Der Gott im Treibhaus - Willy Seidel - E-Book

Der Gott im Treibhaus E-Book

Willy Seidel

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Beschreibung

Ein Roman von Übermorgen. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.

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Der Gott im Treibhaus

Willy Seidel

Inhalt:

Willy Seidel – Biografie und Bibliografie

Der Gott im Treibhaus

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Der Gott im Treibhaus, W. Seidel

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849636081

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Willy Seidel – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geboren am 15. Januar 1887 in Braunschweig, gestorben am 29. Dezember 1934 in München. Bruder der Schriftstellerin Ina Seidel und Neffe des Ingenieurs und Schriftstellers Heinrich Seidel. Mit 10 Jahren zieht Willy Seidel, nach dem Tod des Vaters, mit seiner Familie nach München. Nach dem Abitur studiert er u.a. in München und Jena und promoviert 1911 als Doktor der Philosophie. Er beginnt viel zu reisen, bald auch im offiziellen Auftrag des Auswärtigen Amtes. Als der erste Weltkrieg ausbricht weilt er auf Samoa und setzt sich von dort in die USA ab. Die Jahre dort waren nicht einfach für Seidel und er konnte erst 1919 nach Deutschland zurückkehren. Seidel starb 1934 an einem Herzanfall.

Wichtige Werke:

*Der schöne Tag, 1908

*Absalom, 1911

*Die Natur als Darstellungsmittel in den Erzählungen Theodor Storms, 1911

*Der Garten des Schuchân, 1912

*Der Sang der Sakîje, 1914

*Yali und sein weißes Weib, 1914

*Der Buschhahn, 1921

*Der neue Daniel, 1921

*Das älteste Ding der Welt, 1923

*Die ewige Wiederkunft, 1925

*Der Gott im Treibhaus, 1925

*Der Käfig, 1925

*Alarm im Jenseits, 1927

*Schattenpuppen, 1927

*Der Uhrenspuk und andere Geschichten, 1928

*Larven, 1929

*Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen, 1929

*Der Himmel der Farbigen, 1930

*Jossa und die Junggesellen, 1930

*Otto Nückel, 1930

Der Gott im Treibhaus

»Wir erkannten, daß alles Dasein, also auch die organische Natur, ein Physisches und Metaphysisches in Einem, also Leib und Seele in Einem ist. – Wir überzeugten uns weiter, daß die Hellsichtigkeit und die Fernwirkung heutiger Menschen . . . der schwache Rest sein müsse einer ehemaligen Naturverbundenheit . . . , als diese Kräfte und Gestaltungsfähigkeiten eine so große Rolle spielten, daß daraus Sagen entstanden von zeitlichem und räumlichem Fernwirken, magischem Geschehen, Umwandeln der äußeren Natur von innen her . . . Wir können uns somit denken, daß die schwachen heutigen Kräfte der Telekinese und Teleplastie . . . dürftige Überbleibsel sind einer viel gewaltigeren überindividuellen, natursomnambulen Gestaltungskraft.«

(Edgar Dacqué, »Urwelt und Menschheit.«)

Sollten diese »schwachen Kräfte« von heute, allmählich von genialer Vorurteilslosigkeit Ein- zelner erkannt und herausgeschält, nicht ebenso auch den Keimgrund bilden für die künftige Wiederkehr einer natur- haft-magischen Epoche, plastischer Schöpferkraft der Idee?

Willy Seidel

Erstes Kapitel

Das scharfe Hüsteln quälte den alten Mann in der letzten Zeit ziemlich häufig. Es war Rupert schon zur Gewohnheit geworden, immer auf dem Posten zu bleiben. Der Vater hielt keine Dienstboten; das war auch nicht nötig. Alles ging ja mechanisch, und das Wenige, was zu tun übrig blieb, kostete den Sohn geringe Mühe. Eines Abends – (es war im Spätherbst) – hatte der Alte zum erstenmal beim Baden Hilfe verlangt. Rupert trocknete und massierte den ausgemergelten gelben Körper, der von weißem Gekräusel auf Brust und Rücken bedeckt war. Der Alte sah das gebrechliche Bild, das ihm aus den geschliffenen Spiegeln des weißgekachelten Badegemaches vielfältig und in der Verzerrung vorgetäuschter Entfernung vor Augen kam, heute irgendwie gedankenvoll und kritisch an. »Ich habe mich bald ausgehüstelt,« meinte er, »das sieht man. Ich esse heute Abend nichts, aber mach' mir Tee; ein wenig mehr als sonst, von dem Souchong! Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir uns einmal über wichtige Dinge unterhalten.«

Rupert brachte dem Greis feinwollene, dunkelviolette Pyjamas und seine hochschäftigen Saffianschuhe. Der Alte zog heute noch eine wattierte chinesische Jacke darüber, in deren Ärmeln seine runzligen Finger sich ganz versteckten. Schlürfend bewegte er sich, von Rupert gestützt, durch die überheizten Räume bis in die Bibliothek. Hier nahm er in einem wildledernen Sessel Platz und befahl Dämpfung der Beleuchtung. – So blieb nur noch das indirekte Licht der Decken übrig, in dessen mattem Schimmer die Gegenstände dunkelfarbig verschmolzen. Eine kleine Stehlampe brannte auf dem Tischchen zur Seite des Alten. Nachdem dieser einen neuen Hustenanfall niedergekämpft, ließ er ein langgezogenes, etwas hämisches »so-lala« hören. Wiederholte es in trällernd-harmloser Weise, so als sinke er bewußt um einige Jahrzehnte zurück, in seine warme und fürsorgliche Periode, da es die eigene Mutter noch gab. Rupert wurde gerührt durch dieses murmelnde, abschließende, halb kindliche Gesinge; er fragte: »Nun Vater, Du bist wohl ein wenig müde?«

