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Professor Dagan hat einen Algorithmus entdeckt, mit dem man alle gängigen Verschlüsselungsprotokolle im Internet knacken kann. Doch dann gerät er in die Hände der gefürchteten chinesischen Mafia und das FBI bekommt Wind von der Sache. Wider Willen werden drei angehende Juristen in die Sache verwickelt. Ihr Mentor, Professor Snead, gibt Schützenhilfe. Doch ist der berühmte Jurist wirklich noch Herr der Lage? Bringt die Kronzeugenregelung tatsächlich Licht ins Dunkel? Und welche Rolle spielen die verfolgten Christen in China dabei?
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Seitenzahl: 597
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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien,einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7205-9 (E-Book)ISBN 978-3-7751-4894-8 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg
3. Auflage 2013© der deutschen Ausgabe 2008
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Originally published in English under the title: False Witness by Randy SingerCopyright © 2007 by Randy SingerPublished by WaterBrook Pressa division of Random House, Inc.12265 Oracle Boulevard, Suite 200Colorado Springs, Colorado 80921 USAAll non-English language rights are contracted through:Gospel Literature InternationalP.O. Box 4060, Ontario, California 91761-1003 USAThis translation published by arrangement withWaterBrook Press, a division of Random House, Inc.
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabeentnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.Übersetzung: Karen GerwigUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz;www.oha-werbeagentur.chTitelbild: istockphoto.com/OHA Werbeagentur GmbHSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Über den Autor
Lob für Der Jurist
Prolog
Teil I
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Teil II
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Teil III
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Teil IV
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Teil V
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Danksagung
Anmerkungen
Leseempfehlungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
RANDY SINGER ist preisgekrönter Bestsellerautor (»Christy Award«) und Jurist. Er arbeitet als Anwalt in Virginia und unterrichtet Jura an der »Regent Law School«, USA.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Über die amerikanische Ausgabe von Der Jurist
»Der Jurist ist ein in höchstem Maße aktionsgeladenes, fesselndes Buch. Randy Singer schreibt mit solch anschaulichem Geschick, dass wir nur hoffen können, dass Hollywood das Buch so schnell wie möglich verfilmen wird.«
Aaron Norris, Film- und Fernsehproduzent und Regisseur
»Der Jurist ist ein fesselndes und herausforderndes Buch, voller überzeugender Charaktere und gut gezeichneter Situationen, die niederschmetternd authentisch sind. Als Leser fragt man sich, wie viel davon wahr sein mag, und ist verblüfft von der Geschwindigkeit, mit der unsere Moralvorstellungen sich verschieben, um unseren Wünschen entgegenzukommen. Teils Detektivgeschichte, teils Justizthriller – ich konnte es nicht aus der Hand legen!«
Shaunti Feldhahn, Autorin von The Veritas Conflictund The Lights of Tenth Street
Über andere Romane von Randy Singer
»Singer beweist, dass Glaube und Spannung sehr angenehme Bettgenossen sein können. Er … ist mindestens genauso unterhaltsam wie John Grisham.«
Publishers Weekly
»Singer … besitzt eine frische Herangehensweise an den Justizthriller, mit subtilen Charakterisierungen und nuancierten Darstellungen ethischer Fragen. Und sein Plot ist auch nicht von schlechten Eltern.«
Booklist Magazine
»John Grisham trifft C. S. Lewis … Self Incrimination ist höchst brisant, stimmt nachdenklich und macht großen Spaß.«
Brandilyn Collins, Autorin von Coral Moon
»Randy Singer kombiniert spannungsgeladene Action mit einer machtvollen Botschaft. Höchst empfehlenswert.«
T. Davis Bunn, Autor von Winner Takes All
»Singer liefert einen grisham-artigen Handlungsstrang, gestützt von einer Weltsicht, die die Zwangslagen veranschaulicht, die uns täglich bombardieren.«
Hugh Hewitt, Autor, Kolumnist und Radiomoderator deramerikaweit gesendeten Hugh Hewitt Show
Ein falscher Zeuge wird nicht straflos ausgehen,und ein Lügner wird umkommen.
Sprüche 19,9
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Prolog
Mut ist Angst, die gebetet hat.
Dorothy Bernard
Wenn dem Jungen irgendetwas zustieß, würde sich der Professor das nie verzeihen. Der junge Mann war mehr als nur ein brillanter Protegé; er war wie ein Sohn für ihn. Er erinnerte Professor Dagan so sehr an sich selbst in diesem Alter. Manchmal zu sehr. Bis auf die Tatsache, dass Chow dreister war und mutiger, als Dagan es je gewesen war.
Chow Zhang besaß die Gabe seines Mentors für komplexe mathematische Theorien, aber er hatte noch mehr. Im Grunde seines Herzens war Chow ein Geschäftsmann. Ein Kapitalist. Er ging Risiken ein. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität rastlos geworden; Dagan konnte das deutlich sehen. Chow blieb aus Respekt für den Professor.
Als Professor Dagan seinem Protegé vom Abakus-Algorithmus erzählte, leuchteten die Augen des jungen Mannes vor unternehmerischem Feuer. Für Chow war er mehr als eine mathematische Formel. Er wurde zu einer Gelegenheit, ein historisches Übereinkommen zu treffen, das Millionen seiner chinesischen Landsleute helfen konnte. Er trug den Plan mit so viel Begeisterung und Detailgenauigkeit vor, dass der Professor nicht Nein sagen konnte.
Dieses Treffen war der Höhepunkt von Chows Plan.
Dagan betete mit gesenktem Kopf auf dem Fahrersitz des gemieteten Ford Kombis. Er hatte ein schlechtes Gefühl, was dieses Treffen anging, es war aber nicht greifbar. Er hatte auf wohl durchdachten Sicherheitsvorkehrungen bestanden, um den Algorithmus zu schützen.
»Sie machen sich zu viele Gedanken, Grashüpfer«, sagte Chow auf dem Beifahrersitz und versuchte dabei, seiner Stimme einen sorglosen Klang zu geben. Dagan hatte Chow einmal nach dieser Grashüpfer-Bemerkung gefragt; soweit er sich erinnerte, war es eine Anspielung auf irgendeinen alten, amerikanischen Film oder eine Fernsehserie, etwas, das Dagan nicht im Geringsten interessierte.
»Dass die Vögel des Kummers und der Sorge über Ihrem Kopf fliegen, können Sie nicht verhindern«, fuhr der junge Mann mit spöttischer Feierlichkeit fort. »Aber Sie können verhindern, dass sie Nester in Ihrem Haar bauen.«
Dagan lächelte nicht. Er war bekannt dafür, dass er jovial und aufgeschlossen war, mit einer Art von Zerstreuter-Professor-Persönlichkeit, die, wie er zugeben musste, ein Ruf war, gegen den er wenig tat. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt zu lächeln.
