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Ein nettes Familienwochenende auf der Wartburg gerät fast zur Katastrophe, als Enkeltochter Franziska zufällig eine geladene Pistole findet. Und abdrückt. Seitdem befinden sich ihre Großeltern KH und Ulla im Detektiv-Modus. Warum wird das kleine Häuschen eines starrsinnigen alten Mannes angezündet? Warum wird er selbst verhaftet? Der Alte wird landläufig als der "bessere Luther" bezeichnet. Wie der "richtige Luther" kämpft auch er gegen Machenschaften der herrschenden Eliten. Ulla und KH sehen sich immer stärker mit illegalen Verstrickungen von Wirtschaftsunternehmen, Staat und Kirche konfrontiert. Aber auch mit persönlicher Schuld.
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Seitenzahl: 287
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Tempora mutantur, nos et mutamur in illis .
(Ovid)
(Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen)
For the times they are a-changin'
Come gather around people, wherever you roam
And admit that the waters around you have grown
And accept it that soon you'll be drenched to the bone
If your time to you is worth savin'
Then you better start swimmin' or you'll sink like a stone
For the times they are a-changin'
(Bob Dylan)
Personenverzeichnis
Teil 1 Thüringen (Frühsommer 2014)
1 Ein feste Burg
2 Aus tiefer Not schrei ich zu dir
3 Beweis an uns dein große Gnad
4 Alle Welt, die freue sich und sing mit großem Schalle
5 Bey Gott ist viel mehr Gnaden
6 Erbarm dich deiner bösen Knecht
7 Selig sind die Friedfertigen
8 Der Herr ist mein Hirte
9 Wolle Gott uns gnädig sein
10 Der Balken im eigenen Auge
11 Du sollst nicht töten zorniglich, nicht hassen noch selbst rächen dich
12 Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen
13 Der werfe den ersten Stein
Teil 2 – Teneriffa (Winter 2014 /2015)
14 Nuestra Señora de la Candelaria
15 La Esperanza
16 Dedo de Dios - Der Finger Gottes
17 Es steht bei deiner Macht allein die Sünden zu vergeben
Familie Briksteen-Wokkel
KH –
Karlheinrich Briksteen, verheiratet in zweiter Ehe mit Ulla Wokkel
Nils - sein Sohn
Kathi (Katharina) - seine Schwiegertochter
Franziska, genannt Franzi oder Fränzchen - achtjährige Enkelin
Emma - eineinhalb Jahre alt, Enkelin
Ulla Wokkel - verheiratet in zweiter Ehe mit KH Briksteen
Björn - Sohn Ullas
Dominic, genannt Domi - Enkel von KH und Ulla
Hubert - Ullas Ex-Ehemann
Eisenacher Festkomitee zur 500jährigen Reformationsfeier
Luther - Ludwig Suchanek, genannt „der bessere Luther“
Marko Pape - katholischer Priester in Eisenach
Felix Schalbel - evangelischer Pfarrer in Eisenach
Thomas - Musiker
Ivi -
junge Unterstützerin Luthers und zugleich Mitglied einer kirchlichen Jugendgruppe
Sven -
Kellner, Freund von Ivi, ebenfalls Mitglied der kirchlichen Jugendgruppe
Ben -
Freund von Ivi, wie sie Mitglied der kirchlichen Jugend gruppe
Hotelpersonal
Andrea Schmiddes,
geb. Schmale - Rezeptionistin im Wartburg-Hotel und Mitglied des Festkomitees; Tochter von Erika Schmale
Monika - Angestellte im Wartburg-Hotel und im Eisenacher Hof
Mutter von Sven - Inhaberin eines Landgasthauses
Luthers Familie
Luthers Mutter
- Kriegswitwe (verwitwete Suchanek), Flüchtling im 2. Weltkrieg aus dem Sudetenland, hat nach dem Krieg Erwin Schmale geheiratet, einen Verwandten des Gutsbesitzers Schmale
Magda Schmale
- zehn Jahre jüngere Schwester von Luthers Mutter; hat einen jüngeren Bruder ihres Schwagers Erwin Schmale geheiratet; jetzt verwitwet
Erika Schmale -
Halbschwester Luthers; Tochter von Luthers Mutter aus 2. Ehe mit Erwin Schmale
Gerda
- Ivis Mutter, Erbin des Gutshofs Schmale
Sonstige:
Brüder Löb – ein Bauunternehmer und ein Tierarzt in Eisenach
Monsignore Emilio Pirulli
Thüringischer Innenminister
Regionaler Polizeipräsident
Kamerateam des WDR – eine Reporterin und ein Kameramann
Touristen, Polizisten, Neonazis, weitere Mitglieder des Festkomitees und der
kirchlichen Jugendgruppe
Als kurz nach Eisenach die Wartburg über ihnen auftauchte, entstand rege Betriebsamkeit im vorausfahrenden Auto, dessen Rücksitz mit Taschen, Plüschtieren, Kuscheltüchern, Bilderbüchern, CDs, Wasserflaschen, Bananen, Lakritz-Schnecken und zwei Enkeltöchtern vollgepackt war. Köpfe reckten sich, Finger zeigten nach oben und plötzlich sauste das rechte hintere Seitenfenster hinunter.
Ein schmaler Kinderarm im rosa Pullover malte bizarre Zeichen in die Luft.
Sicherheitshalber drosselte KH das Tempo des nachfolgenden Jaguars. „Was soll das denn?“, fragte er leicht irritiert. „Müssen wir jetzt parken, oder soll ich rechts ran fahren, oder was?“
„Nein, nein, folg ihnen einfach!“, beruhigte Ulla, die vergeblich versuchte, den rosa Mädchenarm und die Burg gleichzeitig auf den Videofilm zu bannen.
„Fränzchen will uns wohl nur auf die Wartburg aufmerksam machen. Wahrscheinlich denkt sie, dass Oma und Opa in ihrem hohen Alter nicht mehr das Offensichtliche sehen!“
KH lächelte amüsiert.