»Müde,« ächzte der Greis, »ist gar kein Wort dafür. Ich war eigentlich nie lebensfähig, trotz meiner Achtzig, und eigentlich nie unternehmungslustig, trotz meiner Erfolge . . .« – Er beugte sich vor; sein scharfes Profil glänzte gelblich im Licht des Lämpchens, seine hervordringenden, blaßblauen Augen schienen schon viel weiter zu sehen, als Rupert ahnen durfte. – »Es scheint, ich imponiere Dir? Es scheint, mein Sohn, mit mir wankt Dein Vorbild zu Grabe? – – Mach' nur dasselbe wie ich, kratze nur zusammen, hamstere, friß mit den Eisenfressern, knechte Dir den Geist unserer Zeit. Du wirst es vielleicht noch weiter bringen als ich, denn jetzt ist alles möglich. Du wirst von mir sagen: ›Der alte Dux, wissen Sie, – der mit dem drahtlosen Beleuchtungspatent – (übrigens mein Vater) – hat auch ganz hübsch angefangen. Ohne seine Vorarbeit wäre ich auch nicht so weit.‹ – Das wirst Du sagen, mein lieber Rupert, und ich werde mich im Grab umdrehen, wie man früher sagte. Denn das Fazit meines Lebens ist ein großer Haufen anrüchigen Mammons; und das Eigentliche? – – Na ja . . .« Er winkte ab und trank mit gierigen Schlucken eine Tasse Tee leer. Rupert war recht erstaunt.

»Welches Eigentliche, Vater?«

»Um Dir das klar zu machen, laß mich ein paar wichtige Dinge sagen. Zunächst muß ich unterstreichen, daß mein sogenannter von meinem Großvater und Urgroßvater überkommener Erfolg mir in dieser Stunde eine blasse Chimäre ist, denn wem vererbe ich ihn, mein guter Rupert? Ich habe soviel an Zerknirschungen und seelischem Heißhunger hinter mir, daß ich Dir meine Tätigkeit nicht an den Hals wünsche. Natürlich kann sich jeder jetzt Beleuchtung aus der Luft holen, aber was hat man davon? – Ich habe das arrangiert und noch beigetragen zum allgemeinen ›Fortschritt‹. Es stände auch bei mir, noch zwanzig oder dreißig Jahre weiterzuleben. Aber ich bin ausgepumpt von diesen vagen Süchten, ich kann und will nicht mehr. Eigentlich bist Du zu gut, um nichts weiter zu tun, als ein ererbtes Patent auszuschlachten, und ein Heer von Kontrollbeamten zu verköstigen, damit Dir keine dieser billigen Millionen entgeht . . . Nimm, was da ist; doch tue etwas anderes damit. Kaufe Dir einen ganz bestimmten Menschen, den ich nicht kaufen konnte; vielleicht gelingt es Dir. Deiner harrt eine Mission, die unendlich wichtiger ist, als all' diese schnöde Privatbereicherung. Ein Gramm Glück wiegt mehr als Tonnenfrachten von ›Fortschritt‹. – Fortschritt! Fortschritt!«

Es war erstaunlich, wie lebendig der Alte wurde. Er schob die langbaumelnden Ärmel zurück und stand auf einmal kerzengerade da. Die Augen hatten etwas Seherhaftes, groß und blaßblau; es schien, als erwache ein Funke in ihnen. Überhaupt war es, als ob eine zweite Physiognomie die gewohnte durchbreche; als ob dahinter irgendetwas Goldenes oder Blaues aufblitze . . . Etwas Gewaltiges, das nur auf einen Wink warte; sieghaft, sturmhaft und neu . . . »Diese Geißel der Menschheit!« krächzte er wie ein Adler im Käfig, dem die Föhnluft wilden Fleischduft zuträgt. Er schlug wie mit halbkahlen Schwingen rasselnd auf die Stuhllehnen; in seinem Halse keuchte es, als habe eine übermächtige Eingebung ihn zu letzter Stunde gepackt und schüttele ihn wie eine morsche Puppe. – »Dieser Fetisch!« schnaubte er. »Was haben wir getan, wir armen Schufte, länger als fünfundsiebzig Jahre? – Wir dumpfen Sklaven? – Unsere Nester gepolstert haben wir für unsere unersättliche Vermehrung! Alles, alles haben wir hinausgejagt, was an Menschlichkeit uns geblieben; Fäulnis und Durchschnitt haben wir gezüchtet und eine Gedankenträgheit, die schlimmer ist als aller Frevel von Gomorrha! – Man hält ein Kästchen, das man aus der Tasche nimmt, in die Luft, und ein Funke blitzt darin auf. – Welch' eine Errungenschaft! – Und so ist alles Vergeudung. Unser Selbst schweißen wir hinein in diese unaufhaltsam tobende Maschine. Auf Kosten unseres Besten schmieren wir dem Moloch die Kinnbacken, damit er leichter frißt und verdaut. – Und ich –« (hier steigerte sich seine Stimme zu schluchzender Fistel) – »ich habe einmal ein Spielzeug gehabt; eine blendende Idee, ein Edelsteinchen von einer Idee. Ich habe es vererbt bekommen von Deinen Vorfahren. Ich habe gern damit gespielt. Es hatte nichts mit dieser Zeit zu tun. Es ist mir aus der Hand geglitten, zwischen die Räder hinein, ich kann es Dir nicht einmal vermachen. Du mußt es Dir suchen.« Er kämpfte nach Luft. »Öffne ein Fenster,« flüsterte er keuchend.

