Der Butler 05: Die Insel - Andreas Zwengel - E-Book

Der Butler 05: Die Insel E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Ein Kreuzfahrtschiff der AIDA-Flotte wird von Kreaturen aus dem Meer angegriffen. Ihr Schlupfloch scheint eine Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist, inmitten der Nordsee zu sein. Auf diesem mysteriösen Eiland kämpfen Gestrandete um ihr Leben.

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Seitenzahl: 163

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DER BUTLERBand 5

In dieser Reihe bisher erschienen:

2401 J. J. Preyer Die Erbin

2402 J. J. Preyer Das Rungholt-Rätsel

2403 Curd Cornelius Das Mädchen

2404 Curd Cornelius Die Puppe

2405 Andreas Zwengel Die Insel

2406 Andreas Zwengel Die Bedrohung

2407 Andreas Zwengel Teneriffa-Voodoo

Andreas Zwengel

DIE INSEL

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckNach einer Idee von Jörg KaegelmannRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mark FreierIllustrationen: Jörg NeidhardtSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-506-7

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Die Kreuzfahrt

Das Kreuzfahrtschiff AIDAmar hatte termin­ge­recht abgelegt. Randvoll mit vergnügungswilligen und ent­spannungssuchenden Gästen ­verließ es den Hamburger Hafen und steuerte das erste Etappenziel seiner mehrtägigen Reise an. Die erste Station war die Stadt Bergen, von dort aus ging es die norwegische Küste hinunter nach ­Stavanger und ­Kristiansand. Anschließend würden sie noch in Oslo anlegen, bevor die Reise in einer Woche in Warnemünde endete. Aber daran wollte noch niemand ­denken, der gesamte Urlaub lag noch vor ihnen.

Bis zu seinem vierzigsten Geburtstag hatte sich Oliver Osterkamp nie bewusst gemacht, dass er älter wurde. Aber dann traf es ihn wie ein Schlag. Mit einem Mal schien seine Lebensuhr gewaltig vorzugehen. Wenn er sich kämmte, verlor er dabei Haare, und die verbliebenen wurden schneller grau, als er sie auszupfen konnte.

Das war der Anfang vom Ende. Osterkamp wusste es genau, sein Vater hatte dieselben Symptome gezeigt. Er konnte sich seine Zukunft bereits ausmalen. Der Bauch wurde schlaff, die Muskeln verkümmerten. Er vertrug keine Anstrengung mehr, ohne dass ihm die Luft ausging, und jeden Abend würde ihm der Rücken schmerzen. In spätestens fünf Jahren wäre er ein Wrack. Er würde seinem Sohn Finn nicht mehr in die Augen sehen können, wenn der ihn fragte, warum er nicht mehr mit ihm Fußball spielte. Seine Tochter Fiona würde ihn ihren Freundinnen als einen Onkel vorstellen, der nur entfernt mit ihr verwandt war, weil sie sich für ihn schämte. Und was war mit seiner Frau Steffi? Wer sollte sich um sie kümmern, wenn er nicht mehr dazu in der Lage war. Impotenz war nur eine der Folgeerscheinungen des körperlichen Zerfalls.

Vierzig Jahre alt, und die Midlife-Crisis hatte ihn voll erwischt. Eigentlich sollte es ein ruhiger und gemütlicher Familienurlaub werden. Seine Frau hatte den Urlaub hinter seinem Rücken geplant und ihm am Morgen als zweites Geburtstagsgeschenk überreicht. Das erste Geschenk war etwas persönlicher und intimer gewesen. Genau genommen konnte er durchaus zufrieden sein, er hatte zwei gesunde, aufgeweckte Kinder, eine wundervolle Frau, ein Auto, ein eigenes Haus und einen Beruf, der ihm Spaß machte, selbst wenn der Stress ihn schon Jahre seines Lebens gekostet hatte. Ruhe, das war das magische Wort. Nichts anderes wollte er in seinem Urlaub haben. Die Kinder waren alt genug, um sich selbst zu beschäftigen, aber andererseits noch zu jung, um ihm Ärger anderer Art zu bereiten. Kurzum, beide befanden sich innerhalb der perfekten Altersspanne.

