Der Clan und die Juwelen - Butz, Dr. Peters - E-Book

Der Clan und die Juwelen E-Book

Butz, Dr. Peters

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Beschreibung

Der größte Kunstdiebstahl der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der Einbruch eines Remmo-Kommandos 2019 in das Dresdner Grüne Gewölbe zeigt exemplarisch wie keine andere Straftat die Macht der Clans in Deutschland – und die partielle Ohnmacht des Staates. Bestsellerautor Butz Peters beschreibt, wie der »Coup des Jahrhunderts« in Dresden gelingen konnte, wie die »Geschäftsmodelle« des Remmo-Clans funktionieren und wie die Mitglieder gegenüber der Justiz agieren. Er schildert den Aufstieg des Clans in Deutschland, beginnend in den 1980er-Jahren, und wie sich seither eine Parallelgesellschaft fernab des Staates entwickelt hat. Mitten in Deutschland. Nicht nur in Berlin-Neukölln. Vieles in dem Buch liest sich abenteuerlich, unglaublich, bestürzend – aber es ist wahr.

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Seitenzahl: 346

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Butz Peters

Der Clan und die Juwelen

Das Cover zeigt den »Stein des Anstoßes« für den Jahrhundertdiebstahl: Den »Dresdner Grünen Diamanten« (Seite 204 f.)

Butz Peters

Der Clan und die Juwelen

Der Einbruch ins Dresdner Grüne Gewölbe und die Macht der Remmos

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2024

© 2024 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Annalisa Viviani

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: picture-alliance/ZB

Satz: Daniel Förster

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-2503-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-2276-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-2277-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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Inhalt

Vorwort

1 Das Urteil

2 Dresdens Schwarzer Montag

3 Die Schrecken nach der Tat

4 Die Soko Epaulette ermittelt – Auf der Spur der Remmos

5 Mastermind Wissam Remmo: Der Goldjunge von der Museumsinsel

6 Zugriffe ‒ Die Festnahmen der tatverdächtigen Remmos

7 Die Begierde der Remmos ‒ Sachsens Schatzkammer

8 Was passierte mit der Beute der Remmos?

9 Die Remmos vor Gericht – im Dresdner Hochsicherheitstrakt

10 Der Grüne-Gewölbe-Coup der Remmos

11 Woher kommen die Remmos?

12 Der Aufstieg der Remmos

13 Die Parallelgesellschaft der Remmos

14 Spuren der Remmos

15 Die Justiz und die Remmos

16 Warum war der Einbruch der Remmos im Grünen Gewölbe möglich?

Quellen

Bildnachweis

Über den Autor

Vorwort

Die einen leugneten das Thema aus politischen Gründen über viele Jahre, andere begriffen nicht die Brisanz. So ist die Clankriminalität zu einem Riesenproblem für Polizei und Justiz in Deutschland geworden. In Berlin und in vielen anderen deutschen Großstädten. Aber nicht nur dort. Nun brennt es der Politik unter den Nägeln. Derzeit gibt es wöchentlich mehrere Vorschläge, was schnellstens getan werden müsste – mehr Ermittler, schneller arbeitende Strafgerichte, größere Gefängnisse, effizientere Gewinnabschöpfungen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte eine »Allianz gegen Clankriminalität« an, um »entschlossen durchgreifen« zu können. Höchste Zeit.

Die Was-tun-Diskussion in Talkshows und auf Symposien ist das eine. Etwas anderes ist die Tatsache, dass schon seit Jahren Polizei und Justiz bei der Bekämpfung der Clankriminalität personell und materiell hoffnungslos überfordert sind. Das Buch zeigt auf, wie die Clankriminalität unsere Gesellschaft bedroht.

Der Humus, auf dem diese Form Organisierter Kriminalität seit den Achtzigerjahren wächst und gedeiht, sind Parallelgesellschaften, die die deutschen Rechtsnormen und Werte ablehnen.

Wie einer der größten Clans in Deutschland funktioniert, schildert das Buch, das Sie in den Händen halten, am Beispiel des Einbruchs ins »Historische Grüne Gewölbe« in Dresden: In der Nacht zum 25. November 2019 erbeutete ein sechsköpfiges Einbruchskommando des Berliner Remmo-Clans einen Teil des »sächsischen Staatsschatzes«. Den Schaden veranschlagte die Staatsanwaltschaft auf 113,8 Millionen Euro: der größte Kunstdiebstahl der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Dargelegt wird, wie die Täter über fast zwei Jahre den »Jahrhundertdiebstahl« planten: ihre Vorbereitungen, Ausspähungen und Testläufe, ihre spurenvermeidende und spurenvernichtende Arbeitsweise, den für unmöglich gehaltenen Einbruch ins Historische Grüne Gewölbe – und wie ihnen die Polizei auf die Schliche kam.

Wie kein anderer Coup eines Clans bietet dieser Fall tiefe Einblicke in das Denken und Handeln der Remmos – aufgrund ihrer Geständnisse im Dresdner Hochsicherheitstrakt und der akribischen Ermittlungen der »Soko Epaulette«. Ein Denken und Handeln, das sich gegen die Grundfesten unseres Staates richtet.

So mancher ist rein zufällig in die Geschehnisse um den Jahrhundertdiebstahl oder bei einer anderen Straftat des Remmo-Clans hineingeraten, beispielsweise als Wachmann oder Verkäufer eines Fluchtfahrzeugs. Um die Persönlichkeitsrechte dieser Menschen zu wahren, wurden ihre Namen geändert und kursiv gesetzt.

Dresden, im September 2023

Butz Peters

Kapitel 1

Das Urteil

Sofort nachdem der Vorsitzende die Verhandlung geschlossen hat, kommt bei den Angeklagten im Dresdner Hochsicherheitstrakt ein Hauch von Post-Match-Stimmung auf: Die drei »Sieger« des Tages klatschen sich ab – sie kommen auf freien Fuß: Rabieh Remo, Bashir und Mohamed Remmo. Der »Verlierer« des Tages, Abdul Majed Remmo, wirkt am Boden zerstört, ringt sichtlich um Fassung: Er hatte gehofft, ebenfalls freizukommen – und damit letztlich vom »Deal« zu partizipieren, ohne an ihm beteiligt gewesen zu sein. Trost spendet ihm seine Familie. Sein Zwillingsbruder Mohamed, der Sunnyboy, nimmt ihn in den Arm und redet besänftigend auf ihn ein. Ein Angeklagter küsst ihn auf die Wange. Ein anderer drückt ihn herzlich.

Dann treten auch schon zwei Justizwachtmeister auf Abdul Majed Remmo zu. Es bedarf keiner Worte. Er streckt ihnen seine Arme entgegen. Es klickt viermal – zwei Paar Handschellen werden ihm angelegt. Zwei Wachtmeister bringen ihn hinaus. Auch Wissam und Ahmed Remmo führen Justizwachtmeister hinaus – sie müssen zurück ins Gefängnis, weil sie noch ihre Strafe für den Diebstahl der Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum abzusitzen haben.

An dem Tisch, an dem eben noch Abdul Majed Remmo von seinen Clankomplizen getröstet wurde, stehen seine beiden Verteidiger und blicken konsterniert. Ihnen ist die Bestürzung anzusehen. Ihre Rechnung ist nicht aufgegangen. Verzockt? Sie hatten für ihren Mandanten beantragt, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen – »wie bei seinem Zwillingsbruder«.

