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Ein Roman aus Deutsch-Samoa. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.
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Seitenzahl: 475
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Der Buschhahn
Willy Seidel
Inhalt:
Willy Seidel – Biografie und Bibliografie
Der Buschhahn
Vorklang: Gerhart Ollendiek
Die Eltern
Die zweite Stimme
Vom kleinen Niklas
Der Mann mit dem Schlüssel
Erster Teil: Ein Tag aus dem Leben Grothusens
Die Matronen
»Ebbe am Nachmittag«
Das Huhn
Maggie
Der tote Hund
Heimkehr
Der Pa‘alagi
Von der Sina und vom Tulivaipupūla
Zweiter Teil: Das Geheimnis des Buschhahns
Begegnung
Ein Stück vom Anfang
Totentanz
Vom ewigen Lächeln
Das Geheimnis des Buschhahns
Die Pflanzung des Misi Kuma
Preisung der Matten von Tanumalēto
Mond in Tufu
»Uma«
Dritter Teil: Die Entlarvung des Buschhahns
Zank mit Moso
Schwerer Gang
Bruchstück eines Briefes
Botschaft durch den Regen
Das Phantom mit der Häkelspitze
Intermezzo
Beschluß eines Briefes
Die Entlarvung des Buschhahns
Nachwort
Der Buschhahn, W. Seidel
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849636074
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Willy Seidel – Biografie und Bibliografie
Schriftsteller, geboren am 15. Januar 1887 in Braunschweig, gestorben am 29. Dezember 1934 in München. Bruder der Schriftstellerin Ina Seidel und Neffe des Ingenieurs und Schriftstellers Heinrich Seidel. Mit 10 Jahren zieht Willy Seidel, nach dem Tod des Vaters, mit seiner Familie nach München. Nach dem Abitur studiert er u.a. in München und Jena und promoviert 1911 als Doktor der Philosophie. Er beginnt viel zu reisen, bald auch im offiziellen Auftrag des Auswärtigen Amtes. Als der erste Weltkrieg ausbricht weilt er auf Samoa und setzt sich von dort in die USA ab. Die Jahre dort waren nicht einfach für Seidel und er konnte erst 1919 nach Deutschland zurückkehren. Seidel starb 1934 an einem Herzanfall.
Wichtige Werke:
ØDer schöne Tag, 1908
ØAbsalom, 1911
ØDie Natur als Darstellungsmittel in den Erzählungen Theodor Storms, 1911
ØDer Garten des Schuchân, 1912
ØDer Sang der Sakîje, 1914
ØYali und sein weißes Weib, 1914
ØDer Buschhahn, 1921
ØDer neue Daniel, 1921
ØDas älteste Ding der Welt, 1923
ØDie ewige Wiederkunft, 1925
ØDer Gott im Treibhaus, 1925
ØDer Käfig, 1925
ØAlarm im Jenseits, 1927
ØSchattenpuppen, 1927
ØDer Uhrenspuk und andere Geschichten, 1928
ØLarven, 1929
ØDie magische Laterne des Herrn Zinkeisen, 1929
ØDer Himmel der Farbigen, 1930
ØJossa und die Junggesellen, 1930
ØOtto Nückel, 1930
Siehst du den grünen Schatten vor dem tiefen Blau? Der spiralige Ausläufer einer Schlingpflanze tastet dir entgegen . . .
Ihre Wurzeln haben am Rande der Lava ihr Heim; und das Endglied des Wesens, das mit prangendem Willen zum Leben Tellerblätter über toten Grund entbreitet, zittert leicht bewegt . . . Der grüne Finger pocht forschend an die schwarze Härte: – Ist es der Wind, der ihn schwanken läßt? – Nein, sein Puls ist es, sein eigener Puls . . . Siehst du nicht, wie seine Spirale sich öffnet? Wie die winzige Drohung, unendlich vervielfacht, groß und brausend wird –: Drohung des ringsum anrückenden Waldes?
O, nur noch ein paar tausend Jahre; nur noch ein paar Risse und regenmürbe Spalten; – und der Wurzeldrang des Lebens zersprengt dies harte Schrecknis zu Humus, um unzerstörbar darin zu wuchern. Und in letzter Stunde behält das Wachstum den Sieg und lächelt ob der höhnischen Verneinung des Lebens; lächelt mit unendlicher saftprangender Bejahung.
So auch pochtest du, Gerhart, mit leiser Frage an die höhnende Härte der Dinge, um sie dir zu öffnen; mit zäher Treue triebst du deine Wurzeln in Risse, die du unbeirrbar wittertest; und die Rätsel, an denen andere ächzend verzagten, öffneten sich dir und gaben dir widerwillige Fruchtbarkeit zurück. So zaubertest du Gärten aus dem Stein und legtest den Teppich von kühlen Blättern über die Teerwüste; und deine Sohle vergaß der spitzen Härte und blieb kühl und frei.
Es gibt ein Labyrinth, das endet in plötzlichen blinden Gängen oder führt statt in einfache Zirkel nach krausen Fahrten in stille Winkel, in denen man säumt und fast vergißt, daß man zum Mittelpunkt gelangen wollte . . . Je heimlicher sie werden, desto blendender, ablenkender, verwirrender sind die Wege des deutschen Herzens. Sein innerstes Kleinod, einmal entdeckt, verkündet sich mit keiner südlichen Fanfare, sondern liegt schwer darin wie formloses Gold oder ruht als tiefer Grundakkord unter lärmenden Worten, von denen das Herz nichts weiß.
Etwas Dumpfes ist darin, etwas unendlich Trächtiges und Vielfältiges, das die Brust beklemmt; etwas, das in Nacht, in Weite, in Wind verwandte Stätten findet; das gewaltig genießen und leiden kann, aber ewig unübertragbar bleibt . . . weil es selbst die sanfte Helle der Lampe auf dem Papier als grell empfindet; – weil selbst fließende Rede von Lippe oder Feder nur blasses Symbol für seine Rede ist.
Wiewohl Gerhart stets eine südliche Leichtigkeit und Heiterkeit zur Schau trug, lag tief in ihm jenes »große Ungenützte«, wie er es selbst taufte; jene ewig unzufriedene, nimmerruhende, immerfragende Sucht nach Vervollkommnung des Gemeinen; das stachelnde Bewußtsein, jede Erkenntnis sei, wenn auch eindrucksvoll, nur die Stufe zu einer größeren. – Dinge und Menschen – was sind sie wert ohne Beseelung?
Die lange Kette der Motive abwandeln, als deren Endzweige sie dastehn; nackte Formen, nackte Gesichter von innen heraus mit Dasein und Gehalt füllen –: das will das deutsche Herz.
Ein Gesicht ist nichts; – auf einmal beugt es sich über ein Buch; – starrt in die Tiefe einer spiegelnden Tischplatte: da glänzt es von Inhalt; denn aus der gleichgültigen Form wird das Gefäß eines Gedankens. Ein Mann an einer Krücke wird übersehn wie ein Baum; – setzt er sich aber und wirft die Krücke weg, um dich aufächzend anzusehn, so ist seine Geschichte da; auch die des Baumes findest du, wenn du seine Brüder wegdenkst und es ihn vor deinen Augen nach seiner unschuldigen Pflanzenvollendung drängt. Diese Gabe, die Dinge mit Sinn zu füllen, anstatt sie nur hinzunehmen, wie er sie sah, war Gerhart eigen wie eine Besessenheit; und seit er geistig mündig war, mühte er sich ab, sie zu seinem Weltbild zu verweben. Schmerzlich war diese Mühe, denn vieles trat wieder auseinander wie glänzende, sich wesensfremde Bilder, von denen jedes das andere störte. Aber er wußte: es gibt eine Verwandtschaft; diese muß aufgefunden werden, und die schreienden Mißklänge müssen in einen reichen Akkord münden, bei dessen Ton ich niedersinken werde, schluchzend vor Frieden und endlicher Erlösung.
Es ist ein leichtes, einen Zug zu besteigen und mit der Fahrkarte in der Tasche die Reisezeit zu verschlafen. Tausende tun das in jeder Minute. – Doch ein Verhängnis ist's, wenn ein Traum, in dem klirrende Ungeheuer schreien, Dampf vor gläserner Wölbungsferne sich ballt, tiefe Sprache des Eisens unter grünerhelltem Polster surrt – durch den die Stille großer Wartesäle murmelt – wieder und wieder kehrt, wie geheim gekostetes Gift mit pressendem Erwartungsschmerz des Ungewissen . . .
Weißt du noch, Gerhart, wie über einen Berg von schottischen Plaids – inmitten einer donnernden Schwärze, die dir dennoch kein Leid tat – jene lautlosen Ameisen stiegen, fett und groß von der Angst deines sechsjährigen Herzens? – Wie sie wimmelten und sich flüsternd verständigten, um dich in Bann zu schlagen? – Und wie dann, als du stöhnend emporfuhrst, die magere kräftige Hand deines Vaters vom gegenüberliegenden Polster sich löste und die bösen Kolonnen verscheuchte, gelbschimmernd unter der verdeckten Gasampel? – Das war im Riviera-Expreß zu zweiter Stunde nach Mitternacht auf einer gemeinsamen Fahrt in einen schwarzen Abgrund . . .