Erschrocken sprang Rupert ans Fenster und riß es auf. Der Alte wankte hinter ihm drein und blickte ihm über die Schulter. Sein Atem ging wie der eines Jagdhundes. »Siehst Du,« meinte er, und sein zitternder Finger stach in die kühle Luft, »das ist der ›Fortschritt‹. Das ist nun alles, was uns übrig geblieben ist. Glas, Metall und Menschen: überfüttert, geistlos, massenhaft.« Drunten pulsierte der Verkehr. Die langen Straßenschläuche unter ihren Glasdächern blitzten kalkweiß von elektrischen Sonnen, deren endlose Schnüre sich von hier nach allen Richtungen streckten. Es kam ein Gemurmel herauf, wie wenn man unter der Kuppel eines Tempels sitze und drunten würden fragwürdige Riten zelebriert. Ruckweise vorwärtsstoßend, zu Gruppen geballt, schoben sich die Menschenströme vorüber. Dazwischen krochen, grünliche Raupen, die Trambahnzüge. Der Asphalt blitzte an kahlen Stellen bunt von Farben darübergestreuter Lichtreklame. Wo sie auf Köpfe trafen, geriet der Schwarm in bengalische Beleuchtung und bekam etwas schlüpfrig Entgleitendes, wie ein Traum, der einer unerkennbaren Unzucht zusteuert. Die Hochbahnen kreischten metallen in den Kurven oberhalb der Dächer. Ihr Schall verfing sich in gläsernen Wölbungen, die spinnwebfein vor der dunklen Bläue des Nachthimmels hingen. Das Ohr empfing die Schwingung gewalttätiger Geräusche. Unten bot die Zivilisation sich feil mit unzähligen stereoskopischen Lichtspielbühnen, palastartigen Kabaretts und Bankgebäuden aus spiegelndem Marmor, die sich an Kauf- und Modehäuser drängten in endlosem Wechsel; oben kletterte sie mit Metall und Glas ins Firmament und machte das Leben auch dort zur Hetzjagd. Über dem Allen schwebte der ewige bald auf-, bald abschwellende Ton von Propellern; das unbändige Gesumm der Aeroplane, die wie Leuchtkäfer durch die Himmelsschlucht zogen und auf den Landungsplätzen ein Geknatter vollführten, wie große Schmeißfliegen an Leimruten. »Siehst Du,« wiederholte der Alte, »soweit haben wir es gebracht. Das ist der Fortschritt. Ich glaube nicht, daß noch Wesentliches übrig geblieben ist, was uns zur Bequemlichkeit fehlt. Mein Hüsteln ist mein Privatvergnügen. Daß ich mich daran zugrunde gehen lasse, ist mein freier Wille. Eine halbe Stunde in der Bestrahlungszelle, und ich wäre ausgedörrt-haltbar wie Backobst. Was sollen mir diese Mittelchen zur Lebensverlängerung? Weg damit! Wozu soll ich diesen großen, großen Humbug noch weiter ertragen? – Seit ich das Spielzeug verloren, ist mein Hirn dumpf geworden; der Durchschnitt hat mich angesteckt. Wer würde das einem alten Mann verübeln?« Er packte Rupert plötzlich bei den Schultern und sah ihm lauernd ins Gesicht. Das blaugoldne Blitzen war wieder hinter seiner Maske. – »Sohn,« sprach er sonor und auf einmal kräftig, »Du bist zu gut für die heutige Welt. Ich gebe Dir noch in meinem Testament ein Wörtchen mit, einen Namen . . . Vielleicht rettet er Dich vor dem ›Fortschritt‹ . . .«

Von dem immer erstaunteren Rupert zu seinem Sessel zurückgeleitet, verfiel er in Brüten. Er trank noch zwei Tassen Tee und machte einige Ansätze zu reden, doch schien ihn Ermattung überkommen zu haben. So geleitete ihn der Sohn zu Bett und blieb den Gedanken überlassen, die der Alte ihm hingeworfen. So redselig war dieser selten gewesen. Aber in Rupert keimte ein Verdacht auf, daß aus all' der »Sophisterei« (wie er es bei sich nannte) ein Kern herauszuschälen sei, ein strahlender, unverhoffter Kern . . .

Der Atem des Alten zersägte die Stille der Wohnung. Kein Laut drang von außen durch die schallsicheren Wände. Rupert fühlte sich auf einmal vereinsamt und machte sich mit Entsetzen klar, daß er zu Unrecht bei sich zu lächeln wage. – Etwas Großes war im Werk. – Das war kein nur redegewandter Greis, dem er heute Abend gelauscht. Es schien ihm, als ob der Vater nur vorerst im allgemeinen an den Schleiern gerückt habe, die er von großen Enthüllungen wegziehen wolle. Die nächsten Nächte würden wohl Ernsteres, Bedeutsameres bringen. Mit einemmal lag für Rupert da drinnen ein zur Unzeit verstummter Prophet, ein ehrwürdiger Freund, dem der bevorstehende Abschied die Zunge gelöst. Eine fieberhafte Trauer bemächtigte sich des jungen Mannes. Worte aus dem Bericht des Alten lösten sich aus seinem Gedächtnis und standen grell vor ihm. Wer war der Mensch, den der Vater hatte kaufen wollen? Was für eine Bewandtnis hatte es mit dem »Edelsteinchen von einer Idee«? Mit einemmal packte ihn der Schauer der Sehnsucht, die er seit seiner Jugend vergraben glaubte. Er selbst, das wurde ihm brennend klar, suchte ja zwischen den Rädern, seit er denken konnte, suchte blind und tastend, und wo lag der Schlüssel versteckt? – Vielleicht dort in jenem gebrechlichen Kopf, dem der Tod schon mit zauderndem Kuß nahen wollte. Und er, Rupert, durfte es um Gottes Willen nicht zulassen, daß jener schied, ohne den Schlüssel zu enthüllen. – Es war keine Krankenwache, die er diese Nacht betrieb. Es war er selbst, der sich belauschte und aus seinem Innersten Kraft hervorsog, jene fremde Sprache wirklich zu verstehen. – Jedes Wort mußte ihm von jetzt ab heilig sein.

Zweites Kapitel

Rupert Dux fühlte nicht, daß es drei Uhr nachts sei.

Die Glashalle des Cafés, von der Ausdehnung eines mäßigen Häuserblocks, wölbte sich, verschleiert von dunstgesättigter Luft, zu ferner Höhe, und die Beleuchtungen blinkten daran wie umnebelte Gestirne. Über dem gleichförmigen Meer von runden, weißen Marmortischen schwebte eine Schicht träg bewegter Köpfe, schwarzer oder blonder. Dazwischen gestreut blinkten die knappen, giftigroten Hüte der letzten Mode. Das ganze Panorama mutete an wie eine Pilzzucht, über die ein lauer Kellerwind strich; die Grenzen verdämmerten im grünen Marmor ferner Wände oder verwischten sich in kolossalen Spiegeln.

Rupert trank Kognak aus einem kelchförmigen Glas. Aus einem tuchbespannten Würfel, der vier gähnende Kupfertrichter entfaltete, drang kraft verschmitzter Lautverstärker atemlose Musik, die man von der »Weltzentrale für Unterhaltungskonzert« aussandte. – Dieselben Weisen tobten im gleichen Augenblick in allen europäischen Lokalen.

Rupert war, wie stets, auf der Jagd nach Menschen. Er saß reglos, nur seine Augen waren lebendig und huschten über die Profile. Zwar konnte er, nahm er sich als Mittelpunkt, nur den Radius von zehn Köpfen beherrschen, doch genügte dieser Überblick, um ihm die Augen zu schließen. Ein Zug des Ekels trat an seinen empfindlichen Mund. Gerade wollte er gewohnheitsgemäß mit gesenkten Lidern seinen herben Träumen nachhängen, die keinen Namen hatten, da nahm er eine Figur wahr, die ihn aufzublicken zwang. Er ermunterte sich nicht nur deshalb, weil sie auf seinen Tisch zuhielt, sondern auch weil sie von der Umgebung so gründlich verschieden war.

Der Mann blickte sich kaum um und setzte sich mit kurzem Kopfnicken an seinen Tisch. Dem erstaunten Kellner gab er ein Glas Milch in Auftrag. – »Wir haben aber nur Büchsensahne, mein Herr,« erklärte das mit breiter Messingnummer gekennzeichnete Geschöpf. – – »Also gut, diese, mit heißem Wasser.« –

Rupert sah sich seinen Nachbarn an. Er war ein blonder Hüne von gefälligen Proportionen. Er atmete Freiheit aus. Sein Anzug, seine Wäsche, seine Schuhe – alles zeigte bequeme Eleganz. Wie sich der Hals auf breiten Schultern drehte, die ihr Muskelspiel unter straffem englischem Stoff verrieten, – die Natürlichkeit, mit der ein Knie sich über das andere schlug, – die rotblond schimmernde, kräftige Faust, wie sie die Wange stützte, – alles, alles war Freiheit. – Rupert war so arm, innerlich arm, daß die spürbare Nähe des athletisch unbefangenen Nordländers, der seine Konservensahne da neben ihm schlürfte, ihn wie beklemmendes Phänomen berührte. – Mit plötzlicher Halsdrehung, als habe er seine stumme Empfindung körperlich verspürt, wandte der Fremde ihm das Gesicht zu. Hellblaue, verwegene, sehr kühle Augen. Seine Sprache verriet keinen Anflug des Erlernten, als er zu Rupert sprach: – »Ihnen brennen Fragen auf der Zunge.«

Die Kadenzen der Musik verwehten. Die blinkenden Kupfertrichter ergossen bloßes Geräusch, das mit dem Stimmengeschwirr der Tausende verschmolz. Diese Umwandlung vollzog sich, während der Anrede des Mannes, wie eine Erschlaffung des Gehörs bei Rupert, ebenso wie für sein Auge ein Schleier über die Köpfe zu huschen schien. Ihm war, als sei das Dasein eine Liftzelle, nur von ihm und seinem Nachbarn besetzt, und sie sinke ruckähnlich, verwirrend, ein weniges unter die Oberfläche der Dinge. So verblüfft war er.

Er stammelte ertappt: »Ja. Ich wundere mich, daß es überhaupt noch Menschen gibt. Daß man doch noch immer gelegentlich einen Menschen sieht, trotzdem man es fast aufgegeben hat.« Er hob die Hände, die von unsichtbarer Kette belastet schienen, zu den Schläfen; durch seine mageren Finger quoll verwahrlostes, dunkles Haar; seine tiefliegenden Augen glühten. Die feingeschnittene Nase zuckte, auf den etwas hervortretenden Wangenknochen entstand leise Röte, als schäme er sich fast, die persönliche Bemerkung des Nordländers mit einer ebensolchen erwidert zu haben.

»Sie würden,« fuhr der andere höflich fort – (mit der etwas schleppenden Akzentuierung der Bergvölker) – »auch jetzt noch, am Schluß des zwanzigsten Jahrhunderts, Menschen finden, wenn Sie . . .« – Vorübergehend verstummte er. Dann fuhr er fort: – »Ich meine, Ihr dumpfes Bedürfnis nach ›Anschluß‹ zeigt zum Beispiel, daß Sie ja selbst ein Mensch sind. Als ich kam, saßen Sie hier allein am Tisch. Sie sind der einzige, dem es gelungen war, allein zu bleiben. Das ist doch irgendwie kein Zufall. Ihre Isolierung ist nicht selbstgewählt. Sie ist symbolisch insofern, als Sie den Geist dieser Zeit negieren. Mit großer Heftigkeit negieren Sie ihn, stündlich, minütlich. So prallt das Gefühl der Masse von Ihrem Dunstkreis ab. Ihr Gemüt birst vor Ablehnung, Sie sind eine von Ekel geladene Batterie, und niemand will aus Versehen auf den Knopf drücken. Dies alles wissen Sie selbst nicht. Sie wundern sich; Sie suchen. Anpassen wollen Sie sich; aber Ihr Unterbewußtsein windet sich dabei wie ein leidendes Tier.«

Ruperts Hände fielen auf den Tisch zurück. Das Glas klirrte. Er starrte den Mann entgeistert an. »Reden Sie weiter . . . Sie reißen Türen auf . . .«

»Als ich hereinkam, blickte ich einmal über die Menge und hatte Sie sofort entdeckt. Es war, als ob alles weggewischt würde, und nur Sie blieben da.« Er blickte Rupert scharf an. »Wir sind einander verwandt. Ich kenne Ihre Merkmale, Ihr Freimaurerzeichen. Und Ihre Atmosphäre ist die meine – Ekel vor dieser Zeit. Magnetisch angezogen kam ich zu Ihnen, und las unter Ihrem Tagesbewußtsein die starken, gelähmt schlummernden Gedanken. Sie wissen ja selber nicht recht, wovor Ihnen eigentlich ekelt. Eine interessante Zeit, denken Sie. Der Völkerbund . . . Keine Kriege mehr seit siebzig Jahren. So oft dies übervölkerte Europa überläuft, öffnet es seine Ventile nach Sibirien und Kanada . . . Triumph über die Materie, in die kleinste Verzweigung des Lebens hinein. Demokratisch alles; kaufmännisch großzügig; weltumspannend . . .

Und trotz alledem gefällt Ihnen unsere Zeit nicht. Sie vermissen etwas, das die anderen hier längst, seit drei Generationen, nicht mehr vermissen . . . Alles in Ihnen schreit nach diesem Etwas. Kein Wunder . . . Denn Sie wissen –« – er beugte sich vor und starrte Rupert wieder an – »– wie schmählich benachteiligt die heutige Menschheit ist. Trotz saturierten Daseins. Trotz gefüllter Taschen. Trotz aller Friedenspolster und Genfer Klubräume.«

Die Musik, der drahtlose Puls einer soeben in Amerika entstandenen Trivialität, schmetterte zuckende Synkopen über die Menge. Rupert konnte die Stimme des anderen kaum verstehen, aber er las die Worte von dessen sacht bewegten Lippen unheimlich deutlich ab. Die Stimme schien von einem Klang gefärbt, der ihm neu war. Er war sehr bleich. Er hatte das Gefühl, er müsse den anderen zwingen, ihm noch mehr, immer mehr von dieser flüchtigen, neuartigen Herzbeklemmung zu schenken.

»Jeder Mensch hat noch seine unausgesprochenen Wünsche,« erwiderte er. »Ja – auch jetzt noch hat jeder Mensch seinen Teil Romantik irgendwo sitzen. Sie ist aber verkümmert wie das Gesicht des Grotten-Olms. Verlohnt sich die Suche?« – Seine Augen starrten wie erblindet in den Raum.

Der andere lächelte sehr gütig, wobei ein blauer Funken in seinem Blick zu erwachen schien. Seine Zähne blitzten. Dann fragte er: – »Nicht wahr, darüber ist wohl kein Wort zu verlieren?«

Rupert schwieg verwirrt. Dann meinte er: – »Gut. Nehmen Sie es für Literatur. Man ›sucht‹.«

»Was Sie da vorbringen,« verwies ihn der nordische Mann milde, »sind fadenscheinige, ins Blut vererbte Requisiten einer verlorenen Hoffnung. Blicken Sie sich um. Schmatzende Tiere, geistlos glotzend. Schädelformen in jeder verkommenen Bildung. Durch die Krücke für alles, die man Technik nennt, verwahrloste Körper. Lebensunfähige Figuren, denen die Allmutter Chemie zum Schattendasein verhalf. – Intelligenz? Nun ja: Verschmitztheit in Raumausnützung, Kleben an Millionen lächerlicher Behelfe. Auch Kellerasseln können das . . . Merken Sie nicht, daß dieser Plebs nur vegetiert? Diese Menschheit, die jede wahre Empfindung träge zerkaut, als Würze im Krippenfutter, und sie entwertet als Schale unter das Lotterpfühl speit? Schon der Atem dieser Menschen verpestet. Und Sie wollen mir weismachen, daß Sie an eine ›versteckte Romantik‹ glauben? – Sie steckt höchstens in Ihnen noch, wenn Sie wirklich diesen naiven Verdacht hegen!«

»Aber –,« keuchte Rupert, »Sie entvölkern ja Europa, statt zu helfen! Sie negieren ja dreimal heftiger als ich!«

»Ja, das tue ich!« fuhr der Nordländer empor und reckte sich, als wolle er Schwingen spreizen. Rupert mußte an seinen Vater denken, der gleichsam nur noch mit Stümpfen um sich zu schlagen vermocht. Dieser schien flügge und Kind noch freieren Horstes. – »Ja, ich negiere diese Zeit mit aller Wut und weil ich sie so hasse, haßt sie mich auch. Sehen Sie sich dies Gezücht hier an. Es läßt sich von falscher Musik peitschen, von falschen Schlagwörtern umherhetzen, von falschen Gefühlen lenken; Sklaven! Zerreißen könnten sie mich, die Schacher; einstampfen und abtun: aber ich tue ihnen nicht den Gefallen, den Propheten zu spielen. Ein Prophet muß ein Echo haben, aber so ist es als spräche man große Worte in eine Kloake hinein. Der Unterschied ist nur bei diesem gegenseitigen Haß, daß ich frei bin und sie unfrei. Das Herrliche daran, daß sie es nicht wissen. – Sie sprechen, Geld macht frei. Und ihr Umherrutschen auf dem gemarterten Antlitz dieser Erde nennen sie ›Bewegungsfreiheit‹. – Ein Mensch, der durch Wälder gleitet, der Fjorde zu seinen Füßen leuchten sieht durch ewige Jungfräulichkeit von Birkenstämmen, kommt schneller vom Fleck als diese träge Gesellschaft mit ihrem Hundert-Meilen-Tempo. Noch ist ein Adler brausendes Leben, und ein Aeroplan bleibt tote Masse, mechanisch dahingewirbelt. – Immer habe ich abgelehnt, immer und immer wieder. Durch Ablehnung hilft man sich, spart man sich aus. Das bleibt der Protest der nie eroberten Wildheiten hoch im Norden gegen dieses menschenverseuchte, jeder Gedankenfäulnis offenstehende, jede produktive Idee erstickende Europa. Ich bin ein Stück dieses Protestes. Werden Sie wie ich, dann sind Sie frei. – Und wenn Sie frei sind, dann hegen Sie diese Freiheit wie ein köstliches Eigentum und versuchen Sie nicht, sie anderen aufzudrängen. Man kann keinen Schoßhund zur Luchsjagd brauchen . . . . Vielleicht treffen wir uns noch einmal. Vergessen Sie das letzte Wort nicht. Es gibt noch ›Natur‹. Denken Sie es einmal aus, dies Wort, und prüfen Sie Ihr Herz, ob Sie viel davon wissen.« – Er lächelte, doch schien er Rupert beim Abschied nicht anzusehen, sondern über ihn hinwegzublicken in eine unbekannte, von gespensterhaften Gewalten belebte Ferne hinein. Während er davonschritt, schien seine Figur zu schweben, so elastisch trat er auf. – Sein blonder Kopf leuchtete noch lang im Dunst, bis er eine Tür des ausgedehnten Raumes erreicht hatte und darin untertauchte. Rupert vermeinte das Leuchten noch sekundenlang zu bemerken, so wie der Eindruck eines Lichtstrahles im geschloßnen Auge weiterzögert. Doch war es nur das Messing der Türverschalung, das trübe herüberfunkelte. – Der Kellner erschien; wie ein Reptil hatte er sich durch die Tischreihen geschlängelt und heimste mit seiner bleichen Pfote die ausländische Banknote ein, die der Fremde zurückgelassen. Er führte sie an seine trüben Augen und steckte sie mit schattenhaftem Schmunzeln in das Innere seines bordeauxroten Frackes. – Ein schwirrendes, kleines Getöse entstand in seiner Westentasche. Er nahm einen ovalen Gegenstand hervor und versenkte die Zapfen eines kleinen Kontaktes an einer Drahtspule mit gewohnheitsmäßiger Schnelligkeit im kupfernen Tischbein. Hierauf hielt er das ovale Ding ans Ohr und murmelte: »Dux«. – Rupert blickte nach dem Musikpodium hinüber, dort war gleichzeitig das Wort »Dux« aufgeflammt. Er sprang empor. – »Sind Sie das, Herr?« grinste der Kellner matt. »Amüsanten Zufall nenne ich das . . . Sie werden ans Telephon gewünscht.« – Rupert zahlte und rannte, von einer seltsamen Eile vorwärtsgetrieben, dem Ausgang zu. Eine Beklemmung saß ihm ums Herz: seltsame Trauer, vermischt mit brennender Erwartung; als habe er noch in allernächster Zeit ein eingreifendes Erlebnis zu gewärtigen. – Die Telephonzelle schloß sich hinter ihm; das große Murmeln verlosch wie abgehackt, als schließe sich eine pneumatische Tür an einem Käfig voll geräuschvoller Tiere. – Er starrte in den schwarzlackierten Trichter. Dort stand auf der matten Milchglasplatte, zur Handgröße geschrumpft, eine gebeugte Figur, sein Vater, und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. – Er hätte ihn nehmen und ihn in die Tasche stecken mögen, nur um dieser aufgerissenen Augen ledig zu sein. – Etwas wie schlechtes Gewissen regte sich schmerzlich in ihm. Dabei keuchte die vertraute Stimme geisterhaft so laut, als befinde sich der Sprechende unsichtbar neben ihm in der Zelle; so klar, als müsse Rupert jenen Atem stoßweise im Nacken spüren. – »Ich glaube, mein Lieber, daß es an der Zeit ist. Gut, daß ich Dich finde. Komm herüber.«

Rupert hängte ein. Das Bild auf der Milchglasplatte erlosch und es war, als ob ein verhauchender Seufzer in der engen Zelle lebendig bleibe. – Er taumelte hinaus. Die große Geräuschwoge überspülte ihn wiederum und das fiebernde Nachtleben. Er nahm einen Hochbahnzug. An dem Fenster schwirrten, wie Kettenglieder aus trübem Kristall, Dachgärten vorüber. Er warf durch die Schächte der Ventilatoren Blicke in Bühnenräume, Billardsäle, Schwimmbäder, Börsenhallen; dies alles flitzte vorüber wie Spielzeug im Traum. An den zehn Stationen, die der Zug anlief, und an denen er ruckweise hielt, elastisch gebremst, drängten sich jedes einzelne Mal Horden wimmelnder Menschen, ein Durcheinander von Kokotten, Bummlern, steinern aufgepflanzten Schutzleuten, erregten Maklern, huschenden Hochstaplern und verschwimmenden, undefinierbaren Gesichtern. – Das Lichtschild seiner Straße flammte auf. Er stürzte hinaus. – Bevor er zum Dach des eigenen Hauses einbog, hatte er eine stählerne Brücke zu überschreiten, zu der die Himmelsluft freien Zugang fand. Sie fuhr, aus den riesigen Nüstern eines Dämons geblasen, keuchend in die Lücke hinein, die von den gläsernen Straßenüberwölbungen frei gelassen wurde. In diesem unendlichen Windhauch war verwischter Sternenglanz und der Schrei eines hohen Vogels. – Rupert zögerte einen Moment, und in seinem Hirn wuchs riesengroß das Wort, das abgenutzt und blechern klirrende Wort, das ihm der Fremde zu guter Letzt auf den Marmortisch hingeworfen; das Wort: »Natur«. Nicht die Buchstaben waren es, die in sein Gedächtnis geheftet waren wie stählerne Nägel, sondern das innerlich ausgefüllte Wort war's, wie ein lebendiges, dunkles, von allen Möglichkeiten trächtig gehendes Ding. – Hier dunstete die Millionenstadt, diese graue Wüste aus schlechtgefeilten und gehämmerten Zweckmäßigkeiten, vom Schweiß sinnlos vergeudeten Lebens, und dort oben spielten wie immer freie Kräfte. – Irgendwo regte sich noch ein Sinn, noch ein Zweck und noch eine Harmonie. Vielleicht hatte sich alles Menschentum geflüchtet und harrte dort oben der Stunde, um neu herniederzusteigen. – Der Schmerz der Gegenwart packte ihn wieder; des Wärters Schritt im Gefängnis dröhnte. Er riß sich los und eilte an die Tür, die zum Liftschacht führte. – Nach einer Minute stand er im Vorplatz der Wohnung. Sie war taghell erleuchtet und totenstill. Der Alte saß ihm zugewendet auf einem Sessel in meditierender Stellung wie ein östliches Bild. – Im Rahmen der Tür hockte er dort hinten und nickte ihm zu. Seine Augen hatten nichts aufgerissen Schreckhaftes mehr. Sie waren sanft verschleiert, und die Dinge spiegelten sich darin, so schien es, wie in einem geruhsamen Teich. – »Komm nur herein,« flüsterte er dem Sohn zu. »Es ist alles schön und gut, denn nun begehe ich das Fest jenes Zustandes, den die Menschen Tod nennen.«

Drittes Kapitel

Diese Worte des Alten klangen so gelassen und ruhig, mit so selbstverständlicher Gebärde dahingesagt, daß Rupert den Aufschrei, der ihm in die Kehle stieg, unterdrückte. – Es war etwas wie eine hohe Unglaubwürdigkeit in dem Ausspruch, als ob er eigentlich symbolisch gemeint sei. – Zu dem Fest hatte sich der Alte geputzt. Er trug ein dunkelblaues Gewand wie das eines Mandarinen oder Priesters. Auch wenn er meinte, was er sagte, das fühlte man, so würde er fast unmerkbar in diesen Zustand hinüberwandeln, nur vom Rascheln seines Mantels begleitet; würde die Stufe leicht nehmen, mit Grazie ohne Erschöpfung. Denn sie führte ja hinauf und nicht hinunter. Dieser ganze Aufwand; die überall flammende Beleuchtung, die besonders schöne, auf dem Tisch entbreitete Decke, gaben der Handlung häuslich Intimes, und nahmen dem Vorsatz (denn das Ganze glich irgendwie einem Vorsatz) durchaus alles grausig Erzwungene. – Der Alte sah sogar noch frischer aus als gewöhnlich und es war schier unglaublich, mit welch freudiger Anteilnahme an sich selbst er der eigenen Auflösung beiwohnte. In seinen Augen, die wie blasse Aquamarine schimmerten, spiegelten sich schöne Dinge, die jenseits der Grenze lagen. Er leuchtete von innen heraus. Die Seele rüstete sich zum Fest. Sie war wie ein Haus, das kurz vor dem Abschied seiner Gäste alle Räume hell erstrahlen läßt und hier und da ein Fenster öffnet, aus dem man noch die letzten Takte einer Musik vernehmen kann. – Dies alles nahm Rupert mit keinerlei Erstaunen wahr; er war ja vorbereitet auf einen ähnlichen Empfang; nur auf dem Fernsprechbild war es ihm erschienen, als habe der Alte einen Moment gewankt und die Hilflosigkeit dessen gezeigt, der dem Abgrund einen unvorsichtig verfrühten Blick geschenkt. Da hatte er sich noch mitten auf der dünnen Brücke befunden, von der aus man weder rechts noch links schauen darf. Hatte mit aller Willenskraft sich Gleichgewicht bewahrt und war dann mit der Zielbewußtheit eines Gebirgstieres geschritten. – Jetzt, mit Ruperts Eintreffen, war die Brücke überwunden. Noch war das jenseitige Ufer nicht ganz erreicht, aber schon dämmerten die Wäldermassen des Jenseits am Horizonte auf. Je mehr die äußere Sehkraft abnahm, desto schärfer blühte die innere auf. Hinter den blauen Bällen seiner Augen schienen innere Lichter aufzugehen; von innen heraus schienen sie neuen und fremdartigen Glanz aufzusaugen und von sich zu strahlen. – Rupert trat einige Schritte auf ihn zu, aber er vermochte es nicht über sich, ihm wie gewöhnlich die Hand zu schütteln. Denn der Alte behielt seine meditierende Haltung bei und hatte etwas Abweisendes trotz aller freundlichen Worte. Ein quälender Zwiespalt regte sich in Rupert, ob er nicht die Stirn zwischen die dürren Knie des Vaters betten solle, mit einem letzten Versuch ihn von diesem Vorhaben zurückzureißen durch die wilde Anklage: »Du gehst zu früh, du hast mir noch nicht alles gesagt.« – Er unterließ es, denn der Alte gab ihm sofort die Ruhe wieder. Mit seltener Hellhörigkeit hatte sich das Haupt geneigt; es war wie ein ganz leichter Schimmer zwischen den Augenbrauen, als er kopfschüttelnd sprach: – »Du mußt nicht glauben, daß ich mich auch nur um eine Minute zu früh auf den Weg mache. Ich habe Dir nicht umsonst gesagt, daß ich Dir Aufklärung schuldig bin. Was ich an Gütern habe, bekommst Du, aber darüber hinaus bekommst Du ein paar Worte, die Dich verhindern werden, denselben Enttäuschungen nachzulaufen wie ich.«

»Ich ahne, was das in der Hauptsache für ein Wort sein wird,« sprach Rupert und setzte sich mit grenzenloser Erleichterung auf den Sessel, der um einige Meter von dem des Alten entfernt stand. Seine Stimme war hell und voll Keckheit, gelassen gemacht durch die Sachlichkeit des Alten. – »Es wird dies alles auf eins hinauslaufen,« – und er sah dabei zum Vater lauernd hinüber, – »nämlich auf das Wörtchen ›Natur‹.« – In dem runzeligen Gesicht drüben blühte ein Lächeln auf, das vorüberwanderte wie Sonnenblitz auf einem Strom in regengrauer Steppe.

»Du hast da ein Wort gesprochen, worin sich freilich vieles zusammenfassen läßt. Wer hat es Dir gesagt?«

»Kurz bevor Du mich riefst,« berichtete ihm Rupert lebhaft; »ein blonder Mann, den ich im Café traf.«

»Du erweckst mein Interesse.« Die Stimme des Alten steigerte sich und wurde hell. Aus dem tiefen Celloklang, mit dem er die Begrüßung geleitet, wurde seine Rede fast zum Staccato auf heller Geigensaite. »Ein blonder Mann! – Wie sah er aus?«

»Er war groß und hatte blaue Augen, denen die Deinen jetzt gleichen.« – Rupert suchte nach Worten. – »Es war etwas an ihm, was ich noch nie bei einem Menschen erlebt. Er las meine Gedanken; ein blonder Henker war's, versichere ich Dich, der mit einem einzigen Hieb seines stählernen Gedankenschwertes die Köpfe um uns herum absäbelte. Ja, wahrhaftig; ich hatte nach seiner Rede das Gefühl, als wären wir einsam unter lauter Kopflosigkeiten. Er ließ dem ganzen Zeitgeist keine Krücke mehr, um daran zu humpeln, am Schluß war dieser nur noch ein formloser Rumpf, der sich mit Motorbetrieb fortbewegte. Um es deutlich zu sagen: er öffnete mir die Augen dafür, wie vollkommen scheußlich und nichtssagend das ist, was wir heutzutage Kultur nennen.«

»Ein prachtvoller Mann,« schwirrte die Stimme des Alten auf; »ein guter Mann das. Er hat mir vorgearbeitet, dieser Sendbote. Du bist in der richtigen Verfassung. Er gehört auch zu den Seltenen, die . . . Hat er Dir seinen Namen genannt? Er gehört einer Sekte an, verstehst Du; und es gibt ein Oberhaupt dieser Sekte . . .«

»Nein, einen Namen hat er nicht genannt, er warf mir nur das Wörtchen ›Natur‹ auf den Tisch und sagte, damit könne man allerhand machen. Es ist merkwürdig, wenn mir jemand anders diesen Rat gab, so kam er mir abgegriffen vor, als könne man nichts damit kaufen. Aber bei ihm hatte er einen Klang wie von Gold.«

»Versteht sich, versteht sich,« murmelte der Alte beifällig. »Nun, neugierig bist Du ja schon. Du wirst den Mann auch wohl nicht das letztemal gesehen haben. Nun laß Dir erzählen, daß diese Begegnung keine rein zufällige ist, sondern daß diese Leute die Witterung voneinander in der Nase haben. Denn daß Du nicht schon dieser Sekte angehörst, liegt nur an meiner eigenen unfaßbaren und unverantwortlichen Blindheit.«

»Wie das, Vater?«

»Also höre!« – Der Alte hob das Gesicht zur Decke. Es war, als ob seine Nüstern leise vibrierten. – »Vor dreißig Jahren; ja, – genau vor dreißig Jahren war es, daß ich auf diesem selben Stuhl saß, mit dem abgestempelten Patent in der Tasche, und mich freute. Ich fingerte an dem Patent, zog es hervor und roch an dem frischen Stempel. Er duftete nach Siegellack, und das kam mir so schön vor, wie das seltenste Rüchlein Arabiens. Ich hatte jahrelang darum gekämpft, und nun hatte ich die Beglaubigung und die offizielle Erlaubnis, Gelder einzuschaufeln, die mir vor der Nase lagen. – Bonaparte hätte sich nicht kindlicher über sein Lentnantspatent freuen können als ich, der ich damals schon an die fünfzig war. Die Macht! – verstehst Du. Ich saß hier im Sessel und streichelte meine Macht