Chow war noch nie gut darin gewesen, subtile, unausgesprochene Botschaften zu verstehen. Er fuhr sich mit der Hand über seinen eigenen, rasierten Kopf. »Da drin sind keine Sorgen«, sagte er.
»Sei vorsichtig, mein Sohn«, sagte Dagan.
Dieses Mal verstand Chow den Wink; das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er wurde auf der Stelle zum ernsthaften jungen Geschäftsmann. Er sah professionell aus in seinem dunkelblauen Anzug, dem weißen Hemd und der roten Krawatte. Professionell und beinahe amerikanisch. Dennoch war er so unerfahren für solch eine heikle Transaktion.
Dagan wollte Chow einen Vortrag halten, eine von Dagans berühmten professionell-aufmunternden Reden, mehr über das Leben als über die Wissenschaft. Aber Dagan hatte das Gefühl, dass der junge Mann seinen Lehrer bereits in so vielen Fragen des Lebens und Glaubens überholt hatte. Die Zeit für Vorträge war vorbei.
»Gott sei mit dir«, sagte Chow.
»Und mit Ihnen.«
Der junge Mann kletterte aus dem Kombi, schnappte seine Aktentasche und schritt selbstbewusst in Richtung des MGM Grand. Er blickte nicht zurück und sah nicht die sorgenvollen Falten auf dem Gesicht seines Mentors, die Vögel, die begannen, im Haar des Professors Nester zu bauen.
»Bitte beschütze ihn«, betete Dagan. Er scherte aus der Reihe der geparkten Autos vor dem Casino aus, schnitt dabei andere Fahrer und ignorierte ihr Hupen.
Zwölf Minuten später betrat Dagan sein Apartment, außer Atem vom Erklimmen der Außentreppe. Er schaltete die Alarmanlage aus, schloss die Tür ab und legte die Kette vor.
Das Wohn- und Esszimmer, ein langer, L-förmiger, offener Raum, war mit vierundzwanzig vernetzten Computern und genug Kabeln übersät, um das Zimmer wie eine Schlangengrube aussehen zu lassen. An den Wänden hingen keine Bilder, es gab weder ein Sofa noch einen Sessel oder einen Fernseher. Nur vierundzwanzig Computer, einen kleinen Kartentisch im Essbereich, zwei Klappstühle und einen Sitzsack.
In dem einzigen Schlafzimmer lagen zwei Luftmatratzen.
Dagan hatte dieses Apartment zwanzig Tage zuvor ausgesucht, weil es alle drei Kriterien auf seiner Liste erfüllte: schnellen Internetzugang, monatliche Mietzahlungen und Anonymität. Er hatte bar im Voraus gezahlt und den Vertrag mit einem falschen Namen unterschrieben.
Er hastete durch den Raum und trat dabei versehentlich gegen einen der Computer. Er überprüfte das Schloss der Glasschiebetür, die auf einen kleinen Hof führte. Er schloss die Läden der Glastür und platzierte seinen Laptop auf dem Kartentisch, damit er ihn an sein improvisiertes Netzwerk anschließen konnte.
Jeder Computer war laut Chow mit zusätzlicher Speicherkapazität ausgerüstet und dann so vernetzt, dass die gesamte Netzwerkkapazität mehr als 72 Gigabyte RAM betrug. Das Netzwerk wurde von drei getrennten Firewalls geschützt.
Dagans Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und er gab sein Passwort ein. Er wählte sich sofort ins Internet ein und eine Nachricht von Chow blitzte auf dem Bildschirm auf: Sagen Sie Bescheid, wenn Sie das hier bekommen. Dagan tippte seine Antwort ein und lud gleichzeitig das Video- und Audio-Feed von Chows Computer herüber. Als der Konferenzraum des MGM Grand auf dem Bildschirm erschien, mit derselben körnigen Auflösung, die Dagan während der Versuchsläufe gesehen hatte, entspannte er sich ein klein wenig.
Chow, derjenige von ihnen beiden mit der größeren elektronischen Erfahrung, hatte seinen Laptop auf der Hinterseite des Computers mit einer versteckten Videokamera ausgestattet, und zwar in einem Port, der aussah wie eine Internetschnittstelle. Er quetschte ein dazugehöriges Mikrofon hinein, was aussah wie eine zusätzliche Schnittstelle an der Seite. Mithilfe einer WLAN-Karte, die Chow über Funk mit dem Internet verband, fütterte sein Computer Dagan jetzt mit einer detaillierten Liveübertragung des Treffens.
Obwohl die Auflösung nicht die beste war, konnte Dagan in Sichtweite des Weitwinkelobjektivs drei Geschäftsführer ausmachen. Sie saßen Chow gegenüber, von ihm getrennt durch einen großen Konferenztisch aus poliertem Holz. Der Mann in der Mitte war salopp gekleidet; die anderen trugen Anzüge. Alle drei schienen jünger, als Dagan erwartet hatte.
Der chinesischstämmige Amerikaner rechts sah eher aus wie ein Schläger als ein Geschäftsmann. Er hatte eine niedrige Stirn und einen dicken Hals; über dem zu engen Kragen seines Hemdes schwollen Adern, als könne er sich keinen Maßanzug leisten. Auf seiner rechten Gesichtshälfte zog sich eine Narbe von der Kotelette bis zum Unterkiefer. Sein rechtes Ohr war kleiner als das linke, als habe er einen Teil davon bei einem Messerkampf verloren und ein plastischer Chirurg habe einfach zugenäht, was übrig war. Eine tätowierte Kobra wand sich auf seiner linken Halsseite, bereit, jederzeit zuzustoßen.
Dagan speicherte ihn als Bodyguard ab.
Der Mann auf der linken Seite, bleich und großgewachsen, schien unendlich viel kultivierter zu sein. Osteuropäer vielleicht, mit eisblauen Augen und kurzem, nordisch-blondem Haar. Er fläzte sich mit kühlem, desinteressiertem Blick auf seinem Stuhl.
In der Mitte, auf dem Platz des Einflussreichen, saß ein junger Mann von ungefähr Chows Alter, vermutlich der Geschäftsführer, gekleidet in ein schwarzes Leinenhemd, mit langem, dunklem Haar, einem gepflegten Bärtchen am Kinn und dunklen, finster blickenden Augen, die Dagans Bildschirm zu durchbohren schienen.