Ulla ihrerseits revanchierte sich bei ihrer Enkelin, als links die Eselstation auftauchte. Sie machte ausladende Handbewegungen dorthin.
Wahrscheinlich hätte sie sich dies sparen können, denn bereits kurz zuvor hatte der rosa Arm sein Ziel geändert.
Er piekste nun auf den Fahrer ein, und Ulla hörte deutlich in ihrem inneren Ohr das Flehen der Achtjährigen: „Bitte, Papa, biiittteee!! Lass mich mit dem Esel nach oben reiten! Bitte! Ich kann das ganz alleine!“
Mama Kathi und Papa Nils fanden dies offensichtlich nicht. Dementsprechend erwies sich die Stimmung als etwas angespannt, als beide Autos wenig später auf dem Hotelparkplatz nebeneinander standen.
Franzi flüchtete sich sofort in die Arme ihrer Großmutter.
„Oma Ulla, ich möchte einmal“, empathische Betonung auf einmal, „einmal in meinem Leben auf einem Esel auf die Wartburg reiten!“
Ulla wollte gerade den Ritt für morgen versprechen, als sie KHs warnendes Hüsteln vernahm.
Ein schneller Blick auf ihren Stiefsohn Nils und seine Frau Katharina ließen Ulla das bereits begonnene „Ja, das können wir morgen mach...“ abwandeln in ein „Ja, das können wir morgen mal sehen, ob es klappt!“
Kathi, Nils und KH entspannten sich.
Fränzchen wollte sich schmollend abwenden, als Emma sich von der Hand ihrer Mutter löste und auf Ulla zulief.
„Fra –Essel!“
Die Stimme der Anderthalbjährigen erwies sich als sehr gut entwickelt; alle Umstehenden hörten zu.
„Nein, nein“, Ulla versuchte die Situation positiv zu nutzen, „nein, Franzi ist kein Esel. Sie möchte nur einmal im Leben auf einem reiten. Und dazu hat sie noch viel Zeit!
Sie ist ja gerade erst acht!“
Alle lachten. Auch Fränzchen. Gern ließ sie sich von Opa KH, der gerade das Wartburg-Hotel und die Familie filmte, ablenken, weil sie durch das Kamera-Objektiv schauen durfte.
An der Rezeption wurden Nils und KH von einer jungen Dame nach vorn an einen großen, geschnitzten Holztisch gebeten.
Ulla fand Kathi und sich, die beiden Frauen, ohne Grund ausgegrenzt.
Fränzchen rettete die Situation, indem sie zwischen dem Tisch einerseits und Mama, Oma und Emma auf der anderen Seite hin und her pendelte. „Die Frau heißt Andrea.
Ich hab ihr Schild gelesen. Und jetzt sollen Opa und Papa über die Besichtigung entscheiden.“
„Welche Besichti…?“.
Aber Kathi fiel Ulla ins Wort. „Andrea? Wie heißt sie denn weiter?“ Fränzchen rannte sofort nach vorn, um weitere Informationen zu ergattern.
Kathi kam die Frau bekannt vor. „Vielleicht haben Nils und ich sie mal auf einer Hotel-Management-Fortbildung kennengelernt.“
Franzi klärte auf, dass der Nachname auf dem Schild „Schmiddes“ lautete.
Nein, Kathi, konnte sich an keine Andrea Schmiddes erinnern. Wohl aber an eine andere Andrea „mit Sch…. Und die hier ähnelt hier irgendwie.“ Daraufhin betrachtete sich Ulla die „Empfangsdame“ genauer.
Sie war hübsch, ziemlich hübsch sogar mit ihren mittellangen braunen Haaren, dunklen Augen und einer kleinen Stupsnase. Aber unter diesem oberflächlich Angenehmen deutete ihr Gesicht etwas Vergrämtes an.
Kummer oder Einsamkeit. Oder beides.
Ulla konnte ihre Mutmaßungen nicht weiter verfolgen, denn die junge Frau hatte ihr Gespräch mit den Männern beendet und umarmte nun ohne Scheu Kathi.
„Katharina! Schön dich wieder zu sehen!!Erinnerst du dich noch an mich?“
Ja, Kathi erinnerte sich. Allerdings an einen anderen Nachnamen.
„Schmale. Ja, das war damals. Long, long ago. Ich hab´ inzwischen geheiratet. Nein, nein, wir haben keine Kinder wie ihr. “
Täuschte Ulla sich oder fuhr wirklich ein Schatten über Andreas Gesicht?
Unglückliche Ehe.
Mögliche weitere Vermutungen Ullas wurden unterbrochen, denn nun überstürzten sich die Ereignisse.
Der Pendlerbus spuckte neue Gäste aus, die Andreas Aufmerksamkeit beanspruchten.
Ulla hatte den Eindruck, dass man sich kannte; der Ton wechselte vom Professionellen ins Familiäre. Speziell die beiden schwarz gekleideten Männer in Nils´ Alter mit weißem runden Stehkragen unter Jackett und Pullover wurden von Andrea sehr freundschaftlich umarmt. Ulla hielt sie für junge Pfarrer.
Von Kathis Arm herab zeigte Emma ohne Scheu mit ihrem Finger auf jeden Ankömmling und begrüßte sie freudig mit Mann oder Frau. Sie sortierte richtig.
Allerdings stutzte sie, als sich ein sehr schlanker, fast knochiger junger Mann näherte mit einem braunen, üppigen Wuschelkopf, buschigen Augenbrauen, einem langen zum Zopf geflochtenen Kinnbart und einem Gitarrenkasten auf dem Rücken. Doch dann ordnete sie ihn richtig ein.
„Mann?“ Sie wirkte ein bisschen zögerlich.
„Ja“, erklang eine kecke Stimme, „ja, natürlich Mann, aber in erster Linie Musiker. Do–re-mi-fa-so-la-ti-do!“ Er sang die Tonleiter in Emmas Ohr und diese griff entzückt nach seinem Bart.
Während Kathi ihre jüngere Tochter zu stoppen versuchte, zupfte Fränzchen aufgeregt an Omas Ärmel.
„Du, ist das ein Zauberer, oder was?“ Sie deutete auf einen abseits stehenden alten Mann.
Selbst Ulla überraschte der Anblick des Alten. So etwas hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Langer brauner, wallender Umhang, weißer Bart, braun-grauer Schlapphut. Er stützte sich auf eine Art Wanderstock; oder war es ein Hirtenstab?
„Emh“, sie versuchte sich zu fassen, „Zauberer – nö, glaub ich nicht. Als ich klein war, liefen Schäfer so herum. Vielleicht ist das hier ein Eselstreiber. Er steht ja in der Nähe der Eselstation.“
Neben ihr ertönte ein meckerndes Lachen.
„Zauberer – das ist gut!“ Der junge Mann mit dem geflochtenen Bart beugte sich zu Fränzchen herunter. „Ja, das würde sogar passen. In gewisser Weise zaubert er auch. Aber wir hier nennen ihn Luther. Sogar: den besseren Luther.“
Fränzchens Augenbrauen zogen sich zu Fragezeichen zusammen.
Ihr Papa kam ihr zu Hilfe. „Luther. Franzi, das weißt du doch. Der Bibelübersetzer. Zum ersten Mal ins Deutsche.
Hier auf der Wartburg.“
Dann übermannte Nils seine Konfessionslosigkeit. „Luther, der Ketzer - wie ihr guten Katholiken ihn bezeichnen würdet. Der Rebell.“
Ein Blick seiner Frau ließ ihn verstummen.
Ulla bereitete sich innerlich darauf vor, Franzi später Rebell und Ketzer erklären zu müssen.
Leider hatte sie sich getäuscht.
Die tatsächliche Frage war viel komplizierter zu beantworten.
***
Zu viert hatten sie die Wartburg besichtigt – Franzi, Nils, Ulla und KH; trotz Emmas anfänglichen Protestgeschreis, die alles genauso machen wollte wie ihre große Schwester.
Aber die Besichtigung erwies sich aus Franzis Sicht sowieso als Flop.
Der Tintenfleck an der Wand, der von Luthers Vertreibung des Teufels zeugte, war verschwunden. Es gab nur noch Kratzspuren.
Interessanter waren die Wandmalereien über die Geschichte der heiligen Elisabeth. Die war noch jünger als Franzi in eine fremde Familie gegeben worden, um auf ihre Ehe mit einem der Söhne vorbereitet zu werden.
Fränzchen schüttelte sich bei der Vorstellung, von zu Hause weggehen zu müssen.
Aber das Schlimmste kam, als sie ein Einhorn auf einer Wand entdeckte und der Guide steif erklärte, das sei keins.
Kein Einhorn! Und das wollte er ihr, einer Einhorn-Expertin, weismachen? Franzi schnaubte vor Wut, als der Guide ihre Erklärungen nicht annahm und sich weitere Diskussionen verbat. Sie leistete anschließend so viel passiven Widerstand, dass Nils schließlich mit ihr die Führung vorzeitig verließ.
Nun saß die wieder vereinte Familie hier im vollgestopften Burgcafé gegenüber dem Wartburg-Palas bei Kaffee, Kuchen und Limonade. Franzis Blicke durchforsteten den Raum und blieben am Nebentisch hängen. Ob sie Oma etwas fragen dürfe?
Klar doch. Ulla erwartete eine Frage nach Ketzern oder nach Einhörnern und blickte ihre Enkelin aufmunternd an.
„Oma, was ist ein schwuler Pfarrer?“
Ulla schluckte. Wie sollte sie das einer Achtjährigen erklären? Und noch dazu, wenn die vermutlich so Bezeichneten direkt in ihrer Nähe saßen?
Ihr Blick streifte kurz den Nebentisch mit den beiden jungen Männern in den schwarzen Jacketts und dem Alten, der seinen wallenden Mantel, den Hirtenstab und den Schlapphut neben sich gelegt hatte.
Also fragte sie sicherheitshalber erst einmal das Offensichtliche zurück: „Wie kommst du denn darauf, Fränzchen?“
Ganz einfach! Fränzchen hatte auf einer ihrer vielen Erkundungstouren durch das Hotel den Begriff aufgeschnappt. Und Oma müsste es eigentlich auch gehört haben.
„Das weißt du doch, Oma! Die unfreundliche Frau ...“
Unwillkürlich durchsuchten Ullas Augen erneut das kleine vollbesetzte Café.
Glücklicherweise war die miesepetrige Alte, die ihr und den Kindern im Burghof aufgelauert und ihnen „Ruhestörung“ vorgeworfen hatte, nicht anwesend.
Sofort griff Kathi ein. „Bitte, Franzi, wir wollen das alles jetzt nicht hören!“
Aber ihre Tochter gab nicht so schnell auf.
„Was, Mama?“, fragte sie scheinbar unschuldig nach, „unfreundlich oder schwul?“
Und schon echote Emma lautstark: „Schuuul!“
Die beiden jungen Männer, die sich am Nebentisch angeregt mit dem auffälligen Alten unterhielten, schauten zu Emma hin.
„Das ist genug, Franziska!“ Kathi blickte streng. Sofort legte Fränzchen demonstrativ klappernd ihre Kuchengabel auf den Teller zurück.
„Ich hab keinen Hunger mehr!“, schmollte sie.
Nils rettete die Situation. „Wenn du deine Erdbeertorte aufgegessen hast, gehen wir beide raus und ich erkläre dir alles.“
Mit großen Happen verschwanden die Erdbeeren in Fränzchens Mund. Damit sich auch der Tortenboden auflöste, half Ulla unauffällig mit und suchte schnell ein anderes Thema.
„Ich habe gehört, dass hier auch eine Theatergruppe proben soll. Weißt du, welche?“, fragte sie Nils. Der zuckte die Schulter – keine Ahnung.
Franzi ließ sich ohnehin nicht ablenken.
„Doch, die unfr... die Frau hat es aber gesagt! Das Wort ....
.“ Sie formte mit ihren Lippen ein unsichtbares „schwul“
trotz des Stirnrunzelns ihrer Mutter.
Dann erklärte sie zwischen einzelnen Bissen. „Zuerst hat sie nämlich Emma beleidigt. Das kleine Fräuleinchen mit der schrillen, durchdringenden Stimme!“
Franzi verdrehte die Augen und lieferte eine perfekte Imitation der unangenehmen Alten.
„Meine Freundin und ich wollten hier ein paar ruhige Tage verbringen. Und nun diese Kinder. Besonderes das kleine Fräuleinchen mit der schrillen durchdringenden Stimme. Und dann diese ... diese Theaterleute!“
Fränzchen hatte den letzten Krümel verschluckt und zog sich im Stehen die Jacke an. Die Aufmerksamkeit des Nebentisches war ihr nun sicher.
Mit einem Blick auf ihre Mutter spielte sie laut und deutlich ihren letzten Trumpf aus:
„Und dann, Oma, als du mit Emma schon weitergegangen bist, dann hat sie noch gesagt: Und zu allem Elend noch diese schwulen Pfarrer!“
Nils zog seine Tochter schnell zum Ausgang.
Als Kathi sich entschuldigen wollte, winkten die Männer am Nebentisch schmunzelnd ab. „Wir kennen das Gerücht; es verfolgt uns schon lange.“
„Ja, eigentlich schon seit eurer Jugend“, erinnerte sich der Alte, „seit der Schule. Ich weiß, ich habe das Problem mit allen im Ethikunterricht besprochen.“ Aha, daher diese Vertrautheit. Schüler und Lehrer.
Und nicht nur das.
„Nein, wir sind keine Theatergruppe. Aber wir alle gehören dem Festkomitee zur Vorbereitung der 500-Jahr-Feier der Reformation an. Und manchmal - das stimmt - gibt´s in unserer Gruppe auch Theater!“
Die drei stellten sich vor: Ludwig Suchanek ,ehemaliger Lehrer; Marko Pape, katholischer Priester; Felix Schalbel, evangelischer Amtskollege aus Eisenach.
„Unterscheidbar vor allem an der Frisur“, feixte Felix und deutete vielsagend auf seine Lockenpracht im Gegensatz zu Markos glatten, kurzen aschblonden Haaren.
„Gut“, kommentierte KH etwas sarkastisch, „dann sind wir ja alle religionsmäßig auf bestem brüderlichen Vereinigungs-Wege; 500 Jahre nach der Reformation!“
Sehr direkt wandte Ulla sich an den alten Mann.
„Ludwig – wie Lu - Luther?“
Das war vorschnell; sie sah sofort an KHs Blick, dass er die Zeit noch nicht reif für solch eine persönliche Frage fand.
Doch der Alte hob halb amüsiert die rechte Augenbraue.
„Ach, hat sich das schon herumgesprochen? Wenn erwünscht, erkläre ich es mal irgendwann später. Bei einem guten Wein im Kaminzimmer. Wenn´s recht ist.“
Es war recht.
Ulla erinnerte sich an den sinnenfreudigen Luther. Das konnte ein netter Abend werden!
***
Aber leider nein!
Ein gemütlicher Abend sah anders aus.
Dabei hatte er viel versprechend angefangen.
Ihr Tisch im gläsernen Restaurant ermöglichte einen wundervollen Panoramablick auf die grünen Berge um sie herum.
Fränzchen hatte mit ihrem Vater vom Balkon aus die kleinen Häuschen auf den gegenüberliegenden Lichtungen im Fernglas beäugt. „Feen-Häuser! Papa, gehen wir dort morgen mal hin?“
Jetzt stießen die Erwachsenen auf den malerischen Sonnenuntergang an und genossen in Ruhe den leckeren „Gruß aus der Küche“, da Franzi mit ihrer kleinen Schwester Rundgänge durchs Hotel unternahm.
KH bedankte sich gerade für „dieses großzügige Geschenk anlässlich meines Siebzigsten“, als seine Rede durch eine aufgeregt hereinstürmende Enkeltochter unterbrochen wurde.
„Schnell, Mama, Papa, schnell! Im Hof! Die Zigeuner bedrohen gerade Luther!“
Die Gespräche an den umliegenden Tischen erstarben; Köpfe wandten sich Franzi zu.
„Wo ist Emma?“ Die Panik in Kathis Stimme war nicht zu überhören.
Fränzchens Gesicht verzog sich zu einem riesigen Vorwurf.
„Eben! Ich sagte doch: Schnell!!! Sie ist bei Luther!“
Kathi ging nicht auf diesen patzigen Ausspruch ihrer Ältesten ein, sondern rannte mit langen Schritten auf den Hof.
Der Rest der Familie folgte sofort.
In der Nähe des Tores stand groß und breitbeinig der alte Mann. Auf seinen Schultern saß Emma und beschimpfte lautstark in ihrer Kindersprache zwei dürre, dunkelhaarige Männer in abgerissener Kleidung. Mit ihrem Lieblingstier – ein brauner Grüffelo mit riesigen Zähnen – versuchte sie auf einen der Männer einzuschlagen.
Hoteltüren öffneten sich; schnell versammelten sich Menschen. Aus den Augenwinkeln sah Ulla, dass sich dicht hinter Andrea auch die beiden Pfarrer und der junge Musiker aus der Rezeptionstür drängten.
Da drohten die beiden Männer Luther mit der Faust und schrien etwas mit schwerem Akzent. Dann verschwanden sie eilig durch die Toreinfahrt und knallten die schwere Flügeltür hinter sich zu. Sofort startete draußen ein Motorrad.
Nicht einmal mehr die Rücklichter waren erkennbar, als sich die Ausgeschlossenen durch das Tor gedrängt hatten.
„Lasst“, sagte Luther mit Autorität, „lasst sie. Es sind arme Verirrte. Sie werden wieder zur Vernunft kommen.“
„Bist du sicher?“ Andreas Stimme klang dünn und ängstlich. Auch die beiden Pfarrer schüttelten zweifelnd ihre Köpfe. „Vielleicht sollten wir die Polizei informieren? Sie haben dich doch bedroht.“
Dennoch schien Luther sicher. „ Ach, von Bedrohung kann keine Rede sein. Und das kleine Mädelchen hat mich ja gut beschützt.“
Er tätschelte Emmas Bein, und diese quietschte vor Vergnügen.
Luther hob Emma von seiner Schulter und übergab sie Kathi. „Hier haben Sie Ihre mutige Kleine. Und das Festkomitee isst jetzt schnell, damit wir anschließend in Ruhe tagen können. Alles findet wie geplant statt.“
Es erhob sich kein Widerspruch. Bis auf den jungen Mann mit dem geflochtenen Bart. Spöttisch murmelte er: „Tja, unser Luther. Heldenhaft wie immer.“
Luther ignorierte ihn.
Als Ulla zwischen Vorspeise und Hauptgang mit Fränzchen „nur mal eben ein bisschen frische Luft“ schnappte, war das Hof-Tor mit einem dicken Bolzen fest verschlossen.
Hinter dem Rezeptionsfenster schien jemand ihre Bewegungen genau zu beobachten. Und auf der Mauer der oberhalb gelegenen Wartburg - so erschien es Ulla - patrouillierte eine Wache, um den von oben leicht einsehbaren Hotel-Innenhof zu kontrollieren.
Schnell betraten sie wieder das anheimelnde Hotel und setzten schweigsam ihren Rundgang fort.
Aus dem Wappensaal erklang eine Gitarre. Dann fielen mehrere Stimmen vertrauensvoll in das Kirchenlied ein.
„Ein feste Burg ist unser Gott!“
Fränzchen drängte sich fest an Ulla.
***
Der Hauptgang schmeckte vorzüglich. Der Mond beleuchtete die gegenüberliegenden Berge, und die Stimmung hob sich wieder, als KH Geschichten aus Nils´ Kindheit erzählte.
„Weißt du noch, als du und Lisa bei Oma Annedore ...“.
Zwischendrin erschien Andrea, um sich zu verabschieden.
Sie hatte ab morgen Urlaub. Emma schlief friedlich im Kinderwagen.
Als Fränzchens Eis zum Nachtisch aufgetragen wurde, tauchte diese nicht auf. Obwohl sie die strenge Auflage erhalten hatte, nicht weiter als bis zum Tresen zu gehen.
Ullas Instinkt sagte ihr, wo sie die Suche beginnen sollte.
Es zahlte sich nun aus, dass sie mittags das gesamte Hotel mehrfach mit ihrer Enkeltochter erkundet hatte.
Und richtig, auf der Treppe zum „Jungbrunnen“, dem Wellness-Bereich, der Fränzchens Interesse auf sich gezogen hatte, kam ihr eine prustende Enkelin entgegen.
„Sie haben sich geküsst!“, offenbarte sie verschämt hinter vorgehaltener Hand.
„Na und? Das ist doch ganz normal!“ Ulla war unbeeindruckt. „Papa und Mama küssen sich doch auch. Und ich und Opa. Und du ...“
„Aber!“ Fränzchens Stimme hörte sich verunsichert an und ihre sonst so fröhlichen Augen offenbarten Zweifel.
„Aber die zwei...“
Sie stoppte, als sie die Schritte ihrer Mutter hörte.
„Franziska, hör zu!“ Kathis Ton klang sehr energisch.
„Wenn du dich noch einmal unerlaubt entfernst, bleibst du nur noch an meiner Nähe. Heute und morgen. Ich möchte nicht, dass du die anderen Leute störst. Oder sogar hinter ihnen her spionierst. – Haben wir uns verstanden?“
„Ich spioniere nicht“, protestierte Fränzchen schwach.
Ulla merkte ihrem zarten, aber fest verschlossenen Gesichtchen an, dass sie nun nicht mehr preisgeben würde, was sie im Jungbrunnen gesehen hatte.
Es war auch nicht nötig.
Als Ulla einen Blick zurückwarf, kamen gerade die beiden Pfarrer aus dem Wellness-Bereich.
Kein Wunder, dass Fränzchen verunsichert war wegen eines Kusses!
***
Der freundliche Kellner hatte den Erwachsenen Kaffee und ein Verdauungsschnäpschen im geschmackvollen Kaminzimmer serviert und für die beiden Mädchen Lollis mitgebracht. Es herrschte himmlische Ruhe.
Emma schlief noch immer und Franzi hatte bei dreifachem Ehrenwort die Erlaubnis erhalten, dass sie noch ein bisschen von der Empore über dem Wappensaal die Arbeit des Festkomitees verfolgen dürfte.
Andrea, die doch noch nicht nach Hause gefahren war, hatte versprochen sie im Auge zu behalten.
Aber in die Planungen der Erwachsenen für den morgigen Tag platzte Franzi hinein.
„Jetzt zanken sie. Wegen der Heiligen Elisabeth. Kannst du mitkommen, Oma?“
Natürlich konnte Oma das – gerne.
Ulla genoss den Blick von der Empore in den großen Wappensaal. „Schau, Fränzchen, diese hübschen Wandmalereien. Wie zu Zeiten der Ritter. Und dort der Heilige Georg, der den Drachen tötet.“
Franzi zeigte sich nicht interessiert.
„Das weiß ich schon alles. Aber warum zanken sie wegen Elisabeth?“
Das konnte Ulla nicht erklären. Noch nicht, jedenfalls.
Sie nahm allerdings eine gewisse Spannung im Saal wahr.
Ein giftiger Unterton hatte sich in die Auseinandersetzung eingeschlichen, die vorrangig zwischen Luther und dem jungen Musiker mit dem langen geflochtenen Kinnbart geführt wurde, dessen Stimme süffisant klang: „Wenn ihr unbedingt wollt, dass Andrea mitspielt, dann lasst sie doch Katharina von Bora sein. Oder eine andere entlaufene Nonne. Die sich mit einem ebenfalls entlaufenen Priester einlässt. Das würde besser passen!“
Sein meckerndes Lachen begleitete diese Anspielung, und Marko zuckte zusammen.
„Schluss jetzt!“ Luthers Stimme klang gebieterisch. „Es geht nicht darum, dass Andrea mitspielt. Obwohl ich sie gern dabei hätte.“
Täuschte Ulla sich oder tätschelte er wirklich heimlich die Hand der jungen Frau, die dicht neben ihm stand?
„Es geht darum, dass wir einen Rahmen für unser Theaterstück brauchen. Einen Ausgangspunkt sozusagen. Und der ist bei uns: Luther zweifelt die Heiligkeit Elisabeths an.
Beziehungsweise - er bezweifelt die lauteren Motive der Kirche für ihre Heiligsprechung. Schließlich wurde diese von einem der gefürchtetsten Inquisitoren der damaligen Zeit vorangetrieben. Von ihrem Beichtvater, der gleichzeitig ihr Vormund war. Der hatte nicht nur Zugriff auf ihr Vermögen, sondern er hat sie auch psychisch und physisch misshandelt. Natürlich nur, um ihre Religiosität zu fördern.“
Die Ironie der letzten Worte ließ Luther kurz sacken, dann fügte er strahlend hinzu:„ Das würde doch hervorragend zu unseren protestantischen Starrkopf und Ketzer passen!
Und es würde einen guten Rahmen für unser Luther-Stück abgeben!“
Ulla war fasziniert. Der alte Mann fasste das Unbehagen in klare Worte, das sie selbst während der Wartburg-Führung angesichts der Mosaiken im Elisabethsaal befallen hatte.
Aber dann wieder das meckernde Lachen. Thomas schien nicht überzeugt. Er klimperte demonstrativ ein paar Takte auf seiner Gitarre. Ulla meinte, Devil in Disguise zu erkennen.
„Pass nur auf, Luther, dass nicht irgendwann die Obrigkeit ihre schützende Hand von dir zieht. Wegen deiner eigenen Sturheit. Und deiner ketzerischen Gedanken. Eine Warnung hast du doch heute schon erhalten.“
Es wurde totenstill im Saal.
Doch dann ermahnte ihn der evangelische Pfarrer.
„Das ist genug, Thomas. Hüte dein lockeres Mundwerk.
Dies ist kein Spiel!“
Und Luther fügte mit Blick nach oben hinzu: „Vergib ihm, Herr, denn er weiß nicht, was er tut.“
Dabei erblickte er Fränzchen und Ulla auf der Empore und winkte fröhlich. „Wir haben Zuschauer. Also nun bitte ernsthafte Arbeit, meine Herrschaften!“
***
„Aber irgendwas ist seltsam, Kalli“, flüsterte Ulla und schmiegte sich leicht fröstelnd in den warmen Arm ihres Mannes.
Sie hatten das Licht im Zimmer gelöscht, das Fenster ihres Hotelfensters geöffnet und genossen den Blick auf die dunklen Berge, deren Konturen im Mondschein klar erkennbar waren.
„Hmm? Wieso seltsam, Liebes?“ KH hauchte einen kleinen Kuss auf ihr Ohr.
Ulla küsste kurz und abgelenkt zurück.
„Erstens diese Andrea. Wieso ist sie noch hier, obwohl sie längst frei hat? Weil sie unglücklich verheiratet ist. Doch, du musst nicht widersprechen, Kalli. Das hab ich im Gefühl. Zweitens herrscht so eine komische Atmosphäre im Festkomitee. So – so unecht. Und drittens natürlich diese Männer, die Luther bedroht haben.“
KH lächelte. „Na, Ulla-Schatz, bist du wieder im Krimi-Modus? Siehst überall Geheimnisse und Verbrechen?“ Er drückte sie liebevoll.
Dann aber fuhr er mit seiner Gegenargumentation fort:
„Es ist doch ganz natürlich, dass Andrea noch nach Dienstschluss hier anwesend ist – schließlich gehört sie dem Festkomitee an.“
Ulla sah ihn mitleidig von oben herab an mit ihrem „Männer-haben-keinen-blassen-Schimmer“-Blick.
„Klar, KH, klar. Aber warum? Warum ist eine verheiratete Frau im Festkomitee? Wer interessiert sie dort mehr als ihr eigener Mann?“
Irgendetwas knarrte unter ihnen.
Zu KHs großem Schrecken lehnte sich Ulla weit aus dem Fenster. Instinktiv zog er sie heftig zurück. Da legte sie ihm den Finger auf den Mund.
Vorsichtig und geräuschlos lotste sie ihn an ihren Fensterplatz und machte ihm Zeichen hinauszuschauen.
Er traute seinen Augen nicht. Auf der unter ihnen liegenden Terrasse des Wellness-Bereiches küsste Andrea gerade einen Mann. Einen Mann im langen Schäfermantel und mit breitem Schlapphut. Vertraut und zärtlich.
Kopfschüttelnd blickte KH seine Frau an. „Das glaub ich ni...“
„Psst“, unterbrach sie ihn. „Hast du den Schatten dort drüben an der Ecke unter den Bäumen gesehen?“
Als KH sich wieder aus dem Fenster beugte, erblickte er nur Dunkelheit. Keine Menschen, keinen Schatten.
Sie schlossen ihr Fenster vorsichtig und zogen die Vorhänge fest zu.
„Ich hab doch gesagt, Kalli“, Ulla wiederholte sich, „ dass alles so unecht war. Ich kann´s dir nicht erklären. Aber irgendwie war es unecht. Wie Theater.“
KH hütete sich seiner Frau zu widersprechen. Es würde nur endlose Diskussionen geben.
Dennoch musste Ulla erneut ihr drittes Argument aufgreifen. „Drittens die Männer. Diese finsteren Gestalten. Sie machen mir wirklich Angst.“
„Ulla“, KHs Stimme klang jetzt ernst und ein bisschen vorwurfsvoll, „du wirst doch nicht plötzlich Vorurteile gegenüber Ausländern pflegen?“
„Nein, KH. Natürlich nicht.“
Sie schwieg einen Moment. Dann fuhr sie langsam fort.