Seine Frau Steffi lächelte fröhlich, als sie über das Deck auf ihn zukam. Nur er bemerkte das leichte Hinken ihres linken Beines. Daran war ein Unfall in ihrer Jugend schuld, der ihre vielversprechende Karriere als Tänzerin jäh beendete. Bei der Generalprobe vor einer wichtigen Veranstaltung kam sie nach einem Sprung so unglücklich auf, dass sie sich im Kniegelenk drehte. Damals hatte sie sich einer Reihe von langwierigen Operationen unterziehen und monatelang das Bett hüten müssen. Als sie endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste sie praktisch neu laufen lernen. Heute fiel das nur noch den Menschen auf, die sie schon sehr lange kannten.

„Ich habe eine Liste von Aktivitäten bekommen, die hier an Bord unternommen werden können. Es gibt sogar einen Jugendtreff.“ Beim letzten Wort zwinkerte sie ihrem Mann zu und gab ihm so zu verstehen, was sie vorhatte, sobald die Kinder aus der Kabine waren.

Osterkamp lächelte und reichte die beiden zusammengehefteten Blätter weiter. Fiona nahm sie entgegen und überflog sie kurz, während ihr kleiner Bruder ständig versuchte, ihr die Blätter aus der Hand zu reißen.

Jeder von ihnen hatte bereits feste Pläne für seinen Aufenthalt auf dieser schwimmenden Stadt. Das Angebot war groß genug, um in den sieben Tagen an Bord keine Langeweile zu verspüren. Finn würde in den Kid’s Club einziehen, Steffi zwischen Sonnenliege und Jacuzzi pendeln, und Osterkamp wollte im Golf Driving Cage versuchen, sein Handicap zu verbessern, das momentan diesen Namen auch noch verdiente.

Nur Fiona war noch unentschlossen, da ihrer Meinung nach alles für Jüngere oder für Ältere war. Entweder uncool, blöd, langweilig, spießig oder peinlich. Die üblichen Empfindungen einer Lebensphase, bei der jeder froh war, wenn sie vorüber war. Besonders die Eltern der Betroffenen.

„Und was hältst du davon?“, fragte Osterkamp.

„Ganz nett“, murmelte die Vierzehnjährige. Echte Begeisterung klang anders.

„Willst du mit Finn daran teilnehmen?“

„Mal sehen“, antwortete sie unentschlossen, und Osterkamp wollte nicht weiter bohren, weil sie ihn für ihr Alter schon erschreckend schnell durchschaute. Er hasste es, wenn seine Tochter dieses wissende Lächeln aufsetzte, mit dem sie sagen wollte, dass sie wusste, warum Mamis und Papis manchmal allein sein wollten.

Der Pferdeschwanz, der ihre langen blonden Haare bändigte, konnte keine Kindlichkeit mehr vortäuschen, ebenso wenig wie die beiden kleinen Hügel, die sich von innen gegen ihr T-Shirt drängten. Osterkamp hielt sich für einen aufgeklärten Mann, und er hatte sich geschworen, nicht wie andere Väter aus allen Wolken zu fallen, wenn sein kleines Mädchen zum ersten Mal ihre Periode bekam oder einen Freund hatte. Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass ihm diese Entwicklung gefiel. Der Gedanke daran bereitete ihm Bauchschmerzen. Aber er konnte sie auch nicht einfach vor der Welt verbergen und zu Hause einschließen. Steffi hatte schon versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er hatte immer wieder abgeblockt und ihre Bedenken als lächerlich abgetan.

Steffi klatschte in die Hände. „Ich werde noch etwas Ordnung in den Kabinen schaffen, wir treffen uns dann im Speisesaal. Warum geht ihr nicht mal auf das Oberdeck, dort soll es einen Abenteuerspielplatz geben.“

„Abenteuerspielplatz?“ Finn war sofort Feuer und Flamme.

Wenn Kinder doch nur immer so unkompliziert wären, dachte Osterkamp.