Dagan hatte die Vorstellung und die einleitenden Worte verpasst, falls sie stattgefunden hatten. Chow gab gerade einen Überblick über die Logistik der Transaktion. Eine komplizierte Angelegenheit. Denn Chow hatte darauf bestanden, die fünfzig Millionen Dollar auf der Bank zu haben, bevor der Algorithmus übergeben wurde. Die Männer gegenüber von Chow waren Angestellte einer Agentur, die Geschäfte vermittelte und die drei größten Internetsicherheitsfirmen der Welt vertrat. Verständlicherweise wollten sie den Algorithmus testen, bevor überhaupt Geld den Besitzer wechselte.
»Sie werden mir meine Skepsis verzeihen«, sagte der Mann in der Mitte mit schwer zu entschlüsselndem Gesichtsausdruck, »aber die Folgerungen aus Ihren Behauptungen sind ungeheuerlich. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass unsere besten Berater glauben, schnelle Zerlegung in Primzahlen sei eine mathematische Unmöglichkeit.«
»Haben Sie die Zahlen dabei?«, fragte Chow ruhig. Seine Stimme kam lauter als die der anderen an, weil er näher am Mikro saß. Dagan konnte kein Schwanken darin erkennen, kein Anzeichen der angespannten Nerven, die seinen jungen Partner sicherlich folterten.
»Natürlich.«
»Dann können wir über die Theorie sprechen oder über die Anwendung«, sagte Chow. »Ich meine, warum sollten wir uns damit aufhalten, die wahren Fakten herauszufinden, wenn wir einfach herumsitzen können und auf der Basis der Meinungen Ihrer Experten spekulieren können?«
»Wir brauchen Ihren Sarkasmus nicht«, sagte der nordische Mann.
Der Geschäftsführer zeigte keinerlei Emotion, während er eine Akte konsultierte. Er diktierte eine lange Zahlenreihe, die Chow als Nachricht für Dagan eintippte. Danach las Chow dem Geschäftsführer die Ziffern noch einmal vor, alle einhundertsiebenundneunzig, und prüfte sie langsam noch einmal. Es dauerte beinahe zwei Minuten, nur die Zahl zu überprüfen.
Dagan lächelte. Ein Kinderspiel. Mit seinem Algorithmus müsste er die Antwort in weniger als fünf Minuten haben. Sein Laptop konnte das auch allein verarbeiten. Er kopierte die Zahl und fügte sie in seine Formel ein.
Während Dagans Computer an dem Algorithmus rechnete und Chow auf seiner Tastatur herumhackte und falsche Zahlen und Abläufe eingab, wurde es im Konferenzraum bemerkenswert still, Spannung lag in der Luft, als wagten die Angestellten nicht, diesen Moment zu zerstören, indem sie ein Geräusch machten. Aus seiner meilenweiten Entfernung konnte Dagan beinahe ihre Gedanken lesen: Wenn das hier funktioniert – wenn das hier wirklich funktioniert – wird es die Basis der Internetverschlüsselung vernichten. Das RSA-Protokoll, weitgehend benutzt, um Transaktionen im Web sicher zu machen, wäre ein Sieb dagegen. Es war, wie Chow ausgerufen hatte, als Dagan ihm zum ersten Mal von dem Durchbruch erzählte, »der Schlüssel zu jedem Schloss der Welt!«
Dagan hatte vor fast zwanzig Jahren auf die Herausforderung eines Professorenkollegen hin angefangen, an seiner Formel zu arbeiten. Dagan nannte es eine ernsthafte akademische Arbeit, den Wunsch eines Gelehrten, neue Wege zu beschreiten. Andere nannten es eine Obsession. Wie auch immer man es nennen wollte, er widmete seine besten und produktivsten Jahre der Vollendung von etwas nie da Gewesenem: eine Ordnung in der Abfolge von Primzahlen finden. Die meisten Theoretiker glaubten, dass die Zahlen wie Unkraut zwischen den neutralen Zahlen wucherten und keinem Gesetz als dem des Zufalls folgten. Es sei unmöglich, vorherzusagen, wo die nächste Primzahl aus dem Boden schießen würde, sagten sie.
Aber wo andere Chaos sahen, sah Dagan den schwachen Umriss einer Ordnung. Mit der Zeit wurde der Umriss erkennbarer, die Ordnung vorhersagbarer, seine Überzeugungen entschlossener. Schließlich entwickelte er einen komplexen mathematischen Algorithmus, verblüffend in seiner Verlässlichkeit, der schnell und genau die Primfaktoren jeder Zahl, egal, wie lang, errechnen konnte.
Entzückt wollte Dagan die Formel in einer anerkannten internationalen Mathematikzeitschrift veröffentlichen. Aber sein Protegé sah sofort die tragischen Konsequenzen solch eines Vorgehens. Das Internet würde im Chaos versinken, bis die Verschlüsselungstechnik eine andere Richtung entwickelte. Und danach wäre der Algorithmus innerhalb von Monaten nutzlos.
Stattdessen überredete Chow Dagan, die Formel einem Zusammenschluss der wichtigsten Verschlüsselungsfirmen weltweit zu verkaufen. »Sie könnten mit ihrer Hilfe die Achillesferse in ihren Verschlüsselungstechniken finden«, argumentierte er. »Sie könnten Schritte unternehmen, um Internettransaktionen sicherer zu machen, um besseren Datenschutz zu gewährleisten.« Dann kam der Trumpf: »Wir könnten den Ertrag benutzen, um der Untergrundkirche zu helfen. Wir könnten die theologische Ausbildung unterstützen. Juristische Hilfe anbieten. Bibeln.«
Damals erschien es ihm wie eine gute Idee.
Dagan kam mit einem Ruck in die Gegenwart zurück, als die Antwort nach nur drei Minuten Berechnung auf seinem Bildschirm erschien. Er schickte Chow die Ergebnisse.
Wenig überraschend, beschloss Chow, das Ganze etwas theatralisch zu gestalten. »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte er mit neuem Selbstvertrauen in der Stimme, »dauerte ein neulich unternommener Versuch, die Primfaktoren einer Zahl mit einhundertdreiundneunzig Ziffern herauszufinden, anderthalb Jahre, mit einer ganzen Reihe von Computern, die gleichzeitig arbeiteten. Zusammengenommen wurde ein halbes Jahrhundert Computerzeit gebraucht. Oder irre ich mich, meine Herren?«
Die drei Männer sahen Chow ausdruckslos an; sie mochten es nicht, wenn man sich über sie lustig machte. »Und diese Zahl«, fuhr Chow fort, »grob dieselbe Länge, wurde eben in einem Zeitraum berechnet, den Sie gebraucht hätten, um die Toiletten aufzusuchen.«
»Und die Antwort?«, fragte der Geschäftsführer. In seiner Stimme lag ein aggressiver, humorloser Tonfall.