„Aber ich war am nächsten dran und hab gehört, was sie gesagt haben.“
„Was, Ulla, was denn?“
Ulla sammelte sich. Sie zwang sich regelrecht zu den Worten, die sie den ganzen Abend zu verdrängen versucht hatte.
„Der eine sagte: Hör damit endlich auf! Das ist die letzte Warnung!
Und der andere: Du bekommst keine weitere Chance!“
KH zog sie fest an sich.
Vögel, die am morgen früh singen, holt abends die Katze.
Glücklicherweise dachte Ulla nicht an dieses Sprichwort, als sie am nächsten Morgen in einen perfekten Tag erwachte.
Noch nie hatte sie von einem Badezimmerfenster einen Blick in grüne Hügel erlebt, die sich bis zum Horizont als Ketten zogen - und das unter blauem Himmel!
Unter der Dusche summte sie ein bisschen, bis ihr die unangenehmen Ereignisse des gestrigen Abends wieder einfielen.
Aber das fröhliche Geplauder am Familientisch und das leckere Frühstück hoben ihre Stimmung wieder.
Danach ließen die beiden Enkeltöchter keine Zeit mehr für Grübeleien.
Emma hatte das „Oma- mit“-Spiel entdeckt.
Mit entwaffnendem Charme stellte sie sich vor Ulla auf, die kleinen Grübchen vom Lächeln verstärkt, und zog energisch an Ullas Hand.
„Oma –mit!“ Ihre Stimme klang laut und gebieterisch, und Ulla ging mit ihr auf Tour: ins Kaminzimmer, von dort in den Hof, wo Grüffelo die kleinen Ziersträucher beschnuppern musste, ein Blick in den noch leeren Wappensaal, dann kurze Suche nach Mama im Restaurant und hinunter in die Saaauna – Emma hatte gestern ein neues Wort gelernt.
Als bei einem der Kurzbesuche bei Mama diese Ulla erlösen wollte, griff KH ein.
„Lass sie! Ulla ist nun mal eine total verrückte Oma. Und außerdem...“, er zwinkerte seiner Frau verschmitzt zu, „und außerdem kann sie so ungehindert und unverdächtig spionieren!“
Ulla grinste betont unschuldig zurück. „Spionieren – ich?
Spionieren tun nur die anderen!“
Kurz zuvor hatte sie nämlich Fränzchen erlöst, die im sonnigen Innenhof an einem Tisch von den beiden alten Frauen befragt wurde.
Franzi kaute auf etwas Bräunlichem herum und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Aber jedes Mal, wenn sie sich entfernen wollte, legte sich eine faltige Hand auf ihren Arm. Finger mit Altersflecken schwenkten eine Schokoladentafel vor ihrer Nase.
Und Franzi antwortete geduldig: „Opa KH – wie er heißt?
Karlheinrich; auf keinen Fall Karlheinz!“ Zur nachdrücklichen Verstärkung bewegte sie ihren Kopf mit jeder Namenssilbe auf und ab.
„Natürlich sind Opa und Oma verheiratet. Auch wenn sie andere Nachnamen haben. - Nein, ich hab nicht zwei Omas. Ich hab drei. Wieso denn nicht? - Warum Papa das Personal hier duzt? Weil sie alle zu seinem Hotel gehören!“
Vor Überraschung lockerten sich die Hände der alten Damen; aber bevor Fränzchen dies nutzen konnte, wurde schon die nächste Frage auf sie abgeschossen.
„Nein, die Zigeuner gestern waren nicht hinter Emma her.
Sie hatten Streit mit Luther. – Wieso mit Luther?“
Fränzchen dachte kurz nach.
Schließlich sagte sie leichthin von oben herab, und Ulla erkannte KH in ihrer Enkeltochter wieder: „Luther? Das weiß doch jeder! Luther ist ein Ketzer und Rebell! Also hat er Streit.“
Dann erblickte sie erleichtert Ulla und ihre kleine Schwester. „Hallo, Emma, hallo Oma!“
Emma stieß ein fröhliches „Fra!“ zur Begrüßung aus.
Ulla freute sich, dass es laut und durchdringend klang, und schämte sich kein bisschen wegen ihrer Schadenfreude.
***
Den nächsten Besuch in der Sauna hatte Fränzchen unter ein Motto gestellt.
„Wir erkunden jetzt die Drachenhöhle. Psst, ganz leise!“
Das hatte offenbar auch Emma verstanden.
Denn als sie vorsichtig die Tür zum Wellness-Bereich öffneten, fuhr eine Frau erschreckt aus einer hinteren Ecke auf, wo sie sich an einem Schrank zu schaffen gemacht hatte.
Es war Andrea.
„Entschuldigung“, Ulla versucht sich schnell zu fassen.
„Sorry. Wir spielen gerade Drachenhöhle.“
Andrea lachte laut auf. Schuldbewusst und künstlich, fand Ulla.
„Alles klar! Viel Spaß!“, sagte Andrea und fügte beim Hinausgehen hinzu: „Äh, ich bin noch hier ... weil ... weil gestern Abend haben wir noch lange getagt. Es war einfach zu spät. Aber ich fahr gleich.“
Damit war sie verschwunden. Was soll das denn? Ulla schüttelte sich. Eine völlig unnötige Erklärung. Will Andrea etwas verbergen?
Im Innenhof schien die Sonne warm.
Emma ließ Grüffelo schmatzend grüne Strauchblätter fressen, und Fränzchen hatte die Idee, ihm Wasser zu besorgen. In der Tür zur Rezeption stieß sie mit dem evangelischen Pfarrer zusammen.
Er entschuldigte sich bei Fränzchen überschwänglich. Ulla fiel sein freudiger, leicht entrückter Gesichtsausdruck auf.
