Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 11: Flussvampire - Andreas Zwengel - E-Book

Schattenchronik - Gegen Tod und Teufel 11: Flussvampire E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Auf dem Rhein nähert sich eine Armada von Hausbooten der Stadt Köln.Mick Bondye und Cassandra Benedikt von der Geheimorganisation Schattenchronik machen Bekanntschaft mit einem bisher unbekannten Vampir-Clan, der von einer mächtigen Kraft gelenkt wird. Die beiden Agenten versuchen, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, bevor die Stadt von Vampiren überrannt wird.

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SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFELBand 11

In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene

2902 Curd Cornelius Die Riesenwespe vom Edersee

2903 Curd Cornelius & D. J. Franzen Die Ruine im Wald

2904 Curd Cornelius & Astrid Pfister Das Geistermädchen

2905 Curd Cornelius & G. G. Grandt Killerkäfer im Westerwald

2906 Andreas Zwengel Die Stadt am Meer

2907 Michael Mühlehner Gamma-Phantome

2908 Curd Cornelius & A. Schröder Dunkles Sauerland

2909 Andreas Zwengel Willkommen auf Hell-Go-Land

2910 Andreas Zwengel Tempel des Todes

2911 Andreas Zwengel Flussvampire

2912 Andreas Zwengel Die Barriere bricht

2913 Andreas Zwengel Die vier Reiter der Hölle

2914 Michael Mühlehner Der Voodoo-Hexer

Andreas Zwengel

FLUSSVAMPIRE

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-557-9Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Kapitel 1

Der alte Lukas fand die Leiche im Morgengrauen. Die junge Frau schwang leicht im Wind, ihr Kopf hing in einer Schlinge, die Zunge drängte zwischen den Zähnen hervor. Der Regen der letzten Nacht hatte die dünne Bluse und den Rock völlig durchweicht, sodass sich der Körper deutlich durch den nassen Stoff abzeichnete. Lukas war hin- und hergerissen zwischen Schamgefühl und Vernunft. Auf der einen Seite wollte er die Leiche aus ihrer unwürdigen Position befreien und ihre Blöße bedecken, auf der anderen Seite war er sicher, die Polizei würde ihm anschließend Vorwürfe machen, falls er etwas veränderte.

Er wusste, dass dies ein Traum war, denn er träumte ihn fast jede Nacht. Als nächstes würde sie ihre Lider heben und die milchig-weißen, pupillenlosen Augen zum Vorschein kommen. Das war der Moment, an dem er jedes Mal erwachte.

*

Am Morgen war wieder ein Lamm verschwunden. Lukas zählte die Jungtiere zweimal durch, obwohl er genau wusste, wie überflüssig das war. Zwei Tiere in zwei Tagen, das konnte kein Zufall sein. Die beiden Muttertiere klagten und suchten nach ihren Jungen. Ständig mussten sie von den Hunden zur Herde zurückgetrieben werden. Für Laurel und Hardy gab es keine Verschnaufpause und wenn das so weiterging, würde Lukas die Herde auch tagsüber einpferchen müssen.

Diebstahl war leider keine Seltenheit. Lammfleisch war teuer und somit das Wertvollste, das es bei ihm zu holen gab. Die Wolle brachte schon lange kein Geld mehr.

Lukas klemmte die Daumen hinter seine Hosenträger und betrachtete die Herde. Er lebte für seine Tiere. Er begleitete sie von der Geburt bis zum Tod und verteidigte sie dazwischen gegen jede Gefahr. Doch diesmal hatte er versagt. Zweimal.

In seiner Tasche spürte er das Handy, das ihm seine Tochter aufgedrängt hatte. Nur für Notfälle, hatte sie gesagt, und dies war wohl einer, aber er zögerte noch, es zu benutzen. Nächsten Sommer wurde er siebzig. Sie würden sagen, er sei zu alt für diese Arbeit. Wie lange konnte er noch ungestört seinen Beruf ausüben? Da spielte es keine Rolle, dass er vor fünf Jahren von der Zeitschrift Der gute Hirte für seine langjährige Arbeit ausgezeichnet worden war. Er hatte die Ehrung im Kreise seiner Lieben gefeiert. Mit zwei Dosen Hundefutter, einer Flasche Jägermeister und einer Anhängerladung frischem Heu.

Lukas war den Umgang mit anderen Menschen nicht mehr gewohnt. Seine Tochter Miriam war seine einzige Verbindung zur Außenwelt, und sie beschränkte die Zahl ihrer Besuche auf das Allernötigste. Lukas war das nur recht. Er fühlte sich in der Gesellschaft von Menschen nicht besonders wohl und mied sie, wo er nur konnte.

Eine einzige Person besaß sein Vertrauen, und heute würde sie vorbeikommen. Helen. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er sich darauf freute. Mehr noch, er wartete schon ungeduldig auf die Begegnung. Lukas hatte nie begriffen, warum Helen sich anfangs solche Mühe gegeben hatte, mit ihm bekannt zu werden. Er verhielt sich damals sehr abweisend und versuchte, sie zu ignorieren. Doch sie ließ sich davon nicht abschrecken. Vielleicht sah sie es als persönliche Herausforderung. Lukas hatte den Eindruck, je mehr er sich wehrte, desto öfter besuchte sie ihn.

Helen war jung. Jünger als seine Tochter. Sie hätte seine Enkelin sein können. War dies die Erklärung? Sollte er ihr den Großvater ersetzen, den sie nicht hatte? Oder waren seine Überlegungen Unsinn und sie einfach nur ein nettes Mädchen ohne Hintergedanken? Sie hatte zwei Pferde auf der Koppel neben seinem Lagerplatz gehabt. Eine Woche lang war sie jeden Tag zu ihm herübergekommen, um etwas zu plaudern. Das hieß, sie redete, und er tat so, als würde er nicht zuhören. Nachdem er zum nächsten Lagerplatz gezogen war, besuchte sie ihn auf ihren Ausritten. Es kam der Tag, an dem er ihr zum ersten Mal auf eine ihrer Fragen antwortete. Da hatte er verloren.

Als er Helen gestern von dem verschwundenen Lamm erzählte, machte sie sich sofort auf die Suche nach ihm und dehnte ihren Ausritt kreisförmig um sein Lager aus. Sie war enttäuscht gewesen, als ihre Suche erfolglos blieb. Wie würde sie nun auf die Nachricht reagieren, dass ein weiteres seiner Lämmer verschwunden war?

Lukas stopfte seine Pfeife, die ihm stets beim Nachdenken half, als plötzlich Laurel und Hardy ein Schaf aus dem dichten Unterholz zur Herde zurücktrieben. Wieder eine verzweifelte Mutter, dachte er und schickte die Hunde mit einem knappen Befehl weg. Anschließend redete er beruhigend auf das Schaf ein. Es kannte die Stimme des alten Schäfers lange genug, um ihn dicht an sich heranzulassen. Lukas kratzte die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Vielleicht sollte er diesen Platz räumen? Eigentlich wollten sie eine ganze Woche hier verbringen, aber sie konnten sich auch früher auf den Weg machen. Die Weide war ohnehin kleiner als angegeben und seine Herde würde sie zu schnell abgrasen.

Ein Umzug bedeutete keine Kleinigkeit, man unternahm ihn nicht leichtfertig aus einer Laune heraus. Es gab immer weniger Wege mit immer mehr Hindernissen. Lukas musste sich häufig mit Autofahrern streiten, denen seine Überquerung einer Straße eine Zwangspause verordnete und die deshalb versuchten, die Herde zu durchfahren. Oder er wurde von Fußgängern angepöbelt, die aus Unachtsamkeit in die Hinterlassenschaft seiner Tiere getreten waren.

Der Weg zu dieser Weide war besonders zermürbend gewesen, da die Polizei eine Straßensperre errichtet hatte und Lukas seine Herde durch die Autos und ihre wartenden Fahrer treiben musste. Ein weiterer Umweg hätte ihn einen halben Tag gekostet und je länger und weiter sie bis zur nächsten Weide wanderten, desto mehr Kalorien verbrauchten die Tiere. Schon deshalb würde er bleiben.

Vielleicht steckten Konkurrenten hinter dem Verschwinden der Lämmer, denn Lukas hatte Feinde in der Branche. Zwei Kandidaten fielen ihm sofort ein, weil sie eine Schande für ihren Beruf waren. Buchstäblich Schwarze Schafe unter den Schäfern. Er hatte beide wegen Tierquälerei angezeigt und traute ihnen durchaus zu, auf diese Art Rache zu nehmen. Zumindest einem von ihnen, für den anderen war der planerische Aufwand viel zu anspruchsvoll. Oder hatten sie sich am Ende zusammengetan? Sollte er die Polizei anrufen? Wahrscheinlich beobachtete man ihn gerade in diesem Moment und wartete seine Reaktion ab. Lukas war bereit nachzugeben, um das Leben seiner Herde zu schützen, denn das war seine Aufgabe. Sturheit würde ihn nur weitere Tiere kosten. Seufzend kramte er das Handy aus der Tasche, um seiner Tochter den erneuten Umzug mitzuteilen, als er ein Wiehern hörte.

Lukas blickte auf und sah Helens Pferd über den Kamm galoppieren. Es näherte sich der Herde, da es Lukas kannte. Er überlegte, wie das Pferd hieß. Helen hatte den Namen in jedem zweiten Satz erwähnt, aber er wollte ihm partout nicht einfallen. Wo war sie? Hatte das Pferd sie abgeworfen oder war sie gestürzt? Er konnte sich das nicht vorstellen, dazu war sie eine viel zu erfahrene Reiterin. Langsam ging er auf das Pferd zu, das in einiger Entfernung zum Lager stehen geblieben war, und sprach es dabei ruhig an. Vorsichtig fasste er die Zügel und streichelte den Hals des Tieres. Das Pferd bewegte sich zur Seite. Allerdings nicht, um sich loszureißen, ­sondern um Lukas mit sich zu ziehen. Langsam trabte es los, und der alte Mann hatte Schwierigkeiten mitzuhalten. Lukas hätte die Zügel einfach loslassen können, doch ein Instinkt riet ihm, dass es besser war, dem Pferd zu folgen.

Ihr Weg ging über den Kamm in das Tal dahinter und die nächste Steigung hinauf. Lukas keuchte wie eine alte Dampfmaschine, seine Beine schmerzten höllisch. Mit gesenktem Kopf setzte er einen Fuß vor den anderen, während seine ausgestreckten Arme die Zügel hielten. Am Fuß eines Baumes blieb das Pferd plötzlich stehen. Lukas sah sich keuchend um, aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Dann hörte er ein leises Geräusch über sich. Etwas rieb über einen Ast.

Lukas blickte langsam auf und fiel dann aus dem Stand auf den Hintern. Der Schmerz, der von seinem Steißbein ins Gehirn jagte war unglaublich, aber er zuckte nicht einmal. Stumm und starr saß er dort und sah zu dem Ast auf, von dem Helen herabhing. Ihr Gesicht war bläulich verfärbt und verriet, dass jede Hilfe zu spät kam.

Viel Zeit verging. Hardy saß neben ihm, und als es Zeit wurde, die Herde zusammenzutreiben, begann er zu winseln. Er stieß Lukas mit der Schnauze an und kratzte mit der Pfote neben seinem Bein die Erde auf. Erst als der Hund seinen Ärmel fasste und zu ziehen begann, machte sich Lukas mit einer heftigen Bewegung los. Eine einzelne Träne rollte über sein Gesicht, und Hardy leckte sie von der Wange auf. Dann gab es kein Halten mehr, die Tränen flossen in Strömen. Der alte Mann zitterte vor Schmerz und Trauer.

Kapitel 2

Das Diaphragma war eine Undergroundkneipe, die sich durch mehrere Kellerräume eines leerstehenden Reihenhauses zog. Die bunkerähnlichen Räumlichkeiten lockten hauptsächlich die Anhänger harter Rockmusik und aller verwandten Subgenres an. In dem schlauchähnlichen Hauptgang herrschte Gedränge, niemand machte hier unnötige Wege. Um von der Discogrotte zur vergleichsweise ruhigen Bar am anderen Ende zu kommen, musste man zu Stoßzeiten ganze zehn Minuten einplanen. Für eine Strecke, die man oberirdisch in weniger als einer halben Minute zurücklegen konnte. Früher hatte es nur an einem Ende Toiletten gegeben, mit dem Ergebnis, dass sich viele Gäste, hauptsächlich Männer – aber nicht nur – eine Alternative suchten. Kurz vor Ladenschluss ließ der Uringestank nur noch die völlig Abgestumpften weiter ausharren.

Mick Bondye stieg im Morgengrauen in Begleitung des jungen Kölner Kommissars Leon Pfeiffer die Stufen nach unten. Nur wenige Gäste waren zum Zeitpunkt, als das Verbrechen entdeckt wurde, noch anwesend gewesen. Man hatte sie befragt, ihre Personalien aufgenommen und sie anschließend nach Hause geschickt.

„Kommissar Pfeiffer“, stellte sich Leon dem Beamten vor, der ihnen mit schnellen Schritten entgegenkam. „Das ist mein Kollege Mick Bondye.“

Der hochgewachsene Spezialagent nickte dem Polizisten zu. Er hatte schwarzes Haar und indianische Züge. Das ­hervorstechendste Merkmal an Bondye waren allerdings seine eiskalten, bronzefarbenen Augen, die bei jedem Betrachter einen leichten Schauder auslösten.

Pfeiffer verzichtete auf weitere Erklärungen zu seinem Begleiter, denn das zog stets nur eine Flut von weiteren Fragen nach sich. Er hatte gelernt, den Begriff Schattenchronik zu vermeiden und nur sehr vage Auskünfte über den Grund seiner Anwesenheit zu geben.

„Ein ziemlicher Aufmarsch für diesen Fall hier“, sagte der Polizist. „Kommt mir so vor, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen.“

„Wir werden sehen“, sagte Mick und schob sich an dem Mann vorbei. Leon folgte lächelnd und der Beamte beeilte sich, mit ihnen Schritt zu halten.

„Das Personal hat das Mädchen gefunden, als sie mit dem Aufräumen begonnen haben“, berichtete er. „Das war so gegen drei Uhr. Sie lag in einer schwer einseh­baren Ecke, wenn niemand zum Putzen dort hingekommen wäre, würde sie wohl immer noch dort liegen. Zuerst dachten sie, es wäre nur eine der üblichen Schnaps­leichen, die sie um diese Zeit immer rauskehren müssen. Dem Aussehen nach, schien sie heftigen Partys nicht abgeneigt zu sein. Sie wissen schon, schrille Haarfarbe, Stachelfrisur, Lederkombi, so eine Art Retro-Punk. Aber dann haben sie das Blut an ihrem Hals entdeckt.“

Mick erreichte den Fundort, der bereits fotografiert und untersucht worden war.

„Sie konnten sie nicht wecken und haben deshalb einen Krankenwagen gerufen“, fuhr der Beamte fort. „­Inzwischen hat man uns aus der Notaufnahme gemeldet, dass sie außer Lebensgefahr ist.“

„Das überrascht mich“, sagte Mick und ging in die Knie. Er legte beide Handflächen auf den verschmutzen Boden und beugte seinen Oberkörper soweit nach unten wie möglich, ohne sich dreckig zu machen.

„Was macht er da?“, flüsterte der Beamte zu Leon.

„Spurensicherung. Könnten Sie uns vielleicht die Fotos besorgen, die hier gemacht wurden? Das würde uns weiterhelfen.“

Der Polizist warf noch einen Blick auf Mick und ging dann mit einem angedeuteten Schulterzucken davon.

Mick richtete sich wieder auf. „Das Mädchen wurde mit Rohypnol betäubt.“

„Woher weißt du das?“, fragte Leon erstaunt. „Wir haben doch noch keinen Laborbefund.“

Mick wies auf die Blutflecken und die Pfütze aus Erbrochenem, die am Fundort des Mädchens zurückgeblieben waren. „Am Geruch erkannt.“

„Ich dachte, es wäre geruchslos?“

„Für deine Nase schon“, sagte Mick lächelnd. „Früher war es farblos und ohne Geschmack, aber wegen der vielen Fälle von Missbrauch, hat man die Rezeptur geändert, sodass es bitter schmeckt, blau abfärbt und verklumpt. Entweder hat der Täter die junge Frau mit blauen Cocktails abgefüllt, bis sie nichts mehr schmeckte, oder er hat noch einen großen Vorrat von der alten Rezeptur. Ich tippe auf Letzteres. Vielleicht geht er schon längere Zeit so vor.“

„Vielleicht kann sie uns eine Beschreibung geben, wenn sie erwacht“, sagte Leon Pfeiffer, aber sie glaubten beide nicht daran. Man hatte das Mädchen mit dem Rohypnol außer Gefecht gesetzt, was bedeutete, dass sie nicht nur aus den Latschen gekippt war, sondern auch noch einen Großteil ihrer Erinnerungen an die vergangene Nacht eingebüßt hatte.

Am Eingang zum Diaphragma waren aufgeregte Stimmen zu hören. Eine davon gehörte dem Beamten von vorhin, die andere war eine Frauenstimme. Sie gehörte einer jungen Frau von Anfang zwanzig, die den Eindruck machte, eine anstrengende Nacht hinter sich zu haben. Sie blieb vor Mick und Leon stehen und blickte aufgeregt zwischen ihnen umher. „Sie sollen hier eine Frau gefunden haben. Meine Freundin ist seit letzter Nacht verschwunden, ich habe sie überall gesucht.“

„Wie heißt Ihre Freundin?“, fragte Leon.

„Sandra. Sandra Horner.“

„Und Sie sind?“, fragte Leon weiter.

„Mein Name ist Silke Hoffmann. Bitte, können Sie mir sagen, ob Sie Sandra gefunden haben?“

„Leider nein. Die Frau, die wir gefunden haben, hatte keine Ausweispapiere bei sich.“

„Ich muss wissen, ob es sich um meine Freundin handelt“, sagte die junge Frau. Sie zückte ihr Handy und wischte sich durch die Bildergalerie, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie streckte es Leon entgegen. Der Kommissar nahm das Handy und hielt es einem der Beamten vom Tatort hin, aber der schüttelte den Kopf.

Mick fasste Silke sachte an den Schultern, damit sie sich nicht wegdrehen konnte. Zuerst schien ihr die Berührung unangenehm, doch kaum hatte er ihr tief in die Augen gesehen, wurde sie seltsam passiv.

Leon meinte ein kurzes Aufblitzen in den bronze­farbenen Augen des Spezialagenten zu sehen. Sicher nur ein Lichtreflex. Allerdings gab es hier unten weder Scheinwerfer noch Sonnenstrahlen.

Silke wirkte völlig entspannt. Sie sah Mick an, als würde er ihr gerade eine professionelle Fußmassage verpassen.

„Versuch dich zu erinnern, Silke. Ist dir etwas aufgefallen? Egal, aus welchem Grund?“

Ihre Augen wanderten nach links oben, was bedeutete, dass sie gerade versuchte, sich zu erinnern. „Da war dieser Typ, er hat alle Frauen angemacht. Auch Sandra und mich, aber wir haben ihn abblitzen lassen. Er hat sich dann mit so einem pinkfarbenen Stachelkopf zufriedengegeben. Billig und vulgär, aber leicht zu haben.“

Der Beamte hinter ihnen wollte etwas sagen, doch Mick brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, ohne den Blickkontakt mit Silke zu lösen, und fragte weiter: „Hast du einen der beiden anschließend noch einmal gesehen?“

„Das Mädchen nicht, aber der Kerl ist später wieder durch den Laden gestrichen und hat sich weiter umgesehen. Anscheinend hat er von ihr bekommen, was er wollte, und suchte nach mehr.“

Du ahnst ja gar nicht, wie recht zu hast, dachte Mick. „Wann hast du Sandra zum letzten Mal gesehen?“

„Wenig später. Sie ging auf die Toilette und kam nicht mehr zurück. Das ist leider keine Seltenheit bei ihr. Manchmal bekomme ich dann eine SMS mit einer kurzen Erklärung, aber manchmal meldet sie sich auch erst am nächsten Tag.“

„Warum bist du dann diesmal so besorgt? Vielleicht meldet sie sich noch.“

„Sie hat mir ihre Tasche gegeben, bevor sie zur Toilette ging. Sie hat weder Geld noch Ausweis noch ihr Handy bei sich.“

„Hast du nach ihr gesucht?“

„Natürlich. Ich habe den ganzen Laden auf den Kopf gestellt und jeden gefragt, der sie kennen könnte. Danach habe ich draußen überall nach ihr gesucht, habe ein paar Freundinnen geweckt, die allerdings nichts von ihr gehört haben. Ich bin zu ihrer Wohnung gefahren. Sie war nicht dort und ihr Ersatzschlüssel lag am üblichen Ort.“

„Sie ist vielleicht mit jemandem nach Hause gegangen.“

Silke nickte. „Das nehme ich auch an, ich kam hierher zurück, um nochmal nach ihr zu suchen, aber da war die Polizei schon da und wollte mich nicht hereinlassen.“

„Gut, Silke, jetzt gehst du noch einmal zurück in deiner Erinnerung und beschreibst mir den Mann, der euch angesprochen hat.“

„Er war schon alt, mindestens Mitte Dreißig“, sagte sie.

Leon grinste amüsiert wegen dieser Aussage.

„Glattrasiert, keine Tattoos.“

„Meine Güte, der muss hier doch aufgefallen sein wie ein bunter Hund“, bemerkte Leon sarkastisch.

„Hat er seinen Namen genannt?“, fragte Mick weiter.

Silke schüttelte den Kopf.

„Was hat er zu euch gesagt?“

„Er hat uns zu sich eingeladen.“

„Wo wohnt er?“

„Keine Wohnung, es war ... Ein Hausboot. Er hat uns auf sein Hausboot eingeladen.“ Ihre Erinnerung war wieder da, und sie redete mit einem Mal wie ein Wasserfall. „Hat uns ständig vorgeschwärmt, wie sinnlich es ist, sich von der Strömung treiben zu lassen, und wie die Lastkähne sein Bett zum Schaukeln bringen, blablabla. Wir wollten ihn einfach nur loswerden. Kaum zu glauben, dass sich jemand davon beeindrucken lässt.“ Sie schüttelte gedankenversunken den Kopf.

„Wo liegt dieses Hausboot, hat es einen Namen? Was hat er darüber erzählt?“

„Ich kann mich nicht erinnern.“

Mick legte einen Finger unter ihr Kinn hob ihren Kopf an, dann beugte er sich vor, bis ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt waren. Sie tauchte in seine Augen ein. „Doch, Silke, du kannst dich erinnern. Er hat euch von seinem Boot erzählt, war ziemlich stolz darauf. Was hat er gesagt?“

„Báthory, so hieß das Boot. Genau. Er hat gesagt, es liege ganz in der Nähe vor Anker. Wir könnten bequem hinlaufen. Mehr weiß ich nicht.“

„Ich danke dir für deine Hilfe. Du wirst dich jetzt entspannen“, sagte Mick. Mit einem Seufzer sank ihr Körper in eine bequeme Haltung, sie ließ die Arme locker hängen. „Du wirst jetzt nach Hause gehen und dich ausschlafen. Danach wird deine Freundin Sandra wieder zuhause sein.“