Chow las die Primzahlen vor, während der Geschäftsführer seine Akte prüfte. Er warf seinem nordischen Freund einen schnellen Seitenblick zu, erntete ein kaum wahrnehmbares Nicken und schlug eine weitere, kolossale Zahl auf. »Diesmal«, sagte der Geschäftsführer, »nehmen wir eine Zahl von der Größe, wie sie unsere Klienten normalerweise in ihrem Protokoll benutzen. Laut dem stellvertretenden Direktor der National Security Agency müssten dafür sämtliche Computer der Welt durchschnittlich ungefähr zwölfmal so lang wie das Alter unseres Universums arbeiten, um es mit einer traditionellen Siebmethode zu lösen. Wir werden sehen, ob Ihre Formel es in ein paar Minuten kann.«
Zehn Minuten lang lasen und überprüften sie die Ziffern der neuen Zahl. Als alle zufrieden waren, schickte Chow die Zahl wieder heimlich an Dagan, der sie in seine Formel einspeiste. Diesmal setzte Dagan sein gesamtes kleines Netzwerk auf die Aufgabe an.
Zwölf Minuten später las Chow den verblüfften Männern die Antwort vor – zwei Primfaktoren, jeder über zweihundert Ziffern lang.
Die Geschäftsleute versuchten nicht länger, sich unbeeindruckt zu geben. Der Geschäftsführer zog sich mit seinen Kollegen zu einer improvisierten Besprechung hinter die Stühle zurück, wo die Männer einen kleinen Kreis bildeten und sich ihre Aktenordner vor den Mund hielten, damit Chow ihre Lippen nicht lesen konnte. Als sie zurück auf ihre Stühle glitten, musterte der nordische Mann Chow wie ein Zuschauer einen Illusionisten in einer Zaubervorstellung betrachten musste – prüfend und sicher, dass es irgendeinen Taschenspielertrick geben musste, der sich dem normalen Blick entzog.
»Wir würden gern noch eines versuchen«, sagte der Geschäftsführer, »nur um zu beweisen, dass die Sicherheit unserer eigenen Firma nicht durch jemand aus dem Inneren verletzt wurde, der Ihnen die Antworten im Voraus zugespielt haben könnte. Wir werden einen Berater anrufen und um eine weitere Testzahl bitten, eine andere als die, die wir mitgebracht haben. Das könnte ein paar Minuten dauern.«
Zwanzig Minuten später, nachdem Chow die dritte Zahl sogar noch schneller als die zweite berechnet hatte, bemerkte Dagan eine endgültige Veränderung im Verhalten auf der anderen Seite des Tisches. Selbst durch die grobkörnige Auflösung konnte er erkennen, dass Chow es jetzt mit Bekehrten zu tun hatte – Männer, die etwas gesehen hatten, das die führenden Experten der Welt ihnen als unmöglich versichert hatten.
»Wer hat noch Zugang zu dieser Formel«, fragte der Mann auf der rechten Seite.
»Warum ist das relevant?«, erwiderte Chow.
»Unser Preis basiert auf Exklusivität. Wenn wir die Einzigen mit dieser Formel sind, ist sie fünfzig Millionen Dollar wert. Wenn auch andere sie haben, verringert sich der Wert erheblich.«
»Nur ein Mann hat diese Formel gesehen«, antwortete Chow. Das war die Wahrheit, wie Dagan wusste. Aber diese Person war nicht Chow.
Die Männer gegenüber Chow nickten sich zu, und Dagan atmete erleichtert auf. Es sah aus, als würden sie tatsächlich ins Geschäft kommen. Preist den Herrn, murmelte er. Chow hatte recht gehabt. Keine Sorgen.
»Ich glaube, wir haben das Konzept bewiesen«, sagte Chow. Dagan konnte hören, wie Chow mit Papieren raschelte, vermutlich der Vertragsentwurf, den sie vor dem Treffen am Telefon ausgehandelt hatten. »Schauen wir, dass wir das hier unterschreiben, damit Sie das Geld überweisen können.«
Der Geschäftsführer nickte, aber er sah nicht Chow dabei an. Stattdessen schien er auf einen Punkt direkt über und hinter Chow konzentriert. Dagan hörte ein weiteres Geräusch – vielleicht eine Tür, oder jemand, der den Raum betrat? Chow schloss sofort das Fenster des Instant Messagers und verdeckte vermutlich den Monitor mit seinem Rücken und den Schultern, damit der Eindringling Chows Kommunikation mit Dagan nicht entdecken konnte.
Der Geschäftsführer gestikulierte in Richtung des offenkundigen Neuankömmlings. »Das ist einer unserer Kollegen. Dr. Johnny Chin«, sagte der Geschäftsführer, machte sich aber nicht die Mühe, aufzustehen. »Er ist einer der besten Problemlöser unserer Firma.«
In Dagans Kopf schrillten die Alarmglocken los, als er den nordischen Mann grinsen sah und Chow beiläufig »Nett, Sie kennenzulernen« sagen hörte. Dagan war ziemlich sicher, dass Chow sitzen geblieben war, vermutlich darauf bedacht, seinen Bildschirm abgeschirmt zu halten.
Ein Problemlöser? Wofür?
Ohne Vorwarnung hörte Dagan ein verzweifeltes »Hey, was ist …«, gefolgt von einem widerwärtigen Geräusch wie der Zunge einer Schlange, die durch die Luft schoss, dem tödlichen Zischen einer schallgedämpften Pistole. Rote Flüssigkeit und weiße Brocken spritzten über den Tisch vor der Videokamera und auf das Hemd des jungen Geschäftsführers. Dagan hörte einen dumpfen Aufschlag, das Geräusch von Knochen, der auf etwas anderes traf.
Der Geschäftsführer sprang von seinem Stuhl auf, schrie und beugte sich vor, seine Freizeithose füllte jetzt den ganzen Bildschirm aus.
»Schaff seinen Kopf von der Tastatur!«, schrie er. »Sonst verbrutzelt das Blut das Ding noch!«
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Der Kopfgeldjäger
Jeden Morgen wacht in Afrika eine Gazelle auf. Sie weiß, dass sie schneller laufen muss als der schnellste Löwe, oder sie wird getötet. Jeden Morgen wacht ein Löwe auf. Er weiß, er muss die langsamste Gazelle einholen oder verhungern. Ganz egal, ob man ein Löwe oder eine Gazelle ist: Wenn die Sonne aufgeht, sollte man besser schnell sein.