Diese Feierlichkeit schwankender Gänge und samtener Zimmer, die eine Fracht von Stille durch die Zeit trugen, überschattete ihn seitdem jedesmal gedämpft, wenn er die Augen schloß und auf das Schluchzen einer Maschine horchte, die als Puls in einer heimlichen Welt wirkte und seinen Umkreis erschütterte – sei es in einer Kabine auf einem Dampfer, wo ein weites Sieden vor der Luke herrschte und er sich im Takt der dumpfen Pleuelstangen niedergelassen fühlte, ruckweise und ohne Widerstand zum Schoß der Erde; – oder sei es in einem Badegemach, wo geheimnisvolle fernabdröhnende Klänge in den Röhren erwachten und sein Knabenhirn ihm eine Stadt vorspiegelte mit Metallmauern und Sälen von maßloser Höhe; und er durcheilte diese Säle und suchte ein tiefbefreundetes Wesen, das einen Namen aus dunklen Vokalen trug . . .
Ja; die Beklemmungen aus der Zeit der Ameisen unter der Ampel blieben ihm treu, wenn sein Körper auch reifte und sein Sinn sich helläugig entwickelte. Noch trat ein kurzer lächerlicher Schreck an sein Herz, wenn er in einem Turmhaus in New York den Aufzug betrat; wenn in der Untergrundbahn farbige Signale vorüberschwirrten; wenn Hafenlichter mit weitflimmerndem Griff ihn hereinzogen nach Malaga oder Santiago; oder wenn er große Bahnhöfe der Neuen Welt zu später Stunde betrat.
Solches Gefühl glich einem dumpfen Sträuben; einem Bedürfnis zu bleiben, wo er war; in Ruhe gelassen zu werden, und sich nach einer wirren Flucht wechselnder Breitengrade im Anschaun von etwas Geliebtem zu bescheiden.
Ein Heim kannte der Knabe nur für Monate. Meistens war es eine Hotelzimmerflucht mit fremden Stimmen und dem Kommen und Gehen von Kellnern; Kellnern aller Völker; melancholisch-tückischen oder heiteren, die zum Leben zu gehören schienen wie unaustilgbare Schatten. Die Eltern waren beständig auf der Reise, und das gehörte sich so. Sechsmal haben wir die Fahrt von London nach Chile gemacht; das bedeutet, wir haben länger als ein Lebensjahr das Parkett des Promenadendecks für die Welt erklärt und Intimitäten von den buntesten Leuten entgegengenommen. Es gab ja außer den Hotels noch viel, was man nebenher erlebte; auf Tennisplätzen unter Buchen und unter Palmen; mit steifen blonden Kindern und weichen südlichen –: kurze Freundschaften, deren Duft noch lange über den Zaun drang, mit dem man die Stationen dieses exklusiven Zigeunerlebens umgab . . .
Wenn es doch immer so geblieben wäre wie in der seligen frühsten Zeit, als der Vater das geschenkte Gut in Thüringen ohne Glück betrieb; als man noch mit Dolores, der Schwester, die Wissenschaft teilte, daß die zwei schwarzen Hühner draußen nachts ein Doppelleben führten: Juan in der Sonne und Kleinhuhn im Monde! – Als Sir Austen Cholmondeley von Brighton herüberkam und sich im Schwarm der Gäste neben dem Großvater aus Köln noch öfters Donna Carolina zeigte! – Wollte Gott, man wäre auch fernerhin unter der schläfrigen Zucht zweier Kinderfrauen friedlich weitergediehn wie eine Pflanze; – mit dem Blick auf Kornfelder zwischen den mächtigen Buchenkronen der weiten Einfahrt hindurch!
Aber es kam anders, dank dem Blut der Donna Carolina Velez. Sie gab ihrem Sohn die grünen Augen mit . . . Heinrich Ollendiek-Velez hatte eine Unabhängigkeit, die undeutsch war, und jene stille pantherähnliche Energie, die unter seiner ruhigen Haltung verborgen lag wie ein Degen in samtener Scheide.
Sohn eines rheinländischen Kaufmanns und jener Dame von Santiago, vereinigte er bestes Blut beider Rassen; zu seinem deutschen Humor kam eine leidenschaftliche Abneigung gegen Seßhaftigkeit, gegen kleine Ziele und Freuden engen Kreises; so gab es eine wunderliche Mischung . . . Entfernungen gab es nicht für ihn; seine Sprachbeherrschung ließ ihn überall zu Hause sein. Ein plattdeutsches Wort traf ihn mit der gleichen Schärfe wie die Rufe der »Rottos« in der Morgenfrühe, wenn sie ihre Esel nach der Plaza trieben . . . Er verstand mit seltener Hellhörigkeit die Komik des Einfachen so gut wie ein feines Witzwort in Kastilianisch. Selbst in Zeiten, wo er verhältnismäßig mittellos war, trug er solchen Zustand mit der Miene eines Grande, der sich zum Scherz in ein Poncho hüllt, das doch weder seinen geraden Rücken noch seinen Gang verbergen kann.
Sein kurzgehaltener Kinnbart war etwas, wovor die Friseure aller Zonen zitterten; denn ein Millimeter daran, falsch geschnitten, trug ihnen einen grünen Blick ein, der auf eine unheimliche Weise ihren ganzen Beruf in Frage stellte. Seine Stiefel kaufte er nie fertig, sondern ein bestimmter Schuster in einer bestimmten Straße in London stellte sie ihm nach peniblen Angaben her und sandte sie ihm nach, wo er sich auch befand. Für seine Kragen, seine Leibwäsche beanspruchte er nie das betreffende Gewerbe, sondern Spezialisten; so daß er auch in lang getragenen Anzügen immer eine distinguierte Erscheinung bot . . . Diese Sorgfalt in Kleinigkeiten trieb er bis zum Fanatismus; trieb sie wie eine Religion. Auch in großen Dingen verstand er zu rechnen, ohne je einer Spekulation zu erliegen.
Ein Pfau, dessen törichtes Geschrei ihn dreimal gestört hatte, ärgerte ihn, als er Buch über jenes wenig einträgliche Gut führte, das er aus Pietät für seinen Vater betrieb; er nahm seinen Revolver und erschoß ihn durch die Fensterscheibe. Einen zudringlichen Reisenden warf er wie ein Bündel über die Gartenmauer. Den Besitzer eines Frankfurter Hotels, der sich gegen Donna Carolina unehrerbietig betrug, stieß er die Treppe hinunter; dieser, ein Tyrann, statt nach deutscher Gepflogenheit die Polizei zu beanspruchen, kam wieder herauf und entschuldigte sich. Er tat Dinge mit einer Schnelligkeit und Grandezza, gegen die das dickere Geblüt sich sträubte, der es aber rätselhaft unterlag . . .
Er hatte Geld in der Banco de Santiago. Als deren Direktoren sich zu den Einlagen der Teilnehmer verhelfen wollten, warf er die chilenischen Herren heraus – fette angesehene Bürger mit Namen wie Balladenstrophen – und übernahm selbst die Bank. Man versuchte, als er nach dem Landgute in Placilla zu seinen Verwandten ritt, ihn hinter Kakteen hervor anzuschießen; ein Priester kam und warnte ihn. Überallhin folgte ihm eine unerklärliche Sympathie, die alle Anschläge, allen Haß überdauerte. Dieser Mann besaß die Stärke einer Stahlfeder. Auch später von seinem eindringlichen Empfinden gebeugt, dem Erbteil Gerharts, dem »Ungenützten« – der Schwermut, die sich wie ein Rost an den Stahl setzte – er gab nicht nach; man sah es ihm nicht an . . .
Das war dein Vater, Gerhart, dem der Präsident Don Fernando Alamos einen Extrazug anbot, nach dem dürren Iquique zur »Emma Luisa«, der Salpetermine; das war dein Vater, dem derselbe Präsident seine Privatjacht schickte, »der Abwechslung halber«, um ihn nach Valparaiso zurückzuschaffen . . . Das war dein Vater, der sich sechsmal mit kalter Tapferkeit operieren ließ, sich sechsmal wieder aufrichtete, wie eine Spirale, deren Stemmkraft auch Tonnenlasten nicht erdrücken können, und der um einen Stuhl kämpfte, um aufrecht zu sterben . . . Und was waren seine letzten Worte? – »Ruft sie mir nicht, Kinder; macht keine Szene daraus . . . Sie leidet an Kopfweh.«
Wer war diese »sie«? Wann sah man sie überhaupt?
In der Tat, man sah sie nie; und doch war sie auf eine unerklärliche Weise mit seinem schnellen und aktiven Leben verkettet, schob sich stets dahinter, auf lautlosen Rollen gleitend, wie eine Kulisse von Grau, hinter der es nach Medikamenten duftete. Sie war immer zugegen und doch selten sichtbar, wie der Ahnenschrein eines reisenden Japaners.