Der macht jetzt Handzeichen zu Bekannten im Zuschauerraum – hinter der Glasscheibe. Einem ruft er etwas zu. Wegen der schallschluckenden Scheibe kann der ihn aber nicht verstehen. Kurz entschlossen steigt Mohamed Remmo auf einen Stuhl vor der Scheibe und ruft von dort aus. Ein Wachtmeister eilt herbei, fordert ihn auf, sofort herunterzusteigen. Aber jetzt scheint Mohamed Remmo sich von einem Wächter der Justiz nichts mehr sagen zu lassen. Erst als der Wachtmeister mit Verstärkung auf ihn zukommt, steigt er herunter – und lächelt freundlich. Er kann sehr charmant sein.

Draußen, vor dem Dresdner Hochsicherheitstrakt, erwarten über anderthalb Dutzend aus Berlin angereiste Männer die Familienmitglieder, die »rückkehrenden Brüder«: junge Männer im Alter der Angeklagten. Alle mit schneidigen Kurzhaarschnitten. Als Ersten in Freiheit zu sehen bekommen sie Mohamed Remmo. Um 11:58 Uhr fährt er in einem schwarzen BMW-Cabrio aus der Einfahrt zum Hochsicherheitstrakt. Er grüßt lächelnd vom Beifahrersitz – mit FFP2-Maske. Am Steuer sitzt seine Verteidigerin Ines Kilian.

Es folgt ein bisschen »Remmodemmi«. Hurrarufe für den »Freigelassenen«. Böse Worte für Nadja Malak, Fernsehjournalistin der MDR-Rechercheredaktion. Sie hatte mehrfach über den Remmo-Clan im MDR-Fernsehen und in der ARD berichtet und wurde vor dem Hochsicherheitstrakt von Remmo & Friends erkannt. »Du Schlampe Nadja«, sagt ein junger Mann zu ihr; ein anderer: »Du fettes Schwein.« Sie erstattet Anzeige bei einem Polizisten – dreißig Beamte und zwei Diensthunde ziehen auf. Als sich einer der Beleidiger – vermummt mit der Kapuze seiner Jacke und FFP2-Maske – aus dem Staub machen will, stoppt ihn ein Polizist mit einem unsanften Griff an der Schulter. »Stehen bleiben, habe ich gesagt.« Der Mann aus der Remmo-Begrüßungsdelegation kann sich nicht ausweisen. Er wird von vier Beamten umstellt – und muss mit auf die Wache. An einer Polizistin fährt ein Clanfahrzeug so dicht vorbei, dass es ihr Holster streift. Ausweiskontrolle. An der nächsten Ecke steigt Mohamed aus dem BMW, um sich begrüßen zu lassen. Männer nehmen ihn in den Arm. Drücken ihn. Einer nach dem anderen. »Mohamed, wie ist es in Freiheit?«, fragt ein Spiegel-TV-Reporter. »Verpiss dich«, sagt einer zu dem Fernsehreporter, »du Arschloch, du Hurensohn.« Einige der Männer schotten den gerade Entlassenen ab – bleiben vor dem Kamerateam stehen, während Mohamed Remmo weggeht.

Aus dem Besuchereingang des Hochsicherheitstrakts eilt »Frontmann« Rabieh Remo im blauen Dodgers-Baseball-Shirt, Bluejeans, leuchtend weiße Turnschuhe. Zum Schutz vor Fotografen hat er sein grünes Nike-Basecap aufgesetzt und eine FFP2-Maske bis knapp unter die Augen hochgezogen.

Nach zweieinhalb Jahren wieder auf freiem Fuß: Rabieh Remo verlässt den Dresdner Hochsicherheitstrakt

Weil die Polizei die Fahrbahn vor dem Hochsicherheitstrakt gesperrt hat, erwartet ihn sein »Abholkommando« um die Ecke in der Stauffenbergallee: in einem schwarzen VW Golf R – hinten vier mega-große Auspuffrohre, vorne 320 PS unter der Haube – und einem schwarzen Audi mit getönten Scheiben. Beide mit Berliner Kennzeichen. Dorthin flitzt Rabieh Remo im Sauseschritt, springt auf den Beifahrersitz des Golf und schlägt die Tür zu. Der Golf braust zügig los, der Audi hinterher.

Das sind die Schlussszenen aus dem Grüne-Gewölbe-Prozess – Dienstagmittag, 16. Mai 2023: Dreieinhalb Jahre nach dem größten Kunstdiebstahl der deutschen Nachkriegsgeschichte verkündete die 2. Strafkammer des Landgerichts Dresden ihr Urteil. Fünf Verurteilungen zu mehrjährigen Haftstrafen. Ein Freispruch. Die Strafkammer setzte die halbe Crew des Einbruchskommandos auf freien Fuß. Vorerst.

Es ging um einen spektakulären Blitzeinbruch in weniger als fünf Minuten – mit akribischen Vorbereitungen über anderthalb Jahre, wie sich in dem Verfahren herausgestellt hat: Aus dem berühmten Schatzkammermuseum im Dresdner Residenzschloss hatte ein sechsköpfiges Einbruchskommando in den frühen Morgenstunden des 25. November 2019 einundzwanzig wertvolle Schmuckstücke gestohlen. Besetzt mit 4316 Diamanten. Pretiosen der sächsischen Könige und Kurfürsten. Schaden laut Anklageschrift: 113 Millionen Euro.

Zu Prozessbeginn, fünfzehn Monate zuvor, hatte der Pressesprecher des Landgerichts Thomas Ziegler (54) erklärt, das Verfahren könne nicht im Landgericht am Sachsenplatz stattfinden – ein Sandstein-Justizpalast an der Elbe –, weil es um »Organisierte Kriminalität« gehe. Deshalb der Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts Dresden. Ein schmuckloser Betonflachbau am nördlichen Stadtrand. Errichtet für Terroristenprozesse und andere Staatsschutzsachen.

Vor dem Hochsicherheitstrakt ist der Lärm am Morgen der Urteilsverkündung, dem 47. Verhandlungstag, ohrenbetäubend.

Hammerweg: Der Dresdner Hochsicherheitstrakt

Oben, einige Hundert Meter hoch, rührt sich ein Polizeihubschrauber nicht von der Stelle. Sein Knattern geht durch Mark und Bein. Man versteht das eigene Wort kaum mehr – der Lärm des Triebwerks und der rotierenden Propellerblätter: Die Maschine »sichert« aus der Luft das Gebäude und den Transport der Häftlinge. Höchste Sicherheitsstufe. Die Bilder ihrer Kamera werden direkt zum Polizeieinsatzführer übertragen.

Unten, auf den Zufahrtsstraßen zum Hochsicherheitstrakt, wird das halbe Dutzend Angeklagter aus sächsischen Gefängnissen gebracht. Jeder kommt in einem eigenen Konvoi: jeweils vier Kleinbusse mit Blaulicht und Tatütata. Im ersten Wagen Polizisten, in der Mitte ein Bus der Justiz mit mehreren Wachtmeistern. Am Ende SEK-Polizisten mit »Sturmhauben«, Helmen und Maschinenpistolen. Bevor die Konvois in den Hammerweg einbiegen, sperren Polizisten die Straße für den Verkehr. Alle Angeklagten sind Angehörige der Berliner kurdisch-libanesischstämmigen Großfamilie Remmo. Drei Brüder, drei Cousins. Alle zwischen dreiundzwanzig und neunundzwanzig. Alle in Berlin geboren – zwischen 1993 und 1999.

Drinnen, im Zuschauerraum, herrscht freudige Erwartung auf den hinteren Plätzen: Aus Berlin sind über ein Dutzend Remmo-Familienmitglieder und -Freunde angereist. Sie erwarten, dass in den nächsten Stunden mindestens die Hälfte der Angeklagten auf freien Fuß kommt. So wie in dem »Deal« zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Angeklagten und Verteidigern vor vier Monaten ausgehandelt: dass die Strafkammer mit der Verkündung des Urteils ihre Haftbefehle aufhebt.

Getrennt vom Sitzungssaal ist der Zuhörerraum durch 2,20 Meter hohe Glasscheiben. Kurz nach zehn öffnet sich im Sitzungssaal langsam eine schwere Eisentür. Hinein schaut ein Beamter im blauen Kampfanzug der SGO-Sondereinheit, der »Sicherungsgruppe der Justizwachtmeister für die ordentliche Gerichtsbarkeit«. Sein Blick schweift durch den Gerichtssaal. Er dreht sich um und nickt nach hinten. Das Zeichen für seine Kollegen, die sechs Angeklagten aus den Einzelzellen im Haftkeller vorzuführen – seit zwei Jahren sitzen sie in Untersuchungshaft. Vor ihren Tischen haben sich über ein Dutzend Fotografen und Kameramänner aufgebaut.

Als Erster wird Wissam Remmo (26) von zwei SGO-Männern hereingeführt – gefesselt mit der »doppelten Handschellensicherung«. Die eine Acht umschließt seine Handgelenke. Die andere sein rechtes Handgelenk und das linke Handgelenk eines Justizwachtmeisters. Vor den Linsen der Kameras verbirgt er sein Gesicht hinter einer riesengroßen schwarzen Kladde. Er trägt eine schwarze »The North Face«-Fleecejacke und dunkle Jeans. 1,84 Meter groß. Drahtig. Durchtrainiert.

Fünfzehn Monate ist es her. Erster Verhandlungstag. Da betonte sein Verteidiger, die Formulierung in den Medien, der Angeklagte sei »Mitglied des Remmo-Clans«, sei eine »Vorverurteilung«. Denn »Clan« besage »Kriminalität«.

Tatsächlich ist Wissam Remmo der Prototyp eines Clan-Nachwuchsgangsters: Nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft Berlin wurde er bei zwanzig Straftaten erwischt. Im Alter zwischen vierzehn und einundzwanzig. Vor allem waren es Eigentums- und Rohheitsdelikte. Diebstahl mit Waffen, räuberischer Diebstahl, Wohnungseinbruch … Mehrere Verfahren wurden allerdings ohne Verurteilung eingestellt. Paradoxerweise wegen anderer Verfahren – eine Art strafverfahrensrechtlicher Mehrfachtäterbonus aus dem Jugendgerichtsgesetz, auf den Amtsrichter in Remmo-Strafverfahren immer wieder zurückgreifen.

Höhepunkt seiner bisherigen kriminellen Laufbahn ist der Einbruch ins Berliner Bode-Museum: Einer der Megacoups der deutschen Kriminalgeschichte. Zweieinhalb Jahre vor dem Diebstahl aus dem Grünen Gewölbe holte er dort zusammen mit drei Komplizen die einhundert Kilo schwere »Big Maple Leaf«-Goldmünze im Wert von 3,3 Millionen Euro heraus. Anschließend wurde die Münze zersägt und portionsweise verkauft. Der Tat überführt wurde Wissam Remmo unter anderem durch seine DNA am Tatort und Goldstaub in einer Jacke in seiner Wohnung. Der Titel »Meisterdieb« für diesen sensationellen Einbruch erfülle ihn mit Stolz, erklärte im Grüne-Gewölbe-Prozess sein Anwalt. Und hier räumte Wissam Remmo auch ein, mit einer hydraulischen Schere das Gitter vor dem Einstiegsfenster zum Grünen Gewölbe durchgetrennt und das Pegelhaus in Brand gesteckt zu haben. In ihm stand ein Stromverteilerkasten. Remmos Idee: Das gesamte Residenzschloss, in dem sich das Grüne Gewölbe befindet, Sekunden vor dem Einbruch komplett vom Stromnetz abzukappen.

Wissam Remmo ist ein Mann mit eiskalten Augen und hundert Gesichtern. Mal erscheint er mit ausrasiertem Bart und nach hinten geföhnten Haaren. Mal jugendlich bartlos; die Haare tief in der Stirn. Ein anderes Mal mit raspelkurzen Haaren. Immer mal wieder völlig anders.

Erst an seinem Platz werden ihm die beiden Achten abgenommen. An dem breiten Tisch erwarten ihn seine beiden Verteidiger. Sein Platz ist zwischen ihnen. Wissam Remmo begrüßt sie, setzt sich und plaudert mit ihnen entspannt. Neben ihm bleiben die beiden Justizwachtmeister in Habachtstellung stehen.

Als Zweiter kommt Mohamed Remmo (24) herein. Ein Strahlemann. Ein Sunnyboy. Sichtlich entspannt schlendert er daher. Dunkler Teint. Gegelte Haare, nach hinten gekämmt. Funkelnde braune Augen. Vollbart. Fast wie der junge Georges Moustaki in den frühen Sechzigerjahren. Er könnte sofort als Dressman für ein Country-Style-Magazin arbeiten. »Liebling« so mancher Prozessbeobachterin. Heute trägt er zu einem schwarzen Pullover mit weißen Zierstreifen auf den Ärmeln eine weiße FFP2-Maske – zum Schutz vor den Kameras.

Hinter der Glasscheibe erblickt er etliche Bekannte im Zuschauerraum. Fröhlich nickt er ihnen zu. Strahlt zuversichtlich. Anders als die beiden Justizwachtmeister neben ihm, die die doppelte Handfesselung aufschließen. So als ob sie ahnten, dass der Häftling, den sie gerade als Schwerstverbrecher hereingeführt haben, in nicht einmal zwei Stunden lächelnd den Hochsicherheitstrakt als freier Mann verlassen wird.

Zum Prozessauftakt hatte seine Strafverteidigerin erklärt, strafrechtlich sei er unbelastet. Abgesehen von einer einzigen Verurteilung – ausweislich des Bundeszentralregisters: 40 Tagessätze wegen eines Verstoßes gegen die Coronavorschriften 2020.

Ähnlich gelassen und entspannt lässt sich Rabieh Remo (29) an seinen Platz führen. Braunes Haar. Vollbart. Kräftige Oberarme. Typ cooler Zapfer in der nächsten Eckkneipe. Er trägt ein blaues Shirt der Dodgers. Eines Baseballteams in Los Angeles. Der einzige Angeklagte, der nur ein »m« in seinem Nachnamen hat. Warum? Das konnte das Verfahren nicht klären: Zu Beginn fragte ihn der Vorsitzende Andreas Ziegel (61), graue Haare, hohe Stirn, in seiner väterlichen Art, ob es dafür eine Erklärung gebe. Vielsagend grinste der Nur-ein-»m«-Mann. »Herr Vorsitzender, das frage ich mich schon ein halbes Leben lang.« Unstreitig ist, dass er zur Remmo-Großfamilie gehört. In Anbetracht einiger Verzweigungen – sie umfasst nach Polizeierkenntnissen über eintausend Menschen in Berlin – existieren unterschiedliche Schreibweisen. Remmo, Rammo, Rammou und Remo.

Der Neunundzwanzigjährige ist der – bislang einzige bekannte – »Frontmann« des Einbruchskommandos. »Ich war selbst im Grünen Gewölbe«, ließ er vor vier Monaten zur Verblüffung aller im Gerichtssaal von seinem Verteidiger ausrichten. Am 35. Sitzungstag. Die Stille im Raum war atemberaubend – man hätte eine Stecknadel fallen hören. »Ich bin der mit der Taschenlampe gewesen!«, trug sein Verteidiger vor. Die Erklärung bezog sich auf die lausig schlechten Videoaufnahmen von der Tat aus dem Grünen Gewölbe. Sie sorgten für Spott im Netz: Zu sehen ist auf ihnen, dass einer der beiden Einbrecher im Grünen Gewölbe eine Taschenlampe in der Hand hält. Seine Rolle bei dem Einbruch sei gewesen, lässt Rabieh Remo seinen Verteidiger weiter erklären, »mit einer anderen Person das Vitrinenglas mit großer Kraft einzuschlagen«. Der andere hätte ihm gesagt, »wo es langgeht«. Sprich: ihn ins Juwelenzimmer gelotst. Zur Vitrine. Dessen Glas er dann aufhackte. Zunächst war der 100-Kilo-Mann zu weit gelaufen. An der Vitrine vorbei. Voller Tateifer.

Auskunft über einen Teil seines Lebens gibt das Bundeszentralregister. Auf zwölf Einträge brachte er es. Bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr. Die Kette von Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch – Diebstahl, Körperverletzung, versuchte Nötigung und anderes – riss erst ab, als er wegen des Grüne-Gewölbe-Einbruchs in Untersuchungshaft landete. Zweieinhalb Jahre ist es her. An diesem Dienstagmorgen hält sich Rabieh Remo ein grünes Nike-Basecap vors Gesicht. Zum Schutz vor den Kameras. Nachdem er Platz genommen hat, wechselt er blitzschnell das Basecap vor seiner Nase gegen eine Doppelseite aus der Sächsischen Zeitung vom Wochenende.

Rabieh Remo: »Weil sie es können«

Zu lesen ist dort eine ausführliche Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Grüne-Gewölbe-Strafprozesses – unter der Überschrift »Weil sie es können«. Mit »sie« sind die Remmos gemeint. Das Gesicht hinter der Doppelseite verborgen, fängt Rabieh Remo an zu lachen. Diebische Freude scheint er daran zu haben, dass ihm die Sächsische Zeitung attestiert, ein »Könner« zu sein. Ganovenstolz. Auch Verteidiger und – hinter der Scheibe – Zuschauer müssen lachen.

Unscheinbar wie immer kommt Bashir Remmo (27) daher. Eine Tolle fällt auf seine Stirn. Dreitagebart. Schüchtern lugt er hinter seiner Kamera-Schutz-FFP2-Maske hervor. Über einem weißen T-Shirt trägt er eine schwarze Kapuzenjacke. Fünfzehn Monate ist es her, da hatte sein Verteidiger Michael Nagel – Rechtsanwalt mit Professorentitel –, angereist aus Hannover, den Richtern erklärt, mit dem Einbruch ins Grüne Gewölbe hätte sein Mandant nichts zu tun. Deshalb sitze er zu Unrecht in Untersuchungshaft. Stets sei er ein »guter Junge« gewesen. Nun werde sein Name, nur weil er Mitglied der Remmo-Familie sei, von den Medien dem Clan zugeschlagen. Ihre Berichterstattung hätte zu einer öffentlichen Vorverurteilung geführt. Dadurch bestehe die Gefahr, dass diese Vorverurteilung im Gerichtssaal angekommen sei. Die Vorwürfe gegen ihn seien ungerechtfertigt. Er werde freigesprochen. Das Fazit des Verteidigers: »Nur weil jemand Mitglied einer bestimmten Familie ist, gibt es keinen Grund, ihn einer kriminellen Bande zuzurechnen.«

Ein Jahr später ist alles anders. Zuvor war in dem Verfahren bekannt geworden, dass von Bashir Remmo an der Rückseite der Mauer, über die die Einbrecher geklettert waren, DNA-Material festgestellt worden war. Da erklärte am 36. Verhandlungstag für ihn sein anderer Verteidiger Carsten Brunzel, dass er zu dem Einbruchskommando gehörte und die Juwelen vom Einstiegsfenster zur Schlossmauer getragen habe. Hinter ihr stand der Fluchtwagen.

Wie sein Zwillingsbruder Mohamed hat auch Abdul Majed Remmo (24) eine FFP2-Maske zum Schutz vor den Fotografen aufgesetzt. Über den Ohren hat er die Haare zwei Fingerbreit ausrasiert. Wie immer blickt er leidend. Durch seinen Vollbart vermittelt er einen Hauch von mittelalterlichem Mönch. Im optischen Gegensatz dazu trägt er ein blaues Adidas-Kapuzensweatshirt. Auch er ließ, zehn Monate ist es her, von seinem Verteidiger ausrichten, dass er »nur wegen« seines Familiennamens angeklagt worden sei – und: »Ich bin unschuldig.«

Ein halbes Jahr später räumt er ein, die Äxte, mit denen das Glas der Vitrine im Grünen Gewölbe eingeschlagen wurde, in einem Hellweg-Baumarkt in Berlin gestohlen und einiges mehr für die Tat beschafft zu haben. Aber in Dresden sei er nicht dabei gewesen. In der Nacht des Einbruchs habe er in Berlin seinen Eltern geholfen – beim Einpacken von Umzugskartons.

Ahmed Remmo (25) hat sein schwarzes Basecap tief in die Stirn gezogen. Er ist der Bruder der Zwillinge Mohamed und Abdul Majed. Ein Jahr älter. Sein Gesicht und seinen Vollbart versteckt er hinter einer großen Plastikhülle. Unsicher wirkt er. Schüchtern. Wie immer. Ausdrucksstark ist sein Vorstrafenregister. Remmo-typische Delikte: gemeinschaftlicher Diebstahl, Wohnungseinbrüche, Diebstahl mit Waffen. Höhepunkt seiner kriminellen Laufbahn ist der Diebstahl der 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bode-Museum. Wie sein Cousin Wissam Remmo wurde er dafür zu vier Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe verurteilt.

Er ist der einzige Angeklagte, von dem keine DNA auf der Rückseite der Mauer vor dem Residenzschlosses gefunden wurde. Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass er für die Tatnacht ein Alibi hat: In der Notaufnahme des Vivantes Klinikums in Berlin-Neukölln erschien er um 0:40 Uhr. Drei Minuten später schoss er dort ein Selfie und verschickte es. Um 2:46 Uhr wurde sein Arztbrief ausgedruckt. Nach den Ermittlungen der Polizei erscheint ausgeschlossen, dass er anschließend noch nach Dresden zu dem Einbruchskommando gefahren und zu ihm gestoßen sein könnte. So beantragten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Freispruch.

Mit großen Überraschungen bei der Urteilsverkündung rechnet an diesem Dienstagvormittag niemand. Begrenzt ist die Strafe, die die Richter verhängen können, durch den »Deal« in diesem Verfahren – Rückgabe eines Teils der Beute und glaubhafte Geständnisse gegen Strafrabatt: Achtzehn von einundzwanzig gestohlenen Schmuckstücken rückten die Remmos wieder heraus, teilweise beschädigt. Dafür sagte die Strafkammer den Angeklagten einen »Haftstrafenkorridor« zu. Höchstens sechs Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe; mindestens fünf Jahre und neun Monate – und einen Abschlag gibt es, falls eine Verurteilung nach dem milderen Jugendstrafrecht erfolgt. Möglich ist das bei den Zwillingen Mohamed und Abdul Majed Remmo, weil sie zum Zeitpunkt der Tat zwanzig Jahre und neun Monate alt waren – und damit noch »Heranwachsende«. Geboren wurden sie am 1. März 1999. So könnte ihre Verurteilung nach dem milderen Jugendstrafrecht erfolgen. Die Strafkammer tagt als »große Jugendkammer«.

Ebenso Teil des »Deals« ist, dass die in dem Verfahren bestehenden Untersuchungshaftbefehle mit Verkündung des Urteils außer Vollzug gesetzt werden – Haftverschonung bis zur Rechtskraft des Urteils. Viele Wochen oder Monate können bis zur Ladung zum Strafantritt vergehen; und Jahre, falls der Verurteilte Revision einlegt: So lange kann es dauern, bis der Bundesgerichtshof entscheidet. Kalkül der Angeklagten außerdem: Sie hoffen, ihre Reststrafe in einer Berliner Haftanstalt absitzen zu können. Sie glauben, wie einer ihrer Verteidiger sagt, dass dort die Regelungen laxer sind und sie sofort oder alsbald Freigänger werden können – dann müssen sie nur noch nachts einrücken.

So sind an diesem Vormittag im Mai 2023 im Wesentlichen nur noch zwei Punkte offen. Erstens: Wird Abdul Majed als Gehilfe verurteilt, wie von seinen Verteidigern beantragt – unter Hinweis auf seine Einlassung? Oder als Täter, wie die Staatsanwaltschaft fordert? Sie meint, dass er einer aus dem Einbruchskommando ist, in der Tatnacht mit in Dresden war. Auch bei dem zweiten noch offenen Punkt geht es um Abdul Majed, und zwar um die Frage, ob auch er nach Verkündung des Urteils auf freien Fuß kommt. Vor Monaten hatte der Vorsitzende seinen Verteidiger Oliver Freitag zweimal gefragt, ob er dem »Deal« beitreten wolle. Beide Male hatte der Verteidiger erklärt, dass »wir« dem »Vorschlag der Kammer zu einer verfahrensrechtlichen Verständigung« nicht folgen. Nun nimmt Abdul Majed Remmo auf seinem Stuhl zwischen seinen beiden Verteidigern Platz. Zum letzten Mal. Sichtlich nervös.

Die Tür hinter dem Richtertisch öffnet sich. Herein kommen der Vorsitzende Andreas Ziegel und seine beiden Beisitzerinnen – die drei tragen schwarze Roben – und zwei Schöffen.

Vor der Urteilsverkündung: Links die Richterbank, in der Mitte der Vorsitzende Andreas Ziegel

Im Saal erheben sich alle: die sechs Angeklagten, ihr Dutzend Verteidiger, drei Staatsanwälte und Dutzende Zuschauer.

Im »Namen des Volkes« verkündet Ziegel das Urteil: Fünf Haftstrafen und einen Freispruch. Mit Ausnahme von Ahmed Remmo spricht er alle Angeklagten schuldig als Mittäter: der besonders schweren Brandstiftung, der gefährlichen Körperverletzung, des Diebstahls mit Waffen, der gemeinschädlichen Sachbeschädigung und der vorsätzlichen Brandstiftung. Die Strafen halten sich im vereinbarten Korridor. Sie liegen zwischen fünf Jahren, zehn Monaten und sechs Jahren, drei Monaten nach Erwachsenenstrafrecht; vier Jahre, vier Monate und fünf Jahre nach Jugendstrafrecht.

»Ahmed Remmo ist freizusprechen«, verkündet er sodann. Wie erwartet. Sein Alibi – nicht zu erschüttern.

»Die Tat war einzigartig«, beginnt Andreas Ziegel die Urteilsbegründung – sein Fazit am 47. Verhandlungstag, nach über einhundert Zeugen- und elf Sachverständigenvernehmungen: Der Einbruch in eines der »ältesten und reichsten Schatzkammermuseen der Welt« sei »von vielen kaum für möglich« gehalten worden. Der materielle Schaden ließe sich nur schwer schätzen. Er belaufe sich auf »um die 116 Millionen« Euro – nach den Versicherungswerten. Unermesslich sei der kulturhistorische Wert der Beute. Der Vorsitzende Richter lobt den »herausragenden personellen Einsatz der Ermittlungsbehörden«. Ohne ihn wären die Täter nicht gefasst, die Anklage nicht erhoben und auch ein erheblicher Teil der Beute nicht zurückgegeben worden. Er spricht von einer »unerwarteten Wendung« des Verfahrens »durch die Verständigung«. Der Kammer sei kein Fall einer derartigen Beuterückgabe bekannt. Sie sei von besonderer Bedeutung für den Freistaat Sachsen und für jeden Kunstinteressierten und »deutlich strafmildernd berücksichtigt worden«.

Sodann schildert er den Tatablauf des spektakulären Einbruchs in das fast dreihundert Jahre alte Museum und die beiden damit im Zusammenhang stehenden Brandstiftungen. Grundlage seiner Schilderungen sind neben den »objektiven Feststellungen« die Einlassungen der Angeklagten: Sie ermöglichen dem Vorsitzenden eine konturreiche Darstellung des Jahrhundertdiebstahls. Eine abenteuerliche Geschichte. Der Plot hat Kinoqualität.

Die Feststellung der Strafkammer, dass Wissam Remmo in der Nacht zum 25. November 2019 in Dresden mit von der Partie war, zeigt einmal mehr seine Unverfrorenheit, seine kriminelle Dreistigkeit. Denn in dieser Zeit stand er wegen des Goldmünzendiebstahls in Berlin vor dem Landgericht – dieses Verfahren lief von Januar 2019 bis Februar 2020 an 42 Verhandlungstagen. Eine dreiwöchige Verhandlungspause nutzte er für die Vorbereitungen und den Einbruch ins Grüne Gewölbe im November 2019 in Dresden. Anschließend nahm er wieder auf der Anklagebank im Berliner Kriminalgericht Moabit Platz und beteuerte, mit dem Diebstahl der Goldmünze nichts zu tun zu haben.

Erster noch offener Punkt im Dresdner Grüne-Gewölbe Prozess – zu Abdul Majed Remmo sagt der Vorsitzende: Die Kammer sei davon überzeugt, dass er dem Dresdner Einbruchskommando angehöre. Dies ergebe sich aus einer »Gesamtschau der Indizien«. Dazu zähle, dass sechs Stunden vor der Tat Polizisten bei einer Kontrolle festgestellt hätten, dass er zusammen mit den beiden Tatbeteiligten Bashir Remmo und Rabieh Remo in einem VW Golf in Berlin-Charlottenburg unterwegs war; ebenso die Angaben eines Mitgefangenen, dem gegenüber er die Tat eingeräumt hätte.

Der Vorsitzende verkündet, dass die Haftbefehle der vier an dem »Deal« Beteiligten außer Vollzug gesetzt werden. Aber Wissam und Ahmed Remmo kommen dennoch nicht auf freien Fuß. Sie müssen noch ihre Jugendstrafen von vier Jahren und sechs Monaten für den Einbruch ins Bode-Museum absitzen. Die, die gehen dürfen, müssen sich einmal pro Woche bei einem Berliner Polizeirevier melden. Immer dienstags.

Und dann hat der Vorsitzende noch eine schlechte Nachricht für Abdul Majed Remmo. Zweiter noch offener Punkt: Sein Haftbefehl werde nicht außer Vollzug gesetzt. Er bleibt im Gefängnis. Der Richter begründet das mit dessen »früherem Fluchtverhalten« unter Hinweis darauf, dass er sich vor zweieinhalb Jahren seiner bevorstehenden Festnahme durch Flucht entzogen habe. Trotz erheblicher Fahndungsmaßnahmen der Polizei sei es ihm »unter Nutzung der Familienstruktur« gelungen, sich ein halbes Jahr lang verborgen zu halten. Und angesichts der ausgeurteilten Strafe – fünf Jahre unter Einbeziehung einer anderen Strafe vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten – bestünde »noch genug Fluchtanreiz«.

Hoch droben am Himmel über dem Hochsicherheitstrakt steht wieder der Hubschrauber. Er sichert die Abtransporte der drei in sächsischen Haftanstalten Verbleibenden. In den Polizeikonvois werden Wissam, Ahmed und Abdul Majed Remmo zurück in ihre Gefängniszellen gebracht.

Resümee am letzten Tag des Prozesses – ein Jahr, drei Monate und achtzehn Tage nach dem Auftakt: Anders als damals, als sich die sechs Angeklagten als Unschuldslämmer und Fehlbesetzung auf der Anklagebank gaben, steht durch das Urteil in Anbetracht von Geständnissen und den Feststellungen eines DNA-Sachverständigen fest, dass dort die Richtigen saßen ‒ von einer Ausnahme abgesehen. Nach und nach brachte das Verfahren Einzelheiten und Hintergründe der spektakulären Tat ans Tageslicht.

Erfreulich auch, dass durch den Druck des Prozesses und drohende hohe Freiheitsstrafen ein erheblicher Teil der Beute von den Remmos herausgerückt wurde – wenn auch teilweise zerbrochen, zerbeult, zerrissen und zerschlissen.

Es ist ein historischer »Deal« zwischen Justiz und den Remmos. Eine solche Verständigung hat es noch nicht gegeben. Historisch ist auch, dass die Remmos, die auf der Anklagebank erklärten oder erklären ließen, den Schmuck nicht gestohlen zu haben, dafür sorgten, dass der Großteil davon der Polizei übergeben wurde. Ein Novum, dass die Remmos etwas herausrückten, was sie zuvor erbeutet hatten.

Aber der Prozess hat auch zutage gefördert, dass vieles von dem Drumherum um das eigentliche Tatgeschehen in der Nacht vom 24. auf den 25. November 2019 nicht aufzuklären ist. Oftmals, weil die Angeklagten es ablehnten, »drittbelastende« Erklärungen abzugeben. Dass sie dazu nicht verpflichtet waren, hatten ihre Verteidiger zur Bedingung für den »Deal« gemacht. Das Gericht ließ sich darauf ein.

So blieben im Dresdner Hochsicherheitstrakt etliche Fragen unbeantwortet (siehe dazu Kapitel 9). Etwa: Wer sind die bislang unbekannten Mittäter des Jahrhunderteinbruchs? Wer beschaffte die beiden Tatfahrzeuge, wer die Dubletten-Kennzeichen? Wer hat die beiden Fahrzeuge mit einer anderen Farbe versehen – »umfoliert«? Wer ist mit dem Audi in Dresden der Polizei davongefahren? Wer hat den Mercedes auf einem Sicherstellungsgelände der Polizei in Berlin in Brand gesteckt? Wo hat die halbe Crew des Einbruchskommandos in Dresden übernachtet? Und dann noch die vier großen Fragen, die am Ende der Chronologie des Jahrhundertdiebstahls stehen: Wo war die Beute versteckt – drei Jahre lang? Wer hat sie beschädigt? Was ist mit dem noch fehlenden Teil der Beute geschehen? Wie und von wem wurde von den Remmos die Rückgabe des Schmucks organisiert?

Fazit aus alledem: Beim Jahrhundertdiebstahl gab es weit über ein Dutzend Hintermänner, Planer, Drahtzieher, Unterstützer, Helfershelfer und Mitwisser. Alles spricht dafür, dass es Dutzende waren. Bis heute sind sie unerkannt. So fehlen große Puzzleteile des Gesamtbilds vom Grüne-Gewölbe-Coup.

Der Einbruch ist ein Paradebeispiel für die Clankriminalität in Deutschland. Exemplarisch belegen Tat, Prozess und das mannigfaltige Drumherum, mit welch hohem kriminellem Know-how und mit welch starker krimineller Energie die Remmos zu Werke gingen: langfristige und präzise Vorbereitungen, Skrupellosigkeit, kriminelle Routine, gepaart mit handwerklichem Geschick, Schnelligkeit und Chuzpe.

Kapitel 2

Dresdens Schwarzer Montag

Kaum schlimmer hätte der Stich in die Seele der Sachsen erfolgen können. Montag, 25. November 2019: In der Hauptstadt des »Weihnachtslandes Sachsen« herrscht Vorfreude auf die schönsten Wochen des Jahres. Keine Woche mehr, dann ist erster Advent. Und – noch schöner ‒ in zwei Tagen öffnet der Striezelmarkt. Es ist der 585. Eine Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Den ersten gab es vor mehr als einem halben Jahrtausend, 1434. In den vergangenen Tagen wurden auf dem Altmarkt 230 Buden aufgebaut – ab übermorgen gibt es dort erzgebirgische Volkskunst, Herrnhuter Sterne, Plauener Spitzen, Pfefferkuchen und natürlich jede Menge Glühwein. Überragt wird das Ganze von einer fünfundzwanzig Meter hohen Fichte – vor drei Wochen brachte sie ein Schwerlaster aus Bärenfels im Ostererzgebirge. Zweieinhalb Millionen Besucher werden bis Heiligabend erwartet.

Der Vorbote der schlechten Nachricht von der fetten Beute kommt an diesem Montagmorgen unscheinbar daher. Um 6:30 Uhr meldet MDR Radio Sachsen: »An der Dresdner Augustusbrücke ist gegen fünf Uhr eine Starkstromanlage in Brand geraten. Laut Feuerwehr knistert es in der begehbaren Anlage, hinzu kommt Rauchentwicklung. Wegen der unklaren technischen Lage kann die Feuerwehr nicht mit dem Löschen beginnen. Brückenmeisterei, Drewag und die Leitung der nahe gelegenen Baustelle sind auf dem Weg.«

Und dann kommt die Wahrheit meldungsweise aus den Lautsprechern. Um 7:30 Uhr sagt der Nachrichtensprecher, Grund für den Brand sei ein »Kurzschluss«. Die Nachricht von der Katastrophe hören die Sachsen zum ersten Mal um 9:30 Uhr: »Im Grünen Gewölbe in Dresden gab es heute früh einen Einbruch«, berichtet der Nachrichtensprecher: »Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa ist der historische Teil der Sammlung betroffen.«

Um zehn vermeldet er, »Diebe« hätten offenbar das »Grüne Gewölbe im Dresdner Residenzschloss beraubt. Wie die Polizei mitteilt, sind Unbekannte in die Schatzkammer von August dem Starken eingebrochen. Betroffen sei der historische Teil der Sammlung.« Unklar sei, was »genau passiert sein soll«. Am frühen Morgen hätte die Feuerwehr »einen brennenden Stromkasten in der Nähe des historischen Stadtzentrums« gemeldet: »Möglicherweise wurde dadurch die Stromzufuhr der Staatlichen Kunstsammlungen unterbrochen. Im Grünen Gewölbe lagern Schätze aus Gold und Edelsteinen sowie Kunstwerke aus Bernstein und Elfenbein.«

Ein Einbruch im Grünen Gewölbe? Unfassbar für die Dresdner! Die Tat liegt außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Das, was dort im Residenzschloss zu sehen ist – nunmehr: beziehungsweise zu sehen war – ist zwei-, dreihundert Jahre alt oder noch älter. Die Schätze, ursprünglich zusammengestellt von August dem Starken (1670–1733) und anderen sächsischen Herrschern, haben die Monarchie, das Deutsche Reich – einschließlich des Dritten Reichs – und sogar den DDR-Sozialismus überstanden. Dreizehn Jahre waren die Schätze außer Landes: Die Rote Armee hatte sie als Kriegsbeute verschleppt. Aber dann doch 1958 nach Dresden zurückgegeben. Anschließend war der »sächsische Staatsschatz« wieder in Dresden zu sehen. Und nun? Ein Teil von ihm stibitzt? Perdu?

Nach den ersten Radiomeldungen eilen viele Dresdner zum Residenzschloss, um sich selbst ein Bild zu machen. Vor dem Haupteingang auf der Südseite steht ein Schild – auf Deutsch und auf Englisch: »Aus organisatorischen Gründen bleibt das Residenzschloss heute geschlossen. Wir bitten um Ihr Verständnis. Vielen Dank.« Die Straße vor dem Westflügel, in seinem Erdgeschoss befindet sich das Historische Grüne Gewölbe, hat die Polizei weiträumig abgesperrt. Rot-weißes Plastikband flattert im Wind.

Aus der Ferne sehen die Neugierigen, wie Beamte in weißen Ganzkörperanzügen – auf dem Rücken steht »Polizei« – kleine Tafeln mit Nummern auf dem Kopfsteinpflaster platzieren, Fotos machen und Zigarettenkippen, Papierschnipsel und Tempo-Taschentücher einsammeln.

Spurensicherung vor dem Residenzschloss Dresden

Hinten, an der Fassade vor dem Historischen Grünen Gewölbe, stehen Polizisten am Gitter vor dem Fenster ganz links – ein Teil des Gitters fehlt! Aus der Ferne diskutieren die Beobachter: Passt durch dieses Dreieck ein Mensch? Vier Antworten sind in der Diskussion: Ja. Nein. Vielleicht. Ein Zwerg?

Drinnen im Residenzschloss: Nach den Dieben erscheinen Regierungsmitglieder. Als Erster Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Um 11:30 Uhr tritt er vor die Kameras im Kleinen Schlosshof. Er wirkt fassungslos. Sagt, mit einem Einbruch im Historischen Grünen Gewölbe hätte er »beim besten Willen nicht gerechnet«. Für ihn seien »die Sicherheitsmaßnahmen der Staatlichen Kunstsammlungen am Residenzschloss ausgezeichnet und umfassend« gewesen. Aber: »Wir sehen, dass das nicht der Fall ist.« Man könne »die Geschichte unseres Landes, unseres Freistaates nicht ohne diese Sammlung verstehen«. Sein Fazit: »Nicht nur die Staatlichen Kunstsammlungen wurden bestohlen, sondern wir Sachsen insgesamt!«

Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD) besichtigt, begleitet vom Direktor des Grünen Gewölbes Dirk Syndram, den Tatort von außen. Fassungslos steht sie im Bärengarten auf dem Rasen zwischen Schlossmauer und Residenzschloss und starrt auf das Loch im Gitter eines der Fenster des Grünen Gewölbes. »Wir haben heute einen enormen kunsthistorischen Verlust erlitten«, sagt sie anschließend. »Es sind einmalige Kunstgegenstände aus den Sammlungen August des Starken, die es auf der Welt nicht noch einmal gibt.« Auch Innenminister Roland Wöller schaut sich im Schloss um. Er spricht von einem »Anschlag auf die kulturelle Identität aller Sachsen und des Freistaates Sachsen«.

In das Historische Grüne Gewölbe darf niemand. Außer der Tatortgruppe des Landeskriminalamts. Auch nicht Mitarbeiter der Staatlichen Kunstsammlungen. Sie würden zu gerne wissen, was die Einbrecher mitgenommen haben. Aber Spurensuche und Spurensicherung brauchen Zeit. Und haben nun Vorrang.

Um 13 Uhr beginnt im Residenzschloss eine Pressekonferenz der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) und der Polizei Dresden. Dutzende Journalisten eilen in den Hans-Nadler-Saal. Auch SKD-Mitarbeiter sind da: Frauen stehen Tränen in den Augen. Einige weinen. Männer mit versteinerten Mienen. »Wie in einem schlechten Film«, sagt eine Angestellte. Nie hätte sie gedacht, »so etwas erleben zu müssen«. Eine Mitarbeiterin in Birkenstock-Sandalen erklärt, sie hoffe nun schon seit Stunden, dass sie »aufwache« – und sich das Ganze »als schlechter Traum entpuppe«. An einem langen Tisch sechs betretene Gesichter – bei nicht wenigen Beerdigungen ist die Stimmung deutlich besser. Ganz in Schwarz Marion Ackermann. Die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen. In dunklen Anzügen der Leitende Oberstaatsanwalt Klaus Rövekamp und der Dresdner Kripochef Volker Lange. Neben ihm in dunkelblauen Polizeiuniformen der Dresdner Polizeipräsident Jörg Kubiessa und sein Pressesprecher Thomas Geithner. Einziger Farbtupfer auf dem Podium ist die leuchtend rote Hose von Museumsdirektor Dirk Syndram. Die Journalisten hoffen, in den nächsten Minuten das scheinbar Unerklärliche erklärt zu bekommen. Der Saal hängt voller Fragen.

Quintessenz der 50-Minuten-Pressekonferenz: Die Täter sind über alle Berge. Die von der Polizei eingeleiteten »Sofortmaßnahmen«: erfolglos. Vonseiten der Staatlichen Kunstsammlungen wird deren »hervorragendes Sicherheitspersonal« gelobt.

»Glauben Sie mir, dieser Einbruchsdiebstahl ist etwas ganz Besonderes für uns«, beginnt Polizeipräsident Kubiessa seine Schilderung des »ersten Angriffs« seiner Beamten: »Um 4:59 Uhr erhielten wir vom Sicherheitsdienst, wie in diesen Fällen vorgesehen, im Führungs- und Lagezentrum die Information, dass es zu einer Einbruchshandlung kommt.« Während der erste Streifenwagen um 5:04 Uhr am Tatort eingetroffen sei, hätte das Lagezentrum mit einem »Funkrundspruch« alle Kräfte in Dresden über die »entstandene Lage« informiert. Alle sechzehn Funkstreifenwagen seien mit »Fahndungsmaßnahmen« beauftragt worden. Um 5:09 Uhr hätte die Zentrale die Information vom Sicherheitsdienst und von »Kräften vor Ort« bekommen, dass es zu »einem Stromausfall auf dem Theaterplatz gekommen« sei. Erste Ermittlungen hätten gegen 5:22 Uhr zu einem »Brandereignis« an einer »Art Elektroverteiler« geführt – »im Bereich Hofkirche, Italienisches Dörfchen, Theaterkahn«: »Ob dieses Brandereignis im Zusammenhang mit dem Einbruchsdiebstahl steht, ist Gegenstand der Prüfung.« Um 5:22 Uhr seien andere Polizeidienststellen in die Fahndungsmaßnahmen einbezogen worden: Die angrenzenden Polizeidirektionen Görlitz und Chemnitz, das Land Brandenburg und die Bundespolizei – sie auch mit Blick auf die Grenzen. Um 7 Uhr sei die Tatortgruppe des LKA angefordert worden, um die »objektiven Spuren bestmöglich zu sichern«. Die letzten Worte des Polizeipräsidenten überraschen niemanden im Saal: »Bis zum jetzigen Zeitpunkt kann ich Ihnen keinen Fahndungserfolg mitteilen.«

Über Notruf sei die Polizei aus der Sicherheitszentrale im Schloss von dem Einbruch informiert worden, berichtet Dresdens Kripochef Volker Lange. »Uns wurde mitgeteilt, dass auf den Bildern von den Kameras, die im Juwelenzimmer installiert sind, zwei Einbrecher zu sehen sind.« Als die Polizei dort eingetroffen sei, »war niemand mehr da«. Die Dresdner Polizei hätte die »Autobahnauffahrten abgesperrt«.

Außerdem gebe es einen »zeitlichen Zusammenhang« zu einem Fahrzeugbrand in einer Tiefgarage in der Kötzschenbroder Straße – sie liegt drei Kilometer vom Residenzschloss entfernt. Es könne sich um den Fluchtwagen handeln. Der Wagen scheine in Brand gesetzt worden zu sein. Sobald er abgekühlt sei, werde »der Brandursachenermittler nach der Ursache suchen«. Er sei abgemeldet gewesen; die Polizei derzeit auf der Suche nach dem Halter. Fazit des Dresdner Kripochefs: »Das ist sicherlich ein großer Fall.«

»Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie schockiert wir sind von dieser Brutalität des Einbruchs«, sagt Generaldirektorin Marion Ackermann. Betroffen sei »der Staatsschatz des achtzehnten Jahrhunderts«: drei Juwelengarnituren von einem »unschätzbaren kunsthistorischen und kulturhistorischen Wert«. Die besondere Bedeutung liege darin, »dass die Ensembles als solche überliefert sind« und in der »Vollständigkeit der Ensembles«. Nicht im Materialwert an sich, der »gar nicht so hoch zu bewerten« sei. Aufgrund der internationalen Bekanntheit hoffe sie, dass die gestohlenen Gegenstände »dem Markt entzogen« seien. Betroffen sei ein »unschätzbarer kultureller Wert, wirklich eine Art Weltkulturerbe«, sagt Museumsdirektor Syndram. Nirgendwo in Europa gebe es in irgendeiner anderen Sammlung »Juwelengarnituren, die in dieser Form, dieser Qualität und dieser Quantität sich als königliche Garnituren erhalten haben«. Das Entscheidende sei der »Ensemblewert«.

Kai Kollenberg von der Freien Presse meldet sich zu Wort und sagt, im Laufe des Vormittags sei die Rede davon gewesen, »dass die Schmuckgegenstände einen Wert von einer Milliarde« hätten – »um was reden wir denn? Welcher Schaden?« Mit dem Wert sei das immer so eine Sache, entgegnet Marion Ackermann. Man könne den Schaden »nicht in einen Wert auflösen«, weil das Gestohlene »unverkäuflich« sei. Deshalb gebe es »keinen finanziellen Wert, mit dem wir arbeiten«.

Ein Journalist will wissen, wie der Einbruch überhaupt gelingen konnte. »Das Fenster, durch das die Täter eingebrochen sind, da ist doch draußen ein massives Gitter vor« : »Wie sind die Täter da hineingekommen?« Das werde gerade geprüft, antwortet Kripochef Lange. Unklar sei deshalb derzeit, »ob es abgesägt, abgeflext oder abgeschweißt wurde«.

Der Redakteur der Deutschen Presse-Agentur Jörg Schurig fragt, ob jetzt zu befürchten sei, »dass diese Garnituren aufgebrochen werden und man versuchen werde, einzelne Steine davon zu veräußern«. Das Gesicht der Generaldirektorin verfinstert sich – sie blickt ängstlich. »Ich kann dazu nur sagen, das wäre eine schreckliche Vorstellung …« »Eine Erpressung wäre ja auch möglich«, wirft Birgit Fritz von mdr Kultur ein. »Da haben wir keine Erkenntnisse«, entgegnet Polizeipräsident Kubiessa.

Mehrere Fragen der Journalisten drehen sich um das Thema »Alarm – wann und wie, womöglich zu spät?« Ein Journalist fragt den Kripochef, wo um 4:59 Uhr der Alarm ausgelöst wurde – beim Öffnen des Fensters oder beim Zerstören der Vitrine? Volker Lange antwortet, um 4:59 Uhr sei der Eingang des Notrufs im Lagezentrum der Polizei in Dresden vermerkt. Der Journalist fasst nach: »Das heißt also, der Einbruch erfolgte schon vorher.« Genau, bestätigt der Kripochef: »Die Herren vom Sicherheitsdienst haben die Täter noch live gesehen« – auf ihrem Monitor. Und einer von ihnen habe dann bei der Polizei angerufen. Demzufolge habe der Einbruch »ein, zwei oder drei Minuten« vorher begonnen. Torsten Klaus, Redakteur der Dresdner Neuesten Nachrichten, fasst nach: »Da die Kollegen im Sicherheitsdienst offenbar auf Videoaufnahmen reagiert haben, gehe ich nicht davon aus, dass vorher eine andere Art von Alarm ausgelöst worden ist – ist dem so oder ist dem nicht so?« Momentan könne er nicht beantworten, sagt Polizeipräsident Kubiessa, »welche elektronischen Alarme in der Sicherheitszentrale des Museums eingegangen seien«. Das Thema hat Zukunft (siehe dazu Kapitel 4).

Museumsdirektor Syndram wird grundsätzlich in Sachen Museumssicherheit. Quintessenz: alles lehrbuchmäßig. »Wenn wir mitten in der Nacht Besuch haben, was wir normalerweise nicht haben«, erläutert er, werde Alarm ausgelöst. Man sehe auch »über Bildschirm, ob sich da eine Person drin befindet, was ja auch passiert ist – und dann wird sofort die Polizei informiert«. Auch wenn er hier »als erregter Museumsdirektor spreche«, wolle er sagen: »Wir haben hervorragendes Sicherheitspersonal.« Nachts sei es in der Sicherheitszentrale. Es sei nicht dafür da, »alleine durch die Gegend zu streifen« – auch wenn es Streifen gebe. Werde in der Zentrale Alarm ausgelöst, sei es das Schnellste, die Polizei zu informieren – und die sei auch schnellstens vor Ort gewesen, »wie wir gesehen haben«. Eine Journalistin fällt ihm ins Wort: »Ist denn der Alarm wirklich ausgelöst worden?« ‒ »Ich war nicht da«, erwidert der Museumsdirektor genervt, »ich lag im Bett.«