Herb Caen, ehemaliger Kolumnistdes San Francisco Chronicle
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Montag, 9. August 2004
Die längsten drei Tage von Clark Shealys Leben begannen mit einer abgelaufenen Zulassung.
Das war Clarks erster Hinweis, der Grund, warum er dem nachtschwarzen 2005er Cadillac Escalade ESV gestern gefolgt war. Der Grund, warum er seine Frau anrief, seine Partnerin sowohl in der Ehe als auch im Verbrechen … nun ja, nicht ganz im Verbrechen, aber sicherlich am dunklen Rand der Legalität. Sie waren die Bonnie und Clyde der Kopfgeldjäger, der Rückholungskünstler, von allem, was gefälschte Berechtigungsnachweise und unverschämte Lügen erforderte. Jessicas schnelle Suche in den Aufzeichnungen der Kraftfahrzeugbehörde, die zu einem Anruf beim Titelinhaber, einer Kreditvereinigung in Los Angeles, führte, bestätigte, was Clark bereits angenommen hatte. Der Besitzer zahlte nicht. Die Kreditvereinigung wollte das Fahrzeug rückholen lassen, konnte es aber nicht finden. Sie waren bereit zu zahlen.
»Wie viel?«, fragte Clark Jessica.
»Nicht der Rede wert«, antwortete sie. »Deshalb bist du nicht dort.«
»Natürlich, Honey. Aber nur so zum Spaß, wie viel lassen wir uns entgehen?«
Jessica murmelte etwas.
»Die Verbindung ist schlecht«, sagte Clark.
»Sie würden ein Drittel von Blue Book zahlen.«
»Was bedeutet?«
»Ungefähr achtundvierzig«, sagte Jessica leise.
»Liebe dich, Baby!«, antwortete Clark und rechnete. Sechzehntausend Dollar!
»Clark …«
Er beendete das Gespräch. Sie rief zurück. Er drückte auf »Anruf ablehnen«.
Sechzehntausend Dollar! Sicher, es war nicht der Hauptgrund, warum er nach Vegas gekommen war. Aber ein kleiner Bonus konnte nicht schaden.
Unglücklicherweise war das Fahrzeug mit der neuesten Diebstahlsicherung ausgestattet, einem elektronisch kodierten Schlüssel, den der Besitzer bekam. Der Motor übermittelte eine elektronische Nachricht, die zu dem im Schlüssel programmierten Code passen musste, oder das Auto ließ sich nicht starten.
Clark lernte das auf die harte Tour in den leeren Stunden der Wüstennacht, ungefähr um halb drei. Er hatte den Cadillac aufgebrochen, das Standard-Alarmsystem deaktiviert, die Abdeckung der Lenksäule abgenommen und das Fahrzeug kurzgeschlossen. Aber ohne den richtigen Schlüssel sprang das Auto nicht an. Clark wusste sofort, dass er einen Fernalarm ausgelöst hatte. Mit seiner Metallsäge sägte er schnell tief in die Lenksäule und machte das Fahrzeug fahruntauglich, dann sprintete er die Auffahrt hinunter und über die Straße.
Er hörte eine Flut von Flüchen von der Vordertreppe eines Apartmenthauses, gefolgt von einem Pistolenschuss. Für Clarks geübte Ohren klang es wie ein 350er Magnum-Kaliber, doch er blieb nicht lange genug, um Fabrikat, Modell und Seriennummer festzustellen.
Sechs Stunden später kam Clark wieder.
Er schummelte sich an dem Sicherheitsbediensteten am Eingang der umzäunten Siedlung vorbei und fuhr seinen geliehenen Abschleppwagen auf den eleganten gepflasterten Parkplatz, der von sorgfältig gestutzten Hecken umgeben war. Er parkte seitwärts, direkt hinter dem Cadillac. Diese Eigentumswohnungen, die zu den feinsten von Vegas gehörten, kosteten sicher alle mehr als eine Million Piepen.
Der Caddy passte ins Bild, er schrie förmlich Eleganz und Privilegien heraus – speziell angefertigte Zwanzig-Zoll-Felgen, schöne Lederausstattung, genug Beinfreiheit für eine Basketballmannschaft, digitale Anzeigen im Armaturenbrett und ein Bordcomputer, der es seinem Besitzer erlaubte, alle elektrischen Funktionen im Fahrzeug zu steuern. Das Surround-Sound-System konnte natürlich die Fenster eines Autos drei Querstraßen entfernt scheppern lassen. Cadillac hatte diesen Schlitten direkt ab Werk aufgemotzt und es zum Fahrzeug der Wahl für Männer wie Mortavius Johnson gemacht; Männer, die im Westen von Vegas wohnten und »Begleitungen« für die größten Spieler der Stadt stellten.
Clark wählte die Kurzwahl 1, bevor er aus dem Abschleppwagen stieg.
»Das ist Blödsinn, Clark!«
»Dir auch einen schönen guten Morgen. Bist du bereit?«
»Nein!«
»Alles klar. Dann fangen wir an.« Er ließ das immer noch verbundene Telefon in eine Tasche seines Overalls gleiten. Er war auffallend kurz und klemmte im Schritt. Er hatte das Outfit an Ort und Stelle von einem Mechaniker bei North Vegas Auto gekauft, derselben Werkstatt, wo er den Abschleppwagen von seinem Besitzer geliehen hatte, einem Freund, der Clark bei einigen vergangenen Rückführungsgeschäften geholfen hatte. Hundertfünfzig Lappen für den Overall, komplett mit Öl- und Schmierflecken. Clark hatte das Namensschild abgerissen und die Ärmel hochgekrempelt. Er fühlte sich wieder wie als Halbwüchsiger, als er so schnell gewachsen war, dass seine Kleidung nicht mithalten konnte.
Er ließ die Haube des Abschleppwagens aufschnappen, schmierte mit den Fingern in etwas schwarzem Ölschmutz herum, rieb sich ein wenig Schmiere an die Unterarme und einen Klecks ins Gesicht. Er schloss die Haube und ging selbstbewusst zur Vordertür des Hauses, während er einen Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand warf, wie um die Adresse zu überprüfen. Er klingelte.
Stille. Er klingelte noch einmal.
Schließlich hörte er im Inneren schwere Schritte und dann das Klicken eines Schlosses, bevor die Tür sich langsam öffnete. Mortavius Johnson, der aussah, als habe er eine harte Nacht kaum überlebt, füllte den Türrahmen aus. Clark war groß und schmal – ungefähr einsneunzig. Aber Mortavius war groß und massig – eine finstere Gestalt, die Clark klein erscheinen ließ. Er trug Jeans und kein Hemd und entblößte stahlharte Muskeln, aber auch einen ordentlichen Bauch. Er hatte keine Waffe.
Clark warf einen Blick auf sein Papier, während Mortavius ihn mit blutunterlaufenen Augen musterte.
»Sind Sie Mortavius Johnson?«
»Ja.«
»Sie haben einen Abschleppwagen gerufen?«
Mortavius' Augen verengten sich misstrauisch. Der dicke Mann warf einen Blick auf die Tasche von Clarks Overall – kein Namensschild –, dann an ihm vorbei auf den Abschleppwagen. Clark hatte das Logo hastig übersprüht und fragte sich, ob Mortavius es bemerkte.
Clark hielt den Atem an und überdachte seine Möglichkeiten. Er würde Mortavius Pearl-Harbor-mäßig überraschen müssen, mit einem Knie in die Weichteile oder einer Faust in den Solarplexus. Selbst diese Schläge würden den Dicken vermutlich nur vorübergehend außer Gefecht setzen. Clark würde wie ein Bandit zum Abschleppwagen sprinten und hoffen, dass Mortavius seine Waffe nicht direkt in Reichweite hatte. Clark mochte in der Lage sein, Mortavius davonzulaufen, aber nicht seiner Kugel.
»Ich habe gestern Abend eine Nachricht beim Cadillac-Händler hinterlassen«, sagte Mortavius.
Der Cadillac-Händler. Clark hatte auf etwas Konkreteres gehofft. »Und der Cadillac-Händler hat mich angerufen«, sagte Clark laut genug, um über das Handy in seiner Tasche gehört zu werden. »Glauben Sie, die haben dort eigene Abschleppwägen? Es ist ja nicht so, dass ständig irgendwo Caddies Pannen haben. Wenn jeder sich einen Caddie leisten könnte, würde ich den Laden dichtmachen.«
Clark lächelte. Mortavius nicht.
»Zu welcher Firma gehören Sie?«, fragte er.
»Highway Auto Service«, antwortete Clark noch lauter. Er zog das Handy aus der Tasche, unterbrach unbemerkt die Verbindung mit einem Daumendruck und hielt es Mortavius hin. »Wollen Sie im Büro anrufen? Kurzwahl 1.«
Mortavius blickte ihn finster an. Er sah immer noch angeschlagen aus. »Ich hole die Schlüssel«, sagte er.
Er verschwand aus der Türöffnung und Clark atmete aus. Er rief Jessica wieder per Kurzwahl an und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Er warf einen Blick über die Schulter, dann schaute er ein zweites Mal hin.
Nicht das noch!
Ein zweiter Abschleppwagen fuhr an dem Sicherheitsmann vorbei und steuerte auf Mortavius' Hütte zu. Jetzt wurde es haarig.
»Ich habe ein paar Papiere im Wagen vergessen, die Sie unterschreiben müssen«, rief Clark in den Flur. Aber sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, erschien Mortavius wieder am Eingang, die Schlüssel in der Hand.
Unglücklicherweise sah er an Clark vorbei und sein Blick heftete sich auf den anderen Abschleppwagen. Die Erkenntnis flackerte in seinen Augen auf, gefolgt von einem Wutausbruch. »Wer hat Sie geschickt?«, wollte Mortavius wissen.
»Das habe ich Ihnen doch gesagt … der Cadillac-Laden.«
»Der Cadillac-Laden«, wiederholte Mortavius sarkastisch. »Welcher Cadillac-Laden?«
»Weiß nicht mehr. Der Name steht auf den Papieren in meinem Wagen.«
Mortavius machte einen drohenden Schritt nach vorn und Clark fühlte, wie ihm die Angst den Nacken hinaufkroch. Seine falsche Polizeimarke lag neben seiner Waffe im Abschleppwagen. Ihm gingen die Alternativen aus.
»Wer hat dich geschickt?«, wollte Mortavius wissen.
Clark versteifte sich, bereit, den Schlägen des großen Mannes auszuweichen. In diesem Moment dachte Clark an die zahnärztlichen Maßnahmen, die der letzte Vorfall dieser Art erforderlich gemacht hatte. Jessica würde ihn erschießen – das gab der Haushaltsplan nicht her.
Eine Hand schoss nach vorn und Clark duckte sich. Er sprang vor und zog sein Knie mit aller Kraft nach oben. Aber der massige Mann war schnell, und das Knie traf einen stahlharten Schenkel, nicht die Leiste. Clark spürte, wie er am Kragen in den Flur gerissen wurde, wie ein zorniger Besitzer seinen Hund hereinzerren würde. Bevor er einen Schlag landen konnte, hing Clark an der Wand, Mortavius nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und ein Messer in seiner Magengegend.
Wo kam das denn her?
Mortavius kickte die Tür zu.
»Mach schnell, Betrüger«, zischte Mortavius. »Wenn Eindringlinge in mein Haus einbrechen, schlitze ich sie in Notwehr auf.«
»Ich bin Deputy Sheriff in Orange County, Kalifornien«, keuchte Clark. Er versuchte, offiziell zu klingen und hoffte, dass selbst Mortavius zweimal nachdenken würde, bevor er einen Gesetzeshüter killte. »Am Feierabend mache ich Fahrzeugrückführungen.« Er spürte die Spitze des Messers an seinen Bauch gepresst, direkt unterhalb des Nabels, an der perfekten Stelle für eine Vivisektion.
»Aber Sie können Ihres behalten«, fuhr Clark schnell fort. »Ich bin nur autorisiert, es rückzuführen, wenn kein Vergehen gegen die öffentliche Ordnung vorliegt. Sieht so aus, als sei das hier nicht der Fall.«
Mortavius kam langsam noch näher. Er verlagerte seinen Griff von Clarks Kragen an seinen Hals und presste Clark an die Wand. »Du versuchst, nachts meinen Schlitten zu klauen, und tauchst dann am nächsten Morgen auf, um ihn abzuschleppen?«
»So was in der Art«, gab Clark zu. Die Worte kamen aus Luftmangel als Flüstern heraus.
»Das beweist Mumm«, antwortete Mortavius. Ein Blick, der fast als Bewunderung durchgehen konnte, blitzte in den dunklen Augen auf. »Aber kein Hirn.«
»Ich habe einen Deal«, wisperte Clark, der inzwischen verzweifelt Luft brauchte. Seine Welt fing an, in sich zusammenzufallen und Sterne und Feuerwerk vernebelten ihm die Sicht.
Es klingelte.
»Lass hören«, sagte Mortavius leise und lockerte seinen Würgegriff gerade genug, damit Clark atmen konnte.
»Sie zahlen mir sechs Riesen für das Auto«, erklärte Clark hastig. Er dachte gerade klar genug, um die Zahlen anzupassen. »Sie wissen jetzt, wo Sie sind, weil ich sie gestern angerufen habe. Selbst wenn Sie mich umbringen« – die Worte auszusprechen ließ Clark ein wenig schaudern, vor allem, weil Mortavius nicht mit der Wimper zuckte – »werden sie das Auto finden. Sie lassen es mich heute abschleppen und alles klarmachen. Ich überweise Ihnen viertausend Steine auf Ihr Bankkonto, bevor ich den Cadillac-Laden verlasse. Ich mache zweitausend und Sie haben viertausend als Anzahlung für Ihren nächsten Reifensatz.«
Es klingelte wieder, und Mortavius runzelte die Stirn. »Fünf Riesen«, sagte er mit finsterem Blick.
»Vier-fünf«, gab Clark zurück. »Ich habe eine Frau und …«
Uff … Clark spürte, wie die Luft aus seinen Lungen wich, als Mortavius ihn zurück an die Wand knallte. Schmerz schoss durch die Rückseite seines Schädels, wo er von der Gipswand abprallte und vermutlich eine Delle hinterließ.
»Fünf!«, knurrte Mortavius.
Clark nickte hastig.
Der Riese ließ Clark los, ging zur Tür und jagte den anderen Abschleppwagenfahrer mit der Erklärung fort, es handle sich um ein Missverständnis. Als Mortavius und Clark die Einzelheiten ihres Handels ausmachten, hatte Clark noch eine weitere glänzende Idee.
»Haben Sie vielleicht Freunde, die ihre Zahlungen nicht leisten?«, fragte er. »Ich könnte mit ihnen ähnliche Deals machen. Sagen wir … fünfzig-fünfzig vom Rückführungshonorar – Sie könnten ihre Anteile als Anzahlung für ein größeres Auto benutzen.«
»Hau ab, bevor ich dir wehtue«, sagte Mortavius.
Clark warf einen Blick auf die Uhr, als er den Parkplatz verließ. Er hatte weniger als zwei Stunden, um den Abschleppwagen zurückzugeben und zur Praxis des plastischen Chirurgen zu kommen. Er rief Jessica an.
»Highway Auto Service«, meldete sie sich.
»Es hat nicht funktioniert«, sagte Clark. »Ich bin aufgeflogen.«
»Alles klar bei dir?«
Er liebte es, die Besorgnis in ihrer Stimme zu hören. Er zögerte ganz kurz, dann sagte er: »Hab keinen Kratzer abgekriegt.«
»Ich hab dir gesagt, es war eine dumme Idee«, sagte Jessica, obwohl sie eher erleichtert als aufgebracht klang. »Du hörst mir nie zu! Clark Shealy weiß ja schließlich alles.«
Und auch jetzt hörte er nicht zu. Stattdessen rechnete er wieder im Kopf. Sechzehntausend, minus Mortavius' Anteil und die Reparaturkosten, dann blieben ungefähr zehn. Er dachte darüber nach, wie er die Überweisung machen konnte, ohne dass Jessica davon erfuhr.
Einen Zuhälter wie Mortavius zu linken war eine Sache. Jessica eine ganz andere.
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Zwei Stunden später, wieder in Jeans und Straußenleder-Cowboystiefeln, aber immer noch mit Ölschmiere unter den Fingernägeln, betrat Clark Shealy das unscheinbare dreistöckige Backsteingebäude einer Klinik für ambulante Chirurgie. Er meldete sich an der Rezeption und atmete die typischen, sterilen Gerüche von Antiseptika und frisch geschrubbten Fliesenböden ein. Clark hasste diese Gerüche und die Erinnerungen, die sie hervorriefen. Bei Nadeln wurde er zimperlich, und der bloße Gedanke an präzise Schnitte und das Ablösen von Haut, die mit plastischer Chirurgie einhergingen, ließen seine Knie weich werden.
Obwohl er Dr. Silvosos Praxis in den letzten zwei Jahren drei Mal besucht hatte, war Clark Shealy definitiv kein Freund von plastischer Chirurgie. Es war nicht so, dass Clark ein paar kleinere Verschönerungen nicht hätte gebrauchen können – wem ginge es anders? Obwohl Clark nie Schwierigkeiten gehabt hatte, auf Frauen attraktiv zu wirken – Jessica schob es auf seinen himmelblauen »Schlafzimmerblick« –, hatte er doch eine leicht schiefe Nase, das Ergebnis eines Faustkampfs in seinen Teenagerjahren. Ganz zu schweigen von einer Narbe direkt über seinem rechten Auge, die sich von der Augenbraue bis zu seinem Ohr zog, wie ein fehlgeleiteter Eyeliner-Strich, aufgetragen von einem betrunkenen Rockstar. Aufgrund der Nase und der Narbe hatten seine Kumpels aus der High School über Clark gesagt, er jage parkenden Autos nach.
Aber Clarks Meinung nach waren Schönheitschirurgen etwas für Metrosexuelle, nicht für echte Männer. Echte Männer spielten die Karten, die das Schicksal ihnen austeilte – mit Narben und allem. Abgesehen davon: Wer wollte schon eine Nase wie Michael Jackson?
Er fand einen Platz und blätterte eine abgenutzte Zeitschrift durch. Wenn er seinen Blick im Wartezimmer schweifen ließ, konnte Clark leicht die Stammkunden von Silvosos Praxis ausmachen – junge, attraktive Frauen mit Barbiepuppen-Figuren, aufgeblasenen Collagenlippen und Haut, die zwischen Augen und Kiefer so straff gespannt war, dass sie aussah, als könne sie jeden Augenblick reißen. Sie standen in scharfem Kontrast zu den gebeugten und älteren Patienten, die auf irgendeine orthopädische Operation warteten oder den sportlichen Kindern, die auf Krücken hereinhumpelten.
Innerhalb von Minuten rief eine Sprechstundenhilfe Clark auf und begleitete ihn in einen Vorraum des Operationszimmers, der leer war bis auf einen Plastik-Armsessel, einen tragbaren Tabletttisch und ein paar Apparate, um verschiedene Lebensfunktionen anzuzeigen. Clark hatte die Prozedur mit Silvoso bereits durchgemacht. Eine der Krankenschwestern würde den geflüchteten Patienten, sediert und für die Operation vorbereitet, in einen Raum gegenüber rollen. Sobald die Krankenschwester gegangen war und der nichts ahnende Patient auf Silvoso wartete, würde Clark in den Raum stürmen, kurz mit seinen Bescheinigungen wedeln und den benommenen Mann verhaften. Clark würde eine Szene machen, während Silvoso laut protestierte und Clark seinen Flüchtigen in Handschellen wegschleppte.
Später würde Clark Silvoso still und heimlich fünfundzwanzig Prozent des Kopfgelds überweisen. Andere plastische Chirurgen machten es für zwanzig Prozent, aber Silvoso war ein harter Verhandlungspartner. Selbst so war es ein gutes Geschäft für Clark, denn es half ihm, einen Flüchtigen festzunageln, der anders nie gefasst worden wäre. Schönheitschirurgen sind die besten Freunde der Kopfgeldjäger.
Während Clark wartete, dachte er an das Geld und Dollarzeichen vernebelten seine Gedanken. Johnny Chin, verhaftet wegen Kontenbetrugs und Verstoßes gegen das Geldwäschegesetz, hatte 1,5 Millionen Kaution gezahlt und war umgehend getürmt. Es gab Gerüchte, er arbeite als Auftragskiller für die Mafia, wenngleich Clark klug genug war, nicht alles zu glauben, was er auf der Straße hörte. Eines war kein Gerücht – das Kopfgeld für Chin betrug hundertfünfzig Riesen. In Gedanken hatte Clark das Geld bereits ausgegeben.
Genau fünf Minuten, nachdem Clark den Raum betreten hatte, hörte er jemanden ein Bett in den Raum gegenüber schieben. Clark wartete, bis die Schritte sich zurückzogen, dann streckte er den Kopf aus der Tür, wartete, bis eine Krankenschwester in einem Raum ein paar Türen weiter verschwunden war, und stürmte schnell aus seinem eigenen Raum in den für Chin vorgesehenen. Er schloss die Tür hinter sich und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Der Mann im Bett, der friedlich dalag, die Augen geschlossen, hatte wenig Ähnlichkeit mit den Fotos von Chin. Er war Asiate – ja. Aber ein neueres Fahndungsfoto von Chin zeigte einen rasierten Kopf, und dieser Kerl hatte den Kopf voller rabenschwarzer Haare. Der Mann im Bett hatte eine Narbe an der rechten Seite seines Kiefers und war gedrungener, als Clark nach seinen Erinnerungen der Fotos erwartet hatte. Die Nase war flacher und das rechte Ohr schien deformiert, ein weiteres Merkmal, das auf den Fotos nicht zu sehen gewesen war.
Clark spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen sträubten, und seine Instinkte schlugen Alarm. Er zog seine Waffe aus dem kleinen Halfter, das oben an seinem linken Stiefel befestigt war. Er machte sich bereit, das kleine Badezimmer des Raums zu überprüfen, und schwang seine Pistole vor sich wie ein Polizist, der die leere Wohnung eines Täters checkte.
Ein Grunzen des Patienten ließ ihn zusammenzucken. »Kann ich ein bisschen Wasser haben?«, fragte der Mann mit heiserer, trockener Stimme. Seine Augenlider öffneten sich einen winzigen Spalt und gaben blutunterlaufene Augen und einen leeren Blick frei. Clark checkte zuerst das Bad. Leer. Er behielt die Waffe in der rechten Hand, als er sich dem Bett näherte und dem Patienten einen Plastikbecher mit Wasser von dem Tabletttisch reichte.
Die Augenlider des Mannes öffneten sich erneut flatternd, als er das Wasser nippte und »Danke« murmelte. Von oben auf den Patienten blickend, bemerkte Clark eine kleine Tätowierung an der linken Halsseite des Mannes, eine aufgerichtete Schlange, bereit zum Zustoßen, als würde sie jeden Augenblick vorschnellen und ihre Giftzähne ins linke Ohr des Mannes versenken. Es war eine Metapher für Clarks eigene Nerven, gespannt wie eine Feder, die Clark warnten, die Mission abzubrechen.
Der Patient hörte auf zu trinken und sah mit trüben Augen zu Clark auf. Plötzlich sprangen die Augen mit einem erregten Flackern auf; im selben Augenblick fühlte Clark einen scharfen Stich in seinem Hals, direkt über dem linken Schulterblatt. Er wirbelte herum, zog den Ellbogen nach oben und rückwärts und hoffte, den Gesichtsknochen seines Angreifers zu treffen, aber es fühlte sich an, als bewege er sich durch Watte.
Ein Spinnennetz von Schmerz, gefolgt von Lähmung, breitete sich schnell über seinen Rücken und die Arme aus. Ein blasses Bild eines wahnsinnigen Lächelns blitzte in Clarks Kopf auf, als er einen flüchtigen Moment dem Mann gegenüberstand, der in den Raum geglitten war und Clark in den Hals gestochen hatte – und dann verschlang ihn der Nebel. Bevor er noch einen Schlag landen konnte, wurde es schwarz um ihn.
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Clark gewann das Bewusstsein auf dem Fahrersitz seines Taurus sitzend wieder, sein Kopf fühlte sich an, als könne er jeden Augenblick explodieren. Er zog eine Grimasse und versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken prallten aufeinander wie bei einer Massenkarambolage bei einem Stock-Car-Rennen. Wo bin ich? Wie spät ist es? Was zum Henker ist passiert?
Er blinzelte zweimal, setzte sich etwas aufrechter hin und sammelte ein paar versprengte Gedanken, während ein unsichtbarer Presslufthammer in seinem Schädel hämmerte. Er befand sich in einem Parkhaus, allein in seinem Auto, und schwitzte heftig in der erstickenden Hitze. Das Fenster stand einen Spalt offen, damit er nicht erstickte.
Vegas. Dr. Silvoso. Johnny Chin. Die Ereignisse brachen wieder über ihn herein: Zeit und Ort, Silvosos Doppelspiel, der seltsame Mann in dem ambulanten Vorbereitungszimmer, der flüchtige Johnny Chin. Clark rieb sich den Hals, wo das Betäubungsmittel eingetreten war. Es fühlte sich an, als sei er von einem Elefantenpfeil getroffen worden.
Er bemerkte einen gelben Klebezettel auf dem Lenkrad. Benutzen Sie das Telefon auf dem Sitz. Kurzwahl 1. Er nahm das Telefon hoