Der Code des Richters - Randy Singer - E-Book

Der Code des Richters E-Book

Randy Singer

4,8

Beschreibung

Ein Millionär erkennt, dass er unvorbereitet ins Jenseits gehen wird. Doch dann kommt ihm eine brillante Idee: Eine TV-Realityshow soll darüber entscheiden, welche Religion die rettende Wahrheit besitzt. Vertreter der Weltreligionen verteidigen auf einer entlegenen Insel ihren Glauben vor "Gericht". Einer von ihnen: Oliver Finney, ein resoluter alter Richter, tiefgläubiger Christ. Doch nach und nach dämmert es Finney, dass es auf der Insel um mehr als Unterhaltung geht: Sein Leben steht auf dem Spiel. Ohne zu wissen, wem er trauen kann, schmuggelt er codierte Nachrichten an seine Assistentin Nikki. Doch alleine kann sie den Wettlauf gegen die Zeit nicht gewinnen, bevor Blut fließt.

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ISBN 978-3-7751-7206-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5472-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2012SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Last Plea BargainCopyright © 2012 by Randy SingerGerman edition © 2012 by SCM Hänssler im SCM Verlag GmbH & Co. KG with permission ofTyndale House Publishers, Inc. All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: Karen GerwigUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz;www.oha-werbeagentur.chTitelbild: shutterstock.com; istockphoto.comSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Lob für Romane von Randy Singer

Hinweis zur deutschen Auflage

Teil 1 – Die Absichten

1

2

3

4

5

6

7

8

Teil 2 – Die Kandidaten

9

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Teil 3 – Das Kreuzverhör

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Teil 4 – Der Gegenbeweis

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Teil 5 – Das Urteil

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68

69

70

71

72

Epilog

Über den Autor

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Lob für Romane von Randy Singer

»Randy Singer verbindet traditionelle Justizthriller-Elemente mit christlichen Themen, doch vorrangig ist Die Staatsanwältin eine Kriminalgeschichte, und zwar eine verdammt gute.«

Booklist

»Eine Geschichte, die unterhält, überrascht und den Leser dazu bringt, sein Verständnis von Recht und Gnade zu überdenken … Singer beschert uns einen weiteren großartigen Justizthriller, der auch diesmal den Vergleich mit Grisham nicht scheuen muss.«

Publishers Weekly über Die Staatsanwältin

»Singers juristische Kenntnisse sind genauso überzeugend wie seine beeindruckende Erzählkunst. Und wieder treibt er uns an den Abgrund und lässt uns zappeln, bevor er uns gekonnt zurückzieht.«

Romantic Times über Der Imam

»Machen Sie sich darauf gefasst, sich mit großen Themen wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Mut auseinanderzusetzen … Die packenden Gerichtsszenen und die emotionale Spannung zwischen den Charakteren werden den Leser bis zum letzten Kapitel in den Bann schlagen.«

Crosswalk.com über Der Imam

»Unfassbar spannend! Singers bislang bestes Buch.«

Booklist über Der Jurist

»Randy Singer hat noch nie enttäuscht, und Der Jurist ist alles andere als der typische Justizthriller. Singer schafft es gekonnt, Überraschungselemente, Action und Intrige zu einer explosiven Mischung zu verweben, die wirklich überzeugt.«

fictionaddict.com

»Singer hat einen äußerst raffinierten Roman ausgearbeitet. Das Spiel ist von der ersten Seite bis zu seinem überraschenden Ende eine tempogeladene Geschichte.«

Romantic Times

»Im Zentrum der rasanten Handlung stehen die moralischen Zwickmühlen, die zu Singers Markenzeichen geworden sind … Ein aufregender Thriller.«

Booklist über Die Vision

»Bei Singers neuestem, nervenaufreibendem Roman werden es die Leser vor Spannung kaum aushalten.«

Christian Retailing über Die Vision

»Singer schlägt den Leser ab der ersten Gerichtsszene dieses mitreißenden Thrillers in seinen Bann und treibt ihn dann durch eine rasante Handlung, die bis zur letzten Seite spannend bleibt.«

Publishers Weekly über Die Vision

»Die Figuren sind so gut ausgearbeitet und die Dialoge so interessant, dass man diesen Thriller kaum aus der Hand legen kann.«

Bookreporter.com über Der Richter

«

Für Jeanine Allen und David O’Malley,zwei außergewöhnliche Freunde,die 2005 beide die ersehnten Worte hörten:»Gut gemacht, mein guter und treuer Diener!«Matthäus 25,21

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Hinweis zur deutschen Auflage

Die meisten der in diesem Buch verwendeten Codes beziehen sich auf einen anderen Roman von Randy Singer, und zwar auf The Cross Examination of Jesus Christ. Da dieses Buch allerdings nur auf Englisch vorliegt, wurden die entsprechenden Codes und ihre Klartexte ebenfalls in Englisch abgedruckt.

Die Redaktion

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Teil 1Die Absichten

Ich habe keine Angst vor dem Tod.Ich will einfach nur nicht dabei sein,wenn es passiert.Woody Allen

Sie hätten es besser mit einer Axt machen sollen.George Westinghouse,Beobachter beim ersten Einsatz des elektrischen Stuhls

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Das kann nicht wahr sein.

Als der Patient die Worte des Arztes hörte, wurde ihm schwindelig. Inoperabler Gehirntumor. Frontallappen.

Er klammerte sich an die Armlehnen seines Stuhls und ging sofort in die Verleugnungsphase über. Dem Arzt hatte er sowieso noch nie vertraut, und jetzt … er hätte schwören können, dass er beim Verkünden der Diagnose hämisch gegrinst hatte. Alle Ärzte, selbst die gut bezahlten Onkologen, waren neidisch auf diesen Patienten. Sie konnten ihn nicht leiden. Der Arzt irrte sich, sein Urteilsvermögen war durch eine unbewusste Voreingenommenheit verzerrt. Männer in seinem Alter bekamen keine Gehirntumore. Besonders keine Männer, die dreimal die Woche laufen gingen und jeden Abend ein Glas Rotwein tranken.

Das passierte einfach nicht. Durfte nicht passieren.

In den folgenden Tagen holte der Patient eine zweite und dritte Meinung ein. Die besten Onkologen aus den renommiertesten Kliniken des Landes bestätigten alle dasselbe. »Es tut uns leid, wir können nichts für Sie tun. Eine Chemotherapie könnte den Krankheitsverlauf womöglich verlangsamen, aber Ihnen bleibt, wie es aussieht, weniger als ein Jahr.« Sie beschrieben die Symptome in einer Parade des Grauens: Veränderungen im Verhalten, Beeinträchtigung des Urteils- und des Sehvermögens, Gedächtnisverlust, Verminderung der kognitiven Funktionen, Lähmungserscheinungen.

Der Patient arbeitete sich schnell durch die Phasen der Akzeptanz hindurch. Die Verleugnung wich der Wut. Die Familie des Patienten schien von Schicksalsschlägen geradezu heimgesucht zu werden. Die Mutter starb an einem Schlaganfall, als der Patient noch im College war. Seine Schwester verlor ihren noch minderjährigen Sohn bei einem ungewöhnlichen Motorbootunfall. Eine Cousine starb noch vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag. Und nun das.

Aber auf Wut folgte irgendwann Trauer und schlussendlich Resignation – das alles in einem Zeitraum von vier Wochen. Und doch war er noch nicht bereit für die letzte Phase, konnte sich der Ironie der Situation nicht erwehren.

Reue. Er besaß ein Nettovermögen von fast einer Milliarde Dollar, nichts davon konnte er mitnehmen. Heute würde er sein gesamtes Vermögen für ein weiteres Jahr Lebenszeit hergeben. All die 80-Stunden-Wochen, die vielen ständigen Reisen quer durch das Land, die Jeder-gegen-jeden-Mentalität, die er jeden Tag erlebte; all die Feinde, die er sich gemacht hatte – alles, was er getan hatte, um immer mehr Kapital anzuhäufen, damit er sich früh zur Ruhe setzen und das Leben genießen konnte. Und nun blieben ihm nur noch zwölf Monate.

Er begann damit, seine Angelegenheiten zu regeln. Er unterschrieb eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, getrieben von dem Wissen, dass er möglicherweise nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte sein würde, bevor er starb. Er änderte ein Dutzend Mal sein Testament, doch er verlor bald das Vergnügen daran, die ihm so fremd gewordenen Kinder aus seiner zweiten und dritten Ehe zu enterben. Die meisten von ihnen waren noch jung und gefangen in den Klauen ihrer herrischen und gierigen Mütter. Kein Grund, die Kinder zu bestrafen. Er änderte sein Testament ein letztes Mal und machte jedes seiner Kinder zum Millionär, selbst seine aufmüpfige vierzehnjährige Tochter, die ihn auf so unangenehme Weise an ihre Mutter erinnerte.

Das Einzige, worauf er sich nicht vorbereiten konnte, beschäftigte ihn Tag und Nacht, rund um die Uhr. Er war nicht bereit, sich dem zu stellen, was ihn auf der anderen Seite des Todes erwartete. Er versuchte es mit Gebeten, gerichtet an seine vage Vorstellung eines Gottes. Aber er kam sich dabei einfach nur lächerlich vor. Welcher Gott würde die Gebete eines Mannes erhören, der zeit seines Lebens die Existenz Gottes geleugnet hatte? Doch der Gedanke, in die Dunkelheit des Todes einzutreten, bereitete dem Patienten die größte Angst. Wäre er an Gottes Stelle, so würde er äußerst streng über sein Leben urteilen. Es stimmte wohl, dass er es geschafft hatte, ein riesiges Vermögen anzuhäufen, aber was hatte er Gutes getan? Wer konnte sagen, dass das Leben auf Erden dank ihm besser geworden war?

Die traurige und ehrliche Wahrheit hielt ihn nachts wach und verfolgte ihn auch tagsüber in seinen Gedanken. Vielleicht blieb ja noch Zeit. In zwölf Monaten ließ sich einiges bewerkstelligen. Doch selbst wenn er versuchen wollte, Gottes Gunst zu erlangen – wie sollte er das anstellen? Noch immer glaubte er nicht wirklich daran, dass Gott existierte. Und falls er existierte: Welcher war dann der wahre Gott von all denen, die auf diesem Planeten verehrt wurden?

Als er vier Wochen nach seiner Diagnose die Sendung Survivor im Fernsehen sah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die großartigste Realityshow des Lebens! Die Idee kam ihm so fabelhaft vor, dass es sich dabei nur um einen Geniestreich oder aber um die frühzeitigen Auswirkungen seines Gehirntumors handeln konnte. Die begnadetsten Fürsprecher der Weltreligionen würden als Kandidaten herhalten. Auf einer einsamen Insel würden sie ihren Glauben auf die ultimative Probe stellen und gezwungen werden, die Prüfung ihres Lebens zu absolvieren: ihren Glauben gegen jede Herausforderung zu verteidigen. Der Gott des Gewinners würde eine ganze Schar neuer Anhänger finden, den Patienten eingeschlossen. Er würde Millionen im Namen des richtigen Glaubens spenden. Die Einschaltquoten wären überwältigend.

Die Götter der Verlierer würden als impotent enttarnt – machtlose Betrüger im Angesicht des Todes.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

Nikki Moreno lehnte sich am Ende der langen Schlange, die sich im Gericht von Norfolk vor dem Metalldetektor gebildet hatte, zur Seite, um an den Leuten vorbeisehen zu können. Sie schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und machte einen der Sicherheitsmänner auf sich aufmerksam, dem sie ihr berühmtes Moreno-Lächeln schenkte, worauf er sie nach vorne durchwinkte. D. J. Landers, ein schmieriger Strafverteidiger, der sich Nikki auf dem Parkplatz angeschlossen hatte, war ihr dicht auf den Fersen. Zu dicht, für Nikkis Geschmack. Schon zweimal hatte er versucht, sie anzubaggern. Nun plapperte er auf sie ein, als seien sie die besten Freunde, zweifelsohne mit dem Hintergedanken, dass Nikki sein Ticket zum Anfang der Schlange war.

»Ich bin jetzt schon fünf Minuten zu spät dran«, erklärte Landers. »Aber wie das Schicksal so will, findet die Anhörung vor Richter Finney statt, und zufälligerweise bin ich heute Morgen auf dem Parkplatz ausgerechnet seiner schönen und talentierten Rechtsassistentin in die Arme gelaufen.« Landers schnalzte ungläubig mit der Zunge, um auszudrücken, um was für einen unfassbaren Glücksfall es sich hier für ihn handelte. »Hey, vielleicht legt sie ja beim Richter ein gutes Wort für mich ein und erklärt ihm, dass sie darauf bestanden hat, nach der vergangenen Nacht von mir noch ein Frühstück zu bekommen.«

Nikki schnaubte verächtlich, ohne sich umzudrehen. »Sie sollten die Finger von diesen bewusstseinsverändernden Drogen lassen«, erwiderte sie, während sie ihre Aktentasche auf das Band legte. Dann stolzierte sie aufreizend durch den Metalldetektor und bemerkte zufrieden, wie die Deputies jeden Zentimeter ihrer langen Beine und ihres perfekten Körpers begafften. Landers hingegen fand Nikki einfach nur widerlich. Sie konnte spüren, wie seine kleinen Aasgeieraugen sie von hinten verschlangen – am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Ich übernehme die hier«, sagte einer der kräftigen Deputies. »Komplette Abtastung ist hier angesagt. Sie sieht gefährlich aus.«

»Sie haben ja keine Ahnung«, schoss Nikki zurück und hob ihre Aktentasche auf, während sie den Sicherheitsbeamten ein Lächeln schenkte. Die Jungs waren ihre Kumpels, sie genossen die Freundschaft, die zwischen einer Jurastudentin, die als Rechtsassistentin am Gericht arbeitete, und den Deputies, die dieses bewachten, entstehen kann. Das heißt, die Freundschaft zu einer attraktiven, jungen Jurastudentin. Einer, die sich nicht davor scheute, die oberste Grenze auszureizen, wenn es um die Kürze ihres Rocks ging, oder ein Modestatement mit Tätowierungen an Knöcheln und Schultern abzugeben.

Bevor sie die Wachen passierte, drehte Nikki sich noch einmal zu der Nervensäge herum, die sich hinter ihr durch den Metalldetektor gewieselt hatte. Landers war groß und knochig, etwa fünfundvierzig Jahre alt, seine Haut war offensichtlich mit Sprühbräune behandelt; er hatte einen dünnen, schwarzen Schnurrbart und kohlrabenschwarz gefärbtes Haar, das streng zurückgegelt war. Sein Gesicht bestand ausschließlich aus knochigen Kanten, und irgendwie schaffte es Landers, immer so auszusehen, als hätte er sich genau seit anderthalb Tagen nicht mehr rasiert – nicht mehr, nicht weniger.

»Viel Glück mit Ihren Gefangenenklagen«, wandte sich Nikki an ihn. Gemeint war damit die bekannte Masche von Häftlingen, das Sheriff-Department wegen angeblicher Misshandlung zu verklagen. Landers schaute verdutzt drein. Er hatte kein Wort über eine Gefangenenklage verloren. »Ein entscheidendes Urteil könnte dem Einsatz von Elektroschockern endgültig ein Ende setzen«, setzte Nikki hinzu. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Dinger so gefährlich sind.«

»Häh?«, entgegnete Landers verwirrt und griff nach seiner Aktentasche. Doch einer der Sicherheitsbeamten hielt diese bereits fest.

»Die sollten wir besser noch einmal durchleuchten«, sagte der Deputy. »Und Sie, Sir, gehen bitte auch noch einmal durch die Schranke.«

Als sich Nikki auf den Weg den Gang hinunter machte, zwinkerte ihr der andere Deputy zu. Mit den Jungs in ihrer Nähe fühlte sie sich sicher.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, rief Nikki über ihre Schulter, ohne auch nur für einen Moment daran zu zweifeln, dass die Augen der Sicherheitsbeamten ihr den Gang hinunter folgen würden.

Richter Oliver G. Finney eröffnete das Verfahren in Gerichtssaal 3 mit einer fünfminütigen Standpauke, die an den verspäteten Landers gerichtet war, und rundete diese mit einer Geldstrafe über tausendfünfhundert Dollar ab – hundert Dollar pro Minute. »Und das ist noch großzügig«, stellte Finney klar. Er wies auf den Staatsanwalt. »Mr Taylors Zeit allein ist doppelt so viel wert.«

Landers warf Nikki einen vielsagenden Blick zu, doch Nikki war damit beschäftigt, ihre Unterlagen durchzusehen, die auf einmal ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit bedurften.

Kurz vor der Verhandlung hatte Finney – der in seiner Freizeit Fragen entwickelte, die angehenden Jurastudenten in dem Eignungstest LSAT vorgelegt wurden – Nikki ein paar davon gegeben. »Sie wissen doch, dass ich darin grottenschlecht bin«, hatte sie protestiert.

»Das ist genau der Grund, warum ich sie Ihnen gebe«, antwortete Finney. »Wenn Sie mehr als 25 Prozent der Fragen richtig beantworten, weiß ich, dass sie zu einfach sind.«

Landers stellte einen Scheck aus, und Finney wandte sich wieder dem Gerichtsverfahren zu. Nikki hatte im Vorfeld kurz das Verfahrensregister überflogen und wusste, dass sich der Angeklagte, ein Typ namens Terrel Stokes, für mehrere Drogendelikte zu verantworten hatte, die ihm ein Mindeststrafmaß von 20 Jahren einbringen konnten. Er lümmelte auf seinem Stuhl am Tisch der Verteidigung herum, seine Bewegungen waren durch die Handschellen und Fußfesseln stark eingeschränkt. Doch trotz der Fesseln und des orangefarbenen Overalls, die ihn nur als einen weiteren verurteilten Straftäter identifizierten, strömte der Mann eine Arroganz aus, als sei sie ein Körpergeruch.

»Wir haben uns hier versammelt«, erklärte Finney, »weil der Hauptzeuge der Staatsanwaltschaft dieses Falles brutal ermordet wurde. Die Staatsanwaltschaft möchte eine schriftliche Aussage des Zeugen, die zuvor erstellt wurde, als Beweis in der Verhandlung nutzen, wogegen die Verteidigung Einspruch erhebt. Kann man die Situation so zusammenfassen, Gentlemen?«

Während die Anwälte zustimmten und weitere Verfahrensfragen diskutierten, wandte sich Nikki wieder dem unmöglichen Rätsel zu, das Finney ihr gegeben hatte, und in dem es darum ging, anhand bestimmter Parameter herauszufinden, an welchem Platz gewisse Personen in einem Bus saßen. Arlene sitzt niemals neben Bill, aber immer neben Carli oder Daphne. Daphne sitzt immer vor Ella oder Carli. Wenn Carli am Fenster in der zweiten Reihe sitzt und Daphne auf dem Platz gegenüber des Ganges, dann sitzt Ella …

Nikki dachte ein paar Sekunden nach, schnaubte frustriert und kreiste Antwort D ein. Letztes Mal hatte sie alle Bs angekreuzt, und Finney hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich keine Mühe gab. Dieses Mal würde sie ihre Antworten variieren.

Finney riss sie mit einem seiner immer häufiger auftretenden Hustenanfälle ins Geschehen zurück. Er wies die Anwälte mit erhobener Hand an, innezuhalten, brachte ein »Einen Moment bitte« hervor, senkte den Kopf und fing an zu husten. Es war ein tiefes, verschleimtes Husten, welches Nikki mit Besorgnis erfüllte. Ein paar Sekunden später hatte er sich wieder gefangen, auch wenn er noch etwas keuchend nach Luft schnappte.

Nikkis Richter war neunundfünfzig. Langsam sah man ihm sein Alter an, obwohl sein schlankes Gesicht noch immer Anzeichen der scharf geschnittenen, attraktiven Züge aufwies, die Nikki auf alten Porträts der Anwaltskammer gesehen hatte. Finney hatte einen Großteil seines Haupthaars eingebüßt, doch die tief liegenden blauen Augen, die vor Übermut funkelten, wenn er lachte, oder einen wie Laserstrahlen durchbohrten, wenn er finster dreinblickte, lenkten von der hohen Stirn ab. Seine Augen wurden von dichten, kastanienbraunen Brauen gerahmt, die genau wie Finneys Haar und seine langen Koteletten bereits grau durchzogen waren.

Die Natur dieses Mannes würde Nikki immer ein Rätsel bleiben – kampferprobt und anspruchsvoll im Gerichtssaal, in seinem Privatleben jedoch ganz und gar durchschnittlich. Er trug sein Haar länger als die meisten anderen Männer seines Alters, sodass es sich ein wenig an den Spitzen nach außen kräuselte, der einzigen Stelle, wo es nicht durch die alte John-Deere-Baseballmütze platt gedrückt wurde, die Finney außerhalb des Gerichts ständig trug. Wenn man ihm auf der Straße begegnete, würde man ihn vielleicht für einen NASCAR-Fan halten, niemals jedoch für einen Richter.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Mitchell Taylor, während der Richter sich zusammenriss und einen großen Schluck Wasser herunterstürzte.

»Alles bestens«, erwiderte Finney mit einer abweisenden Handbewegung. Doch Nikki wusste, dass die Hustenanfälle sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in der Intensität zunahmen. Sie würde den Richter am liebsten dafür würgen, dass er sich weigerte, seine Zigarren aufzugeben. »Fahren Sie fort«, sagte er.

Mitchell Taylor warf einen Blick auf seine Notizen und fuhr an exakt derselben Stelle fort, an der er unterbrochen worden war. Allzeit bereit. Niemals nervös. Ein zugeknöpfter Staatsanwalt, der gerade von Virginia Beach nach Norfolk gewechselt war. Er würde mit Sicherheit Nikkis Liste begehrenswerter Männer anführen, wäre er nicht glücklich verheiratet.

»Der Tatbestand dieser Anhörung bleibt im Grunde unangefochten«, erklärte Mitchell.

Er nahm die Vergrößerung eines Fotos zur Hand, das auf Pappe gezogen worden war. »Das hier ist Antoine Carter«, sagte er und wedelte mit dem lebensgroßen Abbild eines blutüberströmten Gesichts hin und her. »Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass Mr Carter an seinem eigenen Blut erstickt ist.« Mitchell legte das Foto mit dem Gesicht nach unten auf seinem Tisch ab, während Landers sich wie wild Notizen machte. Stokes grinste Mitchell höhnisch an, die Lippen unverschämt nach oben gekräuselt, als trüge er einen Freifahrtschein aus dem Gefängnis in der Tasche.

Doch Mitchell war ein Profi. Er würdigte den Angeklagten keines Blickes. »Aufgrund der Abdrücke an den Hand- und Fußgelenken des Opfers sowie um seinen Hals und auf seiner Brust kam der Gerichtsmediziner zu dem Schluss, dass er an Händen und Füßen gefesselt und auf dem Rücken liegend mit Klebeband an einen Tisch fixiert wurde, während sich das Blut langsam in seinem Hals und letztlich auch in seiner Lunge ansammelte.«

Mit diesen Worten deckte Mitchell ein weiteres Foto auf, bei dessen Anblick selbst Nikki, die hart im Nehmen war, sich abwenden musste. Finney zuckte nicht einmal zusammen.

»Dies ist eine Nahaufnahme des Opfers, Antoine Carter, die ihn mit offenem Mund zeigt«, erklärte Mitchell. »Wie Sie hier erkennen können, wurde ihm die Zunge herausgeschnitten.«

Die für diesen Gerichtssaal eingeteilte Beamtin des Sheriff-Departments drehte den Kopf weg, und der Gerichtsreporter wurde blass. Nur Detective Jenkins, ein Ermittler der Mordkommission, der Mitchell begleitet hatte, falls seine Aussage vor Gericht benötigt wurde, schien ebenso unbeeindruckt wie Finney zu sein. Der hypothetische Sitzplan ihrer hypothetischen Buspassagiere war vergessen, Nikki schwirrte nur noch ein Gedanke durch den Kopf. Wer konnte so etwas tun?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, griff Mitchell nach einer dritten Vergrößerung auf seinem Tisch. Obwohl ihr ganz flau wurde, zwang eine morbide Neugier Nikki, ihren Blick an den jungen Staatsanwalt zu heften, um herauszufinden, was er als Nächstes preisgeben würde. »Wir glauben, dass dieser Mord im Zusammenhang mit Gangrivalitäten steht. Das hier ist eine Aufnahme von Mr Carters Brust«, sagte Mitchell mit wütender Stimme. »Wie Sie sehen können, wurden ihm die Initialen BGD in die Haut geritzt. Das geronnene Blut rund um die Verletzung deutet darauf hin, dass Mr Carter noch lebte, als ihm diese Wunden zugefügt wurden.«

»Die Abkürzung BGD steht für Black Gangster Disciples«, erklärte Mitchell, während er den Kiefer anspannte und sich zum Angeklagten wandte. »Das ist eine der mächtigsten Gangs, die zurzeit in Norfolk aktiv sind, und wir haben Grund zu der Annahme, dass der Angeklagte Terrel Stokes ihr Anführer ist.«

Bei diesen Worten grunzte Stokes missbilligend, kniff die Augen zusammen und schüttelte langsam den Kopf, während er Mitchell fixierte, sodass es Nikki kalt den Rücken herunterlief. Die Botschaft war klar: Mitchell würde der Nächste sein.

Unbeeindruckt drehte Mitchell sich zu Finney um. »Das Opfer sollte gegen Stokes in einem anstehenden Drogenprozess aussagen. Wir hatten Mr Carter als Informanten eingesetzt mit dem Versprechen, sein kooperatives Verhalten bei seiner Verurteilung zu berücksichtigen. Wir haben ein umfassendes schriftliches Geständnis, in dem Mr Carter seine Beteiligung an einem Drogenring zugibt, der von Mr Stokes angeführt wurde, und beantragen das Geständnis für dieses Verfahren zuzulassen, da der Zeuge selbst nun nicht mehr zur Verfügung steht. Deswegen haben wir diesen Antrag auch a limine gestellt.«

D. J. Landers erhob sich, die Arme weit ausgebreitet. »Einspruch, Euer Ehren, es handelt sich hier um einen klassischen Fall von Hörensagen und verletzt das verfassungsmäßige Recht des Angeklagten, den Zeugen zu konfrontieren.«

»Sieht aus, als hätte er das bereits getan«, sagte Finney.

»Zum Zeitpunkt von Mr Carters Tod befand sich mein Mandant im Gefängnis«, protestierte Landers. »Und es gibt nicht den kleinsten Beweis dafür, dass mein Mandant an diesem Mord beteiligt war. Sie können kein Verfahren wegen Drogendelikten gegen jemanden aufgrund der schriftlichen Aussage eines Verstorbenen führen.«

»Das kann man schon, wenn der Angeklagte den Tod des Zeugen angeordnet hat«, fuhr Mitchell ihn an, der sich immer noch wie ein US-Marine vor seinem Tisch aufgebaut hatte. »Ihr Recht auf Konfrontation mit Zeugen ist verwirkt, wenn sie diese ermorden …«

»Wenn man sie ermordet«, unterbrach ihn Landers, »was natürlich hier nicht der Fall ist.« Er sprach Mitchell direkt an. »Sie gehen davon aus, mein Mandat habe Ihren Zeugen getötet? Dann erheben Sie doch Anklage wegen Mordes.«

Mitchell blieb stumm, sein durchdringender Blick gab deutlich preis, was er nicht aussprechen konnte. Nikki wusste, dass Mitchell schon oft vorgehalten worden war, Fälle zu persönlich zu nehmen. Das war es, was sie an ihm schätzte – seine Hingabe.

»Sie können ihn nicht wegen Mordes anklagen, weil Sie keinen Beweis haben«, fuhr Landers fort. Seine selbstgefällige Art war Nikki zuwider. »Also, warum beschäftigen Sie sich nicht lieber damit, Antoine Carters Mörder zu finden, anstatt meinen Mandanten mit diesem haltlosen Drogenprozess zu schikanieren?«

Mitchells Nackenmuskulatur spannte sich an. »Wir haben die Wohnungen anderer verdächtiger Gangmitglieder durchsucht. Dabei sind wir auf Briefe gestoßen, die Stokes aus dem Gefängnis geschrieben hat und in denen er ein Gangmitglied darüber informierte, dass Antoine Carter als Zeuge der Anklage auftreten wird. Ein paar Tage später ist Carter tot. Ist das nicht Beweis genug?«

»Diese Briefe, die mein Mandant geschrieben hat, beweisen, dass er Carter für keine Bedrohung hielt«, erklärte Landers in ruhigem Tonfall. »Sie zeigen, dass mein Mandant glaubte, dass Carter niemals mit der Regierung zusammenarbeiten würde.«

»Ja genau«, höhnte Mitchell verächtlich. »Die Briefe gingen in der Woche des 4. April raus. Exakt eine Woche später – am 11. April, um genau zu sein – stirbt Carter und verliert seine Zunge. Was für ein glücklicher Zufall für den Angeklagten.«

Landers’ Körper versteifte sich, er machte eine scharfe Bemerkung, und schon flogen die Beleidigungen durch den Raum. Ein paar Minuten lang ließ Finney das Wortgefecht der beiden Anwälte zu, das Kinn auf die Hände gestützt, wie ein Zuschauer bei einem Schachturnier.

Dann schlug er mit seinem Hammer auf den Tisch. »Gentlemen, das genügt.« Beide schauten zu ihm auf, wie zwei Schuljungen, die frühzeitig aus einer Rangelei gerissen worden waren und geradezu darauf brannten, sich erneut an die Gurgel zu gehen.

»Ich möchte die Briefe sehen«, ordnete Finney an.

»Einspruch«, rief Landers, während sein braunes Gesicht rot anlief.

»Mit welcher Begründung?«, fragte Finney.

»Sie enthalten Aussagen des Angeklagten über seinen Anwalt«, erklärte Landers, während er die Arme verschränkte und Abstand von seinem ihm plötzlich unangenehmen Mandaten nahm. »Diese Anschuldigungen entsprechen nicht der Wahrheit. Außerdem handelt es sich bei den Briefen um vertrauliche Konversationen.«

»Ich bitte Sie«, platzte es aus Mitchell heraus, der offensichtlich Lunte gerochen hatte. »Diese Briefe wurden von einem Insassen an einen Gangkollegen außerhalb der Gefängnismauern geschrieben. Wie kann es sich dabei um vertrauliche Informationen handeln?«

»Ich sage ja nur …«, setzte Landers an, doch Finney unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Geben Sie mir die Briefe«, forderte Finney ihn auf. »Wir legen eine kurze Pause ein, während ich sie mir genauer ansehe. Und keine Sorge, Mr Landers. Ich werde mich nicht von der Meinung, die Ihr Mandant über Sie in diesem Brief verfasst hat, beeinflussen lassen. Ich bin durchaus in der Lage, mir mein eigenes Bild von Ihnen zu machen.«

»Vielen Dank, Euer Ehren«, erwiderte Landers, obwohl Nikki vermutete, dass diese Anmerkung des Richters nicht als Kompliment gedacht war.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

3

Im Richterzimmer, einem unordentlichen, nach Zigarrenrauch stinkenden Büro, beantwortete Nikki die restlichen LSAT-Fragen, während Finney die Briefe studierte. Er nahm seine Lesebrille ab, rieb sich über die Stirn und griff nach der nur zur Hälfte gerauchten Phillies-Zigarre, die in seinem Aschenbecher lag. Nikki schaute auf und runzelte missbilligend die Stirn. Sie wusste, dass er nicht vor ihr rauchen würde, aber er hatte die schlechte Angewohnheit, auf Zigarren herumzukauen und kleine Tabakfetzen in den Papierkorb zu spucken.

Er räusperte sich und warf den Stapel Briefe in ihre Richtung. »Schauen Sie sich das mal an«, forderte er sie auf, »und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Ich denke, Sie sollten diese Zigarren im Klo herunterspülen.«

»Was Sie von den Briefen halten, meinte ich«, sagte Finney.

Nikki erhob sich von der abgenutzten Ledercouch und ging zu seinem Schreibtisch hinüber.

»Und ich möchte Ihre Antworten sehen«, fügte Finney hinzu, den Finger auf die LSAT-Fragen gerichtet, die sie auf dem Couchtisch vor sich ausgebreitet hatte. »Wenn Sie alle richtig beantwortet haben, höre ich sofort mit dem Rauchen auf.«

»Die Wahrscheinlichkeit geht also gegen null«, murmelte sie still vor sich hin.

Sie tauschten die Papiere aus, und Nikki ließ sich wieder auf der Couch nieder, wo sie die Briefe in chronologische Reihenfolge brachte. Den ersten hatte Stokes am 4. April geschrieben. Er war in ordentlicher Blockschrift verfasst und an einen Mann namens »Juice« adressiert.

4.4.2006

Juice,

es geht das Gerücht um, dass Carter auf der Zeugenliste

steht. Anscheinend behauptet er, er wärn Mitglied

der Black Gangster Disciples. Nie von denen gehört. Der

verpfeift mich nicht. Carter istn korrekter Typ.

Der verarscht die Anzugtypen nur.

Halt die Ohren steif,

Stokes

Der Angeklagte, der vorgab, noch nie etwas von den »Black Gangster Disciples« gehört zu haben, hatte offensichtlich eine sarkastische Ader, dachte Nikki.

Doch genau wie Landers behauptet hatte, schien dieser Brief zu beweisen, dass Stokes wegen Carters Aussage keine schlaflosen Nächte hatte.

Aber vielleicht lag das auch daran, dass Stokes davon ausging, dass die Black Gangster Disciples sich um Carter kümmern würden, bevor dieser es in den Zeugenstand schaffte.

Nikki nahm den zweiten Brief zur Hand, der offensichtlich am darauffolgenden Tag verfasst worden war.

5.4.2006

Juice,

ich brauch nen neuen Anwalt. Was ist mit dem Typ, der dich letztes

Jahr vertreten hat? Was kostet der? Hab Landers 15 gezahlt,

jetzt will er noch 10. Und ich soll gestehen. So ne Frechheit. Da

kann ich mich direkt beerdigen. Landers verarscht mich nur und zockt mir die Kohle ab.

Hab ich Moneten zu verschenken?

Heiß ich Donald Trump, oder was?

Stokes

Nikki musste leise lachen, als sie an Landers vergebliche Bemühungen dachte, die Briefe unter Verschluss zu halten. Kein Wunder. Sie fand den Ausdruck »haut mich übers Ohr« besonders treffend – das beschrieb Landers' Art, seiner juristischen Tätigkeit nachzugehen, genau.

Da war noch ein weiterer Brief von Stokes.

6.4.2006 und 7.4.2006

Juice,

mein Freund. Schick mir meine Alte vorbei, sie soll mirn Hunni mitbringen. Die Zeit will einfach nicht rumgehen. Die Black Gangster Disciples haben gestern ne Pyjama-Party geschmissen.

Bin dazwischen gegangen als Zeichen und Bestätigung wer hier der Boss ist.

Raffen die sonst nicht.

Die hätten den sonst echt platt gemacht.

Der Friedenstifter,

Stokes

Nikki schüttelte den Kopf, als sie den Brief las. Selbst im Gefängnis zog Stokes immer noch die Strippen und fand es anscheinend lustig, wenn sich seine Jungs einen neuen Gefängnisinsassen vorknöpften und dann halb totschlugen.

Der letzte Brief war ein Antwortschreiben von dem Gangmitglied namens Juice, das offensichtlich von den Gefängnisbeamten abgefangen worden war.

12.4.2006

Stokes,

die Geschäfte laufen gut. Mein Rechtsverdreher nimmt 10.000 pro

Anklage. Der Typ istn Mistkerl, aber hat echt was drauf.

Deine Alte hat die Stadt für ein paar Tage verlassen. Freitag ist

sie wohl wieder da. Der Fall ist übrigens so gut wie erledigt, die haben nichts

gegen dich in der Hand. Deswegen sind die auch so heiß auf den Deal.

Juice

Nikki las den Brief zu Ende und schaute zu Finney hoch.

»Nun«, sagte er, die Zigarre in seinem Mundwinkel. Er hielt die LSAT-Fragen in der rechten Hand. »Sieht so aus, als könnte ich diese Schätzchen noch ein Weilchen länger genießen.« Er lutschte das Ende der Zigarre an und legte sie hustend in den Aschenbecher zurück.

»Wie schlecht war ich?«, fragte Nikki.

»Eine von zwölf richtig. Sie hätten besser abgeschnitten, wenn Sie bei jeder Frage einfach den gleichen Buchstaben angekreuzt hätten.«

Nikki schnaubte ungehalten, schluckte die gepfefferte Antwort, die sie dem alten Knacker am liebsten an den Kopf geknallt hätte, herunter und zuckte mit den Schultern. »Das habe ich beim letzten Mal probiert. Da haben Sie mir vorgeworfen, ich würde mir nicht genug Mühe geben.«

»Es ist nicht einfach, weniger als 20 Prozent richtig zu beantworten«, erwiderte Finney. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Was meinen Sie?«

Nikki stapelte die Briefe aufeinander und legte sie wieder auf den Schreibtisch des Richters zurück. »Schuldig.«

Finney zog eine Augenbraue hoch.

»Es ist genau so, wie Mitchell sagt. Stokes muss die Ermordung eines Zeugen nicht explizit anordnen. Er erwähnt seinen Gangmitgliedern gegenüber nur, dass einer von ihnen sie verpfeifen will, und sie kümmern sich um den Rest. Sie müssen die schriftliche Aussage als Beweis zulassen.«

»Ist das so?«

»Jawohl.« Nikki ließ sich nicht verunsichern und verschränkte die Arme. Sie merkte, dass er anderer Meinung war, aber sie war bereit, für diesen Fall zu kämpfen.

»Das heißt also: Immer wenn ein Gefangener einen Zeugen gegenüber einem anderen von draußen erwähnt und dieser Zeuge stirbt, wird das Recht des Angeklagten auf Konfrontation mit den Zeugen vor Gericht einfach außer Kraft gesetzt?«

»Nicht jedes Mal, Euer Ehren. Doch hier liegt nachweislich eine Gangverbindung vor, und das Timing ist auch auffällig – eine Woche nachdem der Brief verfasst wurde, ist der Zeuge tot. Und dann ist da noch die Sache mit der Zunge.«

Finney stand auf und zog sich seine Robe wieder an. »Sie würden einen guten Staatsanwalt abgeben, Nikki. Aber ich werde nicht dafür bezahlt, Staatsanwalt zu spielen. Manchmal muss ein Richter die bittere Pille schlucken und das richtige Urteil fällen, besonders wenn ein verfassungsmäßiges Recht auf dem Spiel steht.«

»Richter Finney«, protestierte Nikki, während sie ihm aus dem Büro folgte. »Das können Sie nicht ernst meinen. Dieser Typ hat ein Gangmitglied dazu angestiftet, dem Mann die Zunge herauszuschneiden …«

»Erheben Sie sich«, forderte der Deputy die Anwesenden auf, als Finney den Gerichtssaal betrat. Nikki folgte einen halben Schritt hinter ihm und steuerte auf ihren Platz neben der Wand zu. Sie wollte einen letzten Appell wagen.

»Seine Zunge, Richter. Sie haben ihm die Zunge herausgeschnitten.«

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4

Richter Finney überraschte Nikki mit einer für ihn ungewöhnlichen Vorgehensweise, indem er ankündigte, erst eine Entscheidung zu fällen, nachdem er Detective Jenkins befragt hatte.

Er rief ihn in den Zeugenstand und stellte eine Reihe von Hintergrundfragen zu den Briefen. Terrel Stokes schaute sich währenddessen scheinbar gänzlich unbeteiligt im Gerichtssaal um und schenkte dem Zeugen nur ab und zu ein hämisches Grinsen. Nikki konnte einfach nicht fassen, dass der Richter tatsächlich in Erwägung zog, diesen Mann laufen zu lassen.

»Sind Sie mit den Gangaktivitäten in Norfolk und Umgebung vertraut?«, fragte Finney.

»Sehr sogar, Eurer Ehren.«

»Was können Sie mir zu den Black Gangster Disciples sagen?«

Jenkins beschrieb die kriminellen Aktivitäten der Disciples in einem sachlichen Ton, der seine Aussage überaus glaubhaft machte. Auf Nachfrage von Finney bestätigte er, dass die Präsenz der BGD in allen Gefängnissen dieses Bundesstaates, das Gefängnis von Norfolk eingeschlossen, übermächtig war. Dem Detective zufolge wurden viele der Gangaktivitäten außerhalb der Gefängnismauern von Anführern gelenkt, die gerade einsaßen.

»Anführer wie Mr Stokes?«, fragte Finney nach.

»Einspruch«, rief Landers dazwischen.

»Abgelehnt.«

»Ja«, erwiderte der Zeuge. »Anführer wie der Angeklagte.«

»Schauen Sie sich nun bitte den dritten Brief an, den Mr Stokes verschickte«, wies Finney ihn an.

Während Jenkins die handschriftliche Mitteilung studierte, wurde er von dem stechenden Blick des Angeklagten durchbohrt.

»Wie lautet das Datum am Anfang des Briefes?«

Der Detective zögerte. »Tatsächlich finden sich hier zwei Daten: 6. April 2006 und 7. April 2006.«

»Kommt Ihnen das nicht irgendwie merkwürdig vor?«, fragte Finney. Der Tonfall des Richters ließ Nikki aufhorchen.

Der Detective starrte den Brief einen Moment lang an. »Ich bin mir nicht sicher, worauf Sie hinauswollen, Euer Ehren.«

Finney lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und drehte seine Brille an den Bügeln herum. »Nun, zwei Tage scheinen mir eine recht lange Zeit zu sein, um einen so kurzen Brief zu verfassen. Es sind schließlich nur – wie viel? – fünf Zeilen insgesamt?«

»Kann sein.«

»Detective, bitte lesen Sie den Brief für das Protokoll laut vor. Und sagen Sie mir, ob das nach einem Brief klingt, der im Laufe von zwei Tagen geschrieben wurde.«

»Juice, mein Freund, schick mir meine Alte vorbei, sie soll mirn Hunni mitbringen …«, las Jenkins vor. Während der Detective weiter vorlas, suchte Finney Nikkis Blick und zwinkerte ihr zu.

Als Jenkins fertig war, schaute er zu dem Richter auf. »Ein kurzer Brief«, sagte er. »Scheint so, als wäre er in einem Rutsch geschrieben worden.«

»Das Gleiche ist mir durch den Kopf gegangen, als ich ihn zum ersten Mal las«, sagte Finney, während er den Angeklagten betrachtete. »Also fragte ich mich, was es mit den zwei Daten auf sich hat.«

An diesem Punkt zischte Stokes, offensichtlich aufgebracht, Landers etwas ins Ohr. Landers schüttelte den Kopf, ohne dabei seinen Mandanten anzusehen, woraufhin Stokes noch energischer flüsterte und wütend immer wieder mit dem Finger auf einen Notizblock einstach.

»Ich möchte, dass Sie nun Folgendes tun«, erklärte Finney. »Beginnen Sie mit dem ersten Datum, wobei Sie annehmen, dass das Datum mehr als nur ein Datum ist. Gehen Sie davon aus, dass das Datum ein Verschlüsselungscode ist, der Ihnen hilft, die tatsächliche Botschaft dieser Briefe zu entziffern.«

Der Detective schaute sich den ersten Brief an und warf dem Richter einen verwirrten Blick zu.

»Ein Beispiel«, fuhr Finney fort, »nur so zum Spaß. Lautet das Datum 4.4.2006, dann gehen Sie in die vierte Zeile der Botschaft und schreiben das vierte Wort auf. Im nächsten Brief, der auf den 5.4.2006 datiert ist, gehen Sie in die vierte Zeile und schreiben das fünfte Wort auf. Aus dem letzten Brief, mit den Daten 6.4.2006 und 7.4.2006, schreiben Sie das sechste bzw. siebte Wort aus der vierten Zeile auf. Dann wenden Sie das gleiche System auf das Antwortschreiben an. Soweit verstanden?«

Der Detective, der bereits an der Dechiffrierung arbeitete, nickte stumm. Landers und Stokes unterhielten sich angeregt flüsternd, und Nikki konnte spüren, wie sich ein Antrag auf Austausch des Rechtsbeistandes anbahnte. Mitchell drehte sich um und warf Nikki einen siegessicheren Blick zu. Und Finney, der gescheiteste Richter, den Nikki je kennengelernt hatte, saß ganz gelassen da und schaute dem Detective zu, als ginge es hierbei nur um die Lösung einer LSAT-Frage.

»Okay«, sagte der Detective schließlich, während er sich sichtlich bemühte, seine professionelle Haltung zu wahren. »Ich glaub, ich hab es herausgefunden.«

»Wie lautet die Botschaft?«, fragte Finney.

»Einspruch, Eurer Ehren«, rief Landers, obwohl Nikki merkte, dass es nur ein halbherziger Versuch war.

»Mit welcher Begründung?«

»Ähm … es handelt sich hier um reine Spekulation. Und eine erhebliche Benachteiligung.«

Bei diesen Worten musste Finney tatsächlich grinsen. »Woher wissen Sie, dass die Botschaft eine Benachteiligung darstellt, Herr Anwalt? Der Detective hat sie noch nicht einmal vorgelesen.«

Stokes griff sich Landers' Arm und riss ihn zu sich herüber, sodass der Anwalt gezwungen war, eine weitere Schimpftirade in sein rot anlaufendes Ohr ergehen zu lassen. Landers schüttelte ihn ab und stellte sich wieder Finney. »Anhand des Tonfalls Ihrer Frage müssen wir davon ausgehen, Euer Ehren.«

»Abgelehnt«, schnitt Finney ihm das Wort ab.

Landers setzte sich wieder.

Der Detective warf dem Richter einen Blick zu, um festzustellen, ob er fortfahren konnte.

»Machen Sie weiter«, sagte Finney.

»Das kommt heraus, wenn ich die Methode anwende, die Sie vorgeschlagen haben«, sagte der Detective stolz. »Stokes’ Nachricht lautet: ›Carter beerdigen und Bestätigung.‹ Die Antwort von Juice, einen Tag nach Carters Ermordung, besagt einfach: ›Erledigt‹.«

Finney strich sich über das Kinn und warf Stokes und Landers einen prüfenden Blick zu. Nach einer unangenehm langen Pause durchbrach er das Schweigen. »Und wieder ein erstaunlicher Zufall, Mr Landers?« Er hielt inne, bis die Stille nicht mehr auszuhalten war. »Ich werde nicht nur das Geständnis von Antoine Carter als Beweismittel in dem Drogenverfahren zulassen, ich werde außerdem Mr Taylor nahelegen, die von Ihnen vorhin erwähnte Anklage wegen Mordes zu erwirken.«

Stokes sprang trotz seiner Fesseln plötzlich auf, was die Beamtin des Sheriff-Departments dazu brachte, aufzustehen und nach ihrer Waffe zu greifen. »Ich will einen neuen Anwalt«, fauchte der Angeklagte. »Einen, der nicht die ganze Zeit zugedröhnt ist.«

»Setzen Sie sich hin«, fuhr ihn Finney an.

Stokes starrte den Richter an, dann ließ er sich zurück auf seinen Stuhl fallen.

»Sie bekommen einen neuen Anwalt«, sagte Finney. »Aber mit den Brieffreundschaften ist es vorbei. Ich ordne an, dass der Angeklagte bis zum Prozess in Einzelhaft bleibt. Keine Briefe, keine Besucher.«

Dann wandte sich Finney dem niedergeschlagenen Landers zu. »Und an Ihrer Stelle, Herr Anwalt, würde ich besser aufpassen, was ich sage.«

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5

»Wow!« Nikki war sichtlich beeindruckt, als sie sich mit Finney ins Richterzimmer zurückzog. »Wie haben Sie das herausbekommen?« Sie hatte sich die Briefe auf ihrem Weg nach draußen vom Richterpult geschnappt und war damit beschäftigt, die Worte auszuzählen.

»Ganz einfach, mein lieber Watson.«

»Häh?«

Finney schüttelte den Kopf. »Das ist eine ganz simple Verschlüsselungstechnik. Diese Häftlinge halten sich alle für kleine Einsteins, aber der Code in diesen Briefen könnte nicht einfacher sein.«

Finney ging zum Bücherregal und nahm ein kleines Buch mit braunem, pergamentartigem Einschlag und rotbrauner Aufschrift in die Hand. Auf dem Umschlag befand sich ein verblichenes Bild von Jesus Christus mit der Dornenkrone. Finney reichte es Nikki. »Haben Sie das schon mal gesehen?«

Der Titel auf dem Buch lautete The Cross Examination of Jesus Christ1, den Namen des Autors hatte Nikki noch nie zuvor gehört. Sie blätterte das Buch oberflächlich durch. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie.

»Es ist kein besonders bekanntes Buch.« Finney warf ihr ein verschmitztes Grinsen zu, dann griff er nach der Bibel, die am Rande seines Schreibtischs lag. Der schwarze Ledereinband war zerfleddert und abgewetzt. Nikki hatte schon öfter beobachtet, wie er darin las.

Während der Richter nach der richtigen Seite suchte, überkam ihn erneut ein Hustenanfall. Er drehte den Kopf weg, bedeckte seinen Mund und hustete los, als würde er jeden Moment seine Lunge ausspucken. Endlich ließ der Anfall nach, und er blätterte weiter, als sei nichts geschehen. »Wussten Sie, dass die Schriftgelehrten des Alten Testaments ein paar Wörter des biblischen Textes mit einem hebräischen Austauschcode verschlüsselt haben, den man den Atbasch-Schlüssel nennt?«

»Äh … nein. Aber ich bin auch nicht besonders bibelfest«, gab Nikki zu. »Ich glaube aber, dass ich schon mal was von Bibelcodes gehört habe.«

»Ich rede nicht von diesem Unsinn«, sagte Finney. »Hier.« Er drehte die Bibel auf den Kopf, sodass Nikki sie lesen konnte. »Jeremia 25,26. Sehen Sie hier das Wort Scheschach?«

Nikki nickte.

»Das ist in Wahrheit ein hebräisches Codewort für Babel oder Babylon, das mithilfe des Atbasch generiert wurde. Eines Tages werde ich Ihnen zeigen, wie das funktioniert.«

»Wie aufregend«, murmelte Nikki.

Der Richter legte die Bibel wieder auf seinem Schreibtisch ab und griff nach The Cross Examination of Jesus Christ. »Ich habe dieses Buch geschrieben«, sagte er, während er Nikki das Buch abnahm. »Ich habe einen Künstlernamen benutzt, weil es viele Menschen für unangebracht halten, wenn ein amtierender Richter ein religiöses Werk schreibt.« Er schlug die Einleitung des Buches auf. »Es erzählt davon, wie Jesus mit den feindseligen Fragen der Pharisäer, seiner Richter und denen von Pontius Pilatus umging. Sie sollten es irgendwann einmal lesen.«

Nikki wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war sich immer bewusst gewesen, dass der Richter ein religiöser Mann war, doch nun arbeitete sie bereits seit über einem Jahr mit ihm zusammen, ohne zu wissen, dass er ein Buch geschrieben hatte. »Klingt interessant.«

»Oh, das ist es.« Finneys Augen funkelten verschmitzt, er wurde immer lebhafter. »Die Antworten von Christus sind auf so vielschichtige Weise einfach genial. Jedes Mal, wenn man meint, man hätte ihn verstanden, gibt es eine weitere Ebene, die man komplett übersehen hat. Also habe ich mich dazu entschlossen, dem Buch ein entsprechendes Element hinzuzufügen.«

»Natürlich«, sagte Nikki, die sich daran zu erinnern versuchte, wie sie überhaupt auf das Thema gekommen waren. »Und das wäre?«

»Ich habe verschlüsselte Botschaften in das Buch eingebaut«, erwiderte Finney. »Ich dachte mir: Wenn die Schriftgelehrten des Alten Testaments damit durchkommen, dann kann ich das auch. Wie die Botschaft in der Einleitung. Sehen Sie diese versteckten Buchstaben?«

Nikkis Blick folgte dem Finger des Richters. Die winzigen Buchstaben wären ihr wahrscheinlich nie von selbst aufgefallen. Doch nun, da Finney auf die verblassten Zeichen wies, die wie ein Gestaltungselement der Seite wirkten, sah sie nur eine Ansammlung von wild durcheinandergewürfelten Buchstaben und fühlte sich sofort wieder an die Frage erinnert, wer wo im Bus sitzt. »Ich verstehe es nicht«, sagte sie, nachdem genug Zeit verstrichen war, dass der Richter davon ausgehen konnte, sie habe sich wirklich bemüht.

Unglücklicherweise wurde er genau in diesem Moment wieder von einem Hustenanfall geschüttelt. Als er wieder durchatmen konnte, reichte er ihr mit feuchten Augen das Buch zurück. »Wenn Sie es entschlüsseln können, geht das Mittagessen auf mich«, verkündete er.

Das kann dauern, dachte Nikki insgeheim, aber so konnte man nicht mit einem Richter sprechen. »Sie wollen es mir nicht verraten?«

»Nein. Ich gebe meine Geheimnisse nicht einfach so preis. Ich wollte Ihnen das hier nur zeigen, damit Sie erkennen, dass Stokes’ Methode nicht mehr als ein Kinderstreich war.«

Nikkis Neugier war nun geweckt. Und sie hatte so gut wie keine Chance, der Sache alleine auf den Grund zu gehen. »Warum machen Sie sich die ganze Mühe, diese Botschaften in Ihrem Buch zu verstecken, wenn Sie keinem verraten, was sie besagen? Was, wenn es niemandem gelingt, die Nachrichten zu entschlüsseln?«

»Irgendjemand wird es schaffen.« Finney ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl plumpsen, die Hustenanfälle hatten ihm offensichtlich sehr zugesetzt. Er legte seine Zigarre im Aschenbecher ab. »John Wesley hat einmal gesagt, dass es in den Heiligen Schriften so tief verborgene Geheimnisse gibt, dass die folgenden Generationen immer wieder auf neue Erkenntnisse stoßen werden. Ich hatte gehofft, dass mein Buch auf eine bescheidene Art diese Tatsache widerspiegeln würde – versteckte Wahrheiten, die noch von zukünftigen Generationen aufgedeckt werden müssen.«

Nikki hielt inne, um darüber nachzudenken, beeindruckt von der Mühe, die sich der Richter mit diesen Codes gegeben hatte. Auf eine gewisse Weise waren diese Codes wie der Richter selbst. Ein Familienmensch, der sich niemals mit seinem Sohn ausgesöhnt hatte. Ein überzeugter Christ, der das Rauchen einfach nicht aufgeben konnte. Ein Rätsel. Ein lebender Widerspruch. »Ernsthaft, Euer Ehren? Deswegen haben Sie es getan?«

»Nee«, antwortete Finney. »Eigentlich bin ich einfach nur ein Rätselfan.«

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6

Der ehrenwerte Lester Madison Banks III sah alles andere als groß und mächtig aus, als er nackt in seinem Whirlpool saß. Seine Augen waren starr vor Angst bei dem Anblick, der sich ihm auf dem kleinen Bildschirm bot, der auf der Ablage seines Badezimmers stand. Für den Auftragskiller hatte der sechzigjährige despotische Rechtssprecher mehr von einer Trockenpflaume als von einem einflussreichen Richter des Bundesgerichts. Nur dass die runzelige Haut des alten Mannes kalkweiß war und die einzigen Spuren von Lila von seinen vor Kälte zitternden Lippen und dem runden Muttermal stammten, das an der vorderen Hälfte des fast kahlen Schädels prangte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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