soziales Engagement und ihre Umweltverantwortung konzentrieren – andernfalls werden ihre Marken den Bach runtergehen.

Wirtschaftlich gesehen treten wir in eine Ära der brisanten Unsicherheit ein. In den letzten 40 Jahren haben sich die reichsten und profitabelsten Personen und Unternehmen herausgebildet, die die Welt je gesehen hat. Da sich der Wandel jedoch beschleunigt hat, werden immer größere Teile der Gesellschaft abgehängt. Die Zahl der vermögenden Privatpersonen oder die Höhe der Unternehmensgewinne innerhalb eines geografischen Fußabdrucks können nicht mehr als einzig positiver Maßstab für den makroökonomischen Erfolg angesehen werden.

Da die Technologie die Ökonomie von Angebot und Nachfrage umgestaltet, werden sich die Kapitalmärkte anpassen und die Erwerbsbeteiligung wird auf den Kopf gestellt werden. Wenn die Wirtschaft ihre Leute nicht ausreichend ausgebildet, umgeschult und unterstützt hat, wenn sie nicht in die Infrastruktur der nächsten Generation investiert und sich nicht auf die Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert konzentriert hat, dann werden die Auswirkungen brutal sein. Die technologiebedingte Verdrängung traditioneller Arbeitsplätze ist eine Sache, aber die Erkenntnis der großen Mehrheit der Bevölkerung, dass sie keine wirtschaftliche Zukunft hat, keine echte und geschätzte Teilhabe an der Gesellschaft, keinen Anteil an dem Erfolg, den sie bei anderen sehen, ist eine eher philosophische Frage. All das, während neue, aufstrebende und hochprofitable Industrien unter massivem Arbeitskräftemangel leiden, und zwar infolge eines Mangels an angemessener Planung, fehlenden Zugangs zu Bildung und falscher Einwanderungspolitik.

Technosozialismus ist nichts völlig Neues, aber er ist eine Philosophie, die von den Menschen für die Menschen verfolgt wird, die durch unglaubliche Fortschritte in der Technologie vorangetrieben wird und die durch ständige Infragestellung des Status quo bestärkt wird. Politik und Technologie müssen zusammenarbeiten, um die kollektiven Grundbedürfnisse unserer Gemeinschaften zu befriedigen, wobei ein größerer gesellschaftlicher Zusammenhalt und bessere Maßnahmen gegen Unsicherheit und Unbeständigkeit im Vordergrund stehen. Wenn der Sozialismus durch die Bedürfnisse des Kollektivs gekennzeichnet ist und die Technologie es uns ermöglicht, diese Bedürfnisse zu wesentlich geringeren politischen und wirtschaftlichen Kosten zu befriedigen, dann sind die Regierung und das universelle Gemeinwohl logischerweise viel effizienter und wirtschaftlicher.

In diesem Buch befassen wir uns mit einer Reihe möglicher Ergebnisse, aber als Futurist und als Unternehmer und Akademiker machen wir uns vor allem Gedanken über die Anpassungsfähigkeit unserer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Modelle an eine Zukunft, die sich uns sehr schnell nähert.

Die Geschichte lehrt uns, dass diese Zukunft weitgehend unvermeidlich ist und dass wir im Großen und Ganzen erschreckend unvorbereitet sind. Warum? Weil wir die letzten 200 Jahre damit verbracht haben, die Maschinerie und die Systeme, die Unsicherheit und Ungleichheit hervorgebracht haben, zu kreieren, zu fördern und Anreize für sie zu schaffen. Unser kurzfristiger Fokus auf BIP, Arbeitsplätze, Quartalsergebnisse und Wahlzyklen verstärkt unsere Unfähigkeit, mehr als ein paar Jahre vorauszuplanen, und führt dazu, dass wir viel zu viele Dinge auf die lange Bank schieben. Diese kurzsichtige Kurzfristorientierung wird nur noch schlimmer werden und es wird zu größeren Störungen kommen, wenn wir uns nicht gemeinsam an eine neue Realität anpassen. Die Menschen müssen zu viel längerfristigen Planungszyklen und einer breiteren wirtschaftlichen Beteiligung übergehen, wenn wir als Spezies überleben wollen.

In diesem Buch geht es darum, sich den harten Realitäten unserer Zukunft zu stellen. Es geht darum, die Entwicklung der sozialen Bewegungen, die wir heute erleben, zu verstehen und zu begreifen, wie sie sich entwickeln werden, und darum, echte, erwachsene politische Gespräche zu führen, die die Risiken für unsere Stabilität, unsere Freiheiten und eine gesunde Zukunft eindämmen. Wir werden uns auch mit den möglichen Folgen befassen, die sich ergeben, wenn wir auf den fehlerhaften, defekten Systemen von heute einfach beharren.

Wir hoffen, dass Der Aufstieg des Technosozialismus Sie dazu anregt, über Ihre Zukunft, die Zukunft Ihrer Familie und die Zukunft Ihrer Gemeinschaft nachzudenken. Als Optimisten hoffen wir, dass Sie erkennen, dass diese Veränderungen uns nicht spalten müssen und dass wir eine wohlhabendere und integrative Zukunft für alle aufbauen können.

Aber zuerst müssen wir uns auf den gleichen Stand bringen.

Brett King

Richard Petty

Der Futurist

Entrepreneur und Akademiker

DANKSAGUNGEN

Brett King (BK)

Wie üblich ist das Schreiben eines solchen Buches ein mehrjähriges Unterfangen und erfordert eine ganze Sippe, was Unterstützung und Durchführung angeht.

Mein besonderer Dank gilt dem Team von Marshall Cavendish und der Times Publishing Group sowie den Verlegern auf der ganzen Welt, die sich wieder einmal mit Enthusiasmus und großer Begeisterung für unser Buch eingesetzt haben, insbesondere Melvin Neo, Janine Gamilla, Norjan Hussain und Michael Spilling. Wie immer wäre ich nachlässig, wenn ich mich nicht bei den Teams von Moven und Provoke für ihre hervorragende Unterstützung und ihr Verständnis bedanken würde, als aus wochen- monatelange Unterbrechungen wurden, weil das Buch aufgrund der Corona-Auswirkungen umgeschrieben werden musste – insbesondere bei Richard Radice, Bryan Clagget, JP Nicols, Jason Henrichs, Cassie Leblanc, Kevin Hirshorn, Liesbeth Severeins, Carlo Navarro, Elena Liman und Marek Forysiak. An Jay Kemp und Tanja Markovic: Eure Fähigkeit, meinen Zeitplan im Blick zu behalten, die Einnahmen zu sichern und gleichzeitig auf meine geistige und körperliche Gesundheit zu achten, ist wirklich inspirierend, und ich bin gesegnet, euch im Team zu haben.

Richard Petty dafür, dass er an diesem Projekt festgehalten hat, als die Pandemie unsere Welt und das Projekt ins Chaos stürzte, und dass er daran glaubt, dass wir die Welt verändern können.

Ich möchte mich noch einmal bei den Cafés bedanken, die dieses Buch ermöglicht haben, besonders bei der Algonquin Hotel Lobby Lounge in NYC, dem Ludlow Hotel im East Village, Starbucks Reserve (Icon Siam) und dem Coffee Club (Riverside Plaza) in Bangkok. Ihr Wi-Fi und Ihre Cappuccinos waren der Treibstoff, der mich hat weiterschreiben lassen.

Aber der größte Dank gebührt meiner Familie – insbesondere Katie (Miss Metaverse), Charlize (Charlie) und Thomas (Mr. T), die die Schwerkraft sind, die mich zusammenhält. Dank an Matt und Hannah, die mich immer wieder stolz machen. Und an meinen Vater, der mein größter Fan und PR-Agent ist.

Es gibt viele, viele mehr – und ihr wisst, wer gemeint ist –, die mich täglich auf Trab und bei Verstand halten. Ich liebe euch alle und ich bin ein besserer Mensch, weil ihr ein Teil meines Lebens seid.

Brett King (BK)

DANKSAGUNGEN

Richard Petty

Das Schreiben eines Buches ist auch in den besten Zeiten schwierig. Ein Buch während einer Pandemie zu schreiben, wenn sich viele der wirklich wichtigen Themen wie Technologie, Wirtschaft, Umweltfragen, Politik und soziale Interaktionen schneller als je zuvor verändern, stellt eine einzigartige Herausforderung dar. Das Schreiben von Der Aufstieg des Technosozialismus hat uns auf eine lange Reise geführt, aber eine Reise, die die Mühe wert war.

Was vor einigen Jahren als Idee bei einem Kaffee in New York begann, nahm im Laufe von Diskussionen in verschiedenen Ländern Gestalt an, während Brett und ich darum kämpften, Zeit zu finden, um die für uns wichtigen Themen persönlich zu diskutieren und zu erörtern und dann unsere Gedanken auf Papier zu bringen. Brett und ich sind seit Jahrzehnten befreundet und wir haben oft darüber nachgedacht, ein Projekt wie Der Aufstieg des Technosozialismus gemeinsam anzugehen. Ich bin sehr froh, dass er die Inspiration für Der Aufstieg des Technosozialismus hatte und darauf bestanden hat, genau dieses Projekt umzusetzen.

Das Team von Marshall Cavendish und der Times Publishing Group sowie unsere Verleger auf der ganzen Welt haben uns sehr unterstützt. Besonderer Dank geht an Melvin Neo, Janine Gamilla, Norjan Hussain und Michael Spilling.

Mein Dank gilt der Familie und den Freunden, die mir in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite stehen. Meine gewohnheitsmäßige Zurückgezogenheit in Zeiten von Arbeitssucht und Stress – die leider häufiger und länger andauern, als es gesund ist – könnte den falschen Eindruck erwecken, dass ich eure Unterstützung für selbstverständlich halte; ich versichere euch, dass das nie der Fall ist. Besonderer Dank gilt meiner Schwester, einer begnadeten Autorin, die gleichermaßen Mitgefühl und Stärke besitzt und ein Vorbild an angeborener Herzensgüte ist.

An diejenigen, die mich inspirieren: frühere und heutige Studenten, die mich gelehrt haben, zuzuhören, Lehrer, die mich ermutigt haben, kritisch zu denken anstatt kritisch zu sein, und die Frauen und Männer der Wissenschaft, die viel mehr gefeiert und anerkannt werden sollten, als es der Fall ist (Eure Zeit wird sicherlich kommen, denn ohne euch ist alles verloren).

Richard Petty

1

EXPLOSIVE UNSICHERHEIT

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EXPLOSIVE UNSICHERHEIT

„Der Zweck einer Regierung ist es, den Menschen eines Landes ein Leben in Sicherheit und Glück zu ermöglichen. Die Regierung ist für die Interessen der Regierten da, nicht für die Regierenden.“

– Thomas Jefferson

Es dauerte nur 21 Tage, um die größte Volkswirtschaft der Welt in die Knie zu zwingen: vom 20. Januar 2020, als der erste COVID-19-Patient1 in Seattle positiv getestet wurde, bis zum 11. Februar. In diesem Zeitraum begann die schlimmste Baisse in der Geschichte des US-Aktienmarktes, die mehr als ein Drittel des Marktwertes vernichtete, bis sie schließlich zu Ende war. Und das alles bei einem Virus mit einem Durchmesser von nur 0,125 Mikrometern, also 125 Nanometern. Zum Vergleich: Ein einzelnes menschliches Haar ist 400-mal größer als der „versteckte Feind“ SARS-CoV-2.

Ende Mai 2020 hatte jeder vierte Amerikaner Arbeitslosenunterstützung beantragt, sodass die Gesamtzahl der Arbeitslosen bei über 40 Millionen lag. Vor der Coronakrise gab es in Amerika keine einzige Woche mit einer Million Arbeitslosenanträgen, aber bis zu den US-Wahlen 2020 hatten wir sechs Monate lang im Durchschnitt jede Woche eine Million neue Arbeitslose (mit einem Höchststand von über zwei Millionen Anträgen in der vorletzten Maiwoche). Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass am Ende des zweiten Quartals weltweit mindestens 195 Millionen Arbeitsplätze und 6,7 Prozent der Gesamtarbeitszeit vernichtet worden waren. Diese negativen Auswirkungen waren jedoch nicht gleichmäßig über die ökonomischen Schichten verteilt.

Im Vereinigten Königreich war die Zahl der COVID-19-Todesfälle in den am stärksten benachteiligten Gebieten mehr als doppelt so hoch wie in den wohlhabendsten Vierteln (Office for National Statistics). Der damalige Vorsitzende der US-Notenbank Federal Reserve, Jerome Powell, sagte in einer Rede im Mai, dass 40 Prozent der Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 40.000 US-Dollar im März 2020 mindestens einen Arbeitsplatz im Haushalt verloren hätten. In einer Studie, die sich auf prognostizierte Arbeitsplatz- und Lohnverluste stützt, kamen das Aspen Institute Financial Security Program und das COVID-19 Eviction Defense Project zu dem Schluss, dass 19 bis 23 Millionen Mieter in den Vereinigten Staaten bis Ende 2020 von Zwangsräumung bedroht seien, was bis zu 21 Prozent der Mieterhaushalte entspricht. In ähnlicher Weise schätzte Amherst Capital, eine Immobilieninvestmentfirma, im Juni 2020, dass 28 Millionen Haushalte (64 Millionen Menschen) aufgrund von Corona von Zwangsräumungen bedroht seien. Noch im November 2020 konnten 88 Prozent der New Yorker Restaurants ihre Miete nicht zahlen. Trotz der Einführung der Impfstoffe werden diese wirtschaftlichen Auswirkungen noch lange zu spüren sein.

Das New Yorker Gesundheitsamt gab während der Krise bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit, an dem Virus zu sterben, für Afroamerikaner und Latinos mehr als doppelt so hoch sei wie bei den in der Stadt lebenden Weißen. Dies ist keine Aussage über Genetik, sondern über die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung zwischen den ärmsten und den wohlhabenderen Teilen der Gesellschaft.

Versagen des Marktes

Man könnte argumentieren, dass Corona nicht so sehr ein Versagen der Medizin war, sondern vielmehr ein Versagen des freien Marktes und der Politik. Alles in allem hätten es sich die USA leicht leisten können, genügend Beatmungsgeräte, Virostatika und andere Medikamente für eine drohende Pandemie vorrätig zu halten – aber das haben sie nicht getan. Der freie Markt konnte einfach nicht schnell genug reagieren. Ein funktionierender Gesundheitsmarkt kann nicht innerhalb weniger Wochen für eine aus dem Nichts aufgetauchte Krankheit entstehen, von der Millionen Menschen gleichzeitig betroffen sind. Das US-Gesundheitssystem wird als Beispiel für ein Modell der freien Marktwirtschaft angeführt, aber Corona hat gezeigt, dass es kein fairer und gerechter Markt für alle Amerikaner ist, die mit einer Krankheit konfrontiert sind, die nicht erst Ihren Kontostand prüft, bevor sie Sie infiziert. Es hat sich gezeigt, dass der freie Markt nicht von sich aus fundamentale Maßstäbe für das größere öffentliche oder soziale Wohl hat – nicht, als der Aktienmarkt in die Höhe schoss, während die Anzahl der Todesopfer pro Tag die Zahl der Todesopfer des 11. Septembers überstieg, als mehr als 100.000 Geschäfte geschlossen wurden und mindestens 30 Millionen Menschen auf Arbeitslosenunterstützung und Konjunkturhilfen angewiesen waren, um zu überleben.

Wir werden seit mehr als 20 Jahren vor möglichen Pandemien gewarnt, daher kann man auch nicht behaupten, dass die Pandemie auf ein Versagen unserer Vorstellungskraft zurückzuführen ist. 2005 hat das US-Gesundheitsministerium zusammen mit den CDC (Centers for Disease Control and Prevention, Zentren für Krankheitsbekämpfung und -prävention, eine Behörde des US-Gesundheitsministeriums) einen Influenza-Pandemie-Reaktionsplan2 erstellt, der genau die Art von Pandemie-Szenario vorausgesehen hat, das wir bei Corona vorfanden. Wir wussten nicht, dass es COVID-19 sein würde, aber wir wussten, dass Pandemien kommen würden. Warum? Weil sie in der Geschichte der Menschheit einfach ein normales Phänomen sind.

„Natürlich fragen die Leute das: ‚Was hält Sie nachts in der Welt des biologischen Schutzes am meisten wach?‘ Die pandemische Grippe natürlich. Ich denke, jeder in diesem Raum teilt diese Sorge.“

– Gesundheitsminister Alex Azar auf dem National Biodefense Summit (17. April 2018)3

Auch die WHO hat mindestens seit 2004 eine Schutzplanung für eine Influenzapandemie vom Typ der Spanischen Grippe (siehe WHO Pandemic Preparedness4) in der Schublade. Als es darauf ankam, wurde die Umsetzung dieses Plans durch internationale Politik, wissenschaftliche Debatten, mangelhafte Kommunikation und schlechte Koordination zwischen Stadt, Staat, Bundesbehörden, Ländern, Nationalstaaten und multilateralen Organisationen erschwert. Auch Regierungen, die gut vorbereitet waren und sofort und entschlossen gehandelt haben, waren weder gegen die Auswirkungen des Virus noch gegen die wirtschaftlichen Folgen gefeit. Dies ist nicht als politische Aussage zu verstehen. Tatsache ist, dass die letzte große Pandemie bereits 100 Jahre zurückliegt – und trotz dieser langen Vorbereitungszeit hat uns diese Krankheit in ein globales Chaos gestürzt. Bei Redaktionsschluss dieses Buches sind wir noch Jahre davon entfernt, die weitreichenden Auswirkungen von Corona und die gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen, die notwendig sein werden, um zu einem gewissen Maß an Normalität zurückzukehren.

Bill Gates hat 2015 eine berühmte Rede auf der TED-Konferenz gehalten, in der er das Potenzial einer Pandemie wie des Coronavirus des Jahres 2020 beschrieben und uns alle aufgefordert hat, auf eine wirksame globale Reaktionsfähigkeit hinzuarbeiten.

Als Corona kam, hielten die Menschen seine Vorhersagen für so unheimlich, dass Verschwörungstheoretiker behaupteten, er habe das Virus geschaffen, um den Menschen zu zeigen, dass er recht hatte, und um von der Impfstoffproduktion zu profitieren. Stellen Sie sich vor, Sie wären Bill und Melinda Gates, die Milliarden von US-Dollar ausgeben, um die Armut auf der ganzen Welt zu bekämpfen und Krankheiten wie Polio erfolgreich zu behandeln, nur um dann beschuldigt zu werden, all das getan zu haben, damit sie Mikrochips in zukünftige Coronaimpfstoffe einpflanzen können, um Ihr Gehirn zu kontrollieren! Tatsache ist, dass Gates nicht besonders vorausschauend war, sondern dass er – wie die gesamte Gemeinschaft der Immunologen und Epidemiologen weltweit – wusste, dass eine Pandemie nur eine Frage der Zeit war.

Es haben Debatten getobt über die Wirksamkeit des Lockdowns, über Schwedens atypischen Ansatz und darüber, warum asiatische Länder so viel besser abgeschnitten haben als Länder wie die USA. Auf der ganzen Welt haben Menschen für die Aufhebung des Lockdowns demonstriert. Das medizinische Personal in den Großstädten war am Ende seiner Kräfte, ist körperlich und seelisch an seine Grenzen gestoßen. Als der Winter 2020/2021 über die USA hereingebrochen ist, ist es zu einer Häufung der Fälle und einer Verschärfung der Pandemie gekommen.

Corona veranschaulicht das Potenzial für ein Versagen unserer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme. Was wird geschehen, wenn wir noch schlimmeren Krisen gegenüberstehen?

Frühe Reaktionen

Die von einigen Regierungen ergriffenen Maßnahmen zeigten deutliche Vorteile bei der Verlangsamung der Auswirkungen des Coronavirus zu Beginn der Pandemie, auch wenn diese Strategien von anderen Regierungen oft abgelehnt wurden. In Taiwan wurde der Gesundheitszustand von aus Wuhan eintreffenden Personen untersucht, noch bevor die Übertragung von Mensch zu Mensch bestätigt wurde. Zum 1. Februar 2020 hatten Hongkong, Taiwan und Singapur Reisebeschränkungen für Passagiere vom chinesischen Festland eingeführt, obwohl die WHO zunächst (fälschlicherweise) behauptet hatte, solche Beschränkungen seien nicht notwendig.

Nach SARS im Jahr 2003 hatte Taiwan eine zentrale Kommandozentrale für Epidemien eingerichtet. Bis zum 20. Januar 2020 koordinierte sie die Reaktion der Regierung auf das Coronavirus. Die Kommandozentrale stellte eine Liste von 124 „Aktionselementen“ zusammen, darunter Grenzkontrollen, Schul- und Arbeitsrichtlinien, öffentliche Kommunikationspläne und Ressourcenbewertungen von Krankenhäusern5.

Am 20. Januar gaben die taiwanesischen Zentren für Krankheitsbekämpfung und -prävention bekannt, dass die Regierung über einen Vorrat von 44 Millionen chirurgischen Masken, 1,9 Millionen N95-Masken und 1.100 Unterdruck-Isolationszimmern verfügte. Der damalige Vizepräsident Taiwans war zufällig ein bekannter Epidemiologe. Er informierte die Menschen regelmäßig darüber, wann sie eine Maske tragen sollten, wie wichtig es ist, sich die Hände zu waschen, und erklärte, dass das Horten von Masken das Gesundheitspersonal vor Ort daran hinderte, an die benötigte Ausrüstung zu gelangen. Heute erscheint das als simpler, naheliegender Ansatz, war aber in der Anfangszeit unüblich. In der ersten Hälfte des Jahres 2021 gab es in Taiwan nur 187 Todesfälle.

In Singapur wurden alle Personen, die grippe- oder erkältungsähnliche Symptome oder Fieber zeigten, sofort auf das Coronavirus getestet. Die Regierung schaltete ganzseitige Anzeigen in den Lokalzeitungen sowie Fernseh- und Radiospots, in denen die Menschen aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben, wenn sie krank waren. Als Folge von SARS hatte Singapur 2003 eine Taskforce eingerichtet, in der mehrere Regierungsbehörden vertreten waren, um bei künftigen Pandemien Maßnahmen und Nachrichtenübermittlung zu koordinieren. Diese Taskforce war 2009 während der H1N1-Pandemie und erneut 2016 während des Zika-Ausbruchs gefordert und kam im Januar 2020 für SARS-CoV-2 erneut zusammen. Singapur richtete bis Mitte Februar mehr als 1.000 Testkliniken im gesamten Stadtstaat ein. Die Insel Manhattan in New York City hat nur ein Zehntel der Größe Singapurs, aber im Juni 2020 gab es dort gerade einmal 100 Teststellen – Mitte April waren es nur neun. Singapur hatte 33 Todesopfer zu beklagen.

Hongkong war von der SARS-Epidemie im Jahr 2003 stark betroffen. Wir haben beide während der SARS-Krise in Hongkong gelebt und die Veränderungen aus erster Hand miterlebt. Kleine, dunkle Gassen voll mit weggeworfenem Müll wurden gesäubert. Jeder Bürger trug eine Maske, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte. In jedem Hafen, jeder Bank, jedem größeren Einkaufszentrum und Gebäude wurden Wärmebildtechnik und Temperatursensoren eingesetzt – wer Fieber hatte, wurde nach Hause oder ins Krankenhaus geschickt. Wenn man nach Hause kam, zog man die Schuhe vor der Wohnung aus. Sobald man drinnen war, wusch man sich die Hände, bevor man etwas anfasste. Man wechselte seine Kleidung und wusch sie. Die Regierung von Hongkong hat am 28. Januar eine Anordnung zum Hausarrest erlassen. In New York ist das erst am 20. März geschehen, im Vereinigten Königreich am 23. März. In Hongkong gab es nur 200 Tote.

Ein derartiges Maß an Disziplin und Einhaltung der Vorschriften angesichts des Coronavirus war im Westen im Allgemeinen nicht zu beobachten. In Italien mussten die Bürgermeister der betroffenen Städte damit drohen, mit Flammenwerfern in die Häuser zu gehen, in denen Abschlussfeiern stattfanden, um sie zu beenden. In den USA kam es in den Bundesstaaten Kansas, Michigan, North Carolina, Ohio und Florida zu Straßenprotesten gegen die Anordnung, zu Hause zu bleiben, wobei sich viele Menschen weigerten, Masken zu tragen. In Miami Beach, Cancun und New Orleans feierten die Partygänger Spring Break und Mardi Gras. Brady Sluder, ein 22-jähriger Student aus Milford, Ohio, verkündete: „Wenn ich Corona bekomme, bekomme ich Corona … Letzten Endes lasse ich mich davon nicht vom Feiern abhalten. Ich habe gewartet, wir haben eine ganze Weile auf den Miami Spring Break gewartet. Diese Reise haben wir etwa zwei Monate lang geplant, zwei, drei Monate, und wir sind einfach hier und haben eine gute Zeit.“6

Binnen zwei Wochen nach dem Spring Break infizierten sich Hunderte von Studierenden im ganzen Land, die solche Veranstaltungen besucht hatten, mit dem Coronavirus; eine Woche später waren mehr als ein Dutzend gestorben. In Louisiana, wo die örtlichen Behörden das Infektionsrisiko für gering hielten, gab es einen Monat nach Mardi Gras allein in Orleans County 6.000 bestätigte Fälle und fast 400 Todesfälle. Präsident Trump drängte weiterhin auf politische Kundgebungen und es wird vermutet, dass er für rund 30.000 Infektionen und 700 Todesfälle verantwortlich sein könnte.7 Die London School of Hygiene and Tropical Medicine hat eine Liste von Superspreader-Events auf der ganzen Welt erstellt und herausgefunden, dass etwa 20 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der weltweiten Coronavirus-Fälle verantwortlich sind, und zwar aufgrund von Veranstaltungen, bei denen Abstandsregeln und das Tragen von Masken ignoriert wurden. Auch heute noch gibt es eine große Menge Amerikaner, die behaupten, dass Masken nicht funktionierten und der Shutdown der Wirtschaft eine Verletzung ihrer Rechte oder sogar illegal sei. Erschwerend kam hinzu, dass die Zentren für Krankheitsbekämpfung zu Beginn der Pandemie aufgrund von Engpässen bei medizinischer Schutzausrüstung widersprüchliche Botschaften verschickt hatten.

Im Dezember 2020 entfielen auf die USA nur vier Prozent der Weltbevölkerung, aber über 25 Prozent der weltweiten COVID-19-Fälle.8 Irgendwie scheinen diese Zahlen einfach unglaublich zu sein – wie konnte die fortschrittlichste Wirtschaft der Welt so grundlegend falsch reagieren?

Durch in Europa geltende Gesetze waren dort Apps wie Trace-Together aus Singapur illegal. In weiten Teilen des Westens sind die individuellen Freiheiten zunehmend über die kollektiven Bedürfnisse der Gesellschaft gestellt worden und als das Coronavirus ausbrach, wurde unsere Freiheit, gegen die Interessen unserer Mitmenschen zu handeln, tatsächlich auf die Probe gestellt. Das Tragen einer Maske wurde zu einem einfachen Test – sind Ihre persönlichen Rechte (das Recht, eine Maske zu verweigern) wichtiger als die der Menschen um Sie herum (die Sie anstecken könnten)?

Gideon Lichfield, Chefredakteur der MIT Technology Review, hat es so formuliert: „Wir sind so eng miteinander verbunden, dass ein Virus jeden von uns erreichen kann, und doch so abgeschottet, dass wir uns nicht vorstellen können, dass sich das, was an einem Ort passiert, an einem anderen wiederholt.“ Als eindeutige Beweise dafür vorgelegt wurden, dass einige Länder die Krise besser bewältigten als andere, wurden die Ergebnisse von den Belagerten weitgehend ignoriert.

Der Shutdown hatte einige unbeabsichtigte Nebeneffekte, die die Aufmerksamkeit auf andere systemische Probleme der Menschheit lenkten.

Innerhalb weniger Wochen, nachdem einige der größten Städte der Welt praktisch runtergefahren worden waren, sank die Luftverschmutzung drastisch. Europäische Städte wie Mailand, Rom, Barcelona und Paris verzeichneten alle einen Rückgang der Stickstoffdioxidwerte von etwa 50 Prozent.

Im indischen Bundesstaat Punjab konnten die Bewohner zum ersten Mal seit 30 Jahren den mehr als 100 Kilometer entfernten Himalaja sehen. In der Stadt Venedig waren die Kanäle so klar, dass man Fische auf dem Kanalboden schwimmen sehen konnte – etwas, das zuletzt vor fast einem Jahrhundert beobachtet worden war. Vom Aussterben bedrohte Schildkröten wurden in Brasilien bei der Eiablage an Stränden beobachtet, die normalerweise von Menschen überlaufen sind.

Seit der letzten globalen Pandemie, der H1N1-Pandemie von 1918 und 1919, die oft als Spanische Grippe bezeichnet wird, sind 100 Jahre vergangen. In dieser Zeit haben wir über künftige Pandemien debattiert, wir haben uns vorbereitet – wir haben Milliarden von US-Dollar für die Vorbereitung ausgegeben – und als Corona auftrat, haben wir all diese Vorbereitungen in den Wind geschlagen. Warum?

Abbildung 1: Stickstoffdioxidwerte in Europa während der Eindämmung des Coronavirus. (Bildnachweis: KNMI/ESA Copernicus)

Als sei das noch nicht genug. hat das Coronavirus die wirtschaftliche Unsicherheit in einer Zeit verschärft, in der wir uns historisch gesehen bereits in einer der wirtschaftlich schwierigsten Phasen der Menschheitsgeschichte befinden. Warum können wir angesichts der reichsten Volkswirtschaften, die die Menschheit je gesehen hat, und in einer Zeit unglaublichen technologischen Fortschritts ein Problem wie das Coronavirus nicht in den Griff bekommen? Wird es besser oder schlechter?

Man sollte meinen, dass bei einer Spezies eine Bedrohung für unsere Mitmenschen zu Unterstützung für globale Maßnahmen führen würde, Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung eines Virus, zur Beseitigung der Armut oder zur Verringerung der Auswirkungen des Klimawandels auf den Planeten. Bislang haben wir noch nicht die Kurve gekriegt, diese Risiken einzudämmen. In vielen Fällen können wir uns nicht einmal darauf einigen, ob diese Probleme wirklich existieren, geschweige denn sinnvolle Maßnahmen ergreifen, die zu deren Beseitigung führen.

Wir debattieren über angemessene Kohlenstoffreduzierungen und Emissionsziele für unsere Volkswirtschaften, während ein Anstieg des Meeresspiegels um mindestens 60 Zentimeter und ein Temperaturanstieg um zwei Grad Celsius für 2050 bereits weitgehend feststehen, selbst wenn wir die Emissionen sofort auf null reduzieren.

Wir wissen seit 100 Jahren, dass der Mensch die Umwelt schädigt und dass dies zu einer Verschlechterung der Luft- und Wasserqualität und möglicherweise zu weitaus schwerwiegenderen Auswirkungen führt. Sieben bis acht Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen der Umweltverschmutzung, mehr als das Doppelte der durch Corona verursachten Todesfälle, und dennoch opfern wir Menschenleben für Gewinne aus fossilen Brennstoffen. Während sich die Beweise häufen, dass diese Schäden unsere Küsten und unsere Agrarindustrie dauerhaft verändern und zu Massenmigration und Nahrungsmittelknappheit führen werden, diskutieren wir immer noch über die Möglichkeit einer globalen, artenübergreifenden Reaktion. Warum?

Ein Versagen der Vorstellungskraft?

Heute haben 1,6 Milliarden Menschen keinen angemessenen Wohnraum. In den USA ist die Zahl der Obdachlosen seit Corona schätzungsweise auf über 2,5 Millionen Menschen angestiegen, während mehr als 17 Millionen Wohnungen in den USA leer stehen. Mehr als zehn Prozent der Weltbevölkerung hungern und die Sorge um die Ernährungssicherheit ist während Corona sprunghaft angestiegen. In den besten Zeiten vernichten die USA 40 Prozent ihrer jährlichen Nahrungsmittelproduktion, das sind mehr als 63 Millionen Tonnen, während allein in den USA jährlich 38 Millionen Menschen hungern müssen. Auf der ganzen Welt führten Panikkäufe in Lebensmittelgeschäften und Supermärkten dazu, dass das Problem der Lebensmittelverschwendung immer größer wurde, als die Menschen feststellten, dass sie gar nicht alle Lebensmittel essen konnten, die sie zu Beginn der Coronakrise gehortet hatten. Und das ganze überschüssige Klopapier war auch nicht gerade eine große Hilfe.

Die Krise, die sich in den letzten Jahren weltweit ausgebreitet hat, bietet uns eine wichtige Gelegenheit zur Selbstprüfung und zum Überdenken von Systemen, die uns im Stich gelassen haben und dies wahrscheinlich wieder tun werden. Werden wir versuchen, einfach zur Normalität zurückzukehren, oder sind wir bereit, eine „neue Normalität“ zu gestalten, die für die Zukunft aller Menschen funktioniert?

Nach den Toden von George Floyd, Ahmed Arbery und Breonna Taylor gingen Zehntausende Demonstranten in US-amerikanischen Städten auf die Straße. 25 Städte in 16 Bundesstaaten9 verhängten Ausgangssperren, als die Proteste in Krawalle umschlugen. Für junge afroamerikanische Männer, die heute in den Vereinigten Staaten leben, ist Polizeigewalt die sechsthäufigste Todesursache.10 Bei diesen Protesten in den gesamten USA standen Polizei, Nationalgarde, Geheimdienst und inoffizielle Privatmilizen einer Ansammlung von wütenden, enttäuschten und desillusionierten Bürgern gegenüber, die die Regierung aufforderten, sich endlich mit dem systemischen Rassismus und der Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen – ein sinnvoller gesellschaftlicher Diskurs. Aber die Proteste gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit haben schon seit Jahren stetig zugenommen, auch schon vor dieser Gegenreaktion gegen die Polizeiaktionen. Wie Sie in unseren späteren Kapiteln erfahren werden, nehmen Häufigkeit und Ausmaß der weltweiten Proteste um Größenordnungen zu, die eine grundlegende Funktionsstörung in unseren Gesellschaften verdeutlichen.

In der letzten Oktoberwoche 2019 traten die Regierungen des Libanon und des Irak angesichts der anhaltenden Proteste zurück. Eine Woche später tat dies auch die bolivianische Regierung. In den vorausgegangenen zwölf Monaten sahen sich die Staats- und Regierungschefs der USA, des Vereinigten Königreichs, Chiles, Hongkongs, Frankreichs, Indonesiens, der Niederlande, Perus, Haitis, Syriens, Israels und Russlands mit politischen Protesten konfrontiert in Größenordnungen von Zehntausenden bis zu über einer Million Menschen. Am 19. und 20. September 2019 nahmen sechs Millionen Demonstranten aus 185 Ländern am größten globalen Protest dieser Art teil, um gegen die Untätigkeit im Kampf gegen den Klimawandel zu protestieren. Am 6. Januar 2021 stürmten rund 30.00011 Trump-Anhänger das amerikanische Kapitol und das umliegende Areal und forderten, dass das US-Wahlergebnis revidiert wird.

In der Gesamtschau könnte man ein starkes Argument dafür anführen, dass die moderne Demokratie und der Kapitalismus große Teile der Menschheit und alle anderen Arten, mit denen wir den Planeten teilen, im Stich lassen.

Weltweit hat das Coronavirus die ärmeren Bürger viel stärker getroffen als die wohlhabenden. Angesichts von Shutdowns, Einkommensverlusten und einem kaum vorhandenen Zugang zum boomenden Aktienmarkt lässt sich die Wahrnehmung von zwei unterschiedlichen wirtschaftlichen Realitäten nur schwer widerlegen.

Das Virus verschärft die Ungleichheit

Heute ist die Mehrheit des Planeten mit wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit konfrontiert – und das in einer Zeit, in der die Menschheit als Ganze noch nie so wohlhabend und technologisch so fortgeschritten war. Statistisch gesehen ist dies die beste Epoche in der Geschichte der Menschheit, in der man leben kann: Armut, Hungersnöte, Kindersterblichkeit und Krankheiten sind auf einem Allzeittief und gleichzeitig steigen Lebenserwartung, Wohlstand und Bildung.

Paradoxerweise ist es für die ärmsten Bewohner der reichsten Demokratien so, als ob sie in eine Art Neo-Mittelalter gestoßen worden wären, in dem Feudalherren und die politische Elite sie des wirtschaftlichen Potenzials beraubt haben, das sie sich einst ausgemalt hatten. Das Coronavirus hat diese Auswirkungen noch verstärkt, da ärmere Bürger und Bürger der Mittelschicht am stärksten von dem Virus betroffen waren.

Die Diskrepanz zwischen dem einen Prozent der sogenannten reichen Eliten und den übrigen 99 Prozent ist in wohlhabenden Demokratien wie den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich am größten. An wenigen Orten ist diese ungleiche Vermögensverteilung deutlicher zu erkennen als im Silicon Valley. Das Medianseinkommen in Kalifornien hat sich seit 25 Jahren nicht verändert, aber im selben Zeitraum sind die Immobilienpreise um 187 Prozent gestiegen. Eine aktuelle Studie der Arbeitsplatz-Chat-App Blind hat gezeigt, dass 70 Prozent der Tech-Arbeiter mit einem sechsstelligen Einkommen es sich nicht leisten können, ein Haus oder eine Wohnung in der San Francisco Bay Area zu kaufen.

Ironischerweise wurde der Immobilienmarkt von San Francisco durch Corona sehr hart getroffen, aber nicht aufgrund der wirtschaftlichen Rezession. Die Änderung der Heimarbeitsrichtlinien von Unternehmen wie Google, Facebook, Twitter und Apple führte dazu, dass sich ein erheblicher Prozentsatz der Tech-Mitarbeiter eine Unterkunft außerhalb der Bay Area suchte und sich damit ein Nachfragetrend änderte, der sich mehr als zwei Jahrzehnte herausgebildet hatte.12

Die Geschichte lehrt uns, dass ein solches Ausmaß an Ungleichheit nicht folgenlos bleiben kann. Politische und soziale Bewegungen entstehen nicht durch intellektuelle oder politische Debatten, sondern durch soziale Umwälzungen. Wenn wir uns die Gründe für den Aufstieg von Trump, Brexit, Boris Johnson, Bolsonaro und Le Pen ansehen, wird in den Mainstream-Medien oft die wahrgenommene Bedrohung lang gehegter Traditionen oder der „Kultur“ angeführt, aber die Geschwindigkeit des technologischen Wandels könnte sich als der vielleicht einflussreichste Faktor erweisen.

Laut dem 2019 veröffentlichten Edelman-Trust-Barometer-Report13 sind 47 Prozent der Menschen weltweit der Meinung, dass technologische Innovationen zu schnell voranschreiten und zu Veränderungen führen werden, die sich negativ auf „Menschen wie mich“ auswirken. 59 Prozent der Menschen glauben, dass sie nicht über die notwendige Ausbildung und Qualifikation verfügen, um ihre Beschäftigungsaussichten zu verbessern, und 55 Prozent sind der Meinung, dass die Automatisierung und andere Innovationen bereits Arbeitsplätze vernichten. Der Unsicherheitsfaktor, der bereits zu weitverbreiteten Meinungsverschiedenheiten, Protesten und Debatten geführt hat, wächst.

Im Mittelpunkt dieses Buches steht unsere Einschätzung, dass vier primäre Stressfaktoren zusammenkommen und zu einer akuten, langfristigen wirtschaftlichen Unsicherheit führen, die den sozialen Zusammenhalt weiterhin bedrohen wird. Diese Stressoren werden nicht nur zu einem Umdenken in der konventionellen Wirtschaft und Politik führen, sondern zu einer neuen Renaissance für die Menschheit. Wir wissen, das ist eine starke Ansage.

Der globale Widerstand gegen die Faktoren, die die Ungleichheit fördern, verschärft durch die wachsende Besorgnis über die technologiebedingte Arbeitslosigkeit und die zunehmenden Folgen des Klimawandels, wird sich zu einer kollektiven Bewegung zusammenschließen, die versuchen wird, uns aus dem Chaos zu befreien. Die Pandemie ist nur eine vorübergehende Krise, aber weitere Pandemien sind wahrscheinlich. Diese aufkommende globale Bewegung wird bereits von einer Generation von Menschen angeführt, die herkömmliche Anschauungen ablehnen, die ideologisch auf ein integrativeres Denken ausgerichtet sind, die ein größeres soziales Bewusstsein besitzen und die glauben, dass die Technologie eingesetzt werden kann, um die schwierigsten Probleme der Welt zu lösen. Sie wollen uns vorantreiben, während die alte Garde verzweifelt darüber ist, dass wir uns zu schnell bewegen, und in Erinnerungen an die guten alten Zeiten schwelgt. Das ist sicher ein Rezept für einen Generationenkonflikt; da aber Politiker eher älter und nostalgischer sind, wird ein breiterer gesellschaftlicher Konflikt daraus.

Abbildung 2: Die wichtigsten Stressfaktoren, die zu einer Ära des sozialen Umbruchs führen.

Wie zur Zeit der industriellen Revolution werden sich Politik und Wirtschaft für eine ganz andere Zukunft weiterentwickeln müssen. Weder eine Demokratie westlicher Prägung, die auf einem ungezügelten Kapitalismus beruht, noch ein Kommunismus, der auf marxistischen Grundsätzen beruht, werden in der Lage sein, den Zusammenhalt angesichts dieser unaufhaltsamen Kräfte wiederherzustellen. Auch der Sozialismus wird die meisten der schwierigsten Probleme nicht lösen, aber ein kohärenteres soziales Bewusstsein wird unbedingt erforderlich sein. Der technologische Fortschritt kann unsere größten Herausforderungen lösen, aber auch Ungleichheit und Spaltung verstärken.

Die Menschheit war noch nie mit einem derartigen Ausmaß an globaler Unsicherheit konfrontiert.

Zurück in die Zukunft

Wenn wir zu einer Zukunft gelangen wollen, in der wir nicht durch immer neue globale Krisen gelähmt werden, in der es weniger politische und soziale Konflikte gibt und in der wir eine breitere wirtschaftliche Teilhabe erleben, müssen wir das Problem der Ungleichheit angehen.

Die Ungleichheit wird auf nationaler Ebene anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten gemessen. Der Gini-Koeffizient ist eine Zahl zwischen 0 und 1, wobei 0 für eine Welt steht, in der alle das gleiche Einkommen erzielen, und 1 für eine Welt, in der eine einzige Person das gesamte Einkommen erzielt (alle anderen haben null). In den Vereinigten Staaten ist die Situation eindeutig: Die Ungleichheit ist heute die gleiche wie während der Großen Depression in den 1930er-Jahren, vielleicht sogar noch schlimmer, wenn man die Kaufkraft betrachtet.

Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten, 1910–2010

Abbildung 3: Gini-Koeffizient in den USA von 1910 bis heute. Ende 2020 lag der geschätzte Gini-Koeffizient bei 0,54 (der höchste Wert in der Geschichte).

Während viele andere westliche Länder in den letzten Jahrzehnten unter einer ähnlichen Verschärfung der Ungleichheit gelitten haben, hat die Form des extremen Kapitalismus in den Vereinigten Staaten ihre Schattenseiten. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert feststellte, ist das Ausmaß der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten derzeit „wahrscheinlich höher als in jeder anderen Gesellschaft zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, egal wo auf der Welt“. Und das war, bevor die Coronapandemie das Problem verschärft hat.

Die Autoren Jonathan Tepper und Denise Hearn argumentieren in ihrem Buch The Myth of Capitalism: Monopolies and the Death of Competition, dass das Scheitern des Kapitalismus in den USA darauf zurückzuführen ist, dass sich Amerika von einem offenen, wettbewerbsintensiven Markt zu einer Wirtschaft entwickelt hat, in der einige wenige sehr mächtige Unternehmen Schlüsselindustrien wie Technologie, Banken, Pharmazeutika und Energie beherrschen. Dieser fehlende Wettbewerb hat in der Folge die Gewinne vergrößert, die wirtschaftlichen Teilhabe auf breiter Ebene vermindert und einen Großteil des heutigen Ungleichgewichts hervorgebracht.

Könnte sich der Kapitalismus selbst korrigieren, wenn er unangetastet bliebe? Könnte der Kapitalismus diese globalen Probleme der Ungleichheit lösen und der Gesellschaft wieder die nötige Stabilität verleihen? Die Geschichte zeigt, dass der Kapitalismus einfach keinen Anreiz hat, große soziale Probleme zu lösen. Die treibende Kraft des Kapitalismus ist das Wirtschaftswachstum, nicht die Sozialpolitik.

Im Kapitalismus werden Unternehmen und Märkte belohnt, die wirtschaftliche Erträge erzielen. Sie werden nicht dafür belohnt, dass sie sich für soziale Belange einsetzen oder Teile ihres Geschäfts dem Gemeinwohl widmen. Bei der Berichterstattung über die Quartals- und Jahresergebnisse kommt es sehr selten vor, dass ein Analyst ein Unternehmen an den Pranger stellt, weil es seine Gewinne über die allgemeinen Bedürfnisse der Gesellschaft gestellt hat. Im Kapitalismus und an den Aktienmärkten gibt es einfach keine Maßstäbe, die von den Unternehmen ethisches Handeln im Interesse der Bürger verlangen, es sei denn, diese Maßstäbe werden gesetzlich verankert (in der Regel nach eindeutigen Missbräuchen). Gäbe es sie, gäbe es keinen Lungenkrebs durch Zigaretten, Umweltverschmutzung und Kohlendioxidemissionen von Energiekonzernen und Unternehmen für fossile Brennstoffe, keine Fettleibigkeit durch minderwertige Fast-Food-Produkte, keine Konkurse von Ärzten aufgrund der Gesundheitskosten und so weiter. Die Coronakrise hat gezeigt, dass Gesundheitssysteme, die lange Zeit auf Rentabilität optimiert wurden, angesichts einer weltweiten Pandemie nachweislich anfällig waren. Ein einziger amtierender Präsident war in der Lage, Jahrzehnte der Pandemieplanung in den USA stumm zu schalten.

Diejenigen, die argumentieren, dass der Kapitalismus diese Probleme im Laufe der Zeit lösen wird, müssen wir an die Klimakrise erinnern, mit der wir konfrontiert sind, weil solche Probleme vor 40 bis 50 Jahren nicht vom Markt gelöst wurden, oder an die schlichte Ungerechtigkeit bei der Bereitstellung von Coronatests für Profisportler, die an Sportveranstaltungen teilnahmen, während sie den Bewohnern und dem Personal von Pflegeheimen nicht zur Verfügung standen. Abgesehen vom Klima wissen wir seit den 1970er-Jahren, welche Auswirkungen die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe auf die Bevölkerung hat. Wir hätten die Entwicklung von Technologie für grüne Energie leicht beschleunigen können, aber der Markt schien viel eher bereit zu sein, Gewinne gegen die lästige jährliche Aussiebung von Stadtbewohnern, die von schlechter Luftqualität betroffen sind, aufzuwiegen.

Der übliche politische Kommentar behauptet, dass der Kapitalismus ein integraler Bestandteil eines Wirtschaftssystems ist, das die Rechte des Einzelnen garantiert. Aber der Kapitalismus hat die größten Krisen, mit denen wir konfrontiert waren, nicht verhindern können und damit die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass es ein übergeordnetes Gleichgewicht zwischen den Rechten des Einzelnen und dem Gemeinwohl geben muss, damit eine Wirtschaft langfristig für alle Bürger funktioniert. Auf diese Weise werden der Klimawandel, die Ungleichheit und die in den nächsten Jahrzehnten auftretenden Pandemien die Wirtschaftspolitik in den Mittelpunkt rücken.

Abbildung 4: Die wirtschaftliche Unsicherheit, die durch Ungleichheit, Pandemien und den Klimawandel entsteht, wird den Kapitalismus dazu zwingen, sich mit kollektiven Anliegen statt mit individuellen Renditen zu befassen. (Quelle: Eigene Illustration des Autors)

Dabei geht es nicht so sehr um Wirtschaftstheorie als vielmehr um die Anwendung der Wirtschaftswissenschaften für umfassendere gesellschaftliche Ziele. Individuelle Rechte können sicherlich garantiert werden, aber nur in einem Rahmen, in dem sie anderen nicht schaden. Demokratische sozialistische Volkswirtschaften wie die in Skandinavien zeigen, dass hier ein gewisses Gleichgewicht möglich ist.

Hinzu kommt, dass die Bürger der Generationen Y und Z immer weniger Wert auf den Besitz und die Anhäufung von Vermögenswerten legen, da sie miterleben mussten, wie das Vermögen ihrer Eltern während der globalen Finanzkrise und der Coronapandemie dezimiert wurde. Es handelt sich um Generationen, die es sich vielleicht nie leisten können, ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung zu kaufen, insbesondere in Städten wie Hongkong, New York, London, Sydney oder Tokio. Stattdessen bedeuten Strukturen für gemeinsames Eigentum, gemeinsam genutzte Vermögensdienstleistungen und die Sharing Economy, dass Vermögenswerte wie Häuser und Autos aus der Mode kommen können. Soziale Medien und ein zunehmend kollektives und gruppenbezogenes Menschenbild haben auch zu einem breiteren politischen Engagement auf allen Ebenen geführt.

Abbildung 5: Die KI-gestützte Verwaltung öffentlicher Ressourcen wird es „Big Government“ ermöglichen, kostengünstig zu arbeiten, wodurch die Argumente gegen eine sozial ausgerichtete Politik entkräftet werden. (Quelle: Eigene Illustration des Autors)

Viele Konservative argumentieren, dass „Big Government“ ineffizient ist und dass die Privatwirtschaft und der freie Markt die Ressourcen besser verteilen können, wenn es um das Wirtschaftswachstum geht. Dahinter steht die Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum gut ist, unabhängig davon, wie es sich auf Gerechtigkeit und Zugang auswirkt. KI-gestützte Behördendienste und Ressourcenallokation werden diese alten Annahmen auf den Kopf stellen. Große, breitenwirksame Regierungsmechanismen werden wirtschaftlich tragbar werden, weil die Automatisierung den Fußabdruck und die Bürokratie der Behörden drastisch reduzieren wird.

Was ist Technosozialismus?

In unserem Buch über den Technosozialismus plädieren wir definitiv für eine Reform des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Die zunehmende Ungleichheit in der Welt wird wahrscheinlich zu einem Wirtschaftsmotor führen, der einem immer kleiner werdenden Teil der Gesellschaft dient, und es besteht die Gefahr, dass eine Politik, die empfänglich für Lobbyarbeit und persönliche Interessen ist, diesen Kreislauf auf unbestimmte Zeit verlängern wird.

Was ist Technosozialismus? Es handelt sich nicht um eine politische Bewegung, sondern um eine soziale Folge. Erstens stellt er das langfristige Wirtschaftswachstum in einem Rahmen wieder her, der der Wirtschaft insgesamt nicht schadet, und gewährleistet gleichzeitig die maximale Beteiligung aller Bürger an der Wirtschaft. Zweitens ermöglicht er die Leistungsfähigkeit von „Big Government“ mit starken Investitionen in die technologische Infrastruktur, die die Produktivität der Regierung radikal verbessert – und damit die meisten der Finanzierungs- und Haushaltseinwände entkräftet, denen Regierungsprogramme normalerweise ausgesetzt wären.

Wenn nicht der Technosozialismus, was sind dann die Alternativen für den Planeten in den nächsten 50 Jahren? Wir sehen vier mögliche Szenarien für unsere heutige Gesellschaft. Sie liegen auf zwei großen Achsen: kollektiv versus individuell und chaotische Zukunft versus geordnete Zukunft, wie in Abbildung 6 auf der nächsten Seite dargestellt.

•Neofeudalismus: Ein ungezügelter Kapitalismus, der die Notwendigkeit größerer Gleichheit ablehnt und kein umfassendes Wirtschaftswachstum bringt, da die Beschäftigung und der Konsum zurückgehen. Die seit Langem bestehende Spaltung zwischen der reichen Elite und den Armen erreicht mit revolutionären Bewegungen und Protesten einen Schmelzpunkt, da sich die Mittelschicht auflöst. Die Superreichen erhalten in geschlossenen Enklaven Zugang zu Langlebigkeitstechnologie, KI und Überfluss, während Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Krankheiten für die Menschen draußen die Norm sind.

•Luddistan: Ablehnung von technologischen Fortschritten wie KI. Eine langsame und untaugliche Reaktion auf den Klimawandel bringt die Weltwirtschaft zum Stillstand, während wiederholte Krisen das Bevölkerungswachstum bremsen. Große Küstenstädte werden aufgrund des steigenden Meeresspiegels unbewohnbar. Nahrungsmittelknappheit und Hunger explodieren, da die Ernten ausfallen.

•Failedistan: Die größten Volkswirtschaften werden zu chaotischen und reaktiven Rechtsstaaten, da das Klima und die Märkte aufgrund mangelnder Planung, Voraussicht und Maßnahmen zusammenbrechen. Die weltweite Migration aufgrund des Klimawandels geht in die Hunderte von Millionen. Grenzen fallen und Kriege um Ressourcen wüten. Regierungen brechen zusammen.

•Technosozialismus: Die Gesellschaft wird hochgradig automatisiert, die meisten menschlichen Arbeitskräfte werden dadurch ersetzt. Dank des technologischen Fortschritts sind Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Bildung und die Grundversorgung universell verfügbar und kostengünstig. Der Kapitalismus wird auf langfristige Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung und den Fortschritt der Menschheit als Ganze neu kalibriert. Die Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels führen zu einer jahrhundertelangen globalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Abbildung 6: Die wahrscheinlichen Zukunftsperspektiven der Menschheit. (Quelle: Eigene Darstellung des Autors)

Wenn Sie Luddistan oder Failedistan als Begriffe oder Klassifizierungen ablehnen, können Sie sie einfach als technikfeindliche beziehungsweise kollektiv gescheiterte Staaten bezeichnen. Vielleicht sind Sie der Meinung, dass es noch andere Alternativen zu diesen Szenarien gibt, und wir begrüßen diese Debatte sehr. Die Schlussfolgerungen, die wir gezogen haben, beruhen auf weitreichenden historischen Analogien und der Untersuchung menschlicher Verhaltensweisen bei der Reaktion auf eintretende Krisen. Sie werden reichlich Gelegenheit haben, mit uns zu diskutieren, während Sie weiterlesen.

Bei der Lektüre über den Technosozialismus werden Sie hoffentlich erkennen, dass es sich nicht um eine politische Debatte handelt. Es handelt sich vielmehr um eine philosophische und wirtschaftspolitische Debatte. Eine philosophische Auseinandersetzung in Bezug auf den wahren Zweck der Menschheit, die Ziele, die wir als Spezies anstreben, und darauf, ob eine größere Gleichheit diesen Zielen und diesem Zweck dient oder nicht. Eine Debatte darüber, welche Art von Wirtschaftstheorie erforderlich ist, um diese Ziele zum Ausdruck zu bringen und die Inklusion als Kernkonstrukt unserer Gesellschaft zu fördern, was zu größerem Glück und mehr Wohlstand führt. Im Kern geht es um die Frage, welchem Zweck die Wirtschaft dient – ist es die rechtmäßige Aufgabe der Wirtschaft, einen kleinen Teil von Individuen innerhalb der Gesellschaft zu stärken? Oder sollte sie in erster Linie den Bedürfnissen aller Bürger dienen?

In den nächsten 30 Jahren wird die Menschheit mit zahlreichen Krisen konfrontiert sein, die die Kluft zwischen Arm und Reich verschärfen und das zunehmende Versagen des freien Marktes bei der Bewältigung der größten Probleme, mit denen unser Planet je konfrontiert war, offenlegen werden. Wir haben die Wahl, wie wir mit diesen Problemen umgehen. Diese Entscheidungen werden die Folgen für die Menschheit mit unterschiedlichem Erfolg bestimmen. Welche Entscheidungen werden wir treffen? Solche, die der gesamten Menschheit zugutekommen, oder solche, die nur einigen wenigen zugutekommen?

Endnoten

1COVID-19 oder SARS-CoV-2 ist die Klasse von Coronaviren, die im Jahr 2020 die Welt befallen hat.

2CDC National Pandemic Response Plan (2005 und 2017): https://www.cdc.gov/flu/pandemic-resources/national-strategy/index.html.

3„Advancing Biodefense“, Biodefense Summit Transcript, 2019: https://www.phe.gov/Preparedness/biodefense-strategy/Pages/advancing-biodefense-transcript.aspx.

4Quelle: Weltgesundheitsorganisation, https://www.who.int/influenza/preparedness/pandemic/en/.

5Siehe das Journal of the American Medical Association, „Response to COVID-19 in Taiwan Big Data Analytics, New Technology, and Proactive Testing“, Wang et al., 3. März 2020.

6CBS News, 18. März 2020.

7Quelle: Stanford University Paper: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3722299.

8Quelle: Fox News: https://www.fox5ny.com/news/us-has-4-of-the-worlds-population-but-more-than-25-of-global-coronavirus-cases.

9Quelle: CNN.

10Quelle: US News: „Police Violence a Leading Cause of Death for Young Men“, 5. August 2019, https://www.usnews.com/news/healthiest-communities/articles/2019-08-05/police-violence-a-leading-cause-of-death-for-young-men.

11Quelle: NBC News zitiert die Schätzung des National Park Service: https://www.nbcnews.com/politics/congress/live-blog/electoral-college-certification-updates-n1252864/ncrd1252964#blogHeader.

12CBS San Francisco: https://sanfrancisco.cbslocal.com/2020/10/10/covid-exodus-home-for-sale-listings-soar-as-pandemics-economic-impact-grips-san-francisco/.

13Siehe Edelman Trust Barometer Report, https://www.edelman.com/sites/g/files/aatuss191/files/2019-04/2019_Edelman_Trust_Barometer_Technology_Report.pdf.

FEATURE

DIE PYRAMIDE DER UNGLEICHHEIT

Am 24. Januar 1848 fand James W. Marshall in Sutter’s Mill in Coloma, Kalifornien, Gold und löste damit den kalifornischen Goldrausch aus. Drei Jahrzehnte später war der Goldrausch abgeklungen und die Beschäftigung ging rapide zurück. Anstatt den Niedergang der Bergbauindustrie und das Fehlen von Gold für den Rückgang der Arbeitsplätze verantwortlich zu machen, wurden chinesische Einwanderer dafür verantwortlich gemacht. 1882 wurde der Chinese Exclusion Act von US-Präsident Chester Arthur unterzeichnet, der ein zehnjähriges Moratorium für die Einwanderung aus China vorsah. Historisch gesehen hat die chinesische Einwanderung wenig mit den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Endes des Goldrausches zu tun. Politisch gesehen wurde sie jedoch zu einer bequemen Ausrede für den wirtschaftlichen Abschwung. Dieses Muster hat sich bei den US-Wahlen 2016 wiederholt.