Dieses ungewöhnliche Verhalten klärte sich für Ulla, als sie die hübsche junge Frau mit blondem Pferdeschwanz an der Rezeption erblickte, die gerade von Fränzchen wegen Wasser befragt wurde.
Ullas Frauen-Instinkte sprangen sofort an. Aha. Dem anderen Geschlecht doch nicht ganz abgeneigt.
Sie fühlte sich bestätigt, als sie Marko, den katholischen Priester allein und - so empfand sie es - unglücklich in einer abgelegenen Ecke des Innenhofes erblickte. Eifersucht. Eine klassische Dreiecksgeschichte.
Aber Fränzchen und Emma hatten kein Gespür für Dreiecksgeschichten, sondern wollten, dass Oma Grüffelo fütterte und tränkte.
Als Ulla nach getaner Arbeit wieder einen Blick in die abgelegene Hofecke warf, staunte sie. Der katholische Priester und Luther.
Sehr ernsthaft schüttelten sie sich die Hände - wie bei einem Abschied.
Der alte Mann zog den jüngeren kurz an sich heran, umarmte ihn fest. Dann schob er ihn ein wenig von sich fort und zeichnete ein kleines Kreuz auf seine Stirn. Gott schütze dich.
***
Der Mittag verlief aus Fränzchens Sicht unschön:
Kein Eis, sondern nur Bratwurst oder Pizza auf die Hand.
Keine Tobereien mit Oma, denn Emma sollte im Kinderwagen schlafen.
Zum wiederholten Mal der heilige Georg mit dem Drachen auf dem Eisenacher Marktplatz. Langweilig!
Keine Drachenhöhle unterhalb der Wartburg, denn der Zugang war für einen Kinderwagen nicht geeignet.
Schloss Wilhelmstal war kein Schloss, sondern nur eine Ruine. Oder noch schlimmer: eine abgesperrte Baumaßnahme.
Zu allem Überfluss verboten ihr Mama und Papa „Hexe“
zu sagen zu einer zahnlosen, schwarzgekleideten Frau in einem kleinen Blumengärtchen vor einem verwahrlosten Haus. Obwohl die ein fransiges schwarzes Hexenkopftuch umgehängt und Emma mit knochigen Fingern gedroht hatte, als diese eine Blüte abrupfte.
Erst als Franzi Oma zu ihrem üblichen Drachen-Spiel überreden konnte, wurde der Nachmittag gerettet.
Oma verwandelte sich in den grünen Drachen Felix und schwebte mit ihr, dem weiß-schillernden Zauberdrachen Fenja, über die Erde. Das machte viel Spaß, zumal Felix weder so weit, so hoch, so tief und erst recht nicht so farbig wie Fenja Feuer spucken konnte.
Zusammen konnten sie sogar Bauzäune überwinden. Felix war anfangs etwas unsicher, aber dann entdeckte er, dass der Zaun an einer Stelle offen stand.
Sie arbeiteten sich langsam in den alten Schlossbereich vor.
Während Fenja den Weg mit einer riesigen Feuerwolke frei spie, las Felix eine Tafel und erklärte ihr, dass genau in diesem Säulengang vor mehreren hundert Jahren die Werke des bekannten Komponisten Georg Philipp Telemann aufgeführt wurden.
Felix schlug vor, dass sie in aller Ruhe den Blick durch die Säulen auf den Teich genossen und sich ein Konzert vorstellten.
Aber Fenja hatte bereits den Feuerspei-Tiefgang eingeschaltet und war weiter geeilt.
Deshalb entdeckte sie unterhalb des wackeligen Holzstegs in einer kleinen versteckten Höhle Unerhörtes: heutige Jeans und feste Männer-Schuhe; beides völlig verdreckt und stinkend.
Naserümpfend zog sie Felix weiter, der komischerweise genauer nachschauen wollte.
Kurze Zeit später trafen sie am großen Teich den Rest der Familie wieder.
Opa, Mama und Papa sprachen von „einem verkommenen Kinderheim“, „Baracken“ und „nicht zugänglichen Bereichen“.
Emma schlief immer noch.
***
Ulla schaute auf die Uhr. 16.15 Uhr.
Sie war froh, dass Fränzchen nicht mehr maulte. Denn Nils hatte versprochen, dass sie jetzt die „Feen-Häuser“ suchen würden.
Auf einem engen, aber gut zugänglichen Waldweg wanderten sie alle in die Höhe.
Ulla und Franzi hatten den Pfad verlassen und kletterten bergan unter hellgrünen Buchen im raschelnden Laub des vergangenen Herbstes. Ab und zu brannte Fenjas Feuerwolke den Weg frei.
Dann musste Fränzchen austreten und verschwand nach einem eiligen Sprint in einem Gebüsch weiter oben am Hang. Ulla hatte Mühe, sie einzuholen.
Nachdem sie ihre Enkelin endlich erreicht hatte, rief sie in betont lockerem Ton zu den übrigen Familienmitglieder hinunter: „Hier ist alles gut! Franzi muss nur mal! Wir steigen gleich wieder ab.“
Natürlich war nicht alles gut.
Franzi hatte sich einen sehr steilen Abhang für ihren Toilettengang ausgesucht. Das von ihr gewählte Unterholz befand sich zwar in einer Senke, aber nur ein Meter davon entfernt fiel der Berg steil nach Süden ab.
Erst jetzt konnte Ulla erkennen, dass die „Feen-Häuser“
nicht am diesseitigen Berghang lagen, sondern gegenüber - getrennt durch den Steilabfall und ein winziges Sträßchen. Außerdem sahen sie von hier nicht wie verwunschene Feen-Häuschen aus, sondern wie einfache Bauernkaten.
Der kleine, aber sehr steile Abhang dazwischen wirkte gefährlich.
Ulla schaute genauer hin und meinte eine Art Spur zu entdecken. Als ob jemand hinunter gerollt wäre. Ein großer Jugendlicher. Wahrscheinlich als Scherz und Mutprobe.
Was dann kam, würde sie nie vergessen: