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Kapital ist das bestimmende Merkmal moderner Volkswirtschaften, doch die meisten Menschen haben keine Ahnung, woher es tatsächlich kommt. Was verwandelt bloßen Reichtum in ein Vermögen, das automatisch mehr Reichtum schafft? Katharina Pistor zeigt in ihrem bahnbrechenden Buch, wie Kapital hinter verschlossenen Türen in Anwaltskanzleien geschaffen wird und warum dies einer der wichtigsten Gründe für die wachsende Ungleichheit in unseren Gesellschaften ist. Techniken, die vor Jahrhunderten Landbesitz in Kapital transformierten, dienen heute zur Codierung von Aktien, Anleihen, Ideen und Zukunftserwartungen. Ein großes, beunruhigendes Porträt der globalen Natur dieses Codes sowie der Menschen, die ihn gestalten, und der Regierungen, die ihn durchsetzen.
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Seitenzahl: 571
3Katharina Pistor
Der Code des Kapitals
Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1 Ein Imperium des Rechts
Die leitende Hand des Rechts
Das Rätsel des Kapitals
Die rechtlichen Attribute des Kapitals
Staat, Macht und Kapital
Ein außerordentliches Privileg
Zusammenfassung und Ausblick
Kapitel 2 Die Codierung von Grund und Boden
Von der Nutzung zum Rechtsanspruch
Die Verwandlung von Land in Privateigentum
Der Schutz des Erbeuteten
Die Codierung von Land in den Kolonien
Die Decodierung des Trusts
Kapitel 3 Das Klonen juristischer Personen
Das Schicksal von Lehman Brothers
Eine Familie von Rechtspersonen
Die Codierung der modernen Kapitalgesellschaft
VERMÖGENSSCHUTZ
VERLUSTVERSCHIEBUNG
UNSTERBLICHKEIT
Rechte-Shopping
DIE WAHL DES GESELLSCHAFTSRECHTS
DIE WAHL DES EIGENEN STEUERSATZES
REGULATORISCHE ARBITRAGE
Kapitel 4 Schulden produzieren
NC
2 – Ein Post-mortem
Die Produktion konvertierbarer Wertpapiere
Vom Wechsel zur verbrieften Forderung
Die Kleros-Klone
Die Alchemie des Privatgelds
Kapitel 5 Die Einhegung des Codes der Natur
Immaterielles Kapital
Eigentumsrechte als Industriepolitik
Andere Staaten gefügig machen
Geschäftsgeheimnisse im Zeitalter von Big Data
Kapitel 6 Ein Code für die Welt
Die Ausweitung der Privatautonomie
Privateigentum contra Souveränität
Den Weg für globale Derivate freimachen
Im Dienste des Kapitals
Kapitel 7 Die Herren des Codes
Den Code meistern
Der rechtliche Familienstammbaum der Herren
Ein globaler Anwaltsstand
Meistercodierer versus Staaten
Kapitel 8 Ein neuer Code?
Smart Contracts
Digitale Eigentumsrechte
Digitale autonome Organisationen
Kryptowährungen
Digitaler Code versus Rechtscode
Kapitel 9 Das Kapital regiert durch das Recht
Ein privater Code
Privater Code und öffentliche Gewalt
Vagabundierendes Kapital
Den Code beherrschen
Recht ohne Kapital?
Namenregister
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
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Die Idee zu diesem Buch begleitet mich schon seit längerer Zeit. Zum ersten Mal kam sie auf, als das globale Finanzsystem im Herbst 2007 anfing, auf den Abgrund zuzusteuern. Die Geschwindigkeit der sich entfaltenden Krise ließ für ein tieferes Nachdenken nicht viel Zeit, doch sobald das Auge des Sturms vorbeigezogen war, habe ich, neben vielen anderen, versucht herauszufinden, was die enorme Expansion des Finanzsektors in den letzten Jahrzehnten erklären könnte und was zu seinem rapiden Niedergang geführt hat. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen war ich darum bemüht, die institutionelle Struktur verschiedener Segmente der Finanzmärkte eine nach der anderen aufzudecken. Am aufschlussreichsten an unseren Befunden war für mich, wie vertraut die grundlegenden Bausteine des Finanzsystems wirkten, trotz der fantastischen Vermögen, die es in der jüngeren Vergangenheit hervorgebracht hat, und ungeachtet seiner beispiellosen Komplexität. Überall, wo wir etwas tiefer gebohrt haben, stießen wir auf die Kerninstitutionen des Privatrechts: das Vertrags-, Eigentums-, Kreditsicherungs-, Trust-* , Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Sie hatten die Expansion der Wertpapiermärkte befeuert, waren aber, wie sich herausstellte, auch entscheidende Determinanten für ihren Niedergang. Als die tatsäch8lichen Erträge dieser Anlagen hinter die erwarteten Renditen zurückzufallen begannen, setzten die Anleger ihre rechtlichen Ansprüche durch: Sie nahmen Sicherheitsnachschüsse, Kreditlinien, Rückkaufvereinbarungen und Ausnahmeregelungen in Anspruch und trugen damit zu einer Verschärfung der Krise bei. Einige kamen noch rechtzeitig heraus, doch viele andere fanden sich mit Papieren wieder, die ihnen niemand abkaufen würde, abgesehen von den Zentralbanken bestimmter Länder.
Nachdem ich die Kernmodule unseres komplexen Finanzsystems identifiziert hatte, begann ich, ihre Ursprünge in der Zeit zurückzuverfolgen. Ich untersuchte die Entwicklung der Eigentumsrechte, der einfachen Schuldtitel, der verschiedenen Arten von Bürgschaften und Pfändern, die zur Besicherung von Schuldverschreibungen verwendet wurden, die Entwicklung des use (von dem später noch die Rede sein wird) und des Trusts, der Gesellschaftsform und der Geschichte der Insolvenz, jener entscheidenden Nahtstelle, an der im Wirtschaftsleben Entscheidungen über Leben und Tod fallen. Je mehr ich las, desto stärker war ich davon überzeugt, dass das, was mit einer Untersuchung des globalen Finanzsektors begonnen hatte, mich zum Quell des Reichtums geführt hatte: der Herstellung des Kapitals.
Dieses Buch ist das Ergebnis dieser Reise. Das Kapital ist, wie ich in diesem Buch behaupten werde, rechtlich codiert. Gewöhnliche Güter sind einfach genau das, was sie sind – ein Grundstück, ein Versprechen, in der Zukunft bezahlt zu werden, die gebündelten Ressourcen von Freunden und Familie für die Gründung eines neuen Unternehmens oder individuelle Fähigkeiten und Knowhow. Doch jedes dieser Güter kann in Kapital verwandelt werden, indem es in jene Rechtsmodule gekleidet wird, die auch zur Codierung von forderungsbesicherten Wertpapieren (Asset-Backed Securities)* und deren Deriva9ten verwendet wurden, die im Zentrum des Aufstiegs der Finanzbranche in den letzten Jahrzehnten standen. Diese rechtlichen Module, nämlich Vertrags-, Eigentums-, Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht, können dazu verwendet werden, den Inhabern bestimmter Güter einen komparativen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen. Jahrhundertelang haben Rechtsanwälte an diesen rechtlichen Modulen gefeilt, sie an verschiedene Güter angepasst und damit den Wohlstand ihrer Mandanten gemehrt. Und die Staaten haben die Codierung des Kapitals dadurch unterstützt, dass sie ihre juristischen Zwangsmittel für die Durchsetzung der gesetzlichen Rechte, die dem Kapital eingeräumt wurden, zur Verfügung gestellt haben.
Dieses Buch erzählt die Geschichte der rechtlichen Codierung des Kapitals aus der Perspektive des Guts [asset]: Grund und Boden, Unternehmen, private Schulden und Wissen, ja sogar der genetische Code der Natur. Ich zeichne hier nicht sämtliche Nebenpfade in der Entwicklungsgeschichte des Rechts nach, all jene Drehungen und Wendungen, die notwendig waren, um zu gewährleisten, dass die alten Codierungstechniken den neuen Gütern genügten. Für Juristen sind solche Einzelheiten überaus befriedigend, bringen für Außenstehende jedoch ein Maß an Detailliertheit und Komplexität mit ins Spiel, das für das Verständnis der Grundidee, wie das Recht gleichermaßen Vermögen wie Ungleichheit schafft, nicht nötig ist. Darüber hinaus gibt es einen reichhaltigen Literaturbestand, der die Entwicklung ausgewählter rechtlicher Institutionen nach10zeichnet, zum Beispiel die des Trusts, der Gesellschaftsform oder des Kreditsicherungsrechts. Diejenigen Leserinnen und Leser, die sich damit näher beschäftigen wollen, finden in der in den Anmerkungen dieses Buches zitierten Literatur einige entsprechende Hinweise. Die Rechtshistorikerinnen und die Fachleute aus den jeweiligen Rechtsgebieten bitte ich um Nachsicht für die Vereinfachungen, zu denen ich mich gezwungen sah, um gewährleisten zu können, dass das vorliegende Buch auch für Nichtjuristen zugänglich sein würde. Das sind die Leserinnen und Leser, die ich beim Schreiben des Buches im Sinn hatte, solche also, die vielleicht noch nie ein Buch über Recht aufgeschlagen haben, aus Angst, dass es zu trocken und zu kompliziert oder einfach nicht von Belang sein könnte. Ich habe mich bemüht, die rechtlichen Institutionen nicht nur verständlich, sondern auch interessant und relevant für die gegenwärtigen Debatten über Ungleichheit, Demokratie und Governance zu machen. Das Recht ist ein mächtiges Werkzeug für die Ordnung des Sozialen und hat, wenn es klug eingesetzt wird, das Potenzial, einem großen Spektrum gesellschaftlicher Ziele zu dienen; dennoch wurde es – aus Gründen und mit Folgen, die ich zu erklären versuchen werde – fest in den Dienst des Kapitals gestellt.
Viele Menschen haben mich auf meinem Weg der Niederschrift dieses Buches begleitet. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Columbia Law School haben mich ermutigt, ein Buch und nicht nur einen Artikel zu schreiben, als ich meine Ideen vor vier Jahren erstmals auf einem Workshop der Fakultät präsentierte. Meine Schülerinnen und Schüler an der Columbia Law School sind immer die Ersten, an denen ich meine neuen Ideen ausprobiere. Sie sind klug und direkt in ihren Ideen und Kritiken, und ich habe im Laufe der Jahre eine Unmenge von ihnen gelernt, als ich sie in den Komplexitäten des Gesellschaftsrechts, der Wertpapiere und ihrer Regulierung, aber 11auch in der Rolle des Rechts für die Entwicklung außerhalb der kapitalistischen Ökonomien des Westens unterrichtet habe. Ich habe außerdem enorm von Gesprächen mit ehemaligen Studierenden und Alumni profitiert, die erfolgreiche Praktikerinnen und Praktiker geworden sind. Einige haben mich sogar in meinen Lehrveranstaltungen besucht und mich und meine Studierenden an ihrem Wissen teilhaben lassen, über das nur intime Kenner der juristischen Praxis verfügen.
Dieses Buch hat zudem sehr von den Forschungsvorhaben und Workshops profitiert, die unter der Schirmherrschaft des Center on Global Legal Transformation stattgefunden haben, dessen Leitung ich an der Columbia Law School innehabe. Ich danke den Sponsoren, vor allem dem Institute for New Economic Thinking (INET) und der Max-Planck-Gesellschaft im Verbund mit der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, auf das Herzlichste.
Ein Buch zu schreiben kann ein ziemlich einsames Unterfangen sein. Glücklicherweise hatte ich viele Gelegenheiten dazu, frühe Ideen zu diskutieren und an wechselnden Zuhörerschaften ausprobieren zu können. Dazu zählten das Buffett Institute an der Northwestern University, die Chinesische Universität Hongkong, die ETH Zürich, die Goethe-Universität in Frankfurt am Main, die Humboldt-Universität zu Berlin, das Interdisciplinary Center Herzliya in Tel Aviv, die KU Leuven (wo ich die Ehre hatte, im Jahr 2016 die Dieter Heremans Fund Lectures in Law and Economics zu halten), die London School of Economics, die Oxford University, die Fakultät der Rechtswissenschaften an der Universität Tel Aviv sowie die Teilnehmer der jährlichen Zusammentreffen der Global Conference on Economic Geography, des Global Corporate Governance Institute und von WINIR, dem World Interdisciplinary Network for Institutional Research. Die Kommentare und Rückmeldungen, die ich dort von Kollegen und Studierenden er12hielt, halfen mir dabei, meine Argumente zu präzisieren, und haben mich vor vielen Fehlern und Irrwegen bewahrt.
Ich hatte außerdem das Glück, viele enge Kolleginnen und Freunde zu haben, die mich auf meinem Weg bestärkt haben. Mein verstorbener Kollege Robert Ferguson hat mir das Gefühl vermittelt, auf der richtigen Spur zu sein; ich wünschte, ich hätte ihm das Endergebnis noch präsentieren können. Carol Gluck hat meinen Vorschlag für das Buchprojekt geprüft und mich dazu gedrängt, meinen Blick auf die Gegenwart gerichtet zu halten und nicht der wahrhaft verlockenden Versuchung nachzugeben, mich in der Vergangenheit zu verlieren. Bruce Carruthers, Jean Cohen, Hanoch Dagan, Tsilly Dagan, Horst Eidenmüller, Tom Ginsburg (und seine Studierenden), Maeve Glass, Martin Hellwig, Jorge Kamine, Cathy Kaplan, Dana Neacsu, Delphine Nougayrède, Casey Quinn, Annelise Riles, Bill Simon, Wolfgang Streeck, Massimiliano Vatiero und Alice Wang haben einzelne Kapitel oder frühere Fassungen des ganzen Manuskripts gelesen und kommentiert. Das Endprodukt ist aufgrund ihrer konstruktiven Kritiken umso besser geworden, und ich bin ihnen allen sehr dankbar für die Zeit und die Aufmerksamkeit, die sie ihm gewidmet haben.
Ich möchte zudem zwei anonymen Gutachtern ganz herzlich danken, die ihre eigenen Ansichten und Ratschläge dazu geäußert haben, wie die Argumente meines Buches am besten zu stärken wären und wie dafür Sorge getragen werden könnte, dass es seinem Anspruch genügt, ein breiteres Publikum zu erreichen. Natürlich bin ich allein für sämtliche verbliebenen Fehler verantwortlich.
Herzlichen Dank an meinen Lektor Joe Jackson, der mir all die Freiheiten gewährt hat, die ich wollte, der aber auch stets bereitstand, wenn ich Ratschläge dazu benötigt habe, wie ich die Struktur oder die Erzählweise des Buches verbessern könnte. Ich war mit Kate Garber als Fakultätsassistentin an meiner 13Seite gesegnet, die mir dabei half, mein Englisch zu verbessern, und die mich immer darauf hingewiesen hat, an welcher Stelle mein Schreibstil zu verschachtelt war, um selbst noch für einen so scharfen Verstand wie den ihren nachvollziehbar zu sein. Einen Dank auch an die Bibliothekare an der Columbia Law School, die unermüdlich nach den Materialien geforscht haben, die ich benötigte, und an Karen Verde, die dem finalen Manuskript mit großer Sorgfalt seinen letzten Schliff verpasst hat. Ein besonderer Dank gilt Frank Lachmann, der das Buch in die deutsche Sprache übertragen hat und sich nicht nur als Meister beider Sprachen, sondern auch als sorgfältiger Lektor erwiesen hat.
Ich widme dieses Buch meinem Mann Carsten Bönnemann. Er hat meinen Enthusiasmus für dieses Projekt von Anfang an geteilt, war über den gesamten Verlauf des Schreibprozesses hinweg meine Versuchsperson und hat sich nie darüber beklagt, dass sich das Buch in unsere gemeinsame Zeit einschlich, obwohl es das in vielen Situationen getan hat, wenn wir zusammen waren und meine Gedanken abdrifteten, wenn wieder eine Gelegenheit, Studierende zu unterrichten oder vor einem ausländischen Publikum über die Kernargumente des Buches zu sprechen, mich von ihm wegführte oder als uns das Manuskript in seiner letzten Entstehungsphase sogar bis in unsere Sommerferien begleitete. Er war mein kritischster Leser, stellte die bohrendsten Fragen und drängte mich dazu, meine Argumente zu ihrem logischen Schluss zu bringen, auch auf die Gefahr hin, potenzielle Verbündete oder Freunde vor den Kopf zu stoßen. Am wichtigsten aber war, dass er mich immer wieder daran erinnerte, dass es auch noch ein Leben jenseits eines Buches gibt. Danke.*
Die deutsche Übersetzung möchte ich dem Andenken mei14nes Vaters, Hans-Henning Pistor, widmen, dem ich so viel verdanke und der wenige Wochen vor seinem überraschenden Tod die deutschen Druckfahnen noch Korrektur gelesen hat.
Sie sieht aus wie der Umriss eines Elefantenkopfes, jene Linie, die das Wachstum und die Menge des Vermögens darstellt, das weltweit zwischen 1980 und 2017 auf verschiedene Einkommensgruppen entfallen ist; passenderweise wird sie daher als »Elefanten-Kurve« bezeichnet.1 Die breite Stirn repräsentiert 50 Prozent der Weltbevölkerung, die in den letzten 35 Jahren nur mickrige zwölf Prozent des globalen Einkommenszuwachses für sich verbuchen konnten. Von der Stirn führt eine Linie zum Rüssel hinab und von dort aus steil nach oben zu seiner erhobenen Spitze. Am Rüssel sitzt »das Eine Prozent«; dieses hält 27 Prozent des neuen Vermögens, mehr als doppelt so viel wie die an der Stirn des Elefanten zusammengefassten Menschen. Die Senke zwischen Stirn und Rüssel ist der Ort, an dem sich in den fortgeschrittenen westlichen Marktökonomien die Familien mit niedrigem Einkommen bündeln, die »zusammengedrückten unteren 90 Prozent« dieser Volkswirtschaften.2
Dazu hätte es eigentlich nicht kommen sollen. Die 1980er Jahre sahen eine rapide Zunahme wirtschaftlicher und gesetzlicher Reformen in den Industrie- ebenso wie in den Schwellenländern, die bei der Allokation wirtschaftlicher Ressourcen den Märkten Vorrang vor dem Staat einräumten – ein Prozess, der durch das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und den Zusammenbruch des Sozialismus noch verstärkt wurde.3 Die Idee war, Verhältnisse zu schaffen, in denen alle prosperieren würden. Die durch klare Eigentumsrechte und eine zuverlässi16ge Durchsetzung von Verträgen geschützte Eigeninitiative würde, so lautete die These, sicherstellen, dass knappe Ressourcen dem effizientesten Eigentümer zugewiesen werden, was wiederum den Kuchen – zum Vorteil aller – vergrößern würde. Die Ausgangsbedingungen würden also vielleicht nicht gerade nivelliert werden, aber die vorherrschende Meinung war doch die, dass von der Befreiung der Individuen von den Fesseln der staatlichen Bevormundung letztendlich alle profitieren würden.
Dreißig Jahre später feiern wir nicht den Wohlstand für alle, sondern diskutieren darüber, ob wir bereits ein Maß an Ungleichheit erreicht haben, das zuletzt vor der Französischen Revolution erreicht wurde, und zwar in Ländern, die sich Demokratien nennen, mit ihrem Bekenntnis zur Selbstregierung auf Basis einer Herrschaft der Mehrheit und nicht der Eliten. Es ist schwer, diese Ansprüche mit einem Grad der Ungleichheit in Einklang zu bringen, der an den des Ancien Régime erinnert.
Natürlich herrschte kein Mangel an Erklärungen. Marxisten verweisen auf die Ausbeutung der Arbeit durch die Kapitalisten.4 Globalisierungsskeptiker behaupten, dass eine exzessive Globalisierung den Staaten die Macht genommen hat, einen Teil der Profite, die die Kapitalisten einstreichen, durch Sozialprogramme oder progressive Besteuerung umzuverteilen.5 Und schließlich besagt eine neue Deutung, dass das Kapital in entwickelteren Volkswirtschaften schneller wächst als der Rest der Wirtschaft; wer immer also in der Vergangenheit Vermögen angehäuft hat, wird es im Vergleich zu anderen weiter vermehren.6 Dies sind zwar zumindest teilweise plausible Erklärungen, die allerdings nicht auf die grundlegendere Frage nach der Genese des Kapitals eingehen:7 Wie wird Vermögen überhaupt erzeugt? Und, damit zusammenhängend, warum übersteht das Kapital häufig Konjunkturzyklen und Konjunkturschocks, die so viele andere in Panik versetzen und ihnen die Gewinne entreißen, die sie zuvor erzielt hatten?
17Die Antwort auf diese Fragen liegt, so werde ich behaupten, im Rechtscode des Kapitals begründet. Grundsätzlich besteht das Kapital aus zwei Komponenten: einem Gut und dem Rechtscode. Ich verwende den Ausdruck »Gut« hier in einem weiten Sinne für jedes Objekt, jede Forderung, Fähigkeit oder Idee, unabhängig von seiner oder ihrer Form. In ihrer reinen Gestalt sind diese einfachen Güter einfach genau das, was sie sind: ein Stück Boden, ein Gebäude, ein Versprechen darauf, eine Zahlung zu einem späteren Zeitpunkt zu erhalten, eine Idee für ein neues Medikament oder ein neuer Softwarecode. Mit der richtigen rechtlichen Codierung kann jedes dieser Güter in Kapital verwandelt und dadurch seine Tendenz, Vermögen für seine(n) Besitzer zu schaffen, verstärkt werden.
Die Liste der im Recht codierten Güter hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun. In der Vergangenheit wurden Grund und Boden, Unternehmen, Schulden und Fachkenntnisse alle als Kapital codiert, und wie diese Auflistung zeigt, haben sich diese Güter mit der Zeit gewandelt. Grund und Boden produzieren Lebensmittel und Unterkunft auch dann, wenn es keine rechtliche Codierung gibt, aber Finanzinstrumente und geistige Eigentumsrechte gibt es nur im Recht und digitale Güter im Binärcode, für die der Code selbst das Kapital ist. Und doch sind die rechtlichen Mittel, die für die Codierung jedes einzelnen dieser Güter angewendet wurden, im Laufe der Zeit bemerkenswert konstant geblieben. Die wichtigsten sind das Vertragsrecht, die Eigentumsrechte sowie das Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Dies sind die Module, aus denen das Kapital codiert wird. Sie legen Gütern wichtige Eigenschaften bei und privilegieren damit ihre Besitzer: Priorität [priority], welche konkurrierende Ansprüche auf dieselben Güter in eine Rangfolge bringt, Beständigkeit [durability], die prioritäre Ansprüche zeitlich ausdehnt, Universalität [universality], die sie 18räumlich ausdehnt, und Konvertierbarkeit [convertibility], die als ein Versicherungsmechanismus fungiert, der es Vermögensinhabern ermöglicht, ihre privaten Kreditansprüche bei Bedarf in Staatsgeld umzuwandeln und damit ihren Nominalwert zu schützen, da nur ein gesetzliches Zahlungsmittel ein echter Wertspeicher sein kann, wie in Kapitel 4 näher erläutert wird.8
Sobald ein Gut rechtlich codiert ist, ist es dazu geeignet, Vermögen für seine Besitzer zu erzeugen. Die rechtliche Codierung des Kapitals ist ein raffinierter Prozess, ohne den die Welt niemals das Vermögensniveau erreicht hätte, das heute herrscht; der Vorgang dieser Kapitalerzeugung selbst fand jedoch weitgehend im Verborgenen statt. Ich hoffe, im Laufe dieses Buches verdeutlichen zu können, wie das Recht dazu beiträgt, sowohl Reichtum als auch Ungleichheit zu schaffen. Die ersten Ursachen der Ungleichheit aufzudecken ist nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil ihr Anstieg das soziale Gefüge unserer demokratischen Systeme bedroht, sondern auch, weil herkömmliche Formen der Umverteilung durch Steuern ihren Biss weitgehend verloren haben. Tatsächlich ist die Abschirmung von Gütern und Vermögenswerten vor der Steuer eine der unter ihren Besitzern gefragtesten Codierungsstrategien. Und Rechtsanwälten, den Herren des Codes, werden außergewöhnlich hohe Honorare dafür gezahlt, dass sie solche Werte mithilfe der Gesetze derselben Staaten aus dem Zugriffsbereich der Gläubiger herausschaffen, einschließlich der Steuerbehörden.9
Wie, von wem und zu wessen Vorteil Güter ausgewählt werden, um rechtlich als Kapital codiert zu werden, sind Fragen, die den Kern des Kapitals und der politischen Ökonomie des Kapitalismus betreffen. Trotzdem gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Antworten auf diese Fragen in der Literatur. Der Grund dafür ist, dass die meisten Beobachter das Recht als einen Nebenschauplatz betrachten, obwohl es in Wirklichkeit 19genau das Tuch ist, aus dem das Kapital geschneidert ist. Dieses Buch wird zeigen, wie und durch wen ganz normale Güter in Kapital verwandelt werden, und wird den Prozess beleuchten, durch den Anwälte nahezu jedes Gut in Kapital umwandeln können. Die Wohlhabenden führen oft besondere Fähigkeiten, die harte Arbeit und die persönlichen Opfer, die sie selbst oder ihre Eltern oder Vorfahren erbracht haben, als Rechtfertigung für das Vermögen an, das sie heute besitzen. Gewiss mögen diese Faktoren zur Entstehung ihrer Reichtümer beigetragen haben. Doch ohne rechtliche Codierung hätten die meisten davon nur kurze Zeit überdauert. Über lange Zeiträume hinweg Reichtum anzuhäufen erfordert eine zusätzliche Absicherung, die nur ein von den Zwangsbefugnissen des Staates gestützter Code bieten kann.
Es wird oft als Zufall betrachtet, dass der ökonomische Erfolg, der die modernen Volkswirtschaften von früheren Zeiten mit viel geringeren Wachstumsraten und einer viel höheren Volatilität des Reichtums trennt, eng mit dem Aufstieg der Nationalstaaten verknüpft ist, die sich auf das Recht als das primäre Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung stützen.10 Viele Kommentatoren führen das Aufkommen privater Eigentumsrechte, verstanden als wesentliche Begrenzungen der Macht des Staates, als die entscheidende Erklärung für den Aufstieg des Westens an.11 Dennoch ist es möglicherweise zutreffender, diesen Aufstieg auf die Bereitschaft des Staates zurückzuführen, die private Codierung von Gütern im Recht zu unterstützen, und zwar nicht nur in Form von Eigentumsrechten im engeren Sinne, sondern auch von anderen rechtlichen Privilegien, die einem Gut Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität verleihen. Tatsächlich wird die Tatsache, dass das Kapital mit der Macht des Staates verbunden und von ihr abhängig ist, in den Debatten über Marktwirtschaften häufig außer Acht gelassen. Verträge und Eigentumsrechte schützen zwar freie Märk20te, doch der Kapitalismus braucht noch mehr – nämlich die rechtliche Privilegierung mancher Güter, die ihren Inhabern einen komparativen Vorteil gegenüber anderen bei der Anhäufung von Vermögen verschafft.12
Die Offenlegung der rechtlichen Struktur des Kapitals trägt zudem zur Lösung des Rätsels bei, das Thomas Piketty in seinem bahnbrechenden Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert präsentiert hat.13 Wie er dort zeigt, liegt die durchschnittliche Kapitalrendite in den entwickelten Volkswirtschaften über der durchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate (r 〉 g). Piketty hat dieses Rätsel nicht aufgeklärt, sondern sich damit begnügt, sein bemerkenswert regelmäßiges empirisches Auftreten zu dokumentieren. Doch seine eigenen Daten liefern wichtige Hinweise für seine Lösung. In einem Kapitel namens »Die Metamorphosen des Kapitals«14 zeigt Piketty, dass ländlicher Grundbesitz bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die wichtigste Quelle des Reichtums war. Inzwischen sind Aktien, Anleihen und andere finanzielle Vermögenswerte sowie städtischer Immobilienbesitz an seine Stelle getreten.
Die in diesem Buch vorgelegte Analyse wird zeigen, dass die Metamorphose des Kapitals Hand in Hand damit geht, dass die Module des Rechtscodes immer neuen Gütern übergestülpt werden, dass einige Güter aber auch von Zeit zu Zeit von den entscheidenden rechtlichen Modulen entkleidet werden: Ländlicher Grundbesitz, jahrhundertelang die wichtigste Quelle für privates Vermögen, hat lange von der größeren Beständigkeit profitiert, die er im Vergleich zu anderen Gütern besaß, büßte diese herausragende Stellung in Großbritannien und anderswo aber im späten 19. Jahrhundert ein. Zu diesem Zeitpunkt waren Kapitalgesellschaften nicht nur für die Organisation der Industrie, sondern auch als Nährböden des Reichtums zu weithin gebräuchlichen rechtlichen Modulen geworden. Zudem wurde diese Gesellschaftsform neben dem Trustrecht auch zu einem 21der wichtigsten rechtlichen Instrumente für die Emission von Wertpapieren, von Aktien bis zu Derivaten. Und nicht zuletzt haben sich die geistigen Eigentumsrechte in den letzten Jahrzehnten stark vermehrt und machen heute den Löwenanteil an der Marktbewertung vieler Unternehmen aus.
Eine Decodierung respektive Entschlüsselung des Kapitals und die Aufdeckung des Rechtscodes, der ihm unabhängig von seinem äußeren Erscheinungsbild zugrunde liegt, macht deutlich, dass nicht alle Güter gleich sind; diejenigen mit einer überlegenen rechtlichen Codierung sind tendenziell »gleicher« als andere. Der Kernpunkt dieses Arguments wurde bereits vom inzwischen verstorbenen Rechtshistoriker Bernard Rudden ins Feld geführt. Im folgenden Zitat hat er die entscheidende Rolle des Rechts bei der Ausgestaltung von Gütern, die ihren Inhabern Macht und Vermögen bringen, auf den Punkt gebracht:
Die traditionellen Begriffe des Eigentumsrechts im Common Law wurden für und durch die herrschenden Klassen geschaffen, und zwar zu einer Zeit, als der Großteil ihres Kapitals aus Landbesitz bestand. Heutzutage steckt das große Vermögen in Aktien, Unternehmensanteilen, Anleihen und dergleichen und ist nicht nur beweglich, sondern auch mobil und überquert auf der Suche nach einem steuerlichen Utopia per Tastendruck die Weltmeere. […] Rechtstheoretisch und rechtstechnisch gesehen hat sich jedoch eine tiefgreifende, wenn auch wenig diskutierte Evolution ereignet, durch die die zu Beginn für den Besitz an Grund und Boden ersonnenen Begriffe von ihrem ursprünglichen Gegenstand abgelöst wurden, nur um als ein Mittel zum Umgang mit abstrakten Werten zu überdauern und sich erfolgreich zu etablieren. Das feudale Kalkül besteht auch weiterhin fort, aber sein Habitat ist das Finanzvermögen und nicht der Landbesitz.15
In diesem Buch werde ich zeigen, dass das »feudale Kalkül« tatsächlich quicklebendig ist, und das auch in demokratisch regierten Gesellschaften, die stolz darauf sind, dass sie Rechts22gleichheit für jedermann garantieren – nur dass einige eben einen besseren Gebrauch vom Recht machen können als andere. Das Recht operiert mittels der Module des Rechtscodes des Kapitals, die in den Händen geschickter Anwälte ein gewöhnliches Gut in Kapital verwandeln können. Nicht das Gut selbst, sondern seine rechtliche Codierung schützt seinen Besitzer vor den Stürmen der üblichen Konjunkturverläufe, verleiht ihm Dauerhaftigkeit und schafft so die Voraussetzungen für eine nachhaltige Ungleichheit. Reichtümer können gewonnen oder verloren werden durch die Modifikation der rechtlichen Codierung eines Guts, die Entkleidung eines Gutes von einigen dieser Module oder ihre Übertragung auf ein anderes Gut. Wir werden sehen, wie sich dies auf den Aufstieg und Niedergang des Grundvermögens, die Anpassung rechtlicher Codierungstechniken an das Unternehmen, die Umwandlung von Darlehen in handelbare Wertpapiere, die an den Pforten der Zentralbanken in Bargeld umgewandelt werden können, und schließlich auf den Aufstieg von Fachwissen als Kapital auswirkt. Für jedes dieser Güter bestimmt die rechtliche Codierung letztendlich seine Fähigkeit, seinen Inhabern Vermögen und Reichtum zu verschaffen, und gibt ihnen zudem einen mächtigen Mechanismus zur Abwehr von Herausforderern an die Hand: »Aber es ist legal.«
Der Rechtscode des Kapitals mag zwar für den flüchtigen Beobachter unsichtbar sein, doch das heißt nicht, dass er nicht real wäre. Manche finden es einfacher, an die von Adam Smith verewigte »unsichtbare Hand«16 des Marktes zu glauben, statt ihre Zeit mit der Entschlüsselung des rechtlichen Aufbaus des Kapitals zu verbringen. Und dennoch haben Veränderungen in der Rechtsstruktur die Bedingungen für das Wirken von Smith' unsichtbarer Hand grundlegend verändert. Smith vertrat bekanntlich die Auffassung, dass die Verfolgung des individuellen Eigeninteresses unweigerlich der Gesellschaft zugutekommen wird. Oft außer Acht gelassen wird jedoch der Mechanismus, der die unsichtbare Hand antreibt. »[J]eder einzelne [trachtet] danach«, so Smith, »sein Kapital möglichst in seiner Nähe zu beschäftigen und infolgedessen es soweit wie möglich zur Förderung heimischer Erwerbstätigkeit zu verwenden – immer vorausgesetzt, daß er dabei den üblichen oder nicht viel weniger als den üblichen Gewinn aus Vermögen erzielen kann.«17 Warum? Weil er »Charakter und Umstände der Personen, denen er vertraut, besser kennenlernen [kann], und wenn er betrogen werden sollte, so weiß er besser Bescheid über die Gesetze des Landes, in dem er sein Recht suchen muß«.18 Während die landläufige Meinung das Wirken der unsichtbaren Hand dem Markt zuschreibt, kann sie aber genauso gut als eine Bezugnahme auf die Beschaffenheit der Spielregeln dort verstanden werden, wo Geschäfte getätigt werden. Die unsichtbare Hand wird tätig, wenn die Institutionen schwach sind; sie wird überflüssig, sobald solche vorhanden sind, die es den ökonomischen Akteuren erlauben, überall ihre Rechte und Interessen durchzusetzen.
Die heutigen Unternehmer müssen nicht mehr in ihrer Heimat »ihr Recht suchen«, und das Schicksal ihres Vermögens ist auch nicht mehr an die Gemeinschaften gebunden, die sie zu24rücklassen. Vielmehr können sie sich unter vielen Rechtsordnungen diejenige aussuchen, die sie bevorzugen, und deren Vorzüge genießen, auch ohne sich selbst, ihr Geschäft, ihre Waren oder Vermögenswerte physisch in den Staat zu verbringen, dessen Recht sie für die Codierung benutzen. Sie können Kapital nach eigenem Ermessen im in- oder ausländischen Recht codieren, indem sie sich für das Vertragsrecht eines anderen Landes entscheiden oder ihr Geschäft in einer Rechtsordnung gründen, die ihnen die größten Vorteile in Sachen Steuersätze, regulatorische Erleichterungen oder Aktionärsvorteile bietet. Die Entscheidung gegen den einen und für einen anderen Rechtsrahmen hinterlässt eine Spur nur auf dem Papier oder im Digitalen, kompromittiert aber die Macht des Codes nicht, solange es mindestens einen Staat gibt, der gewillt ist, hinter ihm zu stehen.
Dies liegt daran, dass seit Smith' Niederschrift vor mehr als zweihundert Jahren ein Imperium des Rechts entstanden ist, das zwar in erster Linie aus nationalem Recht besteht, aber nur lose an bestimmte Staaten oder deren Bürger geknüpft ist. Staaten haben rechtliche Zugangsbeschränkungen aktiv abgebaut und ihr Recht willigen Abnehmern feilgeboten, wodurch sie es den Vermögensbesitzern einfacher gemacht haben, sich das von ihnen favorisierte Recht auszusuchen. Die meisten Staaten erkennen ausländisches Recht nicht nur mit Blick auf Verträge, sondern auch in Bezug auf (finanzielle) Kreditsicherheiten, Unternehmen und die von ihnen ausgegebenen Wertpapiere an; sie nutzen ihre Zwangsmittel, um es durchzusetzen, und sie erlauben es inländischen Parteien, sich für ein ausländisches Recht zu entscheiden, ohne dadurch den Schutz durch die örtlichen Gerichte zu verlieren. Die phänomenale weltweite Expansion des Handels und des Finanzsektors wäre ohne gesetzliche Regelungen, die es den Vermögensinhabern erlauben, ihre lokalen Regelwerke mitzunehmen, oder wenn sie es vorziehen, sich 25für das ausländische Recht zu entscheiden, unmöglich gewesen. Die Herauslösung der Kapitalmodule aus den Rechtssystemen, die sie hervorgebracht haben, hat zwar die Schaffung von Vermögen durch die Kapitalbesitzer gefördert, jene, die entlang des Elefantenrüssels angesiedelt sind, aber auch zu einer stark verzerrten Verteilung des Vermögens für andere ohne Zugang zu ausgeklügelten Codierungsstrategien beigetragen.
Die zentrale Stellung und die Macht des Rechts bei der Codierung des Kapitals zu begreifen hat wichtige Konsequenzen für das Verständnis der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Denn sie lenkt die Aufmerksamkeit von der Klassenidentität und dem Klassenkampf auf die Frage, wer Zugang zum und Kontrolle über den Rechtscode und seine Herren hat: die landbesitzende Elite, die Fernhändler und die Handelsbanken, die Anteilseigner von Unternehmen, die Produktionsanlagen besitzen oder einfach Vermögensbesitz hinter einem Schleier aus zwischengeschalteten Unternehmen verborgen halten, die Banken, die Darlehen gewähren und Kreditkarten und Studienkredite vergeben, und die Finanzintermediäre, die keine Banken sind und komplexe Finanzprodukte ausgeben, einschließlich forderungsbesicherter Wertpapiere und Derivate. Die Kunstfertigkeit ihrer Anwälte, der Herren des Codes, erklärt dessen Anpassungsfähigkeit an die sich ständig verändernde Bandbreite von Gütern, und die vermögensbildenden Vorzüge des Kapitals helfen zu erklären, warum die Staaten nur allzu bereit dazu waren, innovative rechtliche Codierungsstrategien in Schutz zu nehmen und durchzusetzen.
Mit den besten Anwälten in ihren Diensten können Vermögensbesitzer ihre Eigeninteressen mit nur wenigen Einschränkungen verfolgen. Sie beanspruchen Vertragsfreiheit, lassen aber die Tatsache außer Acht, dass ihre Freiheiten letztendlich von einem Staat garantiert werden, wenn auch nicht unbedingt von ihrem Heimatstaat. Nicht jeder Staat ist jedoch für die Codie26rung von Kapital gleichermaßen günstig. Zwei Rechtsordnungen dominieren die Welt des globalen Kapitals: das englische Common Law und das Recht des Staates New York.19 Es sollte nicht überraschen, dass diese Rechtsordnungen auch die führenden globalen Finanzzentren – London und New York City – sowie alle der hundert wichtigsten weltweit aktiven Anwaltskanzleien beherbergen. Dies ist der Ort, an dem heute das meiste Kapital codiert wird, besonders Finanzkapital, also jenes immaterielle Kapital, das nur im Recht existiert.
Der historische Präzedenzfall für eine globale Herrschaft durch eine oder mehrere Mächte ist das Imperium [empire].20 Das Imperium des Rechts hat weniger Bedarf an Truppen, sondern stützt sich vielmehr auf die normative Autorität des Rechts, und sein mächtigster Schlachtruf lautet »Aber es ist legal«. Die Staaten, die die Bürger als »We, the people«* bilden, bieten ihre Rechtssysteme bereitwillig ausländischen Vermögensbesitzern an und überlassen ihnen ihre Gerichte, um ausländisches Recht so durchzusetzen, als wäre es das einheimische, auch wenn dieses Tun sie Steuereinnahmen kostet oder ihnen die Fähigkeit nimmt, die politischen Präferenzen ihrer eigenen Bürger zu verwirklichen.21 Für die globalen Kapitalisten ist dies die beste aller Welten, denn sie können sich die Rechtsordnungen aussuchen, die für sie am günstigsten sind, ohne viel in die Politik investieren zu müssen, um das Recht in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Wie die meisten Imperien der Vergangenheit, so ist auch das Imperium des Rechts ein Flickenteppich; es besteht nicht aus einem einzigen globalen Recht, sondern aus ausgewählten nationalen Rechten, die durch Regeln miteinander verknüpft werden, darunter Kollisionsregeln, die die Anerkennung und Durch27setzung dieser nationalen Gesetze an anderen Orten gewährleisten, sowie ausgewählte Elemente des Völkervertragsrechts.22 Der dezentrierte Charakter des Rechts, mit dem das globale Kapital codiert wird, hat viele Vorteile. Denn er bedeutet, dass der globale Handel und das globale Finanzwesen ohne einen Weltstaat oder ein globales Recht blühen und gedeihen können, und er erlaubt es denjenigen, die Bescheid wissen, sich die Regularien auszusuchen, die am besten zu ihren Interessen oder denen ihrer Kunden passen. Auf diese Weise durchtrennt das Imperium des Rechts die Nabelschnur zwischen dem Eigeninteresse des Einzelnen und den Belangen der Gesellschaft. Die rechtliche Entschlüsselung des Kapitals offenbart Smith' unsichtbare Hand als einen Ersatz für einen verlässlichen Rechtscode – sichtbar, wenn auch oft verborgen, und mit einer gefestigten rechtlichen Infrastruktur versehen, deren Anwendungsbereich die ganze Welt ist –, der seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Ein effektiver Rechtsschutz fast überall macht das Gedeihen privater Eigeninteressen möglich, ohne dass die Notwendigkeit besteht, in die Heimat zurückzukehren, um dort von den lokalen Institutionen zu profitieren. Ein in einem ortsbeweglichen Recht codiertes Kapital ist frei wie ein Vagabund; Gewinne können überall erzielt und eingestrichen und die Verluste überall da zurückgelassen werden, wo sie anfallen.
»Kapital« ist ein Ausdruck, den wir ständig verwenden, aber seine Bedeutung ist nach wie vor unklar.23 Fragen Sie irgendeine Person auf der Straße, und sie wird wahrscheinlich Kapital mit Geld gleichsetzen. Aber wie Marx im einleitenden Kapitel zum Kapital dargelegt hat, sind Geld und Kapital nicht dasselbe.2428Seiner Ansicht nach wird Kapital vielmehr in einem Prozess geschaffen, der den Tausch von Waren gegen Geld und die Abschöpfung des Mehrwerts aus der Arbeit umfasst.
Tatsächlich war der Ausdruck »Kapital« schon lange vor der Verewigung dieses Begriffs durch Marx im Gebrauch. Der Sozialhistoriker Fernand Braudel führt ihn auf das 13. Jahrhundert zurück, wo er zur austauschbaren Bezeichnung von Geldvorräten, Waren oder gegen Zinsen verliehenes Geld benutzt wurde,25 zumindest dort, wo dies erlaubt war.26 Auch heute noch gibt es Definitionen im Überfluss, wie Geoffrey Hodgson in einem sorgfältigen Überblick über die vorhandene Literatur gezeigt hat.27 Für die einen ist Kapital ein greifbares Objekt oder »materieller Stoff«,28 und bis heute beharren viele Ökonomen und Bilanzbuchhalter darauf, dass Kapital etwas Greifbares sein muss; wenn man es nicht anfassen kann, ist es kein Kapital.29 Für andere ist es einer der beiden Produktionsfaktoren oder eben einfach eine betriebswirtschaftliche Variable.30 Und für Marxisten steht das Kapital im Zentrum des Spannungsverhältnisses zwischen den Arbeitern und ihren Ausbeutern, die die Produktionsmittel besitzen, was ihnen die Macht gibt, Mehrwert aus den Arbeitern zu ziehen. Auch die Historiographie des Kapitalismus sorgt hier nicht sonderlich für Klarheit. Einige Historiker begrenzen das »Zeitalter des Kapitals« auf die Periode der Schwerindustrialisierung, wohingegen andere den Begriff zeitlich früher verortet haben, nämlich in den Perioden des Agrar- oder des Frühkapitalismus.31 Und unser eigenes, postindustrielles Zeitalter wurde alternativ auch schon als das des Finanz- oder globalen Kapitalismus bezeichnet.
Was die Begriffe von Kapital und Kapitalismus so verwirrend macht, ist, dass sich die äußere Erscheinungsform des Kapitals im Laufe der Zeit drastisch verändert hat, genauso wie die sozialen Beziehungen, die ihm zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund könnte man sogar fragen, ob es sinnvoll ist, his29torische Epochen, die sich so grundlegend voneinander unterscheiden, unter einer einzigen Rubrik des »Kapitalismus« zusammenzufassen. In diesem Buch werde ich den Standpunkt vertreten, dass wir dies sehr wohl tun können, ja sogar sollten, dass wir aber, um dies zu rechtfertigen, tiefer schürfen und die Entstehung des Kapitals selbst verstehen müssen.
Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass Kapital kein Ding ist; es kann weder an einem bestimmten Zeitraum noch an einem politischen Regime oder an nur einer Reihe antagonistischer sozialer Beziehungen wie denen zwischen Proletariat und Bourgeoisie festgemacht werden.32 Diese Erscheinungsformen von Kapital und Kapitalismus haben sich zwar dramatisch gewandelt, doch der Quellcode des Kapitals ist über die gesamte Zeit hinweg nahezu unverändert geblieben. Viele der rechtlichen Institutionen, die wir heute noch zur Codierung von Kapital verwenden, wurden, wie Rudden in dem weiter oben in diesem Kapitel angeführten Zitat bemerkt, erstmals in der Zeit des Feudalismus erfunden.
Marx stellte bereits fest, dass gewöhnliche Objekte eine bestimmte Transformation durchlaufen müssen, bevor sie im Austausch gegen Geld gehandelt werden können, um einen Prozess in Gang zu setzen, in dem Profite erzielt werden. Er charakterisierte diesen Prozess als Kommodifizierung, als einen notwendigen, aber, wie wir sehen werden, nicht hinreichenden Schritt für die Codierung von Kapital, und er erkannte auch die Möglichkeit zur Kommodifizierung der Arbeit. Karl Polanyi wich von Marx ab, was die Klassifizierung von Boden, Arbeit oder Geld als Waren angeht. Nur Gegenstände, die »für den Markt produzier[t]«33 werden, können als Waren gelten, wie er behauptete, und keines dieser Güter fällt unter diese Kategorie. Polanyi hatte nun zwar recht damit, dass die Kommodifizierung etwas Menschengemachtes ist, befand sich aber über das Wesen dieser von Menschenhand vollbrachten Transformation im Irr30tum: Nicht ein physischer Produktionsprozess, sondern die rechtliche Codierung ist das Entscheidende. Für die Kommodifizierung allein sind zwei der Attribute des Codes ausreichend: Priorität und Universalität. Um jedoch den größtmöglichen Rechtsschutz zu erreichen, müssen dieser Mischung auch noch Beständigkeit oder Konvertierbarkeit hinzugefügt werden. Der Kapitalismus ist, wie sich herausstellt, mehr als nur der Tausch von Waren in einer Marktwirtschaft; er ist eine Marktwirtschaft, in der einige Güter auf legale Steroide gesetzt werden.34
Anders als Polanyi und viele heutige Ökonomen glauben, können sogar Menschen als Kapital codiert werden. Dies steht im Widerspruch zu neoklassischen Ansätzen, die die Produktionsfunktion als die Summe von Kapital (K) und Arbeit (L), also der beiden Produktionsfaktoren, beschreibt, die zusammengenommen Güter (oder Q) produzieren.35 Diese Gleichung behandelt sowohl K als auch L als Größen, deren Preis durch ihre relative Knappheit bestimmt wird. Sie ignoriert die Macht des Rechtscodes. In Wirklichkeit kann L nämlich durch ein wenig Legal Engineering leicht in K umgewandelt werden. So manche Freiberuflerin hat zum Beispiel festgestellt, dass sie ihre Arbeit kapitalisieren kann, indem sie ein Unternehmen gründet, diesem ihre Dienste als Sachleistungen zukommen lässt und sich als Gesellschafterin des Unternehmens Dividenden anstelle eines Gehalts auszahlt – wobei sie von einem niedrigeren Steuersatz profitiert.36 Der einzige Input in dieses Unternehmen ist menschlicher Natur, wurde aber mithilfe einiger rechtlicher Codierung in Kapital verwandelt. Kapital als nichtmenschlich zu definieren steht außerdem im Widerspruch zu der Zunahme von Eigentumsrechten an Ideen und Fachwissen, wie etwa Patenten, Urheberrechten und Warenzeichen, die für gewöhnlich unter der Bezeichnung »geistige Eigentumsrechte« zusammengefasst werden. Was sind sie, wenn nicht die rechtliche Codierung menschlicher Erfindungsgabe?
31Ein weiterer Grund dafür, warum Menschen oft aus der Definition von Kapital ausgeschlossen werden, ist der, dass sie sich nicht selbst als Sicherheiten anbieten und auf diese Weise ihre eigene Arbeit monetarisieren können.37 Doch wie ich gerade gezeigt habe, können sie ihre Arbeit einem Unternehmen als Kapital zukommen lassen. Das Recht ist formbar, und es ist einfach, menschliche Arbeit in eine Sacheinlage umzubilden. Darüber hinaus wurden Sklaven, als die Sklaverei legal war, nicht nur als Eigentum, sondern auch als Sicherheiten für Darlehen benutzt – in den Vereinigten Staaten oft von Investoren aus den nördlichen, sklavenfreien Staaten, die damit dazu beitrugen, ein unmenschliches System aufrechtzuerhalten, auch wenn sie es öffentlich verurteilten.38 Als Folge davon verloren, als die Sklaverei letztendlich abgeschafft wurde und die ehemals versklavten Männer, Frauen und Kinder freigelassen wurden, ihre früheren Besitzer ein für sie wertvolles Wirtschaftsgut.39 Natürlich verblasst ihr wirtschaftlicher Verlust gegenüber dem Schicksal, das ihre früheren Sklaven durch ihre Hände erfahren haben, welches damals durch die unmenschliche Anerkennung und Durchsetzung von Eigentumsrechten an Menschen abgesegnet war.40 Der Punkt ist, dass die Geschichte der Sklaverei die Macht (nicht die Moral!) des Rechtscodes bei der Herstellung und Zerstörung von Kapital, aber auch der Menschenwürde veranschaulicht.
Um die Vielseitigkeit des Kapitals in Gänze zu würdigen, müssen wir über einfache Klassifikationen hinausgehen und verstehen, wie das Kapital jene Eigenschaften erhält, die es von anderen Besitztümern unterscheidet. Ökonomen in der »alten« institutionalistischen Tradition sind der Antwort zwar nahegekommen, doch ihre Beiträge sind weitgehend vergessen.41 Thorstein Veblen schlug zum Beispiel vor, dass Kapital die »Einkommen generierende Fähigkeit« eines Gutes sei.42 Und in seinem bahnbrechenden Buch Legal Foundations of Capitalism definier32te John Commons Kapital als »den Barwert des erwarteten nutzbringenden Verhaltens anderer Personen«.43 Seiner Auffassung nach steht das Recht bei der Steigerung der Zuverlässigkeit des erwarteten Verhaltens anderer im Mittelpunkt. Wie er gezeigt hat, dehnten die US-amerikanischen Gerichte Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der Eigentumsrechte vom Recht dazu, ein Objekt unter Ausschluss anderer zu nutzen, auf den Schutz künftiger Renditeerwartungen durch die Vermögensinhaber aus. Sobald dieser Schritt getan war, konnten diese Erwartungen nämlich nicht nur besteuert, sondern auch gehandelt und reinvestiert werden, und diejenigen, die gegen diese Interessen verstießen, einschließlich des Staates, konnten auf Entschädigungen für entgangene Gewinne verklagt werden.44
Diese Argumentationslinie zu ihrer logischen Schlussfolgerung bringend, definiert Jonathan Levy Kapital als »legales Eigentum, [dem] in Erwartung eines wahrscheinlichen künftigen geldlichen Einkommens ein pekuniärer Wert beigemessen wird«.45 Kapital ist, kurz gesagt, eine rechtliche Qualität, die hilft, Vermögen zu schaffen und zu schützen. Dieses Buch wird Aufschluss darüber geben, wie genau die wesentlichen rechtlichen Attribute Besitztümern übergestülpt werden, sowie über die Arbeit, die die wichtigsten Rechtsinstitutionen, die Module des Codes, jahrhundertelang bei der Schaffung neuer Kapitalwerte geleistet haben.
Sobald wir erkennen, dass das Kapital seine vermögensbildende Fähigkeit seiner rechtlichen Codierung verdankt, können wir auch sehen, dass im Prinzip jedes Gut in Kapital verwandelt werden kann. In diesem Sinne gibt es am »neuen Kapitalismus« nichts Neues.46 Das sich verändernde Gesicht des Kapitalismus, einschließlich seiner jüngsten Hinwendung zur »Finanzialisierung«, lässt sich damit erklären, dass alte Codierungstechniken von realen Gütern, wie etwa dem Landbesitz, zu dem überge33gangen sind, was die Ökonomen gerne als rechtliche Fiktionen bezeichnen: Vermögenswerte, die durch Unternehmens- oder Trust-Schleier geschützt sind, und immaterielle Vermögenswerte, die im Recht geschaffen werden.47
Im Recht wird der Ausdruck »Code« beziehungsweise »Kodex« typischerweise für dicke Bücher verwendet, die Gesetzesnormen zusammentragen. Prominente Beispiele sind die großen Kodifizierungen des 19. Jahrhunderts, so etwa die Gesetzeswerke des französischen und des deutschen Zivil- und Handelsrechts.48 Ich verwende diesen Ausdruck, um zu zeigen, wie bestimmte Rechtsinstitutionen auf eine höchst modularisierte Weise miteinander kombiniert und rekombiniert wurden, um Kapital zu codieren. Rückblickend waren die wichtigsten, aber keineswegs einzigen Module, die zu diesem Zweck verwendet wurden, das Vertrags-, Eigentums-, Kreditsicherungs-, Trust- und Gesellschafts- sowie das Insolvenzrecht. Wie diese Module funktionieren, wird in den folgenden Kapiteln näher erläutert. Für den Moment genügt es zu verstehen, dass sie einem Gut entscheidende Attribute verleihen, nämlich Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität, und es damit in die Lage versetzen, Vermögen zu schaffen.
Prioritätsrechte funktionieren wie ein Ass in einem Kartenspiel – sie stechen schwächere Rechtspositionen. Prioritätsrechte zu haben ist für einen Gläubiger von entscheidender Bedeutung, wenn sein Schuldner den wirtschaftlichen Ruin erleidet und alle seine Gläubiger auf einmal über seinen Besitz herfallen. Dies ist der Moment, in dem Eigentümer ihr Eigentum einfordern können und gesicherte Gläubiger in der Lage sind, die 34von ihnen besicherten Werte herauszuziehen und zu verkaufen, um ihre Verluste wettzumachen, während die ungesicherten Gläubiger sich mit dem begnügen müssen, was übrig bleibt. Prioritätsrechte verschaffen einem Eigentümer seinen Rechtsanspruch auf den jeweiligen Gegenstand und ermöglichen es ihm, einen Vermögenswert, der ihm gehört, aus der Konkursmasse herauszunehmen, die sich im Besitz eines bankrotten Schuldners befindet, unabhängig davon, wie laut andere Gläubiger dagegen auch protestieren mögen. Das Pfandrecht funktioniert in ähnlicher Weise. Der Inhaber einer Grundschuld, eines Pfandrechts oder einer anderen Kreditsicherung hat möglicherweise nicht das volle Anrecht auf den Vermögenswert, aber ein stärkeres Recht als Gläubiger ohne diesen Schutz, also die ungesicherten Gläubiger.49 Die Insolvenz kann daher als der Lackmustest für die Rechtsansprüche bezeichnet werden, die lange vor ihrem Eintreten entstanden sind.
Hernando de Soto, ein lebenslanger Fürsprecher von Eigentumsrechten für die Armen, hat behauptet, dass diese Rechte »totes Land« in »lebendiges Kapital« verwandeln können, da Eigentümer ihr Land oder andere Vermögenswerte verpfänden können, um Investitionskapital zu erhalten.50 Und dennoch ist dies nur die halbe Wahrheit des Kapitals. Ohne zusätzliche Rechtsgarantien laufen Schuldner Gefahr, ihre Vermögenswerte an die Gläubiger zu verlieren, wenn sie mit ihren Zahlungen in Verzug geraten, und zwar auch dann, wenn dies ohne ihr eigenes Verschulden geschieht. Die Geschichtsbücher sind voll von Fällen, in denen Schuldner in Zeiten schwerer wirtschaftlicher Einbrüche nicht nur ihr Tafelsilber, sondern auch noch ihr letztes Hemd an Gläubiger verloren haben. Vermögensinhaber, die ihre Güter in bleibendes Vermögen verwandeln wollen, lechzen deshalb nicht nur nach Priorität, sondern auch nach Beständigkeit.
Beständigkeit verschafft Prioritätsansprüchen eine zeitliche 35Ausdehnung. Die rechtliche Codierung kann die Lebensdauer von Besitz und Besitzständen verlängern, selbst angesichts konkurrierender Anspruchsteller, indem sie ihn beziehungsweise sie vor zu vielen Gläubigern abschirmt. Zu Zeiten, als es nicht erlaubt war, das gesamte Land eines Schuldners zu pfänden, auch wenn es hypothekarisch belastet war, konnte der Besitz an Grund und Boden als zuverlässige Vermögensquelle dienen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte. Nicht jedes Unternehmen, sondern solche, die als juristische Personen aufgestellt sind, können eine unbegrenzte Lebensdauer haben; sofern sie nicht durch Liquidation getötet werden, können sie für alle Zeiten tätig sein und Vermögen für eine sich wandelnde Liste von Eigentümern oder Aktionären entstehen lassen. Die Gläubiger der Kapitalgesellschaft selbst können Ansprüche auf ihr Vermögen erheben, wenn sie mit einem Darlehen in Verzug gerät; doch wie wir sehen werden, können ihre eigenen Aktionäre keinen Zugriff auf dieses Vermögen erlangen, ebenso wenig wie die persönlichen Gläubiger der Aktionäre.51 Aufgrund dieser Fähigkeit, ihr Vermögen vor allen außer ihren direkten Gläubigern abzuschirmen, sogar vor ihren eigenen Aktionären, ist die Kapitalgesellschaft zu einer der langlebigsten Institutionen des Kapitalismus geworden.
Das dritte Attribut ist Universalität. Dieses gewährleistet nicht nur, dass Priorität und Beständigkeit für die Parteien gelten, die sich darauf geeinigt haben, sie als verbindlich anzusehen, sondern auch, dass diese Attribute gegenüber jedermann aufrechterhalten werden, oder erga omnes, wie es in der lateinischen Rechtssprache heißt. Die Universalität macht das Wesen des Kapitals und sein Verhältnis zur Macht des Staates auf entscheidende Weise deutlich. Eine einfache Abmachung zwischen zwei Parteien kann ihre Wirksamkeit nur zwischen den beiden Vertragsparteien entfalten, aber andere nicht binden. Damit sich Prioritäts- und Beständigkeitsrechte so auf die ganze Welt er36strecken können, dass andere sie respektieren, braucht es einen starken Dritten.
Konvertierbarkeit ist das letzte Attribut des Codes des Kapitals; sie gibt den Vermögensinhabern eine explizite oder implizite Garantie auf die Umwandlung dieser Werte in Staatsgeld, wenn sie keine privaten Abnehmer mehr finden können. Die Konvertierbarkeit setzt das Recht auf eine freie Übertragbarkeit von Ansprüchen voraus. In der Vergangenheit mussten selbst einfache Schuldverschreibungen von den ursprünglichen Vertragsparteien erfüllt werden. Doch die Konvertierbarkeit fügt dem einfachen Recht auf Übertragung (oder Abtretung) rechtlicher Verpflichtungen eine weitere Dimension hinzu: Sie gewährt den Vermögensinhabern Zugang zu Staatsgeld, dem einzigen Vermögenswert, der seinen Nominalwert (aber, wie es die Geschichte der Inflation zeigt, nicht unbedingt seinen Realwert) stets bewahren kann.52 Der Grund dafür ist, dass das von einem Staat als gesetzliches Zahlungsmittel ausgegebene Geld durch seine Zwangsbefugnisse abgesichert ist, darunter die, anderen, das heißt seinen Bürgern, einseitig Verbindlichkeiten auferlegen zu können. Das ist es, was staatliches Geld zu einem zuverlässigen Wertspeicher macht und seinen einzigartigen Status unter den Versuchen erklärt, Geld zu schaffen, darunter die private, rechtlich codierte Schuld oder, wie in jüngster Zeit, Kryptowährungen, die den rechtlichen durch den digitalen Code ersetzen.53 Bei Wertpapieren ist ihre Konvertierbarkeit wichtiger als ihre Beständigkeit, ja sogar ein effektiver Ersatz für sie. Sie ermöglicht es ihren Inhabern, vergangene Gewinne zu einem Zeitpunkt einzufahren, an dem andere Marktteilnehmer sie nicht mehr valutieren.
Der Code des Kapitals ist ein Rechtscode; er verdankt seine Macht dem Recht, das von einem Staat garantiert und durchgesetzt wird. Wir können Verträge mit anderen aushandeln und sie als verbindlich ansehen, unabhängig davon, ob sie auch vor einem ordentlichen Gericht durchsetzbar wären oder nicht. Wir können sogar einen Vermittler benennen, um sämtliche Streitigkeiten beizulegen, die die vollständige Umsetzung einer Verpflichtung gefährden könnten, die wir in der Vergangenheit eingegangen sind. Würde die Welt nur aus solchen simplen Abmachungen bestehen, dann wäre das Recht trivial, ja sogar überflüssig,54 und eine solche Welt wäre für Anwälte ziemlich langweilig.
Interessanter (und realistischer) werden die Dinge erst angesichts konkurrierender Ansprüche auf denselben Vermögenswert. Menschen kaufen oder leasen Autos, mieten eine Wohnung oder belasten ein Haus, beziehen Gehälter, kaufen Anleihen oder Aktien und zahlen Geld auf ein Bankkonto ein. Unternehmer kaufen ihren Materialeinsatz, stellen Mitarbeiter ein, mieten Betriebsstätten an, tätigen Investitionen, schließen Verträge über Strom und Wasser ab, schulden Steuern, nehmen Geld aus dem Verkauf von Waren ein und zahlen Darlehen an ihre Gläubiger zurück. Solange jede Verbindlichkeit bedient und jede Rechnung bei Fälligkeit bezahlt wird, bleiben viele rechtliche Angelegenheiten unsichtbar. Sie treten allerdings dann mit Macht an die Oberfläche, wenn die Person oder Entität, die im Zentrum dieses Netzes von Forderungen steht, in Verzug gerät; wenn sich die Verbindlichkeiten summieren, die Vermögenswerte dahinschwinden und deutlich wird, dass nicht alle Anspruchsberechtigten das bekommen werden, was sie sich anfangs haben vertraglich zusichern lassen. Wenn die Insolvenz droht, ist das Pochen auf die Einhaltung von Verträgen keine 38Antwort mehr; vielmehr ist es dann an der Zeit zu entscheiden, wer in welcher Reihenfolge wie viel bekommt.
Ohne eine solche Entscheidung wird sich der erste Gläubiger, der vor Ort eintrifft, wahrscheinlich alles unter den Nagel reißen – eine Praxis, die vor der Erfindung des Insolvenzrechts üblich war. Dessen Absicht war es, einen Ansturm auf die Vermögensgegenstände des Schuldners zu vermeiden, ein Marktversagen, das in den meisten Fällen jede Chance auf eine Sanierung oder die effiziente Umschichtung des Vermögens des Schuldners zerstört.55 Die meisten Insolvenzgesetze schreiben heute eine einfache Rangfolge vor. Eigentümer können ihre Vermögenswerte abziehen, gesicherte Gläubiger die Sicherheiten aus dem Pool entnehmen und zu ihrer Befriedigung verkaufen und die ungesicherten Gläubiger erhalten Anteile an dem, was dann noch übrig ist.
Im besten Fall würden Gläubiger mit im Vergleich zu anderen, schwächeren Rechten freiwillig zurücktreten. Gläubiger, denen Verluste drohen, könnten dazu allerdings eher weniger bereit sein. Die Durchsetzung von Prioritätsrechten umfasst mehr als nur die Suche nach einer Lösung für ein Koordinationsspiel; es muss jemanden geben, der für diese Rechte eintritt und sie, falls nötig, auch ausübt. Tatsächlich bauen moderne Volkswirtschaften auf einem komplexen Netzwerk von Rechtsansprüchen mit unterschiedlicher Bedeutung auf, die durch die Zwangsmacht des Staates abgesichert werden.56
Wenn sich der Handel primär innerhalb enger Gemeinschaften abspielt, so ist eine formelle Rechtsdurchsetzung möglicherweise nicht erforderlich. Jeder in dieser Gemeinschaft wird wissen, wer die besseren Rechte hat; schließlich hat man es immer schon so gemacht. Solange sich die meisten Mitglieder der Gruppe weiterhin an die eingespielten Normen halten, wird es wenig Bedarf an komplexen Rechtssystemen, Gerichten und Durchsetzungsmacht geben. Geht der Handel jedoch über die 39Grenzen eingespielter Sphären des Warentauschs hinaus, in denen die geltenden Normen und etablierte Hierarchien allen bekannt sind, dann wird eine andere Form der sozialen Ordnung notwendig, die fähig ist, stärkere Ansprüche selbst Fremden gegenüber aufrechtzuerhalten.57 Staaten und staatliches Recht sind Beispiele für solche Institutionen und waren für den Aufstieg des Kapitalismus von entscheidender Bedeutung.
Natürlich mag es dem Recht nicht immer gelingen, sich Respekt zu verschaffen, und manchmal kann es den Staaten auch an den erforderlichen Mitteln für seine glaubhafte Durchsetzung fehlen. In vielen Gesellschaften wird das Recht nicht als legitim angesehen, und die (freiwillige) Rechtsbefolgung ist eher schwach ausgeprägt. Viele Länder, denen ihr formelles Rechtssystem in der Zeit der Kolonialisierung und des Imperialismus von außen auferlegt wurde, haben tendenziell schwächere Rechtsinstitutionen als solche Länder, die ihre formellen Rechtsinstitutionen intern entwickelt haben.58 Unter solchen Bedingungen werden die Module des Codes keine bleibenden Vermögenseffekte erzeugen. Stattdessen wird das Privatvermögen durch physische Gewalt geschützt, auf ausländischen Bankkonten gesammelt oder in ausländischem Recht codiert, wobei ausländische Gerichte zu seiner Absicherung bereitstehen.59
Das Recht ist eine mächtige Technologie zur Herstellung sozialer Ordnung; jahrhundertelang wurde es dazu benutzt, über enge Gemeinschaften hinausgehende soziale Beziehungen zu erweitern und Fremden zu versichern, dass sie es riskieren können, miteinander Geschäfte in Milliardenhöhe zu tätigen, ohne sich jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten zu müssen. Das liegt daran, dass ein Recht, das von der Androhung seiner zwangsweisen Vollstreckung gestützt wird, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die gegenseitigen Verpflichtungen, die private Parteien miteinander eingehen, und die Privilegien, die sie erhalten haben, ohne Rücksicht auf bestehende soziale 40Bindungen oder konkurrierende Normen anerkannt und durchgesetzt werden und dass diese rechtlichen Ansprüche sogar von Fremden respektiert werden. Was genau verschafft dem Recht diese Autorität? Diese Frage hat Gesellschafts- und Rechtstheoretikerinnen und -theoretiker seit Generationen umgetrieben.60 Eine Antwort auf sie lautet, dass das Recht durch die Zwangsbefugnisse eines Staates abgesichert wird; ein weiterer Grund ist die Fähigkeit des Rechts, kollektive Erwartungen zu bündeln, die abweichendes Verhalten minimieren und eine dezentrale, private Rechtsdurchsetzung fördern.
Max Weber hat die Macht des Rechts unter Verweis auf das Monopol des Staates auf die Zwangsmittel erläutert.61 Mit ihren Gerichten, Gerichtsvollziehern und Polizeikräften setzen Staaten nicht nur ihre eigenen Anweisungen durch, sondern auch private Eigentumsrechte und die bindenden Verpflichtungen, die private Parteien miteinander eingehen. Das bedeutet nicht, dass die staatliche Macht allgegenwärtig ist. Solange die Androhung einer zwangsweisen Durchsetzung des Rechts hinreichend glaubwürdig ist, kann eine freiwillige Rechtsbefolgung erreicht werden, ohne diese Drohung in jedem einzelnen Fall aussprechen zu müssen.62 Andere haben argumentiert, dass sich Rechtssysteme auch ohne staatliche Zwangsgewalt entwickeln können.63 Menschen haben sich schon lange vor der Entstehung der modernen Nationalstaaten selbst regiert. Alles, was es für eine effektive Selbstregierung braucht, ist eine zentrale Autorität, die in der Lage ist, eine verbindliche Auslegung von Regeln und Prinzipien zu verkünden. Ist sie vorhanden, kann die Durchsetzung den privaten Parteien überlassen werden, denn diese haben ein starkes Eigeninteresse daran, anderen dabei zu helfen, ihre Ansprüche im Einklang mit bekannten und respektierten Normen durchzusetzen, da sie wissen, dass sie in Zukunft möglicherweise eine ähnliche Unterstützung benötigen werden. Privaten Parteien stehen zwar vielleicht keine Sheriffs 41oder Gefängnisse zu ihrer Verfügung, aber sie können Mitglieder beschämen, sie meiden und aus der Gruppe ausschließen.
Dieses Koordinationsspiel dürfte jedoch am besten in einem Umfeld funktionieren, in dem alle Marktteilnehmer über vergleichbare Vermögenswerte und Interessen verfügen. In kapitalistischen Systemen sind jedoch nicht alle Vermögenswerte gleich; manche Vermögensinhaber haben bessere Rechte als andere. Wenn die Rangfolge konkurrierender Ansprüche umstritten ist, dann ist es unwahrscheinlich, dass es funktioniert, wenn man sich gegen ein vages Versprechen, sich irgendwann in der Zukunft zu revanchieren, für den Schutz der eigenen heutigen Ansprüche auf andere verlässt. Je vielfältiger die Vermögenswerte und je ungleicher ihre Verteilung, desto größer ist das Erfordernis für eine zwangsbewehrte Rechtsdurchsetzung und damit für Staaten und ihre Zwangsbefugnisse. Hierin liegt der tiefere Grund dafür, warum Staaten und Kapital untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Tatsache, dass das Kapital global geworden ist, widerlegt nicht die These, dass staatliche Macht für den Kapitalismus von zentraler Bedeutung ist. Denn die weltweite Mobilität des Kapitals ist eine Funktion einer rechtlich unterstützenden Infrastruktur, die letztlich von Staaten getragen wird. Viele Staaten haben sich im Rahmen ihres eigenen nationalen Rechts oder internationaler Verträge dazu verpflichtet, die nach ausländischem Recht geschaffenen Prioritätsrechte anzuerkennen. Sie setzen regelmäßig ausländisches Recht vor ihren eigenen Gerichten durch und geben ihre Zwangsbefugnisse für die Umsetzung von Urteilen ausländischer Gerichte oder Schiedsgerichte her. Diese rechtliche Infrastruktur ist das Rückgrat des globalen Kapitalismus und erklärt, warum sich die heutigen Händler nicht mehr nach Hause begeben müssen, um ihre Ausbeute zu schützen.