Der Butler 09: Die Jäger - Andreas Zwengel - E-Book

Der Butler 09: Die Jäger E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Die Schattenchronik wächst unter der Leitung von Topagent Richard Wallburg. Für Lady Amanda Marbely ist er weiterhin der Butler.Als enge Mitarbeiter des Butlers angegriffen werden und ein Anschlag auf Claire passiert, scheint der Butler die Kontrolle zu verlieren. Er entführt den Leiter einer unbedeutenden Sicherheitsfirma, der in die Überfälle verwickelt zu sein scheint.Martin Anderson, Leila Dahlström und Mick Bondye sind gezwungen, Jagd auf ihren Chef zu machen. Doch offenbar sind sie alle Opfer einer gewaltigen Verschwörung geworden.Die Printausgabe umfasst 148 Buchseiten

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Seitenzahl: 153

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DER BUTLERBand 9

In dieser Reihe bisher erschienen:

2401 J. J. Preyer Die Erbin

2402 J. J. Preyer Das Rungholt-Rätsel

2403 Curd Cornelius Das Mädchen

2404 Curd Cornelius Die Puppe

2405 Andreas Zwengel Die Insel

2406 Andreas Zwengel Die Bedrohung

2407 Andreas Zwengel Teneriffa-Voodoo

2408 Andreas Zwengel Das Haus Etheridge

2409 Andreas Zwengel Die Jäger

Andreas Zwengel

DIE JÄGER

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckNach einer Idee von Jörg KaegelmannRedaktion: Andreas ZwengelLektorat: Dr. Richard WernerTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierIllustrationen: Jörg NeidhardtSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-513-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Kapitel 1

Das Zusammenleben mit einem ­Vampir war gar nicht so einfach, wie Eddie ­Heesters es sich vorgestellt hatte. ­Ziemlich schnell machten sich die unterschiedlichen ­Lebensumstände ­bemerkbar. Er saß auf der Couch und massierte Harriets Füße auf seinem Schoß. Mit seinen Händen konnte er keinen ­Fehler machen, doch sobald er den Mund ­öffnete, befand er sich in einem ­Minenfeld. Manchmal brauchte es nur zwei Sätze, bis es knallte. Zwei Sätze, von denen er mindestens einen für absolut harmlos gehalten hätte.

Woher besaß er nur diese Fähigkeit, andere Menschen auf die Palme zu bringen? Hatte er sie entwickelt oder handelte es sich einfach um ein Gottesgeschenk? Falls letzteres der Fall sein sollte, wo konnte man es umtauschen?

Sie verbrachten einen ruhigen Abend vor dem Fernseher und vertieften dadurch ihre Spanischkenntnisse. Es gab nichts Neues zu erzählen, was Eddie allerdings nicht vom Reden abhielt. Das Problem war ihm auch selbst bekannt, aber er war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Das Schlimmste dabei war, dass er weiterredete, während er solche Überlegungen anstellte. Manchmal schlüpften ihm dabei ein paar unbedachte Sätze heraus, und als er spürte, wie sich ihre kalten Beine verkrampften, wusste er, dass es wieder einmal so weit war. Harriet zog die Beine an und stieß ihm ihre Füße schmerzhaft in die Seite. Dann rollte sie von der Couch herab und marschierte in die Küche. Allein an ihrem Schritt konnte er das Ausmaß ihrer Verärgerung erkennen. Eddie sollte jetzt besser kein Wort mehr sagen.

Er war ein übergewichtiger ältlicher Komiker, der mit einer Vampirin zusammenlebte, die nicht nur jung aussah, sondern auch noch genauso jung war, weil ihre Verwandlung noch nicht lange zurücklag.

In ihrem alten Leben war sie die Journalistin ­Harriet Wells gewesen, die auf Teneriffa eine Clique ­hedonistischer junger Männer und Frauen traf, die ihr Leben in vollen Zügen genoss. Ihr untotes Leben, wie sich bald herausstellte, denn bei ihnen handelte es sich um Vampire. Sie machten Harriet zur einer von ihnen. Ihr Anführer, Idris Audiel, war kein gewöhnlicher Vampir gewesen, sondern ein Voodoo-Vampir. Harriet hatte ihn getötet und wollte sich anschließend selbst das Leben nehmen, um sich ein Dasein als Vampir zu ersparen, doch Mick Bondye, der Butler und Eddie hatten das verhindert.

Eddie hielt sein Versprechen und half ihr, ein neues Leben zu beginnen. Es klang auf den ersten Blick widersinnig, ausgerechnet auf Teneriffa zu bleiben, anstatt im Norden Norwegens oder Alaskas, mit langen Phasen von Dunkelheit, doch die Äquatornähe bot andererseits das ganze Jahr über sehr konstante Nachtzeiten und keine Sommersonne bis weit nach 22:00 Uhr.

Aber dieses Leben wurde nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. Sie waren zu verschieden. Auch wenn ein einschneidendes Erlebnis sie zusammengeschweißt hatte, waren sie doch kein Liebespaar geworden. Eher eine Zweckgemeinschaft, wobei Eddie noch nicht die Vorteile für sich herausgefunden hatte. Eigentlich musste er vielmehr ihre schlechte Laune ertragen, wenn sie wieder einmal mit ihrem Schicksal haderte. Und sie beklagte sich fast ununterbrochen über sein dauerndes Gerede und die schlechten Witze. Solche Paare gingen in der Regel schnell wieder auseinander oder blieben ein Leben lang leidend zusammen. Dazwischen gab es nichts. Wobei ihr Fall ein ­besonderer war, da er älter werden würde, während sie immer gleich jung blieb.

Ihr Haus in Buenavista del Norte an der Nordwestküste Teneriffas war nicht besonders groß und völlig unzureichend, um sich bei Streit aus dem Weg zu gehen. Eddie blieb nur der Wechsel ins obere Stockwerk, wo sich Schlafzimmer und Dachterrasse befanden. Also ging er nach oben, legte sich aufs Bett und überlegte, wie er die Stimmung zwischen ihnen wieder heben konnte. Am besten, er versuchte es nicht mit einem Witz.

Zu der angespannten Stimmung zwischen ihnen kam es auch durch ein so profanes Problem wie Geld. Eddie Heesters hatte bereits zuvor mehr schlecht als recht verdient und die Nachfrage war in den letzten Wochen kaum gestiegen. Harriet hatte versucht, ein paar Artikel zu veröffentlichen, aber sie wagte sich kaum aus dem Haus und das machte es für sie recht schwierig, über Dinge zu berichten, die außerhalb dieses Hauses geschahen. Dieses Problem konnte aber bald durch ein anderes abgelöst werden. Wenn sie nicht das Geld für die Miete zusammenbekamen, würden sie die längste Zeit in diesem Haus gewohnt haben. Obwohl es kein besonders schönes Haus war, wollten die Vermieter trotzdem Geld dafür haben.

Geld hatte es ihnen bisher auch ermöglicht, möglichst unauffällig Harriets spezielle Ernährung zu gewährleisten. Sie hatte bisher noch keinem Menschen das Blut ausgesaugt. Nicht nur, weil Mick Bondye ihnen für diesen Fall angedroht hatte, nach Teneriffa zurückzukehren, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch aus dem einfachen Grund, dass sie es nicht wollte. Sie war nicht einmal gezwungen, ihre Opfer zu töten, aber sie wollte dies anderen Menschen nicht antun. Deshalb begnügte sie sich mit Tierblut, und in ganz dringenden Fällen stellte sich Eddie als Spender zur Verfügung. Doch auch das Blut von Tieren bekam man nicht geschenkt. Im Gegenteil, man musste sich mehrere Quellen halten, weil der Verbrauch doch auch Probleme mit sich brachte. Einige Metzger hatten Eddie schon seltsame Fragen zu dem Zweck gestellt, für den er das Blut benötigte. Er verfügte über mehrere Geschichten. Exotische Tiere, die er damit fütterte, einen exzentrischen Maler, der seine Gemälde ausschließlich mit Blut anfertigte, eine spezielle Wurst, die Eddie daraus anfertigte, und so weiter und sofort. Er bekam immer mehr den Eindruck, dass ihm keiner mehr seine Geschichten abnahm und sie früher oder später auffliegen würden.

Eddie bemerkte, wie Harriet das Licht im Erdgeschoss löschte und dann tauchte ihr Kopf hinter dem Geländer an der Treppe auf. Sie hatte einen ausgestreckten Finger über ihre Lippen gelegt, und er hob fragend die Augenbrauen.

„Jemand schleicht ums Haus“, flüsterte sie kaum hörbar. „Mehrere Männer.“

Eddie schwang die Beine vom Bett. Mit einem Vampir im Haus hatte er sich bisher immer sicher gefühlt. Ein Einbrecher würde sein blaues Wunder erleben, wenn er Harriet begegnete. Aber ihr Haus lockte nicht unbedingt Einbrecher an, es unterschied sich nicht von den ­Nachbarhäusern und bot keinerlei Hinweis auf Reichtum im Inneren. Wenn nun gleich mehrere Männer um ihr Haus schlichen, kam für Eddie nur eine Möglichkeit in Frage: Ihr Interesse galt Harriet. Entweder in ihrer Eigenschaft als attraktive Frau oder als Vampir. Hatte man sie enttarnt? Hatte es mit den anderen Vampiren auf Teneriffa zu tun? Eddie war davon ausgegangen, dass damals alle die Insel verlassen hatten. Handelte es sich um rachsüchtige Überlebende, die ihnen den Tod ihres Anführers anlasteten?1

Eddie sah sie fragend an und formte mit den Lippen lautlos das Wort Vampire. Harriet zuckte mit den Achseln. Sie versuchte ununterbrochen, ihre neuerworbenen Fähigkeiten zu vertiefen. Sie fragte sich, ob sie schon in der Lage war, andere Vampire aus der Entfernung zu wittern. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder beherrschte sie diese Fähigkeit noch nicht gut genug oder die Eindringlinge waren keine Vampire.

Vordertür und Hintereingang ihres Hauses wurden gleichzeitig aufgebrochen. Die Türen boten keinen Widerstand. Sie roch vier Männer, die in das Haus eindrangen. Schweiß, Aftershave und Waffenöl. Das waren keine Vampire, sondern bewaffnete Männer. Offenbar keine Diebe, denn der Geruch des Waffenöls überlagerte alles andere. Die Männer mussten ein größeres Arsenal bei sich tragen. Das brauchten sie nicht, um ein harm­loses Paar zu überfallen, für einen Vampir schon.

„Wir gehen aufs Dach“, flüsterte sie Eddie zu und war mit einem Satz zur Tür hinaus auf der Dachterrasse. Von ihrem Flachdach aus konnten sie die Altstadt überblicken. An ihren Freisitz schloss sich das ziegelgedeckte Dach ihrer Nachbarn an. Theoretisch konnte man die ganze Straße entlang über die Dächer klettern. Der Komiker bewegte sich allerdings so langsam und unsicher, dass es schon nicht mehr komisch war. Trotz der Todesgefahr, in der er sich zweifellos befand, stand er mit zitternden Knien auf dem Dach. Die neue Bedrohung half ihm nicht über seine Höhenangst hinweg.

Harriet nahm ihn kurzerhand auf den Arm und trug ihn zum First hinauf. Der Anblick der schlanken jungen Frau, die mühelos einen großen, schweren Mann über die Ziegel trug, wirkte nicht nur unglaublich, sondern physikalisch unmöglich. Sie setzte ihn zwei Dächer weiter ab und kehrte dann blitzschnell in ihr Schlafzimmer zurück, um sich die Eindringlinge genauer anzusehen. Der Ausflug hatte keine zehn Sekunden gedauert.

Harriet besaß die Stärke und Schnelligkeit eines Vampirs, was ihr noch fehlte, war die Kampferfahrung, um beides bestmöglich einzusetzen. Bei ihr überwog immer noch der Impuls, vor Männern mit Gewehren davon­zulaufen. Aber Eddie befand sich nicht in der körper­lichen Konstitution, um solchen Kerlen zu entkommen, deshalb musste sie sich den Einbrechern stellen. Sie verschloss die Terrassentür wieder und brach mit dem Daumen den Schlüssel ab, so einfach wie andere einen Zahn­stocher zerknicken. Falls sie tatsächlich überwältigt wurde, wollte sie es Eddies Verfolgern nicht zu einfach machen, ihn einzuholen.

Sie entdeckte den roten Strahl eines Laserzielgerätes, der die Treppe herauf ins Schlafzimmer leuchtete. Dann tauchte der Oberkörper des ersten Eindringlings auf. Harriet legte eine Hand auf die Kommode neben dem Bett und stieß sie quer durch den Raum auf die Treppe zu. Direkt hinter dem ersten Bewaffneten brach sie durch das Holzgeländer der Etage, landete auf den Treppenstufen und rutschte Richtung Erdgeschoss, bis sie sich im Aufgang verkeilte und den Weg zum Obergeschoss blockierte. Zuvor hatte Harriet noch einen dumpfen Aufprall gehört und ging davon aus, dass das Möbelstück auf der Treppe einen zweiten Bewaffneten gerammt hatte. Zufrieden wandte sie sich dem ersten zu, der nun mit ihr eingeschlossen war.

Der Kerl trug einen grauen, enganliegenden Kevlaranzug und zusätzlich noch schwarze Sicherheitsausrüstung wie Panzerwesten, Helme und Manschetten. Letztere schützen seinen Hals und die Handgelenke. Er war also wohl eigens für den Kampf gegen Vampire ausgestattet worden und andere Gegner, die ihre Zähne einsetzten. Mit wem hatte sie es zu tun? Zur Polizei oder dem Militär gehörten sie nicht, denn sie besaßen keine Abzeichen. Außerdem trugen sie einheitliche Gesichtsmasken mit integriertem Atemschutz. Es waren kalkweiße Fratzen mit eiskaltem Lächeln und riesigen Augen. Eine Ähnlichkeit mit den Guy-­Fawkes-Masken aus dem Comic V for Vendetta, die heutzutage von vielen Protestbewegungen verwendet wurde, war deutlich zu erkennen. Aber bei diesem Gesicht schien es sich um ein selbstentworfenes Motiv zu handeln.

Sie war ihrem Gegner körperlich haushoch überlegen und zog ihm das Gewehr aus den Händen, was sie nicht mehr Anstrengung kostete, als einem Baby den Schnuller wegzunehmen. Sie überwältigte den Mann mit ein paar schnellen Handgriffen, aber danach wusste sie nicht mehr viel mit ihm anzufangen. Sie besaß zwar die Kräfte eines Vampirs und konnte sie schon einigermaßen gezielt einsetzen, was ihr allerdings noch völlig fehlte, war der Killerinstinkt. Bisher konnte sie nicht einmal einen Menschen töten, um sich von ihm zu ernähren, egal, wie schwach sie auch war. Aber jemanden einfach so zu ermorden, brachte sie erst recht nicht über sich.

Harriet schlug ihm mit der flachen Hand die Maske vom Kopf. Der Mann darunter war tiefgebräunt, hatte eine Narbe über die gesamte Stirn, die sich um sein linkes Auge schlang. Sein rechtes Auge schmückte eine Tätowierung in Form eines Fadenkreuzes. Sie hatte diesen Mann noch nie in ihrem Leben gesehen, da war sie absolut sicher.

Draußen hörte sie einen Schuss, der nur Eddie gelten konnte. Der Mann erkannte und nutzte ihr Zögern sofort. Er langte an seinen Gürtel und zog eine Pistole. Sie packte sein Handgelenk und drückte zu, bis der Kerl seine Waffe losließ. Leider merkte sie zu spät, dass die Pistole nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war, damit sie nicht auf seine andere Hand achtete. Die hatte ein Holzmesser gezogen und stach damit auf Harriet ein.

Den ersten Treffer erhielt sie unterhalb ihres Schulterblattes, er störte sie nicht sehr, aber der Mann zielte damit auf ihr Herz. Er wollte sie pfählen. Harriet packte seine Linke mit dem Messer und drehte sie nach außen. Dann schlug sie ihm mit ihrer anderen Hand innen gegen den Oberarm. Sie setzte mehr Kraft als nötig ein und ließ seinen Oberarmknochen aus der Gelenkpfanne springen. Der Mann unterdrückte einen Schmerzensschrei, hielt seine Pistolenhand vor Harriet und schoss ihr aus kurzer Entfernung solange in den Oberkörper, bis sie ihn losließ. Sie taumelte von ihm weg. Die Kugeln schmerzten nicht richtig, aber sie verursachten ein sehr unangenehmes Gefühl.

Der Mann verzichtete darauf, seine Pistole nachzuladen. Er nahm mit der Rechten das Holzmesser aus der nutzlos gewordenen Linken. Der Arm hing kraftlos herab, wurde nur noch von Haut und Sehnen am Körper gehalten.

Harriet rieb sich über die Brust und wartete auf den nächsten Angriff. Der Mann nahm das Holzmesser zwischen die Zähne, um seine Hand freizuhaben. Er zog eine Granate von seinem Gürtel, öffnete eine Schublade der Kommode und legte den Sprengsatz hinein, bevor er sie wieder schloss.

Harriet hatte damit gerechnet, dass der Mann die Granate nach ihm werfen wollte. Als die Explosion erfolgte und die Trümmer der Kommode ins Erdgeschoss rutschten, begriff sie seine Absicht. Er hatte den Weg für die Verstärkung freigemacht.

Sofort erschien der schallgedämpfte Lauf eines Sturmgewehres im Treppenaufgang. Harriet durchquerte das Schlafzimmer und sprang durch das geschlossene Fenster zur Dachterrasse. In einem Splitterregen und mit den Resten der hölzernen Läden rollte sie zwischen die Plastikmöbel. Hier hatten Eddie und sie viel Zeit miteinander verbracht, als sie sich noch besser verstanden. Harriet packte einen der weißen Plastikstühle und schleuderte ihn auf den Schützen, der in den Resten der Terrassentür erschien. Der wich nicht zurück, sondern zerfetzte den Stuhl mit einer kurzen Salve in der Luft, bevor er wieder auf Harriet anlegte. Sie war mit einem Satz auf dem Nachbardach, auf das sie zuvor Eddie hinaufgetragen hatte. Sie ignorierte die Kugeln um sich herum, sprang über den Dachfirst hinweg.

Im Flug erhielt sie einen Treffer im Bein, der sich anfühlte, wie ein heftiger Schlag ohne Schmerz. Doch die kinetische Energie, die das Geschoss ausübte, konnte auch ihre Vampirkraft nicht so einfach neutralisieren. Ihr Bein wurde nach vorne gerissen, als wolle sie nach etwas treten. Als sie den Fuß wieder auf den Boden setzte, konnte sie das Bein nicht belasten und stürzte. Sie rollte auf der anderen Dachseite herab und landete auf der nächsten Dachterrasse. Im Liegen beobachte sie, wie sich ihre Wunde schloss. So geschah es jedes Mal. Alles verheilte wieder, aber sie konnte die direkten Auswirkungen nicht verhindern. Die Jäger waren mit schweren Waffen ausgerüstet. Allein die Sturmgewehre besaßen genug Durchschlagskraft, damit ihre Kugeln durch mehrere Körper gehen konnten. Selbst wenn die Kugeln nicht ausreichten, um Harriet zu töten, konnte man sie doch damit in Stücke schießen. Wenn sie Harriet erst einmal am Boden hatten, besaßen sie sicher noch wirksamere Waffen gegen sie als ihre ordinären Gewehre.

Weitere Schüsse erklangen in der Nähe, die aber nicht auf sie gezielt waren. Sie hörte Eddie schreien und kämpfte sich auf die Beine, um nachzusehen. Er kauerte zwei Dächer weiter hinter einem Schornstein, in den unentwegt Kugeln einschlugen. Mehrere Backsteine waren bereits zerplatzt. Eddies Deckung stand im Begriff, sich aufzulösen. Ein Gegner schoss von der Straße aus, der zweite stand auf dem Dach. Sie wurden in die Zange genommen.

Harriet erreichte Eddies Deckung. Der alternde Komiker sah ihr mit panischem Blick entgegen und war für seine Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam. „Wer sind die Kerle?“, jammerte er.

„Ich werde sie nicht fragen“, gab Harriet zurück. „Jedenfalls jetzt nicht, solange sie noch ihre Gewehre haben.“

„Du willst dich doch wohl nicht mit denen anlegen?“

„Hast du eine bessere Idee? Interessiert dich nicht, wer hinter uns her ist und was die von uns wollen? Mich schon.“ Sie linste hinter dem Schornstein hervor und sofort schlugen mehrere Kugeln gegen die andere Seite. „Und wir werden es wohl nur erfahren, indem wir sie fragen.“

„Die wollen uns töten. So neugierig bin ich gar nicht auf den Grund, jetzt zählt erst einmal die Flucht“, sagte Eddie energisch. „Denk bitte daran, dass du einen ­nutzlosen Klotz am Bein hast, der dir nicht die geringste Hilfe ist.“

„Wir müssen weiter“, sagte Harriet ernst, ohne auf seine Klage einzugehen. Sie zog ihn zurück, vom Schornstein weg. Geduckt bewegten sie sich zum Hausrand, wo sie ihn auf eine Dachterrasse hinabließ. Eddie lief zum nächsten Haus hinüber, während Harriet ihn mit einem gewaltigen Sprung überholte. Sie landete vor ihm, an den hüfthohen Mauern, wo die beiden Dachterrassen aneinanderstießen. Sie packte den heranschnaufenden Eddie an den Hüften und hievte ihn in einer fließenden Bewegung über das Hindernis hinweg. Sie wirkten wie ein Ballettpaar bei einer besonders grotesken Aufführung. Nur noch zwei Dächer, dann endete der Straßenzug direkt an der Hauptstraße.

Eddie wurde im Laufen herumgerissen und stürzte zu Boden. Harriet hatte nicht einmal einen Schuss gehört. Sie drehte ihn auf den Rücken und sah den Holzbolzen, der aus seiner Schulter ragte.

„Der war wohl für dich bestimmt“, murmelte Eddie und zerrte an dem Pflock, bis er sich aus seinem Fleisch löste. Der Schock unterdrückte noch die Schmerzen. Sie half ihm auf und stützte ihn. Die Jäger näherten sich über Dächer und Straße, aber sie taten das völlig geräuschlos. Keine lauten Rufe, keine Funksprüche, keine Schüsse ohne Schalldämpfer. Wie ein Rudel gut abgerichteter Jagdhunde, die erst Laut gaben, wenn die Beute erlegt war.

Harriet und Eddie erreichten den Rand des Daches. Das nächste Haus war zu weit entfernt, es gab keine ­Möglichkeit hinabzuklettern. Sie konnten nur durch die Wohnung nach draußen, aber dort wurden sie mit Sicherheit erwartet.

„Das ist zu weit, ich schaffe das nicht.“ Eddie wagte sich nicht einmal an die Dachkante heran, um nach unten zu blicken. „Ich kann nicht so weit springen.“

Er legte Harriet die Hand seines unverletzten Armes auf die Schulter. „Machen wir uns doch nichts vor. Du musst allein gehen, das ist die einzige Chance.“

„Es tut mir leid, Eddie, ich dachte wirklich, wir beide könnten ein friedliches Leben führen.“