Daß sie existierte, kam den Kindern dann und wann ins Bewußtsein, wenn man eine dämmrige Zimmerflucht in einem Hotel oder einem dunklen englischen Privathaus vor ihnen auftat und sie über zwei kahle Schwellen schritten, wie über Vorhöfe zum Allerheiligsten; ganz hinten gab es dann ein Arrangement von Kissen, zwischen denen sich etwas Blondes, Weißes mit dunklen Augen regte – und sanftes Deutsch mit ihnen sprach, seltsam durchsetzt mit spanischen Kosenamen. Es waren kurze Interviews, und sie endeten gewöhnlich damit, daß einige Anordnungen wegen der Lichtverteilung fielen oder eine klagende Suche nach einer verlegten Patience-Karte anhob.
Ein anderer Beweis für die Existenz dieser Begleiterscheinung war die Tatsache, daß Gesetze und Verbote, ihr Kinderleben regelnd, dick in der Luft lagen, ohne daß der Vater etwas damit zu tun hatte. Später, als man in Santiago wohnte, geschah es ungemein häufig, daß der Vater sich für die Stunden, während der man ihn früher in der Bank gewähnt, in jene abgeblendete Atmosphäre begab; und man erkannte, daß man ihm und einer langen Reihe anderer Leute – von dem stets vorhandenen Doktor an, dem ewigen Verwalter jener mysteriösen Räume, bis zu Carmen, der alten Pflegefrau – lange Unterhaltungen gönnte.
Allmählich begriff man: all der schweigsame Aufwand, der neben ihrem Leben herlief, abgegrenzt und schallsicher von ihnen getrennt, war die Mutter.
Der Vater führte ein Doppelleben . . . »Mutter«: was bedeutete das? – – – Umsturz des Bestehenden, grübelnde Eifersucht auf etwas Unberechtigtes, was ihnen die Hälfte des Vaters raubte . . .
Die Großmutter, Donna Velez, war zwar auch ein Alpdruck, aber sie hatte Fleisch und Bein. Ja, sie gewann eine gewisse prickelnde Unheimlichkeit, als sie eines Tages darauf verfiel, ihre Kinder ihre »sieben Todsünden« zu nennen; und da der Konvent sie nicht aufnahm, machte sie aus ihrem Haus ein Privatkloster, worin sie jedoch fortfuhr, unter ihrem härenen Nonnenhemd täglich die seidene Wäsche zu wechseln . . . Als sie starb, saßen zwei Jesuitenpater wie brütende Geier über sie gebeugt; und sie hatten, als die alte Dame mit einigem Lärm gestorben war, als Beute fast all ihre Hinterlassenschaft erschnappt . . . Ja, diese spanische Matrone verursachte Aufruhr, und ihre Launen waren menschlich faßbar; ihre Tyrannei schlug Beulen; während die jener jüngeren Frau ganz anders geartet war: sie bedrückte moralisch. Denn da gab es ein Ablehnen aller Lebenspflichten, einen naiven Egoismus, der etwas ungeheuerlich Zwingendes hatte, wohin er seine sanften Finger legte . . . Der Vater sah das nicht. Er fand es vollkommen in der Ordnung. – – – »Stört sie nicht,« sprach er, als er starb; »sie hat Kopfweh.«
Im oberen Zimmer vielleicht, nach dem ersten taumelnden Schreck vor dem schwarzen Loch, das man ihr vorsichtig aufdeckte, setzte sie sich mit matter Hand eine Märtyrerkrone auf das Haupt; und darunter erwachte der Gedanke: »Wie dankbar bin ich dir, Enrique, wie dankbar, daß du mir dies erspartest . . .«
Darin war er konsequent. Er ersparte ihr alles . . . Andere Leute handelten in seinem Geiste.
Selbst ein Erdbeben meinte es gut mit ihr in Placilla, als die Marmorplatten in der Halle auf die Wanderschaft gingen und ein mächtiger Eukalyptusbaum am hellen Mittag den Einfall hatte, sich auf das Dach zu begeben . . . In ihrem Zimmer fiel nicht einmal eine Arzneiflasche auf den Boden.
Und so lebte sie weiter, beschäftigte sich damit, in regelmäßigen Abständen auf die Uhr zu sehn . . . Die Tage gingen vorüber, eindruckslos mit dem Geknarr von Fensterjalousien; mit dem Kommen und Gehen des »Mosso«, der das Zimmer in Ordnung hielt; mit Audienzen, die sie der zahlreichen chilenischen Dienerschaft gewährte, und dem Beichtvater, der das blasse Gespenst einer noch blässeren Gedankensünde mit leisem Lächeln von hinnen bannte, um ihr dann die letzten Neuigkeiten vom Asphalt der Plaza auf die passendste Art zu hinterbringen . . . Er wußte Skandale; doch hatte er sie präpariert wie Falter unter dem Glas; und selbst herb Aktuelles hatte bei ihm jene sanfte Lichtbrechung, die es historisch und gleichsam entschuldbar macht. Was sich mit Donna Errasurez oder mit Alfonso La-Rein-Claro begeben, selbst wenn es erst Tage alt war, hätte ebensogut die Sanktion von Monaten oder Jahren haben können.
Würde darum – so fragte sich der philosophische Priester – jene Fensterjalousie nicht genau dasselbe zeitlose Knarzen und Singen vollführen?
Endlich, nach gewaltsamem Kampf mit dem Entschluß, bereitete die Mutter eine Reise vor und zog nach Weimar; der Kinder wegen, deren Alter eine bessere Erziehung heischte. Dort erwarb sie ein solid gebautes Ziegelhaus mit einer hochgetürmten Mauer um den Garten und lebte im allgemeinen dasselbe Leben weiter . . . Man achtete das; man ersparte ihr Katastrophen. Zudem bezahlte sie gut dafür, daß man ihr mit Rücksicht alles abblendete, was Augen- und Sinnenschmerz bereiten konnte. Sie nährte sich von Teilnahme; sie bezahlte für Bedauern wie für guten Wein; und das konnte sie sich gestatten.
Denn ein Punkt, in dem sie der Welt nie entfremdet ward, blieb die Verwaltung der Geldinteressen; und die tägliche Morgenbeschäftigung mit den Kursen zahlreicher Papiere blieb bei ihr bestehn als eine äußerst rege Passion.
Gerhart war damals vierzehn Jahre alt. Er wurde in einer Privatschule auf dem Land in der Nähe von Heidelberg untergebracht; und da dies ein Leben war, das an Beständigkeit und Regelmäßigkeit von allen Zuständen, die er bis jetzt gekannt, einem Heime am ähnlichsten sah, so fühlte er sich zum ersten Male wunschlos. Nach englischem Vorbild wurden ihm genug körperliche Erholungen gegönnt, so daß er mit gesunder Müdigkeit und einem dumpfen Frieden im Hirn die Nächte verbrachte.
Zuweilen jedoch legten sich die Eindrücke jüngerer Jahre auf seine gepreßte Brust. Von diesem Haufen farbiger Phantome lösten sich einzelne, sanft leuchtend, und besprachen sich mit ihm in fremden und bestrickenden Zungen.
Sie führten ihn durch lange Gänge, durch ein Labyrinth matterhellter Räume, oder durch Riesensäle, in denen ein immerwährendes Dröhnen herrschte. Eines Nachts – und nie konnte er es später vergessen – ging er durch die Korridore eines gewaltigen Passagierschiffes, langgestreckte grüne Läufer entlang, deren Ende sich in Dunkelheit verlor; – und er konnte seine Kabine nicht finden. Kein Steward zeigte sich; keine Menschenseele nahm sich seiner an; und doch wußte er: es gab diese Kabine; der Vater saß darin, mischte seinen Scotch mit Soda, stopfte seine Pfeife und erwartete ihn.
Auf einmal geriet er an ein rundes niedriges Gitter: da sah er unter sich einen Kerker voll gleißender Schlangen, eine röchelnde Kluft voll träg blitzender, rhythmisch bewegter Tonnenlasten; Stahlglieder, die sich durcheinanderschoben mit stiller mörderischer Wucht.
Dumpf schütternd pochte das Urherz. Er starrte hinab; dann riß es ihn zurück: er war allein. Sein Schrei verlor sich, von den Pleuelstangen wie zermalmt. Gefühl ungeheurer Einsamkeit ergriff ihn; schon wollte er sich ratlos gleiten lassen, in das blitzende Chaos hinein – da sah er den Vater plötzlich fern, fern mit ruhigem Schritt den Gang durchqueren, ihm winken und in einer der Hunderte von Türen verschwinden. Er stürzte ihm nach; unzählige Wandspiegel narrten ihn. Endlich hörte er leises Pochen; hier war es: hier klopfte der Vater seine Pfeife aus. Er öffnete die Tür – doch wohin geriet er? – Auf den Balkon seines Hauses in Santiago!
Der Duft erhitzten Asphalts wehte von der Plaza in die Calle-del-Estado. Er starrte durch das gebauchte Prunkgitter hinab; das einzige, was ihn fast wunderte, war der Mangel an Lärm; die seltsame Stille, mit der da unten auf dem holprigen Pflaster die Rottos ihre Maultiere vorübertrieben und die Mädchen, ganz in ihre seidenen Mantos gewickelt, sich mit den hellgekleideten Bankangestellten trafen und Arm in Arm entfernten.
Dort an der Ecke warf ein Kerl auf einem hohen schwarzen Gaul sein Lasso nach zwei zusammenbrechenden Trambahnpferden und zerrte sie mit Gewalt in die Höhe . . . Der schneidende Schrei des einen war wie das Knattern einer hohen rot aufblitzenden Flagge.
