Der Austernmörder - Kari Köster-Lösche - E-Book

Der Austernmörder E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Frühjahr 1895. Am Strand von Föhr wird ein Boot mit einem Toten angetrieben, dem eine Auster auf die Brust geheftet ist. Wasserbauinspektor Sönke Hansen wird damit beauftragt, der Sache diskret auf den Grund zu gehen. Schon bald muss er feststellen, dass hinter dem Mord ein Kampf zweier Austerngesellschaften um die Pachtrechte steht. Doch als er kurz vor der Lösung ist, wird er wegen angeblicher Veruntreuung von Deichbaugeldern selbst vor den Anklagerichter geführt. Eine haltlose Verdächtigung, die offensichtlich nur darauf zielt, ihn an weiteren Nachforschungen zu hindern. Denn die Hintermänner stehen Hansen näher, als er ahnt …

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Kari Köster-Lösche

Der Austernmörder

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoKartenPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Die handelnden Personen in der Reihenfolge ihrer ErwähnungKleines WortverzeichnisOysters Rockefeller (Huitres en Coquilles à la Rockefeller)
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Jede vermeintliche Ähnlichkeit der Figuren dieses Buches mit lebenden Menschen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Prolog

Es war ein einmastiges Boot, das auf die Insel Föhr zuhielt. Das Gaffelsegel war fest belegt, es schlug hörbar mit dem Auf und Ab der sanften Wellen. Auch das Vorsegel war gesetzt und zog.

Der Mann am Ufer beschattete seine Augen gegen die Sonne und spähte hinüber.

Er beobachtete den Segler, der mit der auflaufenden Flut näher kam, schon eine ganze Weile und war sich plötzlich sicher, dass niemand ihn steuerte.

War der Schiffer über Bord gegangen?

Oder hatte sich das Boot selbständig gemacht, während der Schiffer an einer der Muschelbänke zwischen Föhr und den Halligen ausgestiegen war, um Muscheln zu graben? Ein Schiffer, der zu unachtsam oder unerfahren war, um sein Boot ordnungsgemäß zu vertäuen? Unwahrscheinlich.

Vermutlich also eher ein ungehorsamer Bengel, der Vaters Boot gestohlen hatte und jetzt bis zum Hals im Wasser stand und auf Hilfe hoffte oder womöglich schon tot war.

Der Beobachter setzte sich kopfschüttelnd über die immer leichtsinniger werdende Jugend in Bewegung, in langsame, schwere Schritte, teils weil der lockere Sand ihn behinderte, teils weil sein fortgeschrittenes Alter eine größere Geschwindigkeit verbot. Immer ein Auge auf den Segler gerichtet, lief er mit.

Allmählich ging sein Atem schneller, das Herz klopfte ihm zum Zerspringen, und seine Hoffnung, rechtzeitig zur Stelle zu sein, um das Boot zu bergen, sank.

Unerwartet schien das Boot im Wellengang zu stolpern. Vermutlich war das Schwert auf Grund gestoßen, dachte der Mann, als es eine halbe Wende machte und sich das kurze Bugspriet[1] direkt auf ihn richtete.

Heute war vielleicht doch sein Glückstag! Viel weiter hätte er nicht laufen können.

Das herrenlose Boot, das in den Wind gedreht hatte und mit knatternden Segeln an Fahrt verlor, würde ihm einen netten Bergelohn einbringen. Eine schöne Summe für eine Zukunft, die ungewisser war denn je.

Erwartungsvoll sah er dem Boot entgegen.

Eins war sicher: Heute Abend am Stammtisch, an dem sich jede Woche sein Bruder mit Freunden traf, würde eine heiße Debatte über die Höhe des Bergelohns geführt werden. Er beschloss, eine Runde auszugeben.

Der Segler lief mit dem Bug knirschend auf dem feinen Sand auf, das Heck in den sanften Wellen schwojend. Der Mann patschte glücklich durch das seichte Wasser, griff entschlossen nach der Vorleine, die in unordentlichen Schlingen über dem Bugspriet hing, legte sie sich über die Schulter und zog. Mit den Kräften fast am Ende, hatte er das Boot schließlich im Trockenen.

Endlich konnte er das Tau hinwerfen. Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und atmete tief durch, um sich zu erholen. Dabei gönnte er sich einen stolzen Blick auf den von ihm eigenhändig geborgenen Ewer.

Ein Draggen zum Verankern im Sand würde sich wohl an Bord befinden: Damit war das Boot ausreichend als an Land gezogen gekennzeichnet und konnte nicht als herrenlos gelten. Seiner Meldung auf der Policey-Station von Wyk mitsamt der offiziellen Inbesitznahme stand danach nichts mehr im Wege.

Stolz legte er die wenigen Schritte zurück zu seinem Boot, um sich in der Plicht umzusehen.

Was er darin sah, ließ seine Knie weich werden.

 

Die Kälte seiner nassen Hosenbeine kroch ihm bis zum Herzen hoch, indes er auf einen Toten starrte, dessen leerer Blick am flatternden Segel vorbei in den hohen blauen Morgenhimmel ging.

Er schluckte hart und klammerte sich an die Bordwand, in seinem Entsetzen unfähig zu entscheiden, was er tun sollte.

Galt es als Bergen, wenn der Besitzer sich noch an Bord befand? Und wer überhaupt würde den Bergelohn zahlen? Vielleicht gab es niemanden, der den Ewer noch benutzen wollte. Dabei war das Boot in einwandfreiem Zustand, soweit er es auf die Schnelle beurteilen konnte.

Hätte er einen Sohn gehabt, der gewiss in seine Fußstapfen getreten wäre, wäre die Entscheidung einfach gewesen. Er hätte es übernehmen können. Ein solches Boot gab man nicht her. Es taugte für alles: als Austernboot, für den Makrelenfang und für die Jagd auf Robben. Aber seine Frau hatte ihm leider keine Kinder geschenkt.

Er geriet ein wenig ins Träumen. Was hätte alles werden können, wenn er einen Sohn gehabt hätte …

Dann straffte er sich und fasste einen Entschluss. Er würde den Kampf um den Bergelohn auf sich nehmen. Erhielt er stattdessen den Ewer, würde er ihn verkaufen. Einmal Festigkeit und Stärke beweisen und bis zum Ende durchstehen!

 

Und dann bemerkte er sie und erschrak.

Instinktiv wusste er, dass der Gegenstand, der dem Toten mitten auf die Brust gelegt worden war, eine Auster war. Mehr als handtellergroß, grauviolett, geschuppt und blättrig. Und ihre Schalen klafften und gaben einen Spalt frei.

Eine von dieser Art hatte er noch nie gesehen. Sie versetzte ihn in inneren Aufruhr. Auf eine unbestimmte Art wusste er, dass er die Hände von diesem Boot lassen musste. Alles andere wäre waghalsig.

Einige wenige Sekunden gönnte er sich noch neben dem Ewer, der fast seiner geworden wäre. Dann verwischte er seine Fußspuren, zog den Kragen seiner warmen Jacke bis über das Kinn hoch und stapfte mit gesenktem Kopf fort, fort von Wyk, sorgsam darauf achtend, dass er mit den Stiefeln im auflaufenden Wasser blieb.

Die Wellen würden sein Eingreifen gottlob verwischen, und niemand würde ahnen, dass es jemanden gab, der Bescheid wusste.

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Kapitel 1

Hansen! Wo ist Inspektor Sönke Hansen? Er soll auf der Stelle zu Oberbaudirektor Petersen kommen!«

Der Ruf pflanzte sich hallend durch die Gänge des Wasserbauamtes von Husum fort.

Hansen, der gerade mit einem Stapel von Bleistiftentwürfen zum Zeichner im Untergeschoss unterwegs war, stoppte verblüfft seinen schnellen Schritt. In dieser Form zum obersten Vorgesetzten gerufen zu werden war neu. Hörte sich irgendwie nach einer Rüge an.

Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Der ganze Winter war mit emsiger Arbeit an der Planung der Bedeichung der Hallig Nordmarsch-Langeness und des Leuchtfeuers von Nordmarsch vergangen, sie waren nicht in Verzug geraten, wie vom Oberdeichgrafen des 1. Schleswig’schen Deichbandes, Baron von Holsten, selbstverständlich prognostiziert worden war, und jetzt, im Frühjahr 1895, hatten die ersten Maßnahmen zum Halligschutz bereits begonnen.

So gesehen war alles in Ordnung. Selbstsicher und eine Spur neugierig kehrte Hansen um.

»Sönke Hansen! Wo ist er? Weiß jemand, wo er ist?«

Hansen trabte los. Auf der Treppe nahm er drei Stufen auf einmal. »Bin schon unterwegs!«, rief er, um das ungeduldige Geschrei zum Verstummen zu bringen.

Die Tür zu Petersens Dienstzimmer stand weit offen, und im Gang davor befand sich der Hausbote, der ihn so energisch heranwinkte, als ob der Oberbaudirektor in Flammen stünde. Hansen fegte hinein, und die Tür schlug hinter ihm ins Schloss. Er fuhr sich durch das verwuschelte Haar und rückte flüchtig seine Jacke zurecht.

»Übernehmen Sie bitte selbst, Hansen. Ein sehr merkwürdiger Anrufer«, erklärte Petersen konsterniert und wies auf den Telefonhörer, wonach er sich unverzüglich wieder seiner eigenen Arbeit widmete.

Sönke Hansen legte seinen Papierstapel auf einen Stuhl und näherte sich dem Telefon mit gekrauster Stirn. Beamte des Wasserbauamtes schickten für gewöhnlich einen Hausboten, wenn es galt, jemandem etwas mitzuteilen. Allein der Direktor hatte in seinem Dienstzimmer einen Telefonapparat, hauptsächlich um mit der Verwaltung in Schleswig zu telefonieren. Es kam selten vor, dass er dieses Privileg mit jemandem teilte und das ganz bestimmt nicht mit den jüngsten Mitarbeitern des Hauses.

Aus dem Hörer drang eine Kakophonie von Geräuschen. Hansen hielt ihn hastig an sein Ohr.

 

Nach einer Weile gelang es ihm, etwas zu verstehen.

»Hansen! Ist dort Sönke Hansen? Wasserbauinspektor Sönke Hansen!«

»Am Apparat.«

»Wasserbauinspektor Hansen!«

»Ja, ich bin es!«, brüllte Hansen in den Hörer, als ihm klar wurde, dass die aufgeregte Person ihn gar nicht wahrnahm.

Endlich hatte ihn der Anrufer bemerkt. Stille. Auch das beängstigende Schnaufen nahm ab, und selbst die offenbar einfühlsame Telefonleitung beendete ihr Rauschen und Knattern.

»Sprechen die Teilnehmer noch?«, wollte jemand wissen.

»Ja doch«, rief Hansen ärgerlich.

»Der Tote von Föhr! Er hat zahlbar Gut auf der Brust, so groß wie das, von dem unsere Vorväter schwärmten! Eher noch größer! So etwas gibt es ja heute gar nicht mehr! Verstehen Sie?«

»Kein Wort!«, antwortete Hansen bestimmt und zog, an Petersen gerichtet, die Schultern hoch und die Mundwinkel nach unten.

Immer noch bediente sich der Anrufer einer Lautstärke, dass er den Hörer auch hätte aus der Hand legen können. Ein merkwürdiger Kerl. Ein Irrer, der der Landesheilanstalt in Schleswig entsprungen war?

»Aber die Auster wiegt weit über hundertfünfzig, wahrscheinlich eher dreihundert Gramm! Warum wollen Sie denn nicht verstehen? Es ist doch Ihr Amt, das dem Austernwesen vorsteht!«

Hansen entfernte den Hörer bedächtig von seinem Ohr. Die Stimme des Kerls hatte sich erneut in höchste Töne geschraubt, steigerte sich zu einem schrillen Crescendo, und es war nicht zu überhören, dass der Mann vor Sorge am Überschnappen war. Er selber aber verstand immer noch nichts. »Richtig«, sagte er beschwichtigend, »die Austernbänke unterliegen unserer Aufsichtspflicht.« Dann aber konnte er sich eine kleine aufreizende Bemerkung am Rande nicht verkneifen. »Es geht also um Leben und Tod einer Auster?«

»Vieler! Begreifen Sie das doch endlich!«, brüllte der Anrufer. »Kümmern Sie sich darum?«

»Ich werde dem Kollegen Claussen Bescheid sagen. Er führt die Aufsicht über die Bänke«, erwiderte Hansen so freundlich, wie er es in diesem anstrengenden Gespräch vermochte. »Bei mir sind Sie ganz falsch! Wer sind Sie denn, und von wo telefonieren Sie?«

»Nein! Dem Claussen gegenüber müssen Sie schweigen wie ein Grab. Gerade ihm gegenüber!«, schnauzte der Mann ihn ungehalten an, um plötzlich Stimme und Lautstärke geheimnisvoll zu senken. »Claussen ist … nicht vertrauenswürdig. Sie haben doch den Sklavenmord* aufgedeckt, Herr Hansen, stimmt’s? Ich will, dass Sie sich persönlich darum kümmern!«

»Ich kann nicht einfach …«, wandte Hansen ein, aber als sein Blick zufällig auf Petersen fiel, der ihm mit Miene und Händen zu verstehen gab, dass er zusagen solle, änderte er verblüfft seine Antwort ab. »Also, es geht nicht von jetzt auf sofort, aber ich werde mich der Sache annehmen. Jetzt sagen Sie mir noch Ihren Namen, bitte, und wo Sie wohnen. Und dann würde ich gerne erfahren, was genau passiert ist.«

Aus der Leitung kamen nur noch unbestimmbare Geräusche und dann ein Knacken.

»Der Teilnehmer hat das Gespräch beendet«, ertönte eine unbeteiligte Frauenstimme.

 

Claussen, ein geachteter Mitarbeiter des Wasserbauamtes, nicht vertrauenswürdig? Was sollte das wohl bedeuten? Verdutzt hängte Hansen den Hörer auf den Haken und wandte sich an seinen Chef.

»Verstehen Sie das?«

»Nicht sonderlich gut«, gab Cornelius Petersen mit gerunzelter Stirn zu. »Aber in den Husumer Nachrichten stand heute Morgen eine kleine Notiz, derzufolge am Südstrand von Föhr ein Toter in einem Boot gefunden worden ist. Ihm soll jemand eine große Muschel auf die Brust gelegt haben. Spielende Kinder möglicherweise …«

»Aha, na immerhin. Es könnte sich also um eine Auster gehandelt haben. Stand da auch, wie schwer die Muschel war?«

»Nein, bestimmt nicht. Nicht einmal, dass es sich um eine Auster handelte. Das hätte natürlich gleich meine berufliche Aufmerksamkeit geweckt.«

»Natürlich.« Hansen nickte. Die Aufsicht über die fiskalischen Austernbänke im Westen von Schleswig-Holstein war Sache des Wasserbauamtes in Husum. Die übergeordnete Behörde war das Landwirtschaftsministerium, aber es griff nur selten ein und nie in das Alltagsgeschäft. »Der Anrufer muss auf Föhr gewesen sein. Oder eine Zeitung von dort gelesen haben – vorausgesetzt, der Vorfall wurde dort genauer beschrieben.«

»Sie werden es feststellen, Herr Hansen«, bemerkte Petersen lakonisch.

»Ich? Wieso ich?«, fragte Hansen irritiert. »Ich bin zuständig für Deiche, nicht für Austern, genau genommen überhaupt nicht für Tiere. Ich habe, wie Sie wissen, ein sehr gespaltenes Verhältnis zu allem, was muht und blökt und beißt und …«

»Meines Wissens tun Austern nichts dergleichen.«

Hansen sah seinen Vorgesetzten stumm an und erkannte den Ernst in dessen Augen.

»Warum schicken Sie nicht Claussen, wenn diese Sache von dienstlichem Interesse ist?«

»Ach, ich möchte sie nicht so hoch aufhängen, nur auf den Anruf eines Unbekannten hin«, antwortete Petersen leichthin und begann sein Frühstücksbrot auszupacken. »Sie sind doch sowieso immer mal wieder auf Föhr, im Gegensatz zu Herrn Dr. Claussen.«

Üblicherweise war das Herausholen des Butterbrotpakets das Signal, dass das Gespräch mit dem Mitarbeiter beendet war, aber Hansen blieb unschlüssig stehen. Irgendetwas beschäftigte ihn.

»Außerdem wollte der Anrufer ausdrücklich, dass Sie sich um die verstorbene Auster kümmern.« Petersen lächelte mühsam. »Ihr Ruf als Aufklärer von Kriminalfällen hat sich herumgesprochen. Demnächst wird man Sie noch zum Fangen von Dieben anfordern.«

Hansen fand diesen Gedanken weniger belustigend. Er warf einen grimmigen Blick aus dem Fenster über den Hafen, wo gerade Ebbe herrschte. Die meisten Fischerboote waren draußen auf See. Nur zwei Lustyachten waren an diesem gewöhnlichen Arbeitstag an der Kaimauer vertäut, ihre schräg in die Luft ragenden Masten verursachten bei ihm ein unbehagliches Gefühl von Verlassenheit und Unordnung.

Plötzlich überfiel Hansen die Gewissheit, dass auch im Wasserbauamt etwas in Unordnung geraten war. Petersens Begründung, weshalb sich plötzlich er und nicht der zuständige Fachmann um Austern kümmern sollte, befriedigte ihn nicht. Seine Eile, ihn auf eine Dienstreise zu schicken, die mit seinen eigentlichen Aufgaben nichts zu tun hatte, war befremdlich.

Petersen biss in sein Butterbrot und würgte den Bissen mit Mühe herunter. Als er geschluckt hatte, war Hansen gerade zum Entschluss gekommen, ihn mit seinen Zweifeln direkt zu konfrontieren. Bisher hatten sie immer gut miteinander gekonnt, und Unausgesprochenes gab es zwischen ihnen eigentlich nicht. »Warum …?«

»Haben Sie inzwischen etwas von Ihrer verschwundenen Verlobten gehört? Der dänischen Lehrerin?«, unterbrach Petersen ihn.

Gerda, seine Verlobte. Hansen presste die Lippen zusammen und schluckte seine Trauer herunter, die auch ein Großteil Unverständnis über Gerdas langes Schweigen beinhaltete. Widerwillig schüttelte er den Kopf. Nein, er hatte nichts von ihr gehört, und darüber sprechen mochte er auch nicht.

»Tut mir Leid, Hansen. Irgendwann wird die preußische Politik der harten Hand beendet sein, glauben Sie einem Mann, der schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Und dann wird sie zu Ihnen zurückkommen.« Petersen sah Hansen so mitfühlend an, dass er auf der Stelle die Flucht antrat.

Als deutscher Beamter, dessen dänische Braut ihn verlassen hatte, um vor den preußischen Machthabern ins Ausland zu fliehen, war er in manchen Kreisen schon zum Gespött geworden. Bei dem Friesen Petersen allerdings nicht. Bei ihm war es Mitleid – das er aber auch nicht wollte.

Erst an der Tür fasste Hansen sich. »Ich werde dann nach Föhr fahren und mich umhören …«, murmelte er mit gesenktem Kopf.

»Gut so. Erstatten Sie mir bitte als Erstem Bericht und reden Sie nicht unnötig über den Auftrag.«

»Natürlich«, sagte Hansen verwundert. »Und natürlich nicht.«

»Übrigens, seien Sie doch so gut und nehmen Sie die Auszahlung für die Deichbauarbeiter auf Nordmarsch mit, Hansen. Ich weiß, Sie fahren immer gern auf die Hallig. Nur ein kleiner Umweg für Sie, aber Herrn Aycksen von der Kasse erspart es eine Zweitagesfahrt.«

»Erzählen Sie mir, was ich machen muss«, sagte Hansen und wartete verdrossen auf die Anweisung für die Kasse, während Petersen ihm gleichzeitig erklärte, was er zu tun hatte.

 

In seinem eigenen kleinen Arbeitszimmer wanderte Hansen zwischen Aktenschrank und Schreibtisch hin und her und bemühte sich, den Aufruhr in seinen Gedanken zu stoppen. Seit mehr als einem Jahr war Gerda nun verschwunden, geflüchtet vor der preußischen Obrigkeit, die sie für staatenlos erklärt hatte, weil sie dänische Kinder heimlich in ihrer verbotenen Muttersprache unterrichtet hatte. Er ballte die Fäuste so fest, dass sich ihm die Nägel in die Haut pressten.

Er hatte so viel von der preußischen Ungerechtigkeit gegenüber den Dänen mitbekommen, dass er sich uneingeschränkt auf die dänische Seite stellte. Umso mehr bekümmerte ihn, dass er außer einer kleinen Notiz, die in Dänisch-Westindien geschrieben worden war, nichts mehr von ihr gehört hatte. Sie war dort doch nicht in Gefahr! Warum schrieb sie nicht? Darauf angesprochen, war er immer wieder aufs Neue verstört.

Die Tür knallte so plötzlich gegen die Wand, dass Hansen erschrak. Zornig wandte er sich um. Aber Wilhelm, der Hausbote, marschierte ohne ihm Beachtung zu schenken in zackigem Schritt herein, warf eine Zeitung auf den Schreibtisch, wirbelte auf den Hacken herum und war schon wieder draußen, bevor Hansen sich gefasst hatte.

Er schluckte seinen Ärger über den ungehobelten Klotz herunter, als er die Notiz entdeckte, die Petersen erwähnt hatte.

Am Sonntagmorgen wurde von Spaziergängern ein Boot entdeckt, das unter Segeln, aber offensichtlich ohne Steuermann, am Südstrand von Föhr aufgelaufen war. Den namentlich nicht bekannten Schiffsführer hat anscheinend unterwegs der Tod ereilt, er lag ausgestreckt in der Plicht. Ob er sich selbst oder jemand anders ihm als makabren Scherz eine große Muschel auf die Brust gelegt hat, ist ebenfalls unbekannt. Unsere wackeren Wachtmeister der Policey-Station in Wyk haben sich der Sache angenommen.

Merkwürdig, dachte Hansen, ließ sich auf den Stuhl fallen, brachte seine Füße auf der Fensterbank unter und breitete die Zeitung über seine Beine aus, wonach er den Artikel von vorne und in Ruhe las. Kein Wort von einer Auster.

Aber der Anrufer hatte genau gewusst, wovon er sprach, zumal auch das Gewicht für ihn eine besondere Rolle gespielt hatte. Er hatte die Auster gesehen! Wie aber hatte er gewusst, dass ihr Gewicht zwischen hundertfünfzig und dreihundert Gramm lag? Solche Kenntnisse hatten mit Erfahrung zu tun. Folglich musste er wohl von Berufs wegen mit Austern befasst sein.

Auf einmal fiel Hansen wieder die befremdliche Bemerkung des Anrufers über Claussen ein. Der Jurist war zwar ein Kollege im gleichen Amt, aber die Abteilungen für Deichbau und Wasserwirtschaft hatten so gut wie gar keine Berührungspunkte mit dem Aufsichtsbeamten über die Austernbänke, der im Grunde ein Einzelkämpfer war. Manchmal vielleicht sogar ein Fremdkörper im Haus.

Mehrmals war Hansen zu Ohren gekommen, dass die Landgewinnungsarbeiten im Wattenmeer draußen bei den Austernfischern Verärgerung verursachten, weil die Veränderung von Strömungen angeblich das Wachstum der Austern störte. Das sprach sogar für eine Rivalität zwischen Deichbau und Austernzucht, aber Hansen ahnte nicht einmal, ob Claussen sich an diesem Streit beteiligte. Er bekam den Austernfachmann nur gelegentlich von weitem zu Gesicht.

Anders als offensichtlich Cornelius Petersen.

Hansen legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und rief sich den Ablauf ihres Gespräches ins Gedächtnis zurück. Warum wollte Petersen ausgerechnet den für die Austernbänke zuständigen Beamten nicht nach Föhr schicken? Seine Begründung war ein fadenscheiniger Vorwand gewesen. Hansen verstand keinen Deut von Muscheln, und eine Auster hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht in der Hand gehabt.

Sein Fuß rutschte lärmend von der Fensterbank. Als Hansen nach der Zeitung angelte, die heruntergeglitten war, ging ihm auf, dass Petersen sich möglicherweise weniger für die Auster auf dem Toten interessierte als für Claussen.

Petersen hatte ihr Gespräch mit Hilfe seines Frühstücksbrotes beenden wollen, ein Signal, das Hansen normalerweise respektierte. Aber er war mit seiner Erklärung, die die Angelegenheit herunterspielen sollte, nicht zufrieden gewesen und hatte sich angeschickt, der Sache auf den Grund zu gehen.

Und Petersen, der ihn gut kannte, hatte zu seinem schärfsten Kampfmittel gegriffen: der Frage nach Gerda.

Sie war unfair, aber effektiv. Hansen hatte erwartungsgemäß alle weiteren Fragen hinuntergeschluckt und die Flucht angetreten.

In der Summe ergab sich für ihn, dass ein unbekannter Mann mit unbekanntem Interesse an Austern und einem ebenfalls unbekannten Toten einen anonymen Hilferuf nicht an das zuständige Amt, sondern an Hansen als Ermittler gesandt hatte, auf den Petersen bereitwillig eingegangen war, aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls hatte er mit Claussen zu tun, aber Petersen hatte taktische Kniffe angewandt, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich Hansen gegenüber erklären zu müssen.

Interessant.

Sönke Hansen hatte nichts dagegen, wieder ein Verbrechen aufzuklären. Abgesehen davon, dass er beim ersten Mal gar keine Wahl gehabt hatte, weil ihm im anderen Fall die Halligbevölkerung die Zusammenarbeit verweigert hätte, hatte ihm die Ermittlung Spaß gemacht. Es war wie das Aufribbeln einer mehrfarbigen Pudelmütze: Man musste immer das jeweils richtige Fadenende finden, um zum Ursprung des Ganzen zu kommen. Nicht zu verachten war außerdem die Unterbrechung der manchmal eintönigen Schreibtischarbeit.

Erwartungsvoll erhob Hansen sich, um auf der Anschlagtafel im Flur die Abfahrtszeiten der Dampfschiffe nach Wyk einzusehen.

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Kapitel 2

Hansens erstes Ziel in Wyk war die Niederlassung der kleinen Zeitung, die sich, weitab von der Uferpromenade, in einem unauffälligen Backsteingebäude in der Mühlenstraße befand. Im vergangenen Jahr war er im Rahmen der Aufklärung des Mordfalles an der Seesand-Bake zwar öfter in Wyk gewesen, aber nie in der Redaktion der Föhrer Nachrichten, mit dessen Journalisten Hajo Clement er unangenehme Erfahrungen gemacht hatte.

Die erste Erkenntnis nach seinem Eintreten in das Büro war nicht geeignet, seine Befürchtungen zu beschwichtigen. Clement setzte sofort eine abweisende Miene auf.

Hansen atmete kurz durch und erkundigte sich nach dem Artikel.

Clement, der hinter einem majestätischen Schreibtisch thronte, was seinem jugendlich saloppen Aussehen Hohn sprach, hörte ihn schweigend an, rief dann unwillig ein mageres Bürschchen aus dem Nachbarraum herbei und schickte ihn auf die Suche.

Nachdem Hansen es sich zum Lesen an einem kleinen, vom Lehrling in aller Eile freigeräumten Tisch bequem gemacht hatte, ging ihm unversehens auf, dass Clement zum Chef der Redaktion avanciert sein musste. Im Rahmen seiner neuen Verantwortlichkeit hatte er Hansen immerhin nicht hinausgeworfen, was ihm zuzutrauen gewesen wäre, nachdem sich Hansen im vergangenen Jahr letzten Endes von der Konkurrenz auf Sylt hatte helfen lassen.

Nach kurzem Blättern fand Hansen den Bericht, den er suchte.

Der Artikel war wesentlich ausführlicher als der in den Husumer Nachrichten. Hier wusste man, dass im Gegensatz zum einheimischen Segelboot der Insasse ein Ausländer war, was aus einer Stickerei auf dem Hemd hervorging: Der Name deutete auf einen Franzosen, vielleicht auch Nordspanier. Der Ewer war unter Großsegel und Fock auf Land aufgelaufen. Seltsamerweise fehlte das Namensschild, jedoch konnte man an der Bemalung am Heck und zwei abgebrochenen Eisennägeln erkennen, wo es gesessen hatte.

Die Muschel war tatsächlich eine Auster, der aufgrund ihrer ungewöhnlichen Größe ein hohes Alter zugesprochen wurde. Zwanzig Jahre oder noch mehr, mutmaßte man. Aber kein Wort von einem zahlbaren Gut. Der Himmel mochte wissen, wo der Anrufer diesen Ausdruck herhatte, der Hansen völlig unbekannt war.

Hansen erhob sich und trat zum Schreibtisch, an dem Clement wie fiebrig schrieb. »Entschuldigung«, sagte er. »Darf ich Sie mal kurz stören?«

»Äußerst ungern.«

»Ich habe nur zwei Fragen, es dauert nicht lange.«

»Ich habe zu tun«, versetzte Clement barsch.

»Ich auch«, sagte Hansen mit unverdrossener Hartnäckigkeit. »Mich schickt das Wasserbauamt. Möchten Sie eine Bestätigung vom Landwirtschaftsministerium? Oder vom Baron von Holsten?«

Erst der Name des adeligen Oberdeichgrafen zeigte Wirkung. Der Redakteur sah mit gekrauster Stirn auf. »Und?«

»Wer hat das Boot gefunden, in dem der tote Ausländer lag?«

Clement grinste überheblich. »Was geht das Sie an?«

»Das Wasserbauamt kümmert sich, wie Sie wissen, stellvertretend für alle oberen Behörden um das Wasserwesen, will sagen, um alles, was in der Nordsee und im Wattenmeer geschieht. Also um Kriegsschiffe anderer Nationalitäten, unbekannte Zeppeline, auf absonderliche Weise auftauchende Fremde wie Franzosen oder Spanier …«

»Na gut, ich weiß zwar immer noch nicht, warum das Wasserbauamt seine Nase in alles stecken muss, aber Sie haben gewonnen«, erklärte Clement mürrisch. »Suchen Sie wieder etwas? Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir aber als Erstem mitteilen, was Sie herausbekommen. Wenn da etwas dran ist …«

»Sicher.«

»Oder spielen Sie sich nur auf?«, erkundigte sich Clement zunehmend misstrauisch. »War ein reiner Glückstreffer, wenn Sie mich fragen, dass Sie den so genannten Sklavenmord gelöst haben.«

»Natürlich«, stimmte Hansen zu und wartete unbeeindruckt ab, dass Clement einlenkte.

Clement sah ein, dass er Hansen heute nicht reizen konnte. »Die Finder des Bootes waren Gäste, die keine Ahnung von der See haben. Bayern. Hochnäsig. Erzählen können die Ihnen bestimmt nichts«, knurrte er widerwillig. »Abgestiegen im Bayerischen Hirschen. Eberle Gaispitzheim.«

»Eber …, was?«, fragte Hansen verdutzt.

»Der Mann heißt Eberle Gaispitzheim«, buchstabierte Clement überdeutlich. »Sie sind wohl manchmal schwer von Begriff. Preußischer Beamter, klar doch.«

»Preußischer Beamter trifft zu.« Noch. Zwar hatte Hansen von Baron von Holstens unsinnigem Vorwurf wegen Vaterlandsverrats nichts mehr gehört, aber er wusste ja nicht, wie ernst er gemeint gewesen war und ob der Deichgraf dem nach all den Monaten noch nachging. Immerhin hatte Hansen seine Verlobte Gerda als Opfer des preußischen Staates bezeichnet – Anlass genug für den Baron, gegen ihn vorzugehen. »Danke.«

 

Das Hotel Zum Bayerischen Hirschen war direkt an der Uferpromenade gelegen, inmitten eines großen Grundstücks, das von einem mit Heckenrosen bewachsenen Wall eingefasst war. Immerhin wagten sich jetzt im April schon einige Blättchen heraus, aber noch blühten keine Rosen. Dafür blühte jenseits eines Rosenbogens die Phantasie. Im winterlich vergilbten Gras standen hölzerne Skulpturen von Hirschen, von ziegenartigen und von hasenähnlichen Tieren, die ängstlich auf die See starrten, als erwarteten sie, demnächst von ihr verschlungen zu werden. Dazu hatten sie wohl auch allen Grund, vermutete Hansen, denn ihm schien, als könne es sich bei den Schnitzereien nur um die friesische Interpretation von Gämsen und Murmeltieren handeln. Jede stand auf einem importierten Findling, der wahrscheinlich die Bergwelt simulieren sollte.

Der Portier an der Rezeption trug stilgerecht einen Trachtenjanker mit Hirschhornknöpfen, aber den hochgewachsenen, schlanken Hansen sprach er instinktsicher auf Friesisch an. »Was willst du?«

Die Gäste im Foyer, die in Hörweite saßen, drehten bei diesem ruppigen Ton die Köpfe und musterten Hansen interessiert, als ob sie begierig wären, einen echten weißblonden Eingeborenen von nahem zu erleben.

»Können Sie sich solche Unhöflichkeit wirklich leisten?«, erkundigte sich Hansen unbeeindruckt, ebenfalls auf Friesisch, trat dicht an den Tresen heran und begann leise mit den Fingerspitzen auf das Holz zu trommeln. »Ich bin Mitarbeiter des Wasserbauamtes in Husum.«

»Oh, Verzeihung, der Herr«, sagte der Portier und erblasste sichtlich. »Ich dachte, Sie wären ein weiterer Seehundsjäger, der unseren Gästen seine Dienste aufdrängen will.«

»Aha. Ich hörte bisher immer, dass sich vielmehr die Gäste danach drängen, aber wie Sie meinen.« Hansen stellte sich vor und erkundigte sich nach Herrn Gaispitzheim.

»Von Gaispitzheim. Baron und Baronin«, verbesserte der Portier beflissen und zeigte durch den Erker nach draußen. »Sehen Sie, dort neben dem Wildschwein sitzen sie.«

Hansen lächelte wider Willen. »Hoffentlich ist der Herr von Eberle nicht auch so wild …«

»Unsere Gäste sind nie wild«, widersprach der Portier steif. »Auch wenn sie so heißen.« 

 

Warm war es wirklich nicht. Jedoch war Herr von Gaispitzheim in einen langen Lodenmantel gehüllt, der ihm offenbar die Kälte von den Knochen fern hielt, und seine Frau saß in einem Strandkorb, eingepackt in eine Wolldecke. Beide lasen Bücher, was Hansen sehr sympathisch fand.

Er näherte sich bedächtig, mit den Händen auf dem Rücken. Als sein Schatten auf den Baron fiel, sah dieser von seinem Buch auf und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

Wieder stellte sich Hansen vor. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir etwas über das Boot mit dem Toten, das Sie gefunden haben, erzählen könnten«, sagte er. »Ich ermittele im Auftrag des Wasserbauamtes von Husum.«

»Wie interessant!«, sagte die Baronin und schlug ihr Buch zu.

Eine Erinnerung an Solferino, las Hansen erstaunt und wunderte sich über den ernsten Titel, der so gar nicht zu einer Urlaubsreise zu passen schien. Hatte der Autor nicht das Rote Kreuz gegründet?

»Das Boot war ein richtiges einheimisches Arbeitsboot«, sagte der Baron bereitwillig. »Keine Rennyacht.«

Hansen lächelte zustimmend. Der Maßstab eines bayerischen Adeligen zur Beurteilung von Booten war sicherlich ein ganz anderer als sein eigener. Aber den Unterschied schien der Baron zu kennen.

»Deswegen wunderte ich mich auch, dass es den Mann so weit von seiner Heimat verschlagen hat.«

»Ja?«, fragte Hansen erstaunt.

»Wissen Sie«, ergänzte die Baronin, »der tote Seemann sah alles andere als nordfriesisch aus. Er war gewissermaßen das Gegenteil von Ihnen, schwarzhaarig und klein, und das war ja noch nicht alles …«

Verlegen fuhr sich Hansen über seine lockigen Haare, die wieder einmal im Nacken zu lang waren.

»Ja«, fuhr der Baron fort, »er hatte seine Hand um eine Auster gelegt, und sein Jackenärmel war dadurch hochgerutscht. So konnten wir eine Tätowierung auf seinem Unterarm lesen: La Perle de Cancale.«

Das sagte Hansen nichts, obwohl der Baron dies als selbstverständlich anzunehmen schien. Seine Frau bemerkte Hansens Verlegenheit. Sie legte ihre Hand auf den Arm ihres Gatten. »Warte, Eberle. Der Inspektor ist wahrscheinlich noch nicht in der Bretagne gewesen.«

Das musste Hansen leider bestätigen.

»Ah so, ja natürlich. Cancale ist berühmt wegen seiner Fischerbootflotte. Obwohl es Arbeitsboote sind, veranstalten die Besitzer einmal im Jahr eine Wettfahrt, für sich und für die Gäste zum Vergnügen. Wir pflegen zu dieser Regatta hinzufahren. Ein aufregendes Erlebnis! Unsere Yachten auf dem Chiemsee können sich damit nicht messen. Die bretonischen Boote tragen die Segel nicht quer wie andere große Segler, sondern in der Längsachse. Drei Masten und zehn Segel, stellen Sie sich das vor! Damit sind sie unglaublich schnell.«

»Lugger- oder Gaffelsegel wahrscheinlich«, mutmaßte Hansen nachdenklich. »Und Sie meinen, der Tote sei früher auf einem solchen Schiff gefahren?«

»Auf der Perle. Ja, das muss man wohl vermuten. In einer Tätowierung dieser Art liegt jedenfalls ein gewisser Stolz.«

Das musste Hansen zugeben. Auch eine Portion Beständigkeit lag darin. Wer nur mal für einen Sommer anheuerte, ließ sich nicht den Schiffsnamen in die Haut ätzen. »Fischen die weit draußen im Atlantik oder im englischen Kanal?«

Herr von Gaispitzheim lachte vergnügt. »Sollte man meinen, dass sie weit rausfahren, nicht wahr? Aber nein, die meisten bleiben in der Bucht von Mont Saint-Michel. Eben, wo die Fischer ihre Austernbänke haben, die sie beackern – entschuldigen Sie den Ausdruck – wie auf Land die Bauern ihre Felder.«

 

Austern, dachte Hansen und schwieg vor Überraschung einen Augenblick. »Diese Boote sind Austernfischer?«

»Ja«, bestätigte der Baron. »Sie sind sehr wendig. Ich habe mir sagen lassen, dass das wegen der Strömungen und für die speziellen Bedingungen des Austernfangs in der Bucht notwendig ist. Gleichzeitig sind sie kraftvoll genug, um die Schleppnetze mit der schweren Austernlast zu bugsieren. Sie sollen für diese Gegend die perfekten Austernboote sein.«

Hansen hörte voll Staunen zu. Irgendwie erinnerte ihn die Schilderung des Barons an die Quatsche, die er einmal hatte steuern dürfen, wenn auch die bretonischen Boote sehr viel größer sein mussten.

»Es ist ein gewaltiges Schauspiel, wenn die weiße Fahne gehisst wird und Hunderte von Booten gleichzeitig zum Austernfang auslaufen«, fuhr der Baron fort. »Da darf nicht jeder, wie er will. Alles unterliegt Regeln. La Caravane nennen sie es, die Karawane. Und am gleichen Abend noch reihen sich auf dem Strand die Berge von Austern, ein Hügel neben dem anderen, und die Frauen und Kinder gehen an die Arbeit.«

»Sortieren, waschen und verpacken«, ergänzte die Baronin, die offenbar für das Praktische zuständig war.

Hansen lächelte ihr zu. Schon beim ersten warmherzigen Blick ihrer intelligenten braunen Augen hatte sie ihn für sich gewonnen. »Sie beide waren also die Ersten, die Mann und Boot am Strand gefunden haben?«

»Nein«, antworteten sie wie aus einem Munde.

»Nicht?« Hansen wunderte sich. »Woher wissen Sie das? Gab es Fußspuren im Sand?«

»Nein«, antwortete der Baron. »Kurioserweise gab es die eben nicht. Was mir deshalb auffiel, weil ein Tau, das an der Spitze des Bootes festgebunden war, ausgestreckt im Sand lag.«

»Und der Wasserstand, wie war der?«

»Sie kennen sich aus«, bemerkte der Baron anerkennend. »Es stieg noch, als wir am Strand waren. Ein Tau könnte nie und nimmer von allein so gefallen sein. Das Boot wurde hochgezogen.«

Hansen nickte mehrmals. Der Baron hatte völlig Recht. Die Baronin unterbrach seine Gedanken.

»Herr Hansen«, sagte sie. »Ein schöner Vorname übrigens: Sönke. Was ich eigentlich sagen wollte, es gab noch etwas Bemerkenswertes.«

»Ja?« Hansen hockte sich erwartungsvoll auf den Stein, der das gefährlich aussehende Wildschwein trug, um auf gleicher Höhe mit ihr zu sein.

»Stoßen Sie sich nicht an den Hauern«, warnte Frau von Gaispitzheim lächelnd. »Der Künstler hat wohl einen Säbelzahntiger im Sinn gehabt, als er das Kunstwerk schuf … Aber zurück zum Bemerkenswerten. Ich habe eine Zeit lang in der Diakonissenanstalt Kaiserswerth hospitiert, um die Grundzüge der Krankenpflege zu erlernen, wie das häufig von jüngeren Töchtern in Adelsfamilien verlangt wird.«

Hansen nickte, obwohl er zum ersten Mal davon hörte.

»Kurz und gut, ich bin der Meinung, dass der Bretone erwürgt wurde.«

Prompt stieß sich Hansen den gebogenen Zahn des Tigers in die Schulter, als er vor Aufregung in die Höhe schoss.

»Sehen Sie«, sagte die Baronin. »Nordfriesische Säbelzahntiger sind tatsächlich gefährlich.«

»Sie sind vermutlich immer so vorausschauend«, sagte Hansen und bedachte die Baronin mit einem strahlenden Lächeln. »Vor allem, was Tiger betrifft. Woher wissen Sie, dass der Mann erwürgt wurde?«

»Wissen ist zu viel gesagt. Ich vermute es«, verbesserte die Baronin. »Ich bin gewohnt, die Kehle von Patienten zu inspizieren, wegen der Kropfsymptome, die in unseren bayerischen Tälern so häufig auftreten. Bei Küstenbewohnern ist das natürlich überflüssig. Aber es kommt ganz automatisch, ich kann es nicht mehr ändern, auch wenn ich mein gesundes Gegenüber manchmal damit verwirre. Bei dem Bretonen sah ich blaue Flecken beiderseits der Kehle, in einer Anordnung, die ich für Würgemale hielt.«

Hansen hörte ihr voller Bewunderung für ihre Beobachtungsgabe zu. »Dann muss es ja einen Kampf gegeben haben. Es sei denn, der Mann wurde im Schlaf ermordet.«

»Vielleicht.«

»Er wirkte von der Statur her schmächtig. Aber das kann täuschen, denn Seeleute sind meist kräftig«, ergänzte der Baron. »Das spricht für den Schlaf.«

Die Baronin wiegte unschlüssig den Kopf. »Erinnerst du dich noch, Eberle, dass der blaue Fleck auf der rechten Halsseite länglich und ziemlich groß war? Als stamme er nicht vom Daumen, sondern von mehreren Fingern. Ich glaube deshalb, dass der Mann von hinten angegriffen wurde …«

»Sie haben unglaublich viel beobachtet«, stellte Hansen fest. »Erstaunlich, dass es Herrn Clement in seinem Zeitungsartikel gelungen ist, das alles so harmlos darzustellen. Vielleicht ist er mittlerweile etwas klüger geworden und vermeidet um der Hotellerie willen, die Badegäste zu erschrecken.«

»Ist Herr Clement der arrogante Zeitungsschreiber, der insbesondere den Adel nicht ausstehen kann?«, erkundigte sich die Baronin mit verhaltener Boshaftigkeit.

»Das hört sich ganz nach ihm an«, gab Hansen schmunzelnd zu. »Mit einem Adeligen kann man ihm allenfalls drohen, wenn ich das so unverblümt aussprechen darf. Aber er kann auch sonst kaum jemanden leiden.«

»Diesen Eindruck hatte ich auch. Für seine Jugend hat er viel zu scharfe Mundfalten.«

»Dem haben wir zur Strafe nichts von Belang erzählt«, warf der Baron ein. »Er hat sich nicht richtig für den Vorfall interessiert, hatte es eilig, fuhr meiner Frau über den Mund und verbat sich von Anfang an alles, was jenseits seiner Fragen war. Wir werfen unsere Perlen nicht vor die Säue.«

»Danke«, sagte Hansen.

»Eber meint er natürlich«, verbesserte die Baronin und lächelte ihn spitzbübisch an.

Hansen lachte schallend. »So könnte meine Verlobte gesprochen haben. Auch sie duldet keine Übergriffe auf den weiblichen Teil der Welt.«

»Sehr sympathisch«, bemerkte die Baronin und zwinkerte Hansen zu, während ihr Mann eine etwas gespannte Miene aufsetzte, als ob er dieses Themas überdrüssig sei.

»Und die Polizei von Wyk?«

»Was ist mit der?«

»Hat sie mit Ihnen gesprochen?«

»Sie hat sich für die Meldung bedankt, sehr höflich, und sich erkundigt, ob man für meine Frau einen Arzt rufen solle, einen, der sich mit ohnmächtigen Berlinerinnen und anderen kränklichen weiblichen Gästen auskenne.«

Hansen sah der Baronin forschend ins Gesicht und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie je ein Beruhigungsmittel benötigen sollten, Baronin von Gaispitzheim. Sie wirken beherzt wie …«

Er brach sein Kompliment ab und spürte selbst, dass er errötete.

»Beherzt wie …?«

»Ich wollte sagen: wie eine Fischersfrau oder eine Bäuerin von der Hallig«, bekannte Hansen. »Ich hätte auch sagen können, wie eine dänische Lehrerin … Alle Vergleiche sind unpassend, ich weiß.«

»Es gibt, dem Herrn sei Dank, viele beherzte Frauen auf dieser Welt, Herr Hansen«, sagte die Baronin zu seiner Beruhigung. »Ich weiß Ihr Kompliment zu schätzen, und ich freue mich, in Fischersfrauen, Halligbäuerinnen und dänischen Lehrerinnen Gleichgesinnte zu finden. Gäbe es mehr von unserer Art, wäre die Welt besser.«

Sönke Hansen erhob sich mit einem Lächeln, verbeugte sich höflich und entdeckte zur eigenen Überraschung, dass er die Fingerspitzen der Baronin ergriffen hatte, um sich etwas unbeholfen mit einem Handkuss zu verabschieden.

 

Entgegen Clements abfälliger Bemerkung über das bayerische Ehepaar hatte Hansen weit mehr von diesem erfahren, als er erwartet hatte. Sie waren aufmerksame und kluge Beobachter. Es stand also fest, dass jemand das Boot höher auf den Strand gezogen hatte, um es zu sichern, dann aber alle Spuren seiner Anwesenheit verwischt hatte.

Die sorgsam vertuschte Flucht des ersten Entdeckers ließ natürlich sofort an den anonymen Anrufer denken. Und weil für ihn die Summe eines toten, fremdländisch aussehenden Austernfischers und einer ungewöhnlich großen Auster mehr bedeutete als eine Aneinanderreihung unabhängiger Fakten, hatte er sich davongestohlen.

Offenbar wollte er mit dem Toten nicht in Zusammenhang gebracht werden. Er wusste etwas, das andere nicht wussten. Oder hatte er Angst gehabt?

Durchaus möglich.

Aber wovor?

 

Während seiner Überlegungen war Hansen am Kurhaus und an der Warmbadeanstalt mit strammem Schritt vorbeimarschiert. Das Boot sollte noch am Südstrand liegen, wie die Bayern erwähnt hatten, und er hatte vor, es zu besichtigen.

Er fand es, jenseits der letzten Häuser unweit eines Kiefernwäldchens auf den Strand hochgezogen. Es war etwa acht Meter lang, mit einem Mast und einem Ruderpaar ausgerüstet. Solche Boote für zwei oder drei Mann Besatzung waren typische Fischerboote des Wattenmeeres, da hatte der Bayer Recht. Sie wurden beim Austernfang und zum Fischen von Schellfisch und Kabeljau benutzt.

Mit den Händen auf dem Rücken spazierte Hansen hinter dem Heck vorbei auf die andere Seite. Das Boot war in gutem Zustand, eine Planke war fachmännisch ausgewechselt worden, und sonst gab es nichts Bemerkenswertes.

Die Bugleine gab ihm am meisten zu denken. Sie war neben dem Bugspriet fest angeschlagen, was man am ausgebleichten Tauwerk des Knotens leicht erkennen konnte. Am anderen Ende war der Draggen seemännisch korrekt befestigt, und dessen Flunken steckten tief im Sand. Jemand musste sie hineingetreten haben.

Bei dieser Entfernung vom Wyker Hafen hatte bestimmt niemand den Anker eines anderen Bootes herbeigeschleppt. Es schien sich also um den Draggen des Fischerbootes zu handeln, was zur Vermutung führte, dass dieses in voller Ausrüstung durch das Wattenmeer getrieben war.

Bevor er Näheres erfahren hatte, hatte Hansen mit dem Gedanken gespielt, dass der Fischer auf natürliche Weise während der Arbeit gestorben sein könnte. Dass keine Netze, Reusen, Körbe oder Fischkästen vorhanden waren, ließ sich leicht damit erklären, dass die Polizisten sie sichergestellt hatten. Und natürlich würde es für sie nicht sonderlich schwierig sein festzustellen, wo in der Umgebung ein französischer Fischer lebte.

Aber eine so simple Lösung des Falls hätte ihm Clement unter die Nase gerieben, um ihn mit schadenfrohem Gelächter wieder nach Hause zu schicken. Die Sache war also allein deswegen komplizierter.

Hinzu kam, dass der Anker vorhanden war. Ein Muschelfischer, der bei Ebbe auf einer Muschelbank arbeitete, pflegte zu ankern. Sofern der Knoten des Ankertaus aufgegangen wäre, was allein schon ein ziemlich abwegiger Gedanke war, hätte der Anker fehlen müssen.

Zusammen mit der Beobachtung der Baronin lag deshalb die Vermutung nah, dass der Bretone an Land ermordet und in einem Hafen in das nächstbeste Boot gelegt worden war. Nachdem der Mörder das Namensschild entfernt hatte, wohl in der Hoffnung auf den kleinen Zeitgewinn, bis man den Ort des Verbrechens herausfand, hatte er den Ewer dem Flutstrom und dem Wind überlassen.

 

Eine schaurige Vorstellung. Hansen fröstelte es, als er sich umdrehte und über die See blickte. In der Mittagssonne, die jetzt im frühen April noch tief stand, hob sich jenseits des glitzernden Wassers die Hallig Nordmarsch-Langeness ab. Dorthin würde er fahren, um die Deichbauarbeiter auszuzahlen.

Und er würde auf der Hallig ein Weiteres tun: Nummen Bandick besuchen. Wer wäre besser geeignet, jemanden in die Geheimnisse des Austernfangs einzuweihen, als ein alter Austernfischer, selbst wenn der sich schon vor mehreren Jahren zur Ruhe gesetzt hatte? Richtig schätzen gelernt hatte er Nummen Bandick, als er letztes Jahr einen Experten für die Strömungen im Wattengebiet benötigte.

Auf dem Weg zum Hafen, wo er sich jemanden suchen würde, der ihn gegen Entlohnung hinübersegelte, konnte er auch gut an der Policey-Station vorbeigehen, in der Hoffnung zu erfahren, was sie zur Aufklärung des Todesfalls unternahmen, sofern dieser nicht schon zu den Akten gelegt worden war.

 

Die Polizeibeamten, mit denen er es im vergangenen Jahr zu tun gehabt hatte, waren beide anwesend. Hätte nicht wenigstens Schliemann versetzt sein können? Hansen unterdrückte einen Seufzer und schloss die Tür zur Straße. »Moin«, sagte er verhalten.

»Moin, Herr Hansen aus Husum«, grüßte Robert Schliemann, Polizeiwachtmeister und Chef der kleinen Außenstelle ausführlich, womit er wohl andeuten wollte, dass auch er sich genau erinnerte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen ließ er den Bleistift auf das grüne, halb ausgefüllte Formularblatt sinken. »Ich hoffe sehr, dass Ihr Besuch nur aus alter Anhänglichkeit stattfindet …«

»Anhänglichkeit.« Hansen schmunzelte wider Willen und entschloss sich spontan, das Amt und seinen Auftrag außen vor zu lassen. »So kann man es vielleicht nicht gerade nennen. Ich habe nur eine Frage. Ich war zufällig gerade draußen am Südstrand und habe dort das Boot liegen sehen …«

»Aha«, unterbrach Schliemann ihn ungehalten und saß plötzlich kerzengerade. »Wusste ich es doch! Wenn Sie kommen …«

»Nein, nein!«, sagte Hansen hastig. »Ich bin privat hier. Ich wollte mich erkundigen, ob das Boot zum Verkauf steht. Ich habe einen Vetter …«

»Es steht nicht zum Verkauf! Der Fischer, der tot aufgefunden wurde, vermutlich an Bord an einem Herzanfall starb, kann nicht der Eigentümer sein. Als polizeilich nicht gemeldeter Ausländer wurde er wohl billig angeheuert und mit einem namenlosen Boot losgeschickt. Und wehe dem Schurken von Besitzer, wenn wir ihn erst haben«, sagte Schliemann erbost.

»Und der Tote?«, erkundigte sich Hansen. »Was haben Sie mit dem gemacht?«

»Dass Sie die Neugier in Person sind, Herr Hansen, wissen wir. Wir schätzen das nicht sonderlich und unser Kaiser überhaupt nicht, denn Sie stehlen ihm unsere Arbeitszeit mit Ihren albernen Fragen.« Schliemanns Blick ging zum Konterfei des Kaisers an der Wand, und seine Hand zuckte zum Salut. Er begnügte sich dann aber doch damit, Hansen scharf und tadelnd ins Auge zu fassen. »Was denken Sie wohl, Herr Hansen, was man mit einem fremden toten Seemann so macht?«

»Er wurde auf dem Friedhof für unbekannte Seeleute beigesetzt?«, fragte Hansen wie ein gehorsamer Schüler.

»Genau! So ist es üblich.«

Hansen grummelte unzufrieden vor sich hin.

»Wenn Ihre Fragen dann geklärt sind …«

»Ja, danke«, sagte Hansen und zog sich zur Tür zurück. Als er sie hinter sich schloss, hörte er die Polizisten unterdrückt lachen.

Es war ganz klar, dass man in dieser Polizeiwache nicht einmal ahnte, dass ein Verbrechen geschehen war. Nur die bayerischen Gäste und er wussten es. Und der Mörder.

Und möglicherweise der anonyme Anrufer. Der Mann begann Hansen immer mehr zu interessieren.

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Kapitel 3

Im Wyker Hafen fand Sönke Hansen einen Fischer, der sich bereit erklärte, ihn für gutes Geld nach Nordmarsch zu segeln. Der Mann war wortkarg, und Hansen hing seinen eigenen Gedanken nach, während sie sich von Föhr entfernten, und die kahlen Bäume und Büsche am Südstrand allmählich in der dunstigen Luft grau und unsichtbar wurden.

Er machte sich Sorgen um den alten Nummen. Während sie im Wasserbauamt die Schutzarbeiten an den Halligufern minutiös ausgearbeitet hatten und er einige Male für eine Überprüfung der Berechnungen auf der Hallig gewesen war, hatte er Nummen kein einziges Mal besucht. Jetzt bereute er es.

Die Halligwinter waren feucht und kalt, und wer alt und dazu noch arm war, hatte es nicht leicht. Immerhin hatten Nummen und seine Frau Matje ihren aufgeweckten und tatkräftigen Enkel Wirk, der außer für den Fischfang auch für ausreichend Treibholz zum Heizen sorgen konnte. Hansen freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Der Versuchung, an Jorke zu denken, widerstand er. Im letzten Jahr hatte er die junge Halligbäuerin kennengelernt und sich fast ein wenig in sie verliebt. Aber da war ja noch Gerda, die er von ganzem Herzen liebte. Er hatte sich ein für alle Mal für sie entschieden. Und dennoch: sich Jorke aus dem Kopf zu schlagen, wurde ihm schwerer, je mehr sie sich der Hallig näherten.

Um sich abzulenken, zählte er die Warfen ab. Die Dritte von rechts war die Mayenswarf. Die Häuser wuchsen in die Höhe, Nummens Kate tauchte zwischen zwei stattlicheren Häusern auf, und alles sah wie immer aus.

 

Als Sönke Hansen unter dem niedrigen Türsturz mit gebeugtem Kopf in die Diele getreten war, kam ihm Matje, Nummens Frau, entgegen. Sie machte einen rüstigen Eindruck und strahlte, als sie ihn erkannte, und noch viel mehr, als Hansen ihr eine große Tüte Zucker überreichte. Noch während er sich in der Diele die Schuhe abstreifte, bat er darum, Tete Friedrichsen, den Vorarbeiter am Deich zu benachrichtigen, damit er ihm den Lohn für die Männer übergeben konnte.

Matje versprach, eines der Kinder von der Warf loszuschicken, und schob Hansen in die Dörns, wo der eiserne Ofen eine Wärme ausstrahlte, die bis zur Tür reichte.

Nummen saß auf dem Korbstuhl am Tisch, die weißen Haare noch spärlicher als im vergangenen Jahr, aber mit rosigen Wangen, und seine blauen Augen leuchteten lebhaft, als er das Tabakspäckchen befingerte, das Hansen wie bei jedem Besuch mitbrachte. Hansen setzte sich, erleichtert, dass hier alles zum Besten zu stehen schien, während der alte Mann seine Pfeife aus dem Regal holte.

»Ist Wirk da?«, erkundigte sich Hansen, nachdem sie die obligatorischen Fragen und Antworten zu Gesundheit und anderen wichtigen Dingen hinter sich gebracht hatten.

»Nein«, sagte Nummen, »seit seiner Konfirmation vor ein paar Wochen ist er auf Hooge. Stell dir vor, Knud Steffensen hat ihn als Jungen angenommen, und jetzt lernt er die Krabbenfischerei. Die wird immer moderner, haben sie mir erzählt, und damit ist sein Leben besser gesichert als mit kümmerlichen Erträgen in meinem alten Austernboot.«

»Auf Knuds Quatsche! Großartig«, sagte Hansen überwältigt. »Hast du das Boot mal unter voller Besegelung gesehen, Nummen? So schnell kannst du gar nicht gucken, wie eine Quatsche am Horizont verschwindet!«

»Habe ich nicht«, gab Nummen zu, »und wer weiß, ob ich dazu noch Gelegenheit haben werde.«

»Fühlst du dich krank?«, fragte Hansen betroffen.

Bandick sah ihn verwirrt an, dann verstand er. »Oh, nein! Mir geht es besser als im letzten Jahr. Knud will sich verändern. Mit einem Kredit der preußischen Regierung wird er es schaffen, sich einen Motorkutter zu kaufen, meint er.«

»Donnerwetter! Und euer Wirk lernt schon als Junge mit einem hochmodernen Boot zu arbeiten. Da kann man ihm und euch ja nur gratulieren!«

»Nicht wahr?«, stimmte Nummen glücklich zu. Eine Freudenträne lief ihm die Wange herab, die er mit dem Handrücken abwischte. »Uns widerfährt in letzter Zeit so viel Gutes, und ich danke dem Herrn dafür von Herzen. Mein Sohn Broder, du weißt, der Leuchtfeuermeister von Amrum, hat bei einem Geschäft mit diesem Dänen, der in Wittdün so viele Grundstücke für Hotelneubauten aufkauft, eine glückliche Hand gehabt und kann uns jetzt unterstützen.«

»Das freut mich für euch«, sagte Hansen aus vollem Herzen.

»In gewisser Weise hat Broder dir das zu verdanken«, fügte Nummen hinzu. »Er nennt den Dänen einen Kapitalisten. Nicht, dass ich wüsste, was das bedeutet, aber es muss etwas Redliches sein.«

Hansen lächelte leise. »Aksel Andresen ist ein guter Mann. Und es war nur ein bescheidener Rat, den ich Broder gab. Schade, dass ich Wirk nicht treffe, ich wollte ihm gern sein Konfirmationsgeschenk geben. Vielleicht ist es ja der Grundstock für seinen eigenen Motorkutter …« Er legte ein nagelneues, glänzendes Zwanzigmarkstück auf den Tisch.

»Matje, komm einmal! Schnell«, rief Bandick und wagte die Münze kaum anzufassen.

Seine Frau, die in diesem Augenblick mit der Teekanne hereinkam, blieb so abrupt stehen, dass der Tee aus der Tülle schwappte. »Herr im Himmel, Nummen, wie kannst du mich so erschrecken«, rief sie, um dann ebenfalls das Geschenk gerührt zu bewundern. »Sie sind so gut zu uns, Herr Hansen.«

»Nein, nein«, wehrte Hansen erschrocken ab und ließ sich schnell eine glaubhafte Begründung einfallen. »Ich brauche Nummens Hilfe. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen, die mir nur ein erfahrener Austernfischer beantworten kann.«

»Ich bin doch nicht auf dem Laufenden«, murmelte Bandick verlegen. »Wie die heute arbeiten, weiß ich gar nicht genau.«