Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 17: Rachehexen - Andreas Zwengel - E-Book

Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 17: Rachehexen E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Die Stadt Hamburg hat eine dunkle Vergangenheit. Vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden zahlreiche Frauen als Hexen gefoltert und getötet. Die meisten von ihnen waren unschuldig. Doch nicht alle. Nun kehren sie zurück in die Stadt ihrer Qualen, um die Nachfahren ihrer Peiniger büßen zu lassen.Die frischgebackene Schattenchronik-Agentin Claire Hendriksen, eine junge Frau mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, wird in die Hansestadt entsandt, um einen scheinbaren Routinefall zu untersuchen. Es dauert nicht lange, bis sie das wahre Ausmaß der Bedrohung für die Bewohner Hamburgs erkennt.

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Seitenzahl: 172

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SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFELBand 17

In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene

2902 Curd Cornelius Die Riesenwespe vom Edersee

2903 Curd Cornelius & D. J. Franzen Die Ruine im Wald

2904 Curd Cornelius & Astrid Pfister Das Geistermädchen

2905 Curd Cornelius & G. G. Grandt Killerkäfer im Westerwald

2906 Andreas Zwengel Die Stadt am Meer

2907 Michael Mühlehner Gamma-Phantome

2908 Curd Cornelius & A. Schröder Dunkles Sauerland

2909 Andreas Zwengel Willkommen auf Hell-Go-Land

2910 Andreas Zwengel Tempel des Todes

2911 Andreas Zwengel Flussvampire

2912 Andreas Zwengel Die Barriere bricht

2913 Andreas Zwengel Die vier Reiter der Hölle

2914 Michael Mühlehner Der Voodoo-Hexer

2915 Michael Mühlehner Doktor Luzifere

2916 Michael Mühlehner Im Bann des Bösen

2917 Andreas Zwengel Rachehexen

2918 Andreas Zwengel PSI-Schwadron

Andreas Zwengel

RACHEHEXEN

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-528-9

Kapitel 1

Im Morgengrauen saßen die beiden Angler schweigend am Ufer. Seit sechzig Jahren verbrachten sie so Zeit miteinander und brauchten keine Worte mehr. Sie genossen die Stille und die Zweisamkeit. Etwas, dass sie mit ihren Frauen nicht teilen konnten. Vor allem das gemeinsame Schweigen.

Sie wuchsen in benachbarten Häusern in einem kleinen Dorf an der Elbe auf, schon ihre Eltern waren beste Freunde gewesen. Gregor ging zur Bundeswehr, Michael leistete seinen Zivildienst. Gregor übernahm den elterlichen Betrieb im Ort, Michael begann ein Studium in Hamburg. Das war die längste Zeit, die sie in ihrem Leben getrennt voneinander verbrachten.

Gregor heiratete seine Jugendliebe aus dem Ort, Michael verliebte sich in eine Kommilitonin und bezog mit ihr sein Elternhaus, nachdem Vater und Mutter kurz hintereinander verstarben. Gregor und Michael waren gemeinsam im Fußballverein, bei der Freiwilligen Feuer­wehr und dem SPD-Ortsverein. Die meiste Zeit verbrachten sie allerdings beim Angeln.

Der Nebel auf der Elbe war so dicht, dass man das andere Ufer nicht sehen konnte. Selbst die Schiffe waren mehr die Ahnung einer Bewegung und nur durch ihre Geräusche bemerkbar.

Gregor unterdrückte ein Husten, wodurch es nur umso mächtiger ins Freie drängte und einen Hustenanfall auslöste. Er wischte sich mit dem Handrücken Speichel vom Kinn. Nächstes Jahr wurden sie beide siebzig und es war abzusehen, dass sie nicht weiterhin gesundheitlich so viel Glück haben würden. Das Leben hielt eine Menge tückischer Krankheiten bereit und sein immer hartnäckigerer Husten erinnerte ihn jeden Tag daran.

„Margot hat wieder den Spruch gebracht“, unterbrach Michael seine Gedanken.

