Der Chef oder der Weg des Chirurgen - Jürg Kessel - E-Book

Der Chef oder der Weg des Chirurgen E-Book

Jürg Kessel

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Beschreibung

Wie hat früher die Ausbildung junger Ärzte zum Chirurgen ausgesehen? Die Zeit liegt nur ein halbes Menschenleben zurück und doch blicken wir auf eine ganz andere, längst vergangene Welt. Das vorliegende Buch erzählt in humorvoller Form unterschiedliche, sich real so begebene Episoden aus dieser Zeit und ist gleichzeitig eine Hommage an einen unvergesslichen Chefarzt alter Schule. Es kann kurzweiliger Unterhaltung dienen oder auch i.S. eines medizinhistorischen Buches vertiefte Einblicke in eine frühere Zeit bieten. Und vielleicht mag es helfen, die Seele eines Chirurgen, einer Chirurgin besser zu verstehen.

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Jürg Knessl

Der ChefoderDer Weg des Chirurgen

Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Umschlagsbild:

Jürg Knessl

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Yoga, Artegra Sans

ISBN 978-3-907146-92-7

eISBN 978-3-907301-22-7

www.muensterverlag.ch

Die geschilderten Ereignisse liegen fast 40 Jahre zurück. Sie haben ausschliesslich eine medizinhistorische Bedeutung. Rückschlüsse auf die heutige Realität der Chirurgie und der Medizin wären deshalb nicht nur völlig unangebracht, sondern beinahe fahrlässig.

What is the difference between God and a surgeon?Well, God doesn’t think, he is a surgeon.

Leben muss man das Leben vorwärts,begreifen kann man es aber nur rückwärts.

Sören Kierkegaard

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II Der Morgenrapport

Kapitel III Der Nachmittagsrapport

Kapitel IV Die ersten Schritte des Chirurgen

Kapitel V Die Seilschaft

Kapitel VI Die Verbannung – «If you’re going through hell, keep going.» W. Churchill

Kapitel VII Der Weg des Chirurgen

Kapitel VIII

I

«Konrad, was machst du?» Die Stimme des Chefarztes verhiess nichts Gutes. Mehr noch: Sie klang bedrohlich, man konnte die Spannung fast körperlich spüren. Es war kurz nach dem Nachmittagsrapport. Konrad stand im Korridor am Rollwagen mit den Krankengeschichten seiner Patienten und war gerade dabei, die am Rapport beschlossenen diagnostischen Abklärungsschritte schriftlich zu verordnen.

«Ich wollte gerade die Magen-Darm-Passage anmelden.» Die Verunsicherung in Konrads Stimme war mehr als deutlich.

«Konrrraad! Bist nicht mehr Student, du musst Menschen helfen, nicht Technologie machen», herrschte ihn der Chef an.

«Aber ich wollte doch nur das ausführen, was Sie angeordnet haben …».

Eine gereizte Standpauke folgte auf der Stelle. Der Chef drehte sich um und stampfte davon. Konrad wusste nicht, dass man sich nicht rechtfertigt, dass man sich nie rechtfertigt. Er verstand nicht, dass diese Art von Donnerwetter nichts damit zu tun hatte, was er tat oder nicht tat, dass alles, was man machte, prinzipiell falsch war. Zumindest im ersten Jahr. Didaktisch sozusagen. Er stand völlig schockiert da. Nicht nur hat er nichts Falsches gemacht. Er führte ja genau das aus, was ihm sein Chef gerade vorhin angetragen hatte. Konrad war erst seit einigen Wochen auf einer der chirurgischen Abteilungen des städtischen Krankenhauses als Assistenzarzt zuständig. Nicht, dass er, was die praktische ärztliche Erfahrung anbelangt, gar keine Ahnung gehabt hätte. Vor seiner neuen Zuständigkeit auf der Bettenstation war er bereits länger auf der chirurgischen Notfallstation des Spitals eingesetzt. Der Chef war einfach der möglicherweise doch irrigen Meinung, frisch nach dem Staatsexamen würde man im Notfall noch am wenigsten Schaden anrichten und so kamen alle Anfänger zuerst dorthin. Dahinter verbarg sich auch die an sich verständliche Ansicht, sich nicht allzu sehr mit Greenhorns herumschlagen zu müssen. Das hatte wiederum für die Assistenzärzte der Notfallstation den Vorteil, dass man dem Chef nur selten begegnet ist, trug dann dafür auf der Abteilung den Nachteil in sich, dass man mangels eigener Erfahrung auf Reaktionen, wie die gerade erlebte, kaum gefasst war.

Wenn man nicht völlig auf den Kopf gefallen war, konnte man sich auf der Notfallstation das Wesentlichste innert zwei Wochen aneignen. Diagnosen gab es damals eigentlich nur zwei, zumindest, was die Beine und Arme betraf. Einerseits: «Gebrochen»: Dann hat man den Patienten entsprechend gelagert, ihn mit Schmerzmitteln versorgt und vertröstet, dass irgendeinmal der Oberarzt kommen und das Weitere festlegen würde. Der Oberarzt war aber normalerweise am Operieren und so wurde es regelmässig Nachmittag, bis man fortfahren konnte. Andererseits: «Nicht gebrochen»: In diesem Falle hiess es: «Euceta (eine entzündungslindernde Salbe), elastische Binde, ad HA», falls der Patient einen Hausarzt hatte, oder «ad casam» (nach Hause), falls nicht. Bänder, insbesondere Kreuzbänder am Knie, schien es nicht zu geben. Bauch, das war schon etwas differenzierter. Eine Röntgenaufnahme «Abdomen leer» stand an, ob vielleicht ein Flüssigkeitsspiegel in den geblähten Darmschlingen zu sehen sein könnte, dann lag nämlich ein Verdacht auf einen «Ileus» (Darmverschluss) vor. Oder gar Luft in der freien Bauchhöhle, dann hatte man es mit einer Darmperforation oder einer offenen Bauchverletzung zu tun und das war kein Spass. Die klinische Untersuchung war selbstverständlich wichtig. Neben der eingehenden Befragung eigentlich das Wichtigste. Man musste dabei aber wissen, wonach man sucht. Eine Blinddarmentzündung war ebenfalls eine heikle Sache. Man drückte an einer bestimmten Stelle zwischen der «Spina iliaca anterior superior», dem oberen Darmbeinstachel, und dem Bauchnabel am sogenannten McBurney-Punkt und wenn der Patient aufschrie oder zumindest lauthals reklamierte, dann war es wahrscheinlich doch eine Appendizitis. Eine «-itis» war stets eine Entzündung, sonst wäre es eine «-ose», wie beispielsweise eine «Arthrose» oder eine «Neurose». Eine «Gürtelrose» war wiederum etwas ganz Anderes, nämlich ein sogenannter Herpes Zoster, dessen Behandlung mühsam und aufwändig war, was aber deswegen nicht zwangsläufig mit dem Begriff «Zaster» in Verbindung stehen musste. Bei der Appendizitis drückte man also die Finger in die Bauchdecke am rechten Unterbauch, liess dazwischen immer wieder los und wenn’s wehtat, dem Patienten wohlverstanden, rief man nach dem Oberarzt. Selbstverständlich wusste man: Wenn der eine Oberarzt kommt, dann wird immer operiert, beim Anderen dagegen eher nicht. So wusste man jeweils im Voraus, was geschehen wird.

Einer der erfahrenen Oberärzte war üblicherweise nicht zu erreichen. Aber nur, wenn er Dienst hatte. Dann versteckte er sich nämlich, die Zeitung lesend, auf der Chroniker-Abteilung G 2. Einmal hat ihn jemand dort aufgespürt. Seither fand man ihn, wenn er Dienst hatte, längere Zeit überhaupt nicht mehr. Hatte er aber dienstfrei, dann stand er meist, hinter einer Säule versteckt, im Notfall und harrte der kommenden Dinge. Kam derjenige Oberarzt des Weges, der immer einen Grund zum Operieren fand, wartete er, bis jener wieder weg war, schlich sich behände zum Patienten, drückte behutsam auf die Bauchdecke, brummte: «Das ist keine Appendizitis» und entfernte sich leise wieder. Nach der vorgenommenen Operation fragte er jeweils den Assistenten, ob denn die Appendix auch entzündet gewesen wäre und freute sich dann schelmisch, wenn nicht. Das mit der richtigen Diagnose war aber noch etwas kniffliger. Fand man bei der Operation nämlich einen «blanden», also einen gesunden und keinesfalls entzündeten Wurmfortsatz vor, dann platzierte ihn der Operateur nach entsprechender Freipräparation noch im Bauch auf seine linke Handfläche, legte die rechte darüber und rieb die Appendix unter sanftem Druck durch rasches Hin-und-Her-Bewegen der Hände. Wenn man danach die Appendix herausschnitt und sie anschliessend rasch in die Pathologie spedierte, diagnostizierte der wohlmeinend unwissende Pathologe stets eine akute Entzündung.

Der besagte Oberarzt tauchte auch immer wieder unvermittelt irgendwo auf und fragte die nichtsahnenden Anwesenden, wie der Schwiegervater von Moses hiess. Selbstverständlich wusste niemand die Antwort. Darauf setzte der Oberarzt eine besorgt-traurige Miene auf und sagte: «Jethro, denn es heisst: Mose aber hütete die Schafe seines Schwiegervaters Jethro». Fast jeder Assistent, der damals dort beschäftigt war, weiss immer noch, und wenn’s nur das ist, wie der Schwiegervater von Moses mit Namen hiess. Manchmal sagte er auch ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem Geschehen um ihn herum: «Man sollte den Hund nicht zum Jagen tragen – hessisches Sprichwort.» Aber eigenartigerweise passte der Satz doch irgendwie fast immer. Und mit diesem Oberarzt, der trotz des potentiell verwirrenden ersten Eindrucks ein guter Diagnostiker und ein feinfühliger Mensch war, hatte Leo Konrad, so hiess der Assistenzarzt mit seinem vollen Namen, mehrere prägende Erlebnisse.

Unwissende Leute glauben, dass angehende Chirurgen auf irgendeine Art ausgebildet werden. Dies ist eine Vorstellung, die erstaunlich wenig mit der Realität zu tun hat. Es gibt durchaus andere Länder, in denen für die Chirurgen eine standardisierte stufenweise Weiterbildung vorgesehen ist, aber hier war es, zumindest damals, wie geschildert. Man bekam die Operation jeweils dreimal gezeigt, d.h. man bekam sie von demjenigen, der sie bereits ausführen durfte, assistiert. Das war’s. Danach musste man es alleine können. Auch nachts. Auch wenn’s ganz schwierig war. Dies auch mit einem Assistenten, der einem gar nicht helfen konnte. Und bei drei dargebotenen Assistenzen konnte man sich noch glücklich schätzen. Sonst lief es gelegentlich auch gemäss: «See one, do one, teach one». Die englische Form verrät, dass es auch in anderen Ländern so gehandhabt wurde. Konrad tat stets, was man ihm sagte. Sein grösstes Plus war, dass er zeichnen konnte, wodurch der Chef für längere Zeit der Last, für seine Vorträge und Buchbeiträge einen geeigneten Illustrator suchen zu müssen, enthoben war. Dies weckte mitunter auch den Neid seiner Kollegen, was sich in Bemerkungen wie: «Du hast die Stelle nur bekommen, weil du zeichnen kannst» äusserte. Diese erste unheilschwangere Begegnung mit seinem Chef belehrte Konrad, dass es primär besser ist, den Mund zu halten. «Der Assistent hält Mund und Haken», lautete eine bekannte alte Chirurgenweisheit.

An einem späten Abend, an sich war es eher ruhig, ging plötzlich die Tür der Notfallstation auf. Hinein traten zwei Typen mit Lederjacken, die einen dritten Mann zwischen sich halb trugen, halb schleiften. Der Verletzte, der wie gekreuzigt zwischen den beiden hing, war anfangs zwanzig, bleich, hatte offensichtlich Schmerzen. Es sah aus wie in einem der unzähligen Western der 60er Jahre. Die Befragung ergab einen gehabten heftigen, rasch eskalierenden Streit mit einem resultierenden Messerstich in der Bauchgegend des Opfers. Konrad war allein, nur die im Notfall zuständige Pflegefachfrau, damals hiess sie noch «Notfallschwester», war zugegen. Es war gegen Mitternacht. Der Patient wurde überwacht, bekam eine Infusion, labormässig bestand kein nennenswerter Blutverlust. Am Bauch, ungefähr auf Höhe der Gallenblase, hatte er einen längsverlaufenden, nicht blutenden Schnitt von etwa 1,5 cm Länge. So war alles bereit, um dem diensthabenden Oberarzt anzurufen. Dann dachte Konrad, es war wohl eine plötzliche Eingebung, eine zusätzliche Antischocklagerung könnte wahrscheinlich von Vorteil sein. Er hob das Fussende des Bettes hoch. Ohne jede Vorwarnung schrie der Patient wie ein Irrer. Konrad erschrak und senkte das Fussende rasch wieder. Das Schreien hörte sofort auf. «Das gibt es doch nicht», dachte er und hob das Fussende des Patientenbettes noch einmal, diesmal langsamer, an. Der Patient schrie erneut, laut und markerschütternd. Diese Massnahme stellte sich somit als offensichtlich völlig ungeeignet heraus. Konrad griff zum Telefon. Der Oberarzt war derjenige, den man üblicherweise nie fand.

«Ja, was hast du?»

Konrad schilderte den Fall, nicht ohne auf das merkwürdige, lageabhängige Schreien hinzuweisen. Die Antwort des zuständigen Oberarztes klang freundlich, nahezu jovial, und enthielt ganz genaue Anweisungen:

«Hör mal gut zu. Du bringst ihn in den OP, desinfizierst alles gründlich, setzt eine Lokalanästhesie, du weisst ja wie, schön spindelförmig, wie du es gelernt hast. Dann nimmst du eine Knopfsonde und schaust, ob der Bauch offen ist. Wenn ja, rufst du an.» Sprach’s und legte auf.

Konrad tat, wie ihm auferlegt. Nach der Desinfektion behändigte er eine genügend lange sterile Knopfsonde. Diese war an beiden Enden etwas dicker und abgerundet. Dabei ist ihm nicht entgangen, dass die Notfallschwester auffallend nervös hin und her lief. Dann liess er die Knopfsonde senkrecht in die offene Schnittstelle fallen. Flutsch, die Sonde verschwand zur Hälfte in der Bauchhöhle. Reflexartig hielt er sie fest und zog sie heraus. Kurze Zeit sass Konrad wie versteinert da. Schockgefroren. Dann spürte er, wie sein Gehirn langsam auftaute und wieder hochzufahren begann. Er hörte eine innere Stimme, die ruhig und ernst zu ihm sprach: «Konrad, weisst du, was du da gerade machst? Du sitzt mitten in der Nacht mit einem wachen Patienten, der nach einer Messerstichverletzung mit offenem Bauch da liegt, allein im Operationssaal. Was willst du jetzt tun?» Konrad spürte ein aufsteigendes Unwohlsein. Der Patient blickte ihn fragend an. In dem Moment ging die OP-Türe auf. Drin stand der Oberarzt mit hochrotem Kopf, schwer atmend.

«NARKOOOSEEE!!!»

Dem Oberarzt wurde offenbar bewusst, dass sein Notfallassistent, so war er halt, genau das tun würde, was er jetzt als Resultat seiner Weisung vorfand. Vielleicht hat auch die Pflegefachfrau das einzig Richtige getan und den Oberarzt klammheimlich alarmiert. Die nachfolgende Operation, die Konrad assistieren durfte, dauerte viereinhalb Stunden. Der junge Mann überlebte das Ganze, ohne Schaden genommen zu haben. Der Grund seines Schreiens trat während der Operation klar zutage. Unter dem an sich kleinen Messerstich verbarg sich eine vier bis fünf Zentimeter lange penetrierende Schnittverletzung an der Unterfläche der Leber mit einer kleineren Austrittsstelle an der Oberseite. Wenn man den Leberlappen vorsichtig mit dem breiten Leberhaken hochklappte, öffnete sich der Schnitt an der Unterseite und aus der weiten Öffnung spritzte ein fingerdicker Strahl Blut. Das war der Grund der Schmerzen beim Anheben der Beine. Konrad begriff: Wenn etwas eigenartig ist, wird es wohl einen Grund haben. Drei Jahre später gab ihm der Oberarzt den folgenden, fast schon väterlichen Rat mit auf den Weg:

«Als Chirurg musst du nicht sehr viel wissen. Zwei Dinge sind aber ganz besonders wichtig: 2 + 2 sind vier, nicht 3 und nicht 5. Und frag immer den Patienten, wie er heisst, bevor du ihn operierst.»

Konrad hat es sich gemerkt. Die Wichtigkeit des zweiten Ratschlags wurde ihm aber erst viel später bewusst. Es gab Patientenverwechslungen, extrem selten, aber doch.

Der Tagesablauf sah in etwa folgendermassen aus: Der Morgenrapport fand um 7 Uhr 20 statt. Vorher musste man sich auf der Abteilung in Kenntnis setzen, was in der Nacht vor sich ging. Dies war nicht immer leicht, vor allem, wenn man die Schwester nicht gerade fand. Natürlich musste man sich auch umziehen oder zumindest den Arztmantel überziehen. Bei jungen Assistenten machte der Chef natürlich Stichproben und schaute vor dem Rapport ein paar Laborwerte an, über die er dann die primär nichtsahnenden Assistenten ausfragte. Dann war man im Operationssaal, oft bis am Nachmittag. Um drei war Rapport, abgehalten in einem etwa zehn Quadratmeter kleinen, total verqualmten Röntgenraum, von den damals 14 Assistenten rauchten fast alle, was die Lunge hergab. Nicht zu rauchen hätte auch wenig gebracht, da die Rauchkonzentration im Raum weitgehend derjenigen des inhalierten beim Rauchenden entsprach. Die eintretenden Patienten versuchte man noch vor dem Rapport kurz zu sehen oder beauftragte den zugeteilten Unterassistenten («Uhu» oder «Unterhund»), es zu erledigen und zu berichten. Dann, kurz vor 17 Uhr, begann der Arbeitstag auf der Abteilung. Visite, Gespräche, Fragen der Schwestern beantworten, Berichte diktieren. Und danach, als Krönung des Tages: Abends auf den Chef warten. Bei seiner täglichen Visite marschierte er gegen halb acht abends los, die Route durch die einzelnen Abteilungen war immer die gleiche und nahm jeweils zwei bis drei Stunden in Anspruch. Der Assistent der ersten Wegstation hatte unverdientes Glück, er konnte, falls alles Sonstige erledigt war, um acht nach Hause. Derjenige am Ende der Tour musste bis halb elf abends ausharren. Das war jeweils der Assistent auf der Abteilung A2. Und auf der A2 war Konrad zuständig.

Eines Abends, als er, müde und hungrig, sehnsüchtig nach dem Chefarzt Ausschau hielt, sah er ihn plötzlich etwas früher als sonst um die Ecke kommen. Konrad verliess sein Arbeitszimmer, ging im langen Spitalgang dem Professor entgegen und rief: «Guten Abend, Herr Professor». Im gleichen Moment kam auch die Stationsschwester aus ihrem Büro. Der Chef grüsste freundlich zurück: «Guten Abend, Schwester Maja». Konrad dachte, entweder wäre er in diesem Moment Schwester Maja oder sein Stellenwert sei inzwischen ins Bodenlose gesunken.

Konrad fehlte nie. Einmal musste er zum Zahnarzt und hat sich dort erbeten, den spätesten möglichen Termin zu bekommen. Um sechs Uhr abends schritt er etwas eingeschüchtert zum Klinikausgang. In der Eingangstüre baute sich, wie bestellt, sein Chef vor ihm auf.

«Konrad, hast du Ferien? Arbeitest du noch bei mir?» Es klang nicht gut.

Hier muss man wissen, dass es damals keine Arbeitszeitregelung gab. Gar keine. Dadurch auch keine Überzeit und keinerlei Kompensation. Für andere Menschen gab es solches eigentlich schon seit über 100 Jahren, aber nicht für die Ärzte zu dieser Zeit. In Konrads Arbeitsvertrag stand: «Die Arbeitszeit richtet sich nach den Bedürfnissen der Anstalt». Somit betrug sie theoretisch 168 Stunden die Woche. Tatsächlich waren es bloss 80 bis 90, selten mal 100. Im Monat gab es jeweils ein Wochenende frei und zwei Sonntage. Ein Kollege rühmte sich, 36 Stunden ohne Schlafen und Essen, nur mit Kaffeepausen, durchgearbeitet zu haben. Damals war man auf so etwas stolz. Der Stolz der Sklaven, 10 Peitschenhiebe stumm ertragen zu haben. Nur einmal kam es bezüglich der Arbeitszeitregelung zu einem sonst nie gesehenen Eklat: An einem Abend im Sommer stand die Frau eines erfahreneren Assistenzarztes plötzlich in der Eingangstür einer Abteilung, an jeder Hand ein Kind. Ihr Mann kam ihr entgegen:

«Du kommst jetzt nach Hause, die Kinder brauchen dich.», sagte sie mit fester Stimme.