Fiona war nicht so erfreut über den Gedanken, ihre Zeit auf einem Kinderspielplatz zu vertrödeln, und wollte sich absetzen. „Ich werde mal bei dem Jugendtreff vorbeisehen“, sagte sie und ging los, ohne die Antwort ihres Vaters abzuwarten.

„Dann bleiben also nur noch wir beide“, sagte er zu Finn.

„Ist doch okay, oder? Wer braucht schon Mädchen?“

Osterkamp lachte. „Du hast recht.“

Finn rannte zu einer Wippe und setzte sich darauf, dann forderte er seinen Vater auf, mitzumachen. ­Osterkamp wollte zuerst abwinken, aber es war leider niemand ­anderes da, der mit seinem Sohn spielen konnte, also nahm er Platz. Sofort ging Finn in die Luft. Obwohl Osterkamp versuchte, sich so leicht wie möglich zu machen und immer weiter zur Mitte rutschte, war es Finn unmöglich, seinen Vater vom Boden zu bekommen. Sie entschlossen sich schnell zu etwas anderem. Doch Osterkamp musste erfahren, dass sein Hintern für die Rutschbahn zu dick, sein Körper für das Klettergerüst zu breit und sein Gewicht für die Schaukel zu hoch war. Nach solchen deprimierenden Erkenntnissen beschränkte er sich schließlich darauf, Finn beim Spielen zuzusehen. Früher mal war er stolz auf seine Fitness gewesen, doch da hatte er auch noch körperlich gearbeitet. Manchmal hasste er den beruflichen Aufstieg, den er gemacht hatte.

„Papa, was ist das für eine komische Wolke?“

Osterkamp folgte dem Blick seines Sohnes und sah, was sich dort am Himmel zusammenbraute.

„Ich will nach Hause!“

„Das zieht vorbei“, sagte Osterkamp beruhigend.

„Wirklich?“ Der fünfjährige Finn war von Natur aus misstrauisch. Er traute keinen maskierten Männern, wie Batman oder dem Nikolaus, keinen Mädchen mit Zöpfen und vor allem nicht seinen Eltern, wenn sie ihn nur beruhigen wollten.

Osterkamp hatte schon früher schwere Gewitter am Meer aufziehen sehen, doch die sahen anders aus. Sie kündigten sich dunkelblau am Horizont an, krochen über einen hinweg und erschienen dabei immer dunkler, bis sich das Gewitter entlud.

Diese Wolke hier gehörte zu einer besonderen Art. Sie erschien mitten in einem strahlendblauen Himmel und breitete sich von dort in alle Richtungen aus.

Als Finn sie entdeckte, war sie noch recht unscheinbar gewesen, doch während Osterkamp sie betrachtete, wuchs sie rasend schnell und vervierfachte ihre Größe innerhalb weniger Minuten. „Werden wir jetzt nass?“, fragte Finn und schien das Wetter als persönliche Beleidigung zu empfinden, weil es die Pläne für seine Deckaktivitäten durchkreuzte.

„Die Wolke wird über uns hinwegziehen, du wirst sie gar nicht bemerken“, versprach Osterkamp. Im selben Moment erlosch das Sonnenlicht und das gesamte Deck lag im Schatten. Die Wolke hatte sich so weit vergrößert, dass sie die Sonne verdeckte.

„Vielleicht müssen wir doch einen kleinen Regenschauer ertragen“, schränkte Osterkamp seine Prognose ein. „Aber der geht sicher schnell vorüber.“

Er sah zu den anderen Passagieren, die ebenfalls begannen, sich Sorgen zu machen, und jemanden suchten, bei dem sie sich beschweren konnten.

„Papa?“, rief Finn in seinem Rücken.

„Ja?“

„Da in der Wolke, ist das der liebe Gott?“

Er drehte sich zu seinem Sohn um. „Wovon redest du?“

„Er sieht nämlich gar nicht lieb aus.“

Osterkamp blickte nach oben und sah deutlich ein Gesicht in der riesigen Wolkenwand, die inzwischen den gesamten Himmel bedeckte. Nein, nicht einfach ein Gesicht. Es war ein Monster, eine dämonische Fratze, die ihr Maul aufriss, als wolle sie das gesamte Kreuzfahrtschiff verschlingen. Die AIDAmar steuerte direkt dem Schlund entgegen.

Mick Bondye und Cassandra Benedikt wollten nicht weiter untätig abwarten, sondern endlich etwas unternehmen. Sie beschlossen, sich auf die andere Ebene zu begeben und dort nach den Mitgliedern der verschwundenen Geheim­organisation zu suchen. Sobald sie deren Aufenthaltsort kannten und sich überzeugt hatten, dass es ihnen gut ging, könnten sie sich unbemerkt wieder zurückziehen und eine groß angelegte Rettungsaktion planen.

Der Butler, mit dem sie gerade ihre erste Einsatz­besprechung am Frankfurter Flughafen gehabt hatten, gab ihnen sein Okay für diese Mission, auch wenn der Voodoo-­Vampir und die Ebenenwechslerin den Eindruck hatten, dass ihr neuer Vorgesetzter noch keine richtige Vorstellung von der anderen Ebene besaß. Aber dieser James, wie er sich ihnen vorgestellt hatte, verfügte über einen guten ­Instinkt und genug Größe, um sich auf das fachliche Urteil von anderen zu verlassen. Das Gespräch mit ihm war umfassend und sehr informativ gewesen. Nachdem Mick und Cassy in ihre momentane Unterkunft in der Nähe von Köln zurückgekehrt waren, trafen sie ihre Vorbereitungen für den Ebenenwechsel.

Bei Mick waren sie wesentlich aufwendiger. Er zog sich in seine Schlafröhre zurück und begann mit seinem Ritual. Dazu zog er Schuhe und Strümpfe aus, behielt aber Hemd und Hose an. Diese Bekleidung war keine Bedingung, sondern diente vielmehr seiner Bequemlichkeit. Dann legte er sich auf den Boden und öffnete die kleine Dose mit der stinkenden Paste, die er für den Übergang benötigte. Mick tauchte den Finger hinein und steckte ihn dann in den Mund, um die Paste auf den Innenseiten zu verreiben. Anschließend legte er sich auf den Boden und schmierte sich weitere Paste auf die Augenhöhlen, wo sich die Substanz als feiner Schleim auf der Augenoberfläche verteilte.

Er würde während seines Aufenthalts auf der anderen Ebene in dieser Welt völlig weggetreten sein und damit auch völlig hilflos. Deshalb hatte er einen sicheren Ort gewählt, auf dem sein stofflicher Körper verbleiben konnte.

Völlig unvermittelt durchbrach Mick die unsichtbare Schranke zwischen Diesseits und Jenseits und wechselte auf die andere Ebene. Nun befand er sich also im Jenseits und hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Wo konnte seine Suche beginnen? Dies war keine Umgebung, in der man einfach nach dem Weg fragte. Mick betrat gerade ohne Informationen ein feindliches Land. Er kam sich vor wie jemand, der sich in Flipflops zur Everest­besteigung aufgemacht hatte.

Wo war Cassy? Er sah sich in alle Richtungen um. Seine Partnerin vollzog den Wechsel viel einfacher, ­deshalb war er davon ausgegangen, dass sie schon angekommen sei und ihn erwarte. War sie beim Übergang an einem anderen Ort gelandet? Er selbst wusste, dass er in dieser Phase keinerlei Einfluss nehmen konnte.

Manchmal handelte es sich beim Jenseits nur um eine gespiegelte Version seiner eigenen Welt. Aber das konnte Mick in diesem Fall ausschließen, sonst würde er sich gerade am Rande eines Vorortes von Köln befinden, denn von dort aus war er gestartet. Mick war sicher, dass es in Deutschland keine vergleichbare Landschaft gab.

Er musste sich zwingen, sich nicht von den vielen fremdartigen Details ablenken zu lassen. Alles um ihn herum war nicht nur exotisch, sondern auch gefährlich.

Er befand sich in einer verlassenen Gegend. Der Himmel sah aus wie ein zerlaufener Regenbogen. Die Farben wechselten in Schlieren bis zum Horizont. Der Anblick war bedrückend, denn man verspürte nicht das Gefühl eines freien, endlosen Himmels. Vielmehr wirkte es wie ein Gemälde, das einen zu erschlagen drohte.

Die allgemeingültigen Gesetze der Naturwissenschaften verloren im Jenseits jegliche Bedeutung; es gab auch keinerlei Gesetzmäßigkeiten, wie das Jenseits auszusehen hatte. Es hing von der Persönlichkeit des Übergängers genauso ab, wie von seinem Gastgeber auf der anderen Seite. Im Prinzip war jedes Aussehen möglich.

Das betraf auch Mick selbst. Sein Körper sah zwar noch genauso aus wie zuvor, aber er bestand längst nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus feinstofflichem Ektoplasma. Seine Kleidung war nicht mehr von seinem Körper getrennt, alles bildete eine einheitliche Gestalt.

Aus der Ferne hörte er Jubel und Geschrei. Da es der einzige vielversprechende Hinweis auf Bewohner dieser Ebene war, beschloss er, ihm zu folgen. Mick glaubte, sich einem Volksfest zu nähern. Doch die Lautstärke der Stimmen stieg und fiel, als Reaktion auf etwas, das sie beobachteten. Was er hörte, klang nach Zuschauern bei einem Fußballspiel, und offenbar gab es jede Menge Torchancen. Er schlich vorsichtig näher an den Ursprung des Geschreis heran. Bevor er nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, wollte er sich noch nicht zeigen.

Mick bog den Zweig eines Busches herab, um besser sehen zu können, und spürte sofort ein Prickeln an seiner Hand. Der Busch war giftig und kein harmloser Strauch. Wahrscheinlich war nichts auf dieser Ebene wirklich harmlos, und es gab niemanden, den er fragen konnte, ohne dass derjenige über ihn herfallen würde. Er nahm einen Stock auf, der sich glücklicherweise weder als Schlange noch etwas ähnlich Gefährliches entpuppte, und bog damit den giftigen Zweig herab.

Es waren Zelte mit Fahnen. Fackeln auf langen Stangen standen bereit, um das Geschehen nach Einbruch der Dunkelheit zu beleuchten. Grobe Taue waren zwischen Pfosten gespannt, die man tief in den Boden getrieben hatte. Es handelte sich um einen provisorischen Kampfring, der überall und jederzeit rasch aufgebaut werden konnte.

Das war ein Wanderzirkus oder eine umherreisende Kampfarena. Brot und Spiele waren also auch im Jenseits sehr beliebt. In der Mitte des Ringes lag ein Minotaurus ausgestreckt auf dem Boden, offenbar der Verlierer des letzten Kampfes. Mick betrachtete den muskulösen Menschenkörper und die spitz gefeilten Hörner des Stierkopfes, die in Blut getaucht worden waren. Bei diesem Anblick drängte sich ihm die Frage auf, wie gefährlich dann erst der Sieger sein mochte.

Vier abgemagerte Menschen schlurften in den Ring herein. Sie sahen alt, schwach und krank aus und hoben nicht einmal die Köpfe, als sie von den Zuschauern mit Abfall und Steinen beworfen wurden. Offenbar handelte es sich um Sklaven, die zwischen den Kämpfen den Ring säuberten. Zwei von ihnen sammelten die Gegenstände ein, mit denen sie beworfen wurden, die beiden anderen schnappten sich die Beine des Minotaurus und begannen zu ziehen.

Sie waren wohl selbst verwundert, wie einfach sich das gewaltige Wesen ziehen ließ, aber erst das schallende Gelächter des Publikums sorgte dafür, dass sie sich umdrehten und nachschauten. Mick verzog angewidert das Gesicht, als er sah, wie sie Beine und Unterleib davonschleiften und der Oberkörper liegen blieb. Eine scharfe Klinge musste den Minotaurus oberhalb des Bauchnabels in zwei Hälften geteilt haben.

Die beiden Müllsammler eilten zurück und ergriffen die Arme des Mischwesens, um es zur anderen Seite hin aus der Arena zu schaffen. Mick schaute zu der kleinen Tribüne, die an einer Seite der Arena errichtet worden war. Darauf saß ein Jüngling, der von den Kämpfen nicht sehr beeindruckt schien. Auf der Erde würde Mick ihn für einen Elfjährigen halten, aber das Aussehen konnte auf dieser Ebene täuschen.

Ein junger Prinz der Finsternis, der sich mit Gladiatorenkämpfen die Zeit vertrieb. Auf jeden Fall besaß er einen bestimmten Rang, denn alle um ihn herum bemühten sich sehr, ihm zu gefallen. Mick vermutete, dass der kleine Prinz eine sehr launische Persönlichkeit besaß und harte Strafen gegen jene verhängte, die ihn ärgerten oder langweilten.

Die Kämpfer traten immer paarweise an, um sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Viele Kreaturen kannte Mick zumindest teilweise auch von der Erde, doch hier waren die Bestandteile auf groteske Art durcheinandergemischt. Die Zusammensetzung wirkte völlig willkürlich, wie die Basteleien eines kindlichen Frankensteins. Grauenhafte Gestalten, die sich gegenseitig attackierten, um ihrem Herrn zu gefallen. Auf Mick machte es den Eindruck von Gladiatorenkämpfen in einer Arena. Allerdings gab es nur einen einzigen wichtigen Zuschauer, und der wirkte auch noch sehr gelangweilt.

Ein Wesen mit einem behaarten Affenkörper und ledernen Flügeln trat gegen einen Zentauren an. Die Kämpfer trugen keine Waffen bei sich, sondern gingen mit bloßen Händen aufeinander los. Allerdings wurde die Auseinandersetzung deshalb nicht weniger brutal geführt.

Mick beugte sich weiter vor, aber er war immer noch zu weit entfernt, um gut sehen zu können. Um näher heranzukommen, fehlte allerdings die Deckung. Die ­herrschenden Zustände bereiteten ihm ein mulmiges Gefühl. Er hielt es mit einem Mal nicht mehr für eine gute Idee, sich diesem Lager zu nähern. Er kehrte ihm den Rücken, um sich einen besseren Ort für Auskünfte zu suchen, als der Lärm der Zuschauer urplötzlich verstummte. Mick hatte sich bereits halb zur Seite gewandt und hielt nun überrascht inne.

Die beiden Krieger hatten aufgehört zu kämpfen und drehten sich in seine Richtung. Auch der Prinz erhob sich und sah direkt zu Mick. Es war unmöglich, dass sie ihn sehen konnten. Er war zu weit weg und hatte nur durch eine Öffnung geblickt, die kaum größer als sein Augenpaar war. Trotzdem schienen sie alle ganz genau zu wissen, wo sich der Fremdling befand. Die beiden Kämpfer liefen los, und ein zweites Paar, das als nächstes angetreten wäre, schloss sich ihnen an.

Mick machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen, und schließlich begann er, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Er wusste nicht, wie sie ihn entdeckt hatten, aber es war sinnlos, in diesem Moment darüber nachzudenken. Er musste so schnell wie möglich verschwinden. Mick rannte los und fegte dabei die Büsche aus seinem Weg, ohne auf das Brennen zu achten, das ihre Berührungen verursachte.

Das Kreuzfahrtschiff war vollständig von der dunklen Wolke eingehüllt. Lautsprecherdurchsagen forderten die Passagiere auf, sich zu ihrer eigenen Sicherheit in die Kabinen zu begeben. Die meisten drängten sich jedoch mit ihren Handys und Kameras an den Scheiben, um die drohende Katastrophe zu filmen. Bisher hatte kein Regen eingesetzt, und auch die See war nicht wesentlich rauer geworden. Es gab weder Sturm noch Blitzschlag, kurzum, es war ein sehr merkwürdiges Gewitter.

„Ich will jetzt in den Kid’s Club“, sagte Finn und zog mehrmals an der Hand seines Vaters.

„Gut, ich bringe dich dorthin, während ich deine Schwester suche, aber anschließend gehen wir zu Mama in die Kabine, bis das Wetter wieder besser wird.“

Die Wolke hatte sich über dem Schiff zusammengezogen, und an den Rändern konnte man bereits wieder blauen Himmel erkennen. Allerdings nahm ihre Färbung weiter zu, und sie war inzwischen tiefschwarz.