„Was?“

„Margot. Sie hat es wieder gesagt. Dreimal die Woche macht sie mir die Thermoskanne voll und dreimal die Woche bringt sie den Spruch.“

Gregor wusste, was sein Freund meinte. Margot war Verkäuferin in der Bäckerei, die auf Michaels Weg zu ihrem Angelplatz lag. Die Frau hatte zu jedem Thema einen einzigen Spruch und den brachte sie jedes einzelne Mal. Völlig unerbittlich. Und sie lachte selbst am meisten darüber, so als habe sie ihn gerade zum ersten Mal erzählt. Meistens war es allerdings nicht einmal das erste Mal für diesen Tag. Ihr Spruch für Michael und seine Angelausflüge lautete: Cowboys brauchen es nur einmal im Jahr.

„Ich habe diese ewige Anspielung auf Brokeback Mountain satt“, brummte Gregor, dabei war er nicht einmal derjenige, der sie sich anhören musste, weil er seinen Kaffee von Zuhause mitbrachte. Der Film mochte viel für die Akzeptant homosexueller Beziehungen getan haben, aber er verschaffte auch jeder reinen Männerfreundschaft eine erotische Komponente und einfallslosen Menschen einen Anlass für dumme Sprüche.

„Hörst du das?“, fragte Michael.

„Was denn?“ Er lauschte, hörte aber nichts außer entfernten Schiffsmotoren.

„Es klang wie Gesang.“

„Kann ja sein. Bestimmt schifft gerade einer vom Frachter und singt dabei.“

„Nein, das waren Frauenstimmen.“

Gregor drehte sich zu seinem Freund. „Du hast nicht nur Kaffee in deiner Thermoskanne, stimmt’s? Du weißt, dass sich Helga schon Sorgen deswegen macht?“

„Quatsch, ich bin nicht besoffen. Ich weiß, was ich gehört habe.“

„Wahrscheinlich ein Junggesellinnenabschied, der sich verfahren hat.“ Gregor lachte dröhnend bei der Vorstellung und erntete einen weiteren Hustenanfall. Dann hörte auch er die Stimmen und presste seinen Unterarm auf den Mund, um das Husten zu ersticken. Deutlich waren Frauenstimmen zu vernehmen. Sie sangen ein Lied in altdeutscher Sprache, so weit zurückliegend, dass Gregor kaum ein Wort des Textes verstand. Es war kein fröhliches Lied, aber auch kein trauriges. Stattdessen wurde es mit großem Zorn vorgetragen, das hörte er deutlich heraus, obwohl die Frauen nur leise sangen.

„Ich höre keinen Motor“, sagte Michael verwundert. „Nicht einmal Paddelschläge.“

„Bestimmt lassen Sie sich treiben.“

Michael schüttelte den Kopf. „Nein, da bewegt sich eindeutig etwas stromaufwärts.“

„Wie soll das gehen?“

„Genau deshalb wundert es mich ja so sehr, ­Schlaumeier.“

„Elektromotor?“

„Das ist …“

Vor ihnen zeichnete sich ein Boot ab, das sich lautlos über das Wasser bewegte. Der Nebel blieb undurchdringlich, aber schemenhaft konnten sie drei ­Gestalten aus­machen, die aufrecht und unbeweglich im Boot standen, das nicht mehr war als ein großes Ruderboot. Geräuschlos glitt es an den beiden Anglern vorüber.

„Hallo?“, rief Michael zu dem Boot hinüber, erhielt aber keine Antwort. Die Gestalten reagierten nicht.

„Sollten wir das melden?“, fragte Gregor.

„Seltsam ist es schon“, bestätigte Michael.

Etwas flog in hohem Bogen ans Ufer und landete zwischen den beiden Anglern. Sie drehten die Köpfe und sahen zu einem lavendelfarbenen Stoffsäckchen zwischen ihnen auf dem Boden.

„Bewerfen die uns mit Tee?“

„Ein Geschenk?“

Michael stieß das Säckchen mit dem Zeigefinger an, eine kleine Wolke stieg davon auf.

„Das riecht gut“, sagte Gregor und sog tief Luft ein.

„Stimmt. Aber ich kann nicht sagen, woran es mich ­erinnert.“

Nachdenklich saßen sie auf ihren Klappstühlen, während das Boot vorüberfuhr und flussaufwärts komplett vom Nebel verschluckt wurde.

„Ich habe was am Haken“, sagte Michael. Die Schnur spannte sich und wurde aus dem Wasser gehoben. Er sprang aus seinem Sitz.

Gregor hatte seine eigene Angel abgelegt und stellte sich neben seinen Freund. „Mein Gott, was ist das für ein Brocken!“, rief er. „Hast du ein U-Boot erwischt?“

Sein Freund konnte nicht antworten, er gab Leine nach und suchte sich einen sicheren Stand. Im nächsten Moment war die Schnur abgerollt, die Angel wurde Michael halb aus den Händen gerissen. Er spürte, wie die Haut an den Innenflächen aufriss. Er packte fester zu.

„Lass los, der ist zu groß für dich!“, rief Gregor aufgeregt.

Michael öffnete den Mund, um ihn zu widersprechen und wurde zu Boden gerissen. Er rutschte die Böschung hinunter und landete im Wasser, aber er ließ nicht los.

„Sei kein Idiot!“, brüllte Gregor ihm zu, der am Ufer mitlief.

Michael wurde durch die Elbe gezogen. Er schob eine Welle vor sich auf und schluckte Wasser. Also drehte er sich auf den Rücken, um besser atmen zu können. Kurz sah er seinen Freund mit beiden Armen winkend am Ufer entlanglaufen und so langsam war auch er davon überzeugt, dass es sich bei seiner Hartnäckigkeit um eine sehr schlechte Idee gehandelt hatte. Dann ließ der Zug nach, Michael schnappte nach Luft. Was auch immer sich am anderen Ende seiner Angel befand, es hatte angehalten. Bei seinem Glück machte es gerade kehrt, um ihn ­aufzufressen. Es war groß genug, um ihn zu verschlingen, daran hatte er keinen Zweifel.

Mit einem kurzen Ruck wurde Michael die Angel aus den schmerzenden Händen gerissen. Er strampelte im Wasser und hielt sich mit hektischen Armbewegungen an der Oberfläche, während die Strömung ihn weitertrieb. Er widerstand dem Impuls, so schnell wie möglich ans Ufer zu schwimmen, denn hier lauerte ein Raubtier im Fluss. Sobald er die Flucht antrat, war er Beute. Er drehte den Kopf, als er Schwimmgeräusche hörte. Es war Gregor. Er kam, um ihn zu retten. „Bleib weg, verdammt nochmal! Das Vieh ist hier irgendwo.“

Gregor hielt tatsächlich an. „Konntest du sehen, was es ist?“

„Nein, aber es ist riesengroß. Ich habe überall um mich herum seine Bewegung gespürt. Schwimm zurück!“

„Ich lass dich bestimmt nicht mit diesem Vieh allein.“

„Und was willst du machen, es in den Schwitzkasten nehmen? Es wartet doch nur darauf, dass du nah genug kommst.“ Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, wurde er unter Wasser gezogen.

Lange Sekunden trieb Gregor allein in der Elbe. Die Strömung hatte sie schon weit von ihrem Angelplatz entfernt. Er rief nach seinem Freund, doch der war nirgendwo zu entdecken.

Endlich brach Michael prustend durch die Oberfläche und wedelte mit den Armen.

Gregor vergaß alle Vorsicht und kraulte los, bis er ihn eingeholt hatte. „Halt still!“, befahl er Michael und ­versuchte, ihn zu fassen zu bekommen, um ihn über Wasser zu halten. Die Kälte und die Anstrengung hatten auch ihn bereits an seine Grenzen gebracht.

Gregor wollte ihn von hinten in den Rettungsgriff nehmen und ans Ufer bringen, aber Michael drehte sich herum und zappelte, als würde unentwegt etwas nach seinen Füßen greifen.

„Du musst Ruhe halten, sonst ersaufen wir beide!“, brüllte Gregor, bekam dabei Wasser in den Mund und musste Husten.

Und auf einmal hielt Michael still. Ein grausames Lächeln lag auf seinen Zügen. Er schlug dem überraschten Gregor ins Gesicht. Dann legte er seine Hände um die Kehle seines besten Freundes und drückte ihn unter Wasser.

Kapitel 2

Hauke Jessen drückte sich wie gewöhnlich in einer Ecke herum, nippte an seinem Bier und beobachtete die attraktiven Frauen auf der Party. Niemand achtete auf ihn und er wollte, dass dies so blieb. Seit der Grundschule erlebte er, was geschah, wenn andere ihn bemerkten. Sie verspürten sofort einen unwiderstehlichen Drang, ihn zu quälen.

Aus seiner Deckung heraus beobachtete er die Söhne aus reichem Hause, die zum Abitur einen Sportwagen geschenkt bekamen, während des Studiums ein Penthouse wie dieses bewohnten und keine Geldsorgen ­kannten. Hauke sah ihnen in der Mensa zu, wie sie sich ihre Tabletts vollluden, dann in jedem Schälchen nur ein paar Mal herumstocherten und den Rest stehen ließen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie waren sich zu fein, ihr Tablett wegzuräumen. Und diese Mistkerle scharten hier wie überall die schönsten Frauen um sich.

Hauke wünschte sich, dass jemand sie für ihr Verhalten büßen lassen würde. Es musste doch andere wie ihn geben, denen diese Kerle ebenfalls auf den Geist gingen. Andere, die es wagten, etwas gegen sie unternehmen. Hauke wünschte, er würde sich das trauen. Die Musik wechselte und anstatt der ohrenbetäubenden elektronischen Beats erklang ein Mitgrölschlager aus grauer Vorzeit, der sofort auf Begeisterung stieß. Hauke nahm einen großen Schluck Bier und als er die Flasche absetzte, bemerkte er die junge blonde Frau, die vor ihm stand und ihn besorgt ansah. Wegen des Lärms konnte er nicht verstehen, was sie sagte, aber sie bewegte eindeutig die Lippen. Aus Gewohnheit drehte er sich um, um nachzusehen, mit wem sie sprach. Doch hinter ihm stand niemand. Verwirrt wandte er sich wieder zu der Frau, sie sprach tatsächlich mit ihm. Er versuchte zu antworten, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Glück, dass man bei dem Lärm nichts verstehen konnte.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie dichter an seinem Ohr und klang ernsthaft beunruhigt.

Machte er so einen furchtbaren Eindruck? Er setzte noch zweimal zum Reden an und bekam jedes Mal nur unverständliche Laute heraus. Sein Kopf wurde knallrot.

„Partys interessieren dich wohl nicht“, stellte sie fest. Die Musik hatte wieder gewechselt und die instrumentalen Ambient-Klänge ließen sogar Gespräche zu. „Was hörst du denn so?“

„Nick Cave“, antwortete Hauke und bereute sofort, eine ehrliche Antwort gegeben zu haben. Keine Details aus seinem echten Leben.

„Du magst deprimierende Songs?“

„Ich finde sie nicht deprimierend.“

„Na ja, also er singt über …“

„Ich achte nicht auf die Texte. Es ist die Stimmung, die der Song in mir erzeugt.“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ich mag eher Musik, zu der ich tanzen kann.“

„Ich tanze nicht.“

„Wir sollten unbedingt mal miteinander ausgehen“, sagte sie und lachte fröhlich.

Obwohl das eindeutig ironisch gemeint war, fand Hauke sie sehr sympathisch und hübsch noch dazu. Sie gehörte nicht zu den oberflächlichen Angebern, die sich auf dieser Penthouse-Party im Übermaß tummelten. Allerdings machte er sich auch keine Illusionen. Er konnte ihr auf keinem Gebiet das Wasser reichen und sie hatte ihn nur angesprochen, weil etwas an ihm ihre Besorgnis geweckt hatte. Er überlegte, wie er möglichst unauffällig das Gespräch beenden konnte. Dann sah er die Rothaarige, die er schon den ganzen Abend beobachtet hatte. Sie lachte gerade sehr laut über einen bescheuerten Spruch von Linus, dem gutaussehenden Besitzer des Penthouses. Der dreiundzwanzigjährige Eigentümer dieser sündhaft teuren Immobilie im Herzen Hamburgs. Ein Geschenk seines Vaters, um standesgemäß studieren zu können. Linus verkörperte wirklich alles, was Hauke an solchen Leuten verabscheute.

Mit zwei Zügen leerte er seine Flasche. „Ich geh mir noch ein Bier holen“, erklärte er und ließ die Blondine stehen. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drängte er sich durch die Menge, um in die Nähe von Linus und der Rothaarigen zu gelangen. Beide waren gerade im Gespräch mit zwei Kerlen, die nicht den Eindruck machten, auf diese Party zu gehören. Genau wie Hauke. Der eine von ihnen besaß eindeutig zu viele Tattoos, um in diesen Kreisen zu verkehren. Zu viele, um sie durch Kragen und Manschetten eines teuren Anzugs zu verbergen. Sein Kumpel besaß zwar teure Kleidung, trug aber eine Fliege, die sein Hemd und ihn selbst Jahrzehnte zu alt erscheinen ließ. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, handelte es sich nicht um eine freundschaftliche Unterhaltung.

„Aber wir glauben nicht, dass du die Bullen rufst“, sagte der Tätowierte und hielt mit spitzen Fingern triumphierend einen Beutel in die Höhe. „Oder willst du im Knast landen?“

Die Rothaarige legte den Kopf schief. „Ist es das, was ich denke?“

„Spitzenqualität und deutlich über Eigenbedarf“, bestätigte der Tätowierte.

„Wo hast du das her?“

„Schlafzimmer. Von unten an eine Nachttischschublade geklebt. Uralter Trick. Und ich wette, im Safe liegt noch mehr davon. Deine Eltern werden sicher begeistert sein, wenn du die Polizei im Haus hast, Linus.“

„Und wenn du sie in die Zeitung bringst“, ergänzte der Fliegenträger. Beide übertrafen sich darin, Linus die Folgen auszumalen. Und sie hatten Recht. Er hatte viel zu verlieren. An erster Stelle den guten Ruf seiner Familie.

„Wenn du glaubst, ich würde das Koks nicht einsetzen, dann hast du dich getäuscht. Ich ruf sofort die Bullen und zeig denen, was wir gefunden haben“, sagte der Tätowierte gefährlich laut. Einige der Umstehenden spitzten bereits die Ohren.

Der Rothaarigen schoss nun die Zornesröte ins Gesicht. „Wem würde die Polizei wohl mehr glauben, einem Schmarotzer, der sich selbst auf eine Party eingeladen hat oder dem Sohn eines der mächtigsten Geschäftsleute der Stadt?“

Der Tätowierte sah die junge Frau kühl an. „Und wem würde die Polizei wohl eher zutrauen, sich einen solchen Beutel voll Koks leisten zu können? Nah? Es gibt bestimmt Fingerabdrücke vom Besitzer auf dem Beutel. Oder DNA-Spuren, irgend sowas halt.“

Linus ließ das Beweisstück nicht aus den Augen. Das Kokain hatte bereits beträchtlich an Menge verloren, weil der Tätowierte im Laufe des Abends so vielen gutaussehenden Frauen davon erzählt hatte. Da er all den augenklimpernden Schönheiten nichts hatte abschlagen können, war das Druckmittel inzwischen auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Aber die konkrete Menge spielte keine Rolle, wenn der Familienname von Linus mit der Droge in Zusammenhang gebracht wurde.

„Was verlangst du?“, fragte der Gastgeber.

„Erstmal, dass du von deinem hohen Ross absteigst“, sagte der Tätowierte.

Hauke wartete ab. Das versprach interessant zu werden. Er beobachtete gespannt, wie sich die Situation entwickelte. Linus redete beschwichtigend auf den Tätowierten ein.

Aber der genoss einfach nur seine Position. „Mein Schweigen wird dich einiges kosten“, sagte er gerade und schwenkte den Beutel grinsend in der Luft. Linus nutzte die Gelegenheit und sprang vor, um danach zu schnappen. Doch er griff ins Leere, als der Tätowierte einen schnellen Schritt zurück machte. Beide standen nun sehr dicht am Rand des Daches. Es gab kein Geländer, sondern nur eine Reihe kniehoher Ziersträucher, die als Begrenzung dienten. Die Rothaarige sprang vor, um Linus zu Hilfe zu kommen. Sie umklammerte den Arm, der den Beutel hielt und bog ihn nach unten. Der Fliegenträger packte die Frau von hinten um die Hüfte und zog sie von seinem Kumpel weg, doch sie ließ den Arm des Tätowierten nicht los.

Das ist meine Chance, dachte Hauke und stürmte los. Mit vorgestreckten Armen rannte er auf die kleine Gruppe zu. Seine Hände trafen die Rothaarige mit voller Kraft in den Rücken. Er stieß sie über den Rand des Hauses hinweg, gemeinsam mit dem Tätowierten und dem Fliegenträger, mit denen sie verbunden war. Die Männer waren viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten oder irgendwo Halt zu finden. Mit einem Laut der Überraschung auf den Lippen verschwanden sie in der Tiefe. Bevor die anderen Gäste überhaupt begriffen, was geschah, stieß Hauke noch ein Pärchen zur Seite und wandte sich dann Linus zu, der mit schreckgeweideten Augen am Boden kauerte.

Die meisten Partygäste hatten noch nichts von dem Drama bemerkt und feierten unbelastet weiter. Aber aufgeregte Rufe in seiner Nähe weckten Haukes Aufmerksamkeit. Es war die freundliche Blonde von vorhin, die nicht so abweisend zu ihm gewesen war. Sie half dem jungen Paar, dass er gestoßen hatte. Der Mann hing von Dach herab und seine Freundin versuchte gemeinsam mit der Blonden, ihn wieder heraufzuziehen. Sie hatte es verdient weiterzuleben. Mehr als jeder andere auf diesem Dach. Aber sie hatte Haukes Blamage erlebt, als er knallrot und stammelnd vor ihr stand. Und alles, was danach folgte. Sie durfte niemandem davon erzählen. Sie sollte sich nicht einmal mehr daran erinnern können, damit es so war, als wäre es niemals geschehen. Hauke machte einen Schritt vorwärts und stieß die Blonde gemeinsam mit der jungen Frau über den Rand des Daches hinaus. Sie fielen gemeinsam mit dem Mann, den sie herauf­ziehen wollten.

Schnell wandte er sich wieder Linus zu, der nicht einmal gewagt hatte, sich von der Stelle zu rühren. Mit angstverzerrtem Gesicht und Tränen in den Augen blickte er zu Hauke auf und brabbelte irgendetwas Weinerliches. Hauke griff eine Champagnerflasche aus einem Eis­kübel und holte damit aus, um dem erbärmlichen Kerl den Schädel einzuschlagen. Doch dann stockte er und hielt in der Bewegung inne. Sein Arm mit der Flasche sank langsam herab.

Linus verdrehte den Kopf, um sehen zu können, was Hauke so ablenkte, doch aus seiner Position heraus konnte er nichts erkennen. Obwohl Hauke sich nicht mehr um ihn kümmerte, wagte es Linus nicht, sich zu rühren, um nicht wieder dessen Aufmerksamkeit zu erregen.

Hauke ließ die Champagnerflasche fallen, die mit einem Knall auf den Steinplatten zerplatzte und teuren Schaumwein verspritzte. Das konnte nicht sein, einfach unmöglich. Er sah Kopf und Oberkörper der Blonden, die über den Rand des Daches hervorragten, allerdings ein gutes Stück vom Gebäude entfernt. Irritiert ging er auf sie zu und achtete nicht mehr auf das Geschehen um ihn herum.

Linus sprang auf und ergriff die Flucht, wobei er andere Gäste zur Seite stieß.

„Wie kann das sein?“, fragte Hauke halblaut, als er am Rand des Daches stehenblieb. Die blonde Frau schwebte einfach so vor ihm in der Luft.

Kapitel 3

Zwei Minuten zuvor.

Claire Hendriksen hatte eine Hand des jungen Mannes gepackt, seine Freundin die andere. Gemeinsam ­versuchten sie, ihn auf das Dach hinaufzuziehen. Claire war überzeugt, dass sie es schaffen würden, doch da erhielt sie einen kräftigen Stoß in den Rücken und stürzte gemeinsam mit dem Paar in die Tiefe.

Sie sah die beiden vor Angst verzerrten Gesichter vor sich und griff zu. Sie bekam auch die Frau am Hand­gelenk zu fassen und verlangsamte ihren Fall. Trotz ihrer Flugfähigkeit waren die beiden zu schwer für sie, schließlich trug sie das zusätzliche Gewicht von zwei Erwachsenen. Claire musste die beiden schnell absetzen, bevor sie aus ihrem Griff rutschten. Vielleicht wäre es ihr sogar gelungen, aber der Mann gebärdete sich so panisch, als befände er sich immer noch im freien Fall. Er schrie und zappelte und hätte um ein Haar seinen Arm freigerissen, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Claire schwenkte ihn herum zur Hauswand, flog zwei Meter zur Seite und ließ ihn los. Seltsamerweise hörte er ausgerechnet in dieser Situation auf zu schreien.