Auf einmal bog ein Mann um die Ecke und ging unter dem Balkon hindurch. Er hob den Kopf mit ruckweiser Bewegung und sah herauf. Die breite Hutkrempe gab große graugrüne Augen frei: es war der Vater.
»Ich kann nicht heraufkommen, mein Sohn,« sagten diese Augen. »Aber ich bin noch da, wie du siehst; ich bin noch da.« – Er trug einen Anzug aus makellos weißem Linnen und hielt sich sehr gerade. Dann verschwand er als weißes Pünktchen, das noch lange sichtbar blieb, über die Plaza . . .
Gerhart erwachte mit der Überzeugung, daß der Vater nicht tot sei, sondern irgendwo auf der Welt noch ein halbverstecktes Leben führe. »Er ist nicht tot« dachte er; »er besucht mich, wann er will.«
Eine schwere Gewißheit erfaßte ihn, für immer unter der Kontrolle des geliebten Mannes zu stehn; ein traumhaftes Verantwortungsgefühl vor jenem Fernen. Und diese Träume wurden eindringlicher mit den Jahren; – wie sein äußeres Leben sich auch wandelte: die Schauplätze dort, tief innen, blieben bestehn und glühten von geheimem Leben. In seinen Träumen, noch lange hernach, kam er sich nie gealtert vor: blond, rein, voll inniger Knabenunterwürfigkeit unter das stärkere Leben, dem er entsprungen war.
Er hatte die bräunliche Blässe von Kindern, die auf tropischem Grund erwuchsen; vielleicht war es auch das spanische Blut, das ihn so färbte; denn bis auf die zarten Schatten unter den graugrünen Augen, die er nie verlor, und die fast schwarzen Wimpern und Brauen hatte sein Gesicht durchaus den herzförmigen deutschen Schnitt. Er war schlank, doch sehr muskulös, weshalb auch Krankheiten, die anderen gefährlich wurden, nur einen kurzen glühenden Atem über ihn hauchten und ihn gleichsam aus der Feuerprobe gehärtet entließen. Seine Blutmischung schien ihn immun zu machen. Seine Phantasie, verbunden mit steter Rastlosigkeit, stetem Hunger nach Neuem, gab der schwerfälligen Fassungsgabe der Lehrer manch unliebsam ablenkendes Rätsel auf. Sie hatten ihr »festgestecktes Erziehungsziel«; dem folgten sie mit der Treue großer Doggen.
Dichtwerke zogen ihn mächtig an; besonders jene, deren Handlung nur Schale ist; deren Worte jenen volleren zweiten Sinn bergen, den das harmlose Hirn des Durchschnittslesers nicht erfaßt. Ein Wort, wie es dastand, sagte ihm nichts; aber seine Symbolik im Satz; der innere Rhythmus; leuchtender Erkenntnisvorgang, der sich des Gestammels, des Wortes bedient; die innere Wahrscheinlichkeit, die das Wort zum blutvollen Bilde macht und deshalb wiedergeträumt vom Leser: – das waren Dinge, die ihm auch in akademischer Vers- und Prosadürre einen unfaßbaren, unheimlichen Genuß verschafften. Andere sahen nur die Gesten der Buchgestalt; er war die Buchgestalt selbst.
Don Quichote und Simplicius – sie waren nur zwei von den vielen Rollen, in denen Gerhart sich heimisch fühlte: er selbst war es, der einen bestrickenden Traum hindurch tausend Abenteuer des Herzens erfuhr; in seiner Brust saßen die Urbilder dieser Rassetypen.
Da ihm kein Gefühl zu exzentrisch schien, wenn nur innerlich wahr, erfaßte er gerade die absurden Gestalten mit Humor; denn je absurder sie waren, desto tiefer betonten sie die Möglichkeiten der Durchschnitts-Menschlichkeit. Was aus dem Rahmen der Alltäglichkeit fiel, schien ihm das einzig Bemerkenswerte. Das Extreme, scheinbar Sinnlose war ihm erst recht ein Beweis für die Schöpferkraft des Herzens und tief sinnvoll gerade deshalb, weil es die einfache Form dadurch, daß es sie wuchernd verzerrte, hervorhob und unvergeßlich machte.
Daß Gerhart das Klima fast jeden Buches, das er las, nachtwandlerisch sicher erfaßte, fiel neben seinen Kameraden auch den Lehrern auf, deren Horizont nicht über das engere deutsche Wesen hinausgedieh und die ihren Begriff vom Ausland und von andersgearteten Rassen an Photographien und Zeitungsausschnitten wie einen spärlichen Zimmerkaktus züchteten. Mit Statistiken, die man hatte – so dachten sie – erschöpfte sich die Notwendigkeit tieferer Betrachtung. Im großen ganzen sei sich die Menschheit gleich; dessen waren sie ziemlich sicher.
Brach nun an der Zimmerpflanze, wo man es gar nicht vermutete, eine ganz unwahrscheinliche rote Blüte hervor, so akzeptierte man zwar das ausländische Benehmen des Gewächses, aber man war verblüfft und brauchte einige Zeit, bis man sich nach deutscher Art durch eine neue »Feststellung« beruhigte. So erklärte man sich auch den Fall »Gerhart« als das Ergebnis seiner Blutmischung und durch die Annahme, daß ihm von seinen Reisen als jungem Knaben Verschiedenes im Unterbewußtsein hängen geblieben sei. Dies traf zu; doch in viel tieferem Sinne, als sie glaubten. Das ruhige Benehmen Gerharts, seine blonde rundköpfige Gründlichkeit ließ sie zuweilen ganz vergessen, daß fremde Stimmen in ihm sprachen; er schien ihnen durchaus deutsch unter den Händen zu geraten; ja, das ahnten sie nicht, wie diese Seele schillerte!
Hatte er sich etwa sichtbar je gebäumt, wenn sie ihre trockenen Zeigefinger in sein Gemüt bohrten? Bewahre; sie konnten sich doch auf ihre scharfen Augengläser verlassen!
Oder fühlte er sich etwa hier nicht ganz am Platze? – Aber durchaus; wenn ihre Psychologie auch nur das Geringste taugen sollte! –
Es ist gut; der Knabe hat Phantasie, dachten sie. Aber was an uns liegt, so werden wir einen Kern-Germanen aus ihm machen, auf daß er die »Selbstzucht« besitze, um die Ventile jener übrigens dankenswerten (dem Idealen förderlichen) Eigenschaft »Phantasie« stets unter Gegendruck zu halten. Er ist sich der fremden Tropfen selbst wohl kaum bewußt. Der Vater ist tot, der ihm offenbar – als zweideutiges Erbteil – einen unabhängigen Charakter vermacht. Mit der Mutter verband ihn, nach der Laxheit der Korrespondenz zu schließen, kein sehr vertrauensvolles Verhältnis. – Welch ein Experiment! Welch ein Feld der Betätigung!
Es hätte jedoch nicht des Unbehagens bedurft, das ihm das rege Wohlwollen seiner Erzieher bereitete, um Gerhart auf sich selbst zu lenken. Diese Bekanntschaft vollzog sich auf eigenartige Weise.
Hier stehe ich in meinem »Vaterlande«, dachte er und sah sich im Spiegel einer Schrankscheibe an. Seine graugrünen Augen prüften den dort, der in nüchterner Blondheit und blaß am Pulte lehnte. Ich, Gerhart Ollendiek – war ich denn je anderswo heimisch als hier, in diesem sanften Lande mit Kirchtürmen über Kornfeldern, wo jeder Stein sich erinnert, was ihm seine Form gab; und jeder Buche einzelner Jahresring von einer Sage trächtig ist? – Ob ich nach einer kleinen Stadt des Schwarzwalds gehöre, – ob nach dem Süden oder nach dem Norden, das bleibt mir noch vorbehalten; aber Deutschland, das muß es sein . . . Absurd, der Gedanke, ich könne je etwas anderes sein als deutsch; bin ich nicht ganz und gar einer von diesen hier, rede, denke und benehme ich mich nicht genau wie sie?
Ein gütiges Gesicht, geneigt auf eine strenggeknüpfte Halsbinde zwischen den braunseidnen Aufschlägen eines Beamtenrocks, überschattete ihn: – die geistige Hoheit jenes Größten, den die Rasse, der Gerhart sich eingliederte, als lauterstes Gefäß ihrer Tiefe und Vielfalt erzeugt. Diesen Augen konnte man sich anvertraun; dieser gereiften Weisheit mit all ihren liebenswürdigen Eitelkeiten und der fürstlichen Selbstverschwendung, die nie wankte, weil sie auf dem Fundament der treuesten aller Erden stand.
Denn, auch wenn die Wucht der Erkenntnisse durch keinen Humor gelindert ist: welche Größe im Zusammenbruch unter dem Mühlstein bei Hebbel, bei Kleist! – Und dagegen das Schauspiel Rousseaus, der seinen Mangel an Humor durch unendliches Geschwätz, durch ermüdendes Zermeißeln dieser Last ersetzen muß, während er unter einem hohlen Flitterkragen selbstgefällig altert . . .
Ja, nur der Humor ist es, der eine Erkenntnis vollkommen reinigt.
Die Argumente Gerharts sahen zwar kindlicher aus; aber das war der Inhalt. Sein Vater hatte einmal gesagt, er könne nur mit Leuten verkehren, die eine gewisse ›‹ besaßen; den Deutschen fehle diese Eigenschaft; nur bei ihren Diplomaten finde man sie bisweilen. Die deutsche Gemütstiefe sei etwas, über das man stets unliebsam stolpere. Bester Beweis für ihren Mangel an ›‹ sei, daß sie nicht einmal ein Wort dafür hätten. »Eure Mutter« – sagte er einmal, ganz vergessend, daß er mit jungen Kindern sprach – »seht sie euch an. Sie ist herrlich ›‹! Werdet wie sie; dann habt ihr's gut!« Er hatte einen Seufzer hinterhergeschickt, der gar nicht zu der munteren Bemerkung paßte; doch Gerhart und Dolores hatten sich den Ausdruck gemerkt und ihn im allgemeinen angewandt, um ihren Beifall an Menschen auszudrücken . . .
»Bin ich ›‹?« – fragte sich Gerhart. »Bitte, bin ich . . .? Ich will nicht, daß man über mich stolpert.«
Sei ruhig, sagte der Spiegel, du bist es zur Genüge. Schon dadurch, daß du die leise Lächerlichkeit an den Schicksalen der Plumpen empfindest. Du bist kein schwerfälliger Gemütsriese, der im Stacheldraht des Alltags verblutet. Deine Nase hat nicht umsonst die feine Biegung, dein Körper nicht umsonst diese gespannte Geschmeidigkeit. Du bist bestes Blut; deine Heimat ist hier; wachse hier auf; gedeihe hier; zeige den Leuten, wessen deutsche Talente fähig sind, wenn man sie nicht nach Tabellen ausnützt, nicht nach berechnetem Ertrag wie eine Mine, sondern wenn man sie mit Humor und mit Kenntnis der Herzen verwaltet!
Das Ende seiner Schuljahre näherte sich, als Gerhart – war es in Hamburg? – die Vorstellung einer großen wandernden Varieté-Truppe besuchte. Hier geschah es, daß er den kleinen Niklas traf.
Der junge Artist reckte seinen schwarzgelockten schmalen Kopf über die Logenbrüstung, dehnte seine mit einem Schuppenpanzer bedeckten Glieder und schlug die kindlichen Arme über den Sammet. Gerhart bot ihm ein Glas Sodawasser an und beobachtete, wie die gepuderte Kehle beim Trinken auf- und niederstieg – dann machte der Junge verschmitzte Augen, um seinen Dank auszudrücken; sagte etwas Heiseres, Rauhes in nasalem Englisch und lächelte, wobei er schlechtgepflegte Zähne zeigte. Kümmert sich je ein Held um seine Zähne?
Er ließ sich halb zurückgleiten . . .
Ein Schimmer von der Bühne kroch kalkblau herüber, rückte über die reihenweis zerteilte Menge, deren Geräusch wie das einer großen schweratmenden Bestie in den Raum trat und ließ den kleinen Niklas für einen Moment ganz sichtbar werden. Halb stehend, die Füße auf kleine Stützpunkte im Ornament gebettet, hing er mit schlangenhaft gebogenem Kreuz und gewölbtem Brustkorb silbern unterhalb der Loge. Neben ihm gähnte die schwarze Tür der Artistengarderobe.
Wie er so sein Gesicht beugte und ein seltsam altes Lächeln an seinen Lippen stand, bemerkte Gerhart, daß er auffallend kleine Ohren hatte: runde Mausohren, die rötlich schimmerten. Seine Augen glichen Löchern; sie blinkten schwarz und verengt durch langwimprige Lider – und die Brauen, hochgezogen, gaben ihm den Ausdruck eines dauernden Erstaunens. – So, als sei es gar nicht wahr, daß er hier sei . . . Als grübele er, woher doch das kalkblaue Licht stammen könne, das ihn streifte; als sei er eigentlich nur in einer einzigen Rolle heimisch, die er, kaum wußte er, wann – gespielt –: weitab von Signalpfeifen und schattenlosen Kulissen; nicht in der Rolle eines abgehetzten Artisten, sondern in der eines bunten Tanzknaben, – voll von der Inbrunst des Ritus, irgendwo in der Nähe von Java, in der Nachbarschaft eines erhitzten Meeres . . .
Und dann verschwand er und tauchte in die Tür, völlig lautlos.
Die Lichtgeschehnisse wickelten sich weiter ab: verschiedene Farben überschwemmten die Bühne. Ein Rot hielt sich plötzlich und füllte die fernsten Winkel des Raumes mit Blutgerinnsel. Drüben stiegen, wie eine leichte Fontäne, leuchtende Reifen empor, und ein kleiner Arm, der sich wie ein Uhrwerk rührte, erhielt den strömenden Kreis. Hölzernes Händeklatschen erhob sich, und der Vorhang schoß herab . . . Während er fiel, entstand das nackte und grelle Pausenlicht.
Gerhart rief den Kellner und ließ dem kleinen Niklas ein Glas Portwein in die Garderobe schicken.
»Nun hat er Angst,« dachte er, »wie eine kleine silberne Schlange, die man zum Scherz in eine Kiste sperrt . . .«
Es ward wiederum halbdunkel, und der Lärm verebbte. Ein kleiner trotziger Schrei kam aus der Kulisse; dann folgte der kleine Niklas. Er spazierte auf den Händen herein. Er war wie ein zappelnder Ball von Silber; er schnellte sich durch zwei papierverklebte Reifen, die rechts und links von unbeweglich hingepflanzten grotesken Clowns gehalten wurden.
Es gab ein krachendes Geräusch wie von berstender Seide; die Reifen rollten hinaus. Der kleine Niklas stand auf einem exponierten Holzgestell; frei und federleicht. Er bog die Knie – und während ein langer Trommelwirbel das Orchester erschütterte, stieß er sich ab, überschlug sich zweimal und hing an einem kaum sichtbaren Seil.
Vom Anprall seiner treffsicheren gepuderten Handteller bäumte es sich; in weiten Pendelschwingungen fuhr es auf und nieder . . .
Doch der Springer wiegte sich wie ein Fabelwesen; wie ein Falter über der Schlucht des Todes –: Tyrann des Raumes, den er mühelos zu meistern schien! – Den Kopf reckte er nach der Sonne: der Bogenflamme unter der Höhe des Bühnendachs, die ihre leise siedenden Fixsternhymnen sang.
Das Publikum lag im Bann. Nur mühsamer Atem bewegte die Tiefe.
Endlich, sieh: – lief jener wie ein leuchtendes Wiesel die Leiter herab; löste die schwindelnde Spannung; glitt aus seiner entrückten Region auf das zurück, was ihm gesicherter Boden, was ihm Erde und Welt war . . .
Woran lag es nun, daß Gerhart den kleinen Niklas in der Folgezeit nicht aus seinem Blute brachte? Weiß der Himmel, dachte er, – was für eine Rassenmischung dazu gehört, um diese gummigliedrige Tierhaftigkeit, diese löcherartigen Augen, diese phantastischen Spaziergänge im Raum zu ermöglichen!
Eins war jedenfalls klar: der silberne Knabe verstand sich auf Heimatlosigkeit. Er hatte die Allerweltsfreundschaft, die seinesgleichen beschert ist, aufgesogen und gab sie wieder ab; er ging auf die Dinge los in jedem Kontinent und bemächtigte sich ihrer, wenn sie ihm gefielen; und wenn man ihm ein Spielzeug versagte, wandte er seine blicklosen blinzelnden Augen einfach auf die Seite – ohne Enttäuschung und ohne Freude.
Ja, sein ganzes Leben war nichts anderes als ein Hängen im Raum; nur ferne Beifallsbrandung zeigte ihm, daß er da war, daß er gefiel. Deshalb empfand er auch nichts – nur dann vielleicht, wenn er einen Zweiten traf, dessen Schicksal seinem eigenen irgendwie ähnlich sah, rührte sich ein unerkannter Drang . . .
Und dieser Zweite – war der etwa ich? – Es überlief Gerhart seltsam. Kam jener nur zu ihm herübergeklettert, um seinen Durst mit einem Glas Sodawasser zu löschen?
Nein; es muß etwas an mir gewesen sein; es muß ihn magnetisch angezogen haben . . . War es vielleicht der Instinkt einer – Verwandtschaft??
Gerhart suchte mit allem Gleichmut, dessen er fähig war, den kleinen Niklas ins Wesenlose zu bannen. Er versuchte ihn mit deutscher Geduld in seine Bestandteile zu zerlegen und ihn dadurch abzutun. Aber jedesmal war das Phantom wieder da; drang auf eine rätselhafte Verständigung; kam von allen Plätzen der Erde zugleich; trug dasselbe viel zu alte, viel zu mechanische Lächeln am dünnlippigen Mund – ein Lächeln, das dem der Mittagssonne auf Bahnschienen oder auf endlosen Messinggeländern glich. Überall blitzte es mit tödlicher Einförmigkeit; sein Stumpfsinn lastete betäubend auf dem Herdenantlitz aller Massen.
Es war unmöglich, irgendeine Deutung hinter diesem Ausdruck zu finden; entweder war es Resignation des Durchschnitts; Fratze der Unterwürfigkeit – oder es war die einfache Torheit eines Gassenjungen, der nie auf Güte trifft, sondern immer nur auf die abstumpfende trockene Hetzpeitsche des Broterwerbs.
Von dieser Zeit ab spürte Gerhart die erwachende Unruhe.
Er ward sich bewußt, und zum erstenmal mit aller Deutlichkeit, daß zwei verschiedene Stimmen in ihm sprachen.
Die Grenzen Deutschlands verwischten sich wieder für ihn; was das Deutsche nach Rasse und Sprache von anderen Völkern trennte, wurde überspringbar; ein Buch in fremder Sprache – und Sprachen fielen ihm wie seinem Vater leicht wie Spielerei – veranlaßte ihn nicht bloß zu den lebhaftesten Tagträumen, sondern brachte ihn sogar dazu, Menschen und Dinge, die ihm von Natur aus heimisch und selbstverständlich erscheinen sollten, mit den Augen des Auslands zu bewerten.
Vachells »Hill« drängte ihn stürmisch nach Gemeinschaft mit dem Kreis von Harrow; seine deutschen Lehrer muteten ihn an als unfreie Gesellen, deren ganzes Benehmen am Asthma der Überbürdung mit unverwendbarem Wissen litt. Es fiel ihm schmerzlich auf, daß sie ihre körperliche Reinlichkeit nur zu gewissen Grenzen trieben; daß Erziehung bei ihnen Theorie war und dumpfe Pultangelegenheit, nie aber ein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter von einer Hand, die vielleicht besser mit dem Kricketstock Bescheid wußte als mit Kalligraphie.
Hatte er es längere Zeit mit romanischer Lektüre zu tun, so fiel ihm die Schwerblütigkeit, die mangelnde Grazie der teutonischen Männer doppelt auf.
Den Herrn mit den braunseidnen Rockaufschlägen – ja, den ließ er noch gelten. Aber er drängte ihn weiter nach hinten in die Kammern seiner Seele; dort gab er ihm ein Postament; dort beließ er ihn. »Es ist immer noch Zeit,« dachte er, »auf ihn zurückzukommen, wenn ich gerade in der Laune bin . . . Schwere Schätze sind da vorhanden; aber wie zähflüssig! Wie beklemmend zähflüssig!«
Im Vordergrunde seiner Seele tummelte sich buntes Volk, sie verdeckten mit ihren farbigen Gewändern das strenge Gesicht dessen in der Nische; mit diesen abgeschlossenen Zügen war keine Vertraulichkeit möglich.
Statt seiner trat ein Mann hervor, zwar äußerlich steif, doch bei einem Glase Wein schnellster Witzworte fähig; ein Mann, der an Schwermut litt, aber lachte; ein Mann, der überreich vom »Ungenützten« war, und den doch vornehme Scheu hinderte, es auszuspenden; den ein lebenslanges Heimweh trieb, ohne daß er wußte wonach und wohin . . . Der hatte nie einen Vers gelesen; selten ein Buch beendet; schwere Musik als bedrängend empfunden. Er war durch und durch Mensch . . . Aber du, erhabene Vollkommenheit, ruhe nur weiter auf deinem Postament; glänze spätesten Geschlechtern! Pflege deine Starrköpfigkeit; bewahre dein köstliches »Gleichgewicht des Innern«; verwalte dich weiterhin selbst, du deutsche Seele; niemand wird dir dein Verdienst nehmen! Und niemand wird dir die Genugtuung neiden, bei lebendigem Leibe klassisch zu verknöchern!
Ich stehe mit einem Fuße außerhalb; mir ist es nicht beschieden, ganz deutsch zu sein. So glücklich es mich machen würde: ich kann mich nicht auf das Deutschtum beschränken. Andere Stimmen dringen zu mächtig auf mich ein.
Ist es – Chile? – Ach Gott, was jenes Volk anlangt, so hatte Dolores recht, wenn sie nie vom ersten Stock herunterkam, wenn die Eltern im Erdgeschoß Besuch empfingen . . . Auch mir graute vor jenen Papageienstimmen. »Überlaß sie sich selbst,« sagte der Vater einmal – »und übermorgen sitzen sie wieder auf den Bäumen . . .«
Spanien –? Muffig, unausgelüftet, voll von totem Prunk! Der Blasebalg, der Leben in diese Gesellschaft pumpen könnte, hat Löcher und Risse . . . Und wenn man ihn treten könnte – wo nähme man lebensfrische Gedanken her, um ihn zu füllen –? Jene Menschen sind wie die Fassaden ihrer leeren Paläste, in deren Hinterzimmern sie hausen; würdig, aber hohl . . . Sie riechen zu sehr nach Alter. Wenn ich siebzig bin, wird es mir vielleicht Spaß machen, zwischen den Kulissen jener bunten Tradition friedlich zu vermodern. Aber dafür bin ich nicht geschaffen, mich bei jungen Jahren im achtzehnten Jahrhundert zu begraben . . . Wohin zieht mich also die andere Stimme? Woher kommt mir dieser tiefe, dieser fragwürdige Ansporn, zu wandern, zu suchen, die Seele fremder Rassen zu belauschen?
Irgendwo, dachte er fieberhaft, irgendwo gibt es einen Platz, ein Volk, aus dem mir jene Stimme wie eine brausende Begrüßungssymphonie entgegenschallen wird – wo ich hören werde: Sei gegrüßt, du gehörst zu uns; wir haben auf dich gewartet; wir wußten, du würdest kommen!
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Wieder und wieder, in seinen Träumen, traf er den Vater.
Dieser ging rastlos durch Schiffskorridore; seine Sohlen knarrten einen schnellen sehnsüchtigen Takt auf endlosen Läufern. Er schritt steif und scheinbar zielbewußt durch den Asphaltdunst fremder Städte an Gerhart vorüber; sein Stockgriff funkelte; seine Augen unter der Panamakrempe schienen halb erloschen . . . Er blinzelte den Sohn vertraulich an und zog die Brauen in die Höhe, so als sei ein wortloses Einverständnis zwischen ihnen . . . Oder er lag, wie vor alters, auf den Polstern von Luxuszügen während brausender Fahrten ins Schwarze und starrte in halbverdeckte Ampeln. Bei alledem – so dünkte es Gerhart – schien ein Gespenst an des Vaters Fersen geheftet, dem er, ohne Hoffnung, zu entkommen sich mühte.
Es war ein kaum greifbares Gespenst. Es nahm verschiedene Formen an . . . Etwa war es eine Leere im Gedränge wie eine kleine kreisende Wüste –, oder es war das Echo eines Schluchzens, dessen Ursprung dunkel blieb, zwischen widerhallenden Gassenwänden.
Einmal glaubte er den Vater zu sehn, wie er eine langem Reihe von Rohrjalousien hinunterschritt. Sie bewegten sich wechselnd in einem totenstillen Wind . . . Der Vater suchte nach einem bestimmten Fenster und fand es nicht. Die Sonne brütete . . . Der Mann kehrte um, scheinbar gleichmütig; doch aus seinem gehetzten Blick sprach eine tödliche Sucht nach Kühle. So schritt er auf und nieder, vielleicht seit Äonen; und die Schatten der Dinge, tiefschwarz, behielten dieselbe Länge und dieselbe Breite, als sei etwas eingeschlafen; als sei etwas ungeheuer Wichtiges, Lebenspendendes ganz erstarrt . . . Mit Herzklopfen fuhr Gerhart empor.
In der Stille des Schlafraums verdämmerte die Grimasse eines Tieres.
Als Gerhart im Schlußexamen der Privatschule Rechenschaft darüber abgelegt, daß ihm ›‹, also eine große Masse von Entbehrlichem, geläufig sei, hatte er eine kurze Audienz bei seiner Mutter, die einen unbegrenzten Universitätsbesuch mit liberalen Bankanweisungen regelte. Deshalb besuchte er in der Folgezeit Freiburg und München, wo ihm die Pflege von Bekanntschaften mit einheimischen und ausländischen Studenten wichtiger erschien als die trockenen Statistiken, die ihm von leberleidenden Männern verabreicht wurden. Eine tiefere Gründlichkeit entfaltete er nur im Studium der Naturwissenschaften und in Literatur – doch auch hier traf er eine fast absurde Auswahl. Von den Klassikern bevorzugte er weniger die mit penibel sauberen Rockaufschlägen, als jene mit weinfleckigen Halsbinden. Urmaßgebliches, Fundamentales – das schreckte ihn ab. Aber die Spätlinge; die tändelnden schrankenlosen Einheimser – die liebte er. Und hier interessierten ihn – peinlich zu bekennen – auch weniger ihre Werke, als ihr Leben; ihre Physiognomie; ihre Herzensaffären und sonstigen rügenswerten Ausgelassenheiten . . . Sachen, die der Literaturbeflissene zwar flüchtig notiert, die ihm aber im Interesse der »Textkritik« belanglos erscheinen.
Ähnlich hielt er sich in der Naturwissenschaft mehr an das Aktuelle. Die Tatsache, daß es fliegende und kletternde Fische gab – und sie erfaßte ihn später wie ein Gebet – kam ihm schier wichtiger vor als deren Verdauungssystem. Das Vorhandensein fressender Pflanzen, der weltabgewandte, einsam-sinnlose Prunk der, das farbenschwirrende Schwanzgebilde eines Paradiesvogels waren wesentlichere Erkenntnisse für Gerhart Ollendiek als die exakte Anzahl von Staubfäden oder Kiemenlappen. Es fiel auf, daß er die Vorlesungen eines Botanikers, Ehrendoktors dreier Reiche, wissentlich schwänzte; dagegen nie fehlte, wenn ein munterer Österreicher seine wöchentlichen Mitteilungen über – Tiefseefische vorbrachte; impulsive Schilderungen mit Lichtbildern (– ! –), die jener junge Dozent aus eigener Tasche bestritt – wo doch für die Unwissenschaftlichkeit des Mannes schon allein bürgte, daß er sich die Marotte leistete, jeden Abend ohne zwingenden Grund eine schwarze, gleichsam feierliche Tracht – salopp und undeutsch »Smoking« getauft – anzulegen . . .
Ja, hierin hatte Gerhart seine eigenen beklagenswerten Liebhabereien; und besonders unberechenbar wirkte der blonde Jüngling, als er begann, sich plötzlich mit internationalem Recht zu beschäftigen, und seine menschlichen und gesellschaftlichen Qualitäten dem Auswärtigen Amte anbot. – Man machte insofern von ihm Gebrauch, als man ihm einen Attachéposten versprach, wenn er sich zuvor mit dem juristischen Lehrgang abfinde. Er kämpfte sich nach angemessener Zeit durch ein Examen, das schlichteren Köpfen den Rest ihrer Elastizität kostete, mit der zweiten Note. Dies war vorläufig das letzte, was man von ihm hörte. Denn er hatte die Eigenschaft, sich immer da aufzuhalten, wo man ihn nicht vermutete.
Er wich einer festen Anstellung noch aus unter dem starken Zwang der Idee: eine Weltreise, in gleichsam wahllosem Zickzack die Brennpunkte aller Kontinente streifend, sei erforderlich zum letzten äußerlichen und noch mehr innerlichen Schliff.
Seine Schwester führte in der Schweiz als Musikschülerin ein unabhängiges Dasein; verschönert durch die Anwesenheit einer sklavisch ergebenen irischen Anstandsdame, die den Kaffeegenuß wie ein Laster betrieb. Er besuchte sie zunächst, tat einen Überblick über ihre Freunde, unter denen er viel sympathische Seelen entdeckte, und traf von dort – zu Anfang Mai – in Genua ein.
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Noch bevor er auf den Dampfer übersiedelte, in einem Hotel zweiten Grades, begegnete ihm etwas Besonderes; und er war geneigt, es als eine Bestimmung anzusehn.
Er befand sich in einem hohen weißgekalkten Zimmer mit zweischläfrigem Mahagonibett und marmornem Waschtisch. – Das Fenster war halb verhüllt; orangefarbene Glut überschwemmte die enge Gasse, und über die flachen Dächer schossen Tauben. Die Luft war von jenem leisen Duft nach Hammelfett beschwert; jenem stagnierenden Brodem, der von jedem italienischen Pflaster steigt . . . Zirptöne von Musik und gutturales Schwatzen webten darin.
Gerhart zog sich zum Abendessen um; doch während er halbbekleidet auf der Kante des Bettes saß, traf ihn das Leuchten der Tüllgardinen plötzlich wie ein magischer Spuk. Er mußte grübeln.
»Ich sitze hier in einem Hotel zu Genua,« dachte er. »Mir ist, als sei ich hier schon gewesen; als hätte ich schon Bekanntschaft mit dem breiten Bett in diesem gekalkten Raum, mit diesem marmornen Waschständer gemacht. – Ob ich hier bin oder nicht – die Sonne wird jeden Abend, aber auch jeden einzelnen hammelfettdurchschwängerten Abend hier ein kleines Flammennest baun; und dieses ferne albern-melodische Stimmengewirr ist Jahrhunderte alt und wird weiterklingen, wenn ich längst vermodert bin . . . Ich ziehe mich um; ich betreibe meinen kleinen Daseins-Ritus. Ein anderer wird kommen; wird auf seinen Dampfer warten, auf dieser selben Bettkante sitzen . . . Es ist eigentlich schauerlich eintönig.
Aber ich unterscheide mich von den Früheren und Kommenden.
Ich habe nicht vor, die Levante mit Perlmutterkästchen zu überschwemmen oder einen Moselwein in Omdurman heimisch zu machen – das wäre zwar eine Aufgabe; aber jeder Einsichtige mit fertig erstandenem Flanellanzug wäre ihr besser gewachsen. – Auch wäre ich zunächst noch zu einfach, zu stürmisch, um unter der Maske des Lobby-Philosophen den politischen Zwischenträger zu spielen; vielleicht geht das später besser, wenn ich meine – Friedlosigkeit – oder wie ich das verdammte Gefühl taufen soll! – losgeworden bin . . . Nein; ich müßte eine Aufgabe haben, einfach und viereckig wie meinen Kabinenkoffer. Etwa: ›Plaudereien eines Globetrotters, in Form einer Korrespondenz‹? – Ach Gott; was ich sehe und erlebe, steht nicht im Handbuch eines liebenswürdigen Landschafts- und Sittenschilderers; warum soll ich die Unbekümmerten schädigen, die ihr tägliches Brot im Rauchzimmer von Dampfern sammeln, die Teufelskerle der ›Sonntagsausgabe‹, die dem›brausenden Leben die Brust bieten‹? – Nein; alle diese Beschäftigungen sind nichts für mich . . .«
Doch ganz im Hintergrunde seiner Grübelei saß etwas und leuchtete mit der Wärme eines Entschlusses. Was es war, konnte er nicht formulieren; er fühlte viel ungenützte Kraft und Güte in sich. Er sah, wie der Schein in der Gardine schwächer wurde und wie die Silberspuren der Tauben zu schwarzen Strichen erloschen. – Langsam kleidete er sich völlig an und ging hinunter.
Er hatte keinen Appetit; trank aber mehr als er gewohnt war von gutgelagertem Chianti. Dann ging er in ein Volkstheater.
Ein gepudertes Mädchen sang kreischende Lieder im Dialekt. Sie schien populär zu sein, was Gerhart daraus schloß, daß sofort ein Strom von flüssigen Augen seinen Tisch umringte, als sie nach der Vorstellung zu ihm herunterkam. »Ich sitze in einer Menagerie,« mußte er denken, als er die Halbseelen mit ihren bunten Krawatten sah, die in gestikulierende Klumpen zerteilt die Halle erfüllten. »Nur Schicklichkeitsregeln verhindern sie, herüberzusteigen und dieses Weib in ihren Dunst zurückzutragen, aus dem sie sich unbewußt verirrt.« –Sie sei aus der Lombardei, teilte sie ihm mit; das fiel ihm nicht auf, weil sie aschblond war und blaue Augen hatte. »Du bist wenigstens aus Europa, und noch dazu aus Italien,« dachte er. »Ich aber habe eine Mischung in mir, einen Zusatz aus Chile; und das ist viel abenteuerlicher, als du dir ausmalen kannst . . . Doch das findest du nie heraus; das geht nicht in deinen Kopf. Übrigens: wer weiß, ob du überhaupt eine Ahnung davon hast, wo Chile liegt . . .«
Er sah ihren Bemühungen zu mit jener freundlichen Gleichgültigkeit, wie man irgendein Tier betrachtet. – Sie starrte ihn plötzlich an, hörte auf, sich anzubieten; war es der Blick, den er auf sie richtete? – Seine Augen waren von einer unzuverlässigen Farbe; beinahe grün. Sie zog sich zurück, schob sich tändelnd zwischen den nächsten Tischen umher und verschwand im Hintergrund . . . Dort stand ein Junge und bot mit tonloser, wüster Stimme Zigaretten zum Kauf. Er war mißbraucht, umhergestoßen, zerlumpt; er paßte überall hin. Er glich dem kleinen Niklas.
Gerhart, im Hinausgehen, nahm ihm ein Päckchen ab und gab ihm ein größeres Geldstück. Der Junge lächelte, und ganz Genua lächelte mit. Es war wie das Blitzen von Quarzstückchen auf holprigen Pflastersteinen; Licht, das den Dunst von versteckten Küchen mit dem des Abfalls auf steile Straßen drückt; es war das ermüdende stechende Blau, das auf jeder Hafeneinfahrt zittert . . .
Als Gerhart heraustrat, war es dunkel, und er begab sich durch enge Gassen in sein Hotel zurück. Flüchtig wunderte er sich darüber, was wohl das Mädchen so plötzlich von ihm vertrieben haben mochte. »Vielleicht habe ich den Bösen Blick!« – meinte er zu sich selbst. »So gibt es auch gewisse Halbedelsteine, vor denen einfache Gemüter ein unüberwindliches Grauen haben.« – In seinem Zimmer angelangt, verfiel er wieder, statt sich energisch auszukleiden und ins Bett zu gehn, in jenen halbapathischen Zustand, der weder Schlaf noch Wachen ist. Ein Buch, das er begann, sagte ihm nicht zu; so legte er sich endlich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf das Kissen zurück.
Nach einer Weile Grübelns kam es ihm so vor, als sitze er mit seiner Mutter und Dolores am gedeckten Tisch. Man war bereit zu beginnen, aber es fehlte jemand, auf den man mit einer leisen Spannung wartete. Es war, als habe das Gong schon zweimal vergeblich getönt; worauf die Mutter sprach – und es mehrmals wiederholte –: »Enrique kommt nicht; aber ich weiß, er ist da; ich weiß bestimmt, er ist im Hause . . .;« darob er, Gerhart, und Dolores, eine große und süße Erleichterung spürten. Denn sie hatten beide, sie wußten nicht warum, das Gefühl, dem Vater sei irgend etwas Unheimliches zugestoßen . . .
Gerhart ging nun auf die Suche nach ihm und sah hierbei ohne Verwunderung, daß das Haus gläsern war. Humus dunstete; Tau sammelte sich und kehrte netzartig zurück wie ein lebendes Gitter. Und in einem Winkel lag der, nach dem ihn verlangte; große Blattgewächse, zierlich zerteilte Farne und eine vielgestaltige Menge anderer fremdartiger Pflanzen breiteten ihre Schirme über ihn gleich pomphaften Wedeln über einem Paradebett.
Er schien zu leben; doch eine magische Fessel schien ihn zu binden. Sein Gesicht ruhte streng und knöchern mit gekrauster Stirn und halbgeöffnetem Mund auf einem gelben Kissen. Sein graumelierter kurzgehaltener Kinnbart bohrte sich in das gewellte Hemd. Die mageren Hände ruhten friedlich gekreuzt . . . Seine Kleidung war makellos weißes Linnen; eine dünne Goldkette schlängelte sich aus seinem Gürtel. – Er schlief einen bekümmerten Schlaf; einen Schlaf der Sorge.
Hinter den großen Blattgewächsen herrschte Gemurmel wie die gedämpfte Unterhaltung versammelter Menschen. Es konnte aber auch das Rieseln von Wasser sein, das sich mit tiefem Glucksen, mit weichem Röcheln durch Röhren preßte: Geräusch gebundener Dämpfe, die vor Befreiungsdrang schwitzten. Unerlöstes, Dumpfes und Schweres plauderte. Auf einmal kam eine Welle von Geschrei von irgendwoher – anscheinend von außen; von jenseits der gläsernen Gruft.
Der Liegende ballte die Fäuste und öffnete die Augen, drehte sie langsam hin und her –: Ein Tier war draußen; groß und schattenhaft. Es konnte nicht herein; es strich längs der Wände. Man sah es plumpe Sprünge machen; eckige Pranken heben und senken: es war unzufrieden. Das Geschrei wuchs; knarrende Tonwellen entstanden. Das Geräusch der Gewässer verstummte, und die Blätter erbebten, in zartesten Pflanzenpulsen getroffen . . .
Da sah Gerhart die Mutter in derselben abwartenden Haltung am Tische sitzen und atmete entsetzt einen wirren Bericht über das Tier und über die Gefahr, in der der Vater schwebe . . . Die Mutter hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu; dann schob sie wie ein nervöses Kind das Silber auf dem Damast hin und her, und ihm war, als hörte er sie sagen, mit hoher und verwöhnter Stimme: »Das ist alles wohl möglich, aber ich will es nicht wissen, verstehst du! – Ich will es nicht wissen; – es regt mich auf! . . .«
Dann befand sich Gerhart außerhalb des Glashauses, wo sich das Pflanzenwesen mit derselben Üppigkeit fortzusetzen schien. Dort sah er einen schwarzen Schatten durch das funkelnde Grün springen. Maßloses Grauen kam ihn an, als drohe auch ihm eine unergründliche Gefahr von diesem Schatten. Er war in ratloser Angst und unfähig zu fliehen . . . Da sagte eine tiefe Stimme neben ihm: »Beruhigen Sie sich. Ich weiß Bescheid.«
Unter zwei mächtigen Bananenblättern hockte kreuzbeinig eine weiße Gestalt. Sie saß wie eine Buddha-Figur; statt des Gesichtes trug sie einen verschwommenen weißen Fleck, der sich hin und her bewegte. »Mit dem Tier haben wir alle zu tun,« klang es weiter. »Aber ich habe es in der Tasche.«
Es lasse den Vater nicht schlafen, klagte Gerhart. Eine brutale Abhilfe sei nötig; aber der Vater könne nicht mehr; er habe zuviel geleistet . . . Sein Kraftüberschuß habe Berge versetzt; nun sickere er in blinde Kanäle . . . Er speise nurmehr jenes Treibhaus; doch das sei nicht genug, denn das Tier müsse dort einbrechen, früher oder später . . .
Da erwiderte das sitzende Orakel in Form eines Menschen: »Er fühlt sich schlecht, wissen Sie. Er ist nämlich nirgendwo zu Hause; hat sich zwischen zwei Stühle gesetzt; nichts Solides, verstehn Sie. Keine Beziehung. Aber er soll das Tier loswerden; und dann sind Sie es auch los; automatisch gewissermaßen . . . Ich bin das Bindeglied. Ich bin der Mann mit dem Schlüssel!« . . . Und er zog einen Schlüssel hervor; groß wie eine Waffe.
Das Tier schrie penetrant und schwoll auf und ab. Dann lief es mit großer Eile herzu; doch trotz wirbelnder Schritte kam es nicht näher, sondern schrumpfte zusammen und verschwand im Boden.
Ein unsägliches Glücksgefühl pulste durch Gerharts Seele. Und anstatt des weißen Menschenphantoms saß dort plötzlich ein nackter Knabe mit goldig brauner Haut und den schwarzen Kopf geneigt . . . Oder war es nur der zersplitterte braune Strunk einer Wurzel –? Und war das ein Windstoß, oder ein mächtiger Atemzug der Erlösung, der aus dem Glashause drang –? Alles schien geordnet, tief und schön.
Gerhart erwachte; sein Herz klopfte heftig. An der weißgekalkten Decke gab es noch ein Flimmern wie von Grün. Langsam erinnerte er sich der Einzelheiten des bizarren Traumes.
Oft schon hatte sich jener Tote, dem er das Leben verdankte, aus dem Zwischenreich emporgerichtet, hatte dunkle Handlungen begangen und dann wieder das Pfadlose gesucht . . . Er war gekommen, erhellt von einem dunklen Blitz im Blut, aus Landschaften, deren Prunk verwirrte oder deren zwielichthafte Starre entsetzte; war entstellt gekommen und vermummt in dunklen Symbolen.
Nun war das Rätsel gelöst; der Bann gehoben. Er durfte zurücksinken. Das Scheinleben, das er in den blutvollen Herzensgründen des Sohnes weitergeführt, war beschlossen durch den seltsamen Unerkannten, der den Schlüssel trug; der das Tier, das von Heimatlosigkeit gehetzte, in den Boden hineinverbannte.
So endlich durfte der Vater ganz entschlummern im Anschaun gerippter Blätter, schlanker Stengel und hochzeitlicher Blütentrauben; so durfte er zurücksinken zu zweckvoll-gedankenlosem Schöpfertum von einer Hand in die andere; ins Allgrüne, aus dem wir alle kommen und zu dem wir kehren nach gemessener Zeit.
Singen, Johlen und Schwatzen entstand auf der Gasse und zugleich auf dem Korridor vor der Tür. Gerhart schrak auf. Es waren noch drei Stunden bis Tagesanbruch; er ging nicht völlig zu Bett, sondern blieb wach bei einem Kognak, den er seinem Handkoffer entnahm; demselben Koffer, den er von seinem Vater geerbt und der sechsmal von Chile nach England gewandert war . . . Auf die zahllosen Hotelmarken starrend, nahm er in regelmäßigen Abständen einen Schluck, bis die schmutziggelbe Frühe langsam heraufkroch; die alte beklemmende Reisefrühe, bei der er als Knabe – ach wie oft! – einen ganz bestimmten bitteren Geschmack am Gaumen und einen weichen Druck in der Magengrube, dicht unterhalb des Herzens, gespürt.
Und seine Reise ging vonstatten.
Er sah Schwärme von schöngezeichneten Bussarden auf öligen Wassern flattern, inmitten einer unbegrenzten siedenden Kahlheit: Aden.
Er saß in einem Korbstuhl, und zwanzig große Ventilatoren rührten sich über seinem Scheitel wie die nächtlich ermatteten Schwingen gespenstischer Falter –: Colombo.
Die Luft war voller Gase; voll stechender Süße und vom Schweiß von Bäumen und Tieren. Menschen gingen gleich flimmernden Bildern durch einen Schleier von Kopfweh. – Sie gingen behutsam lächelnd langwierigen Geschäften nach, die sich leise abrollten an zeitlosen Spindeln.
Mount-Lavinia:Flußtäler taten sich auf; ein Grün von giftiger Leuchtkraft sprühte aus einer ockerroten Erde.
Puppenhafte Hindufrauen, klirrend von Silber, bewegten sich nacktfüßig an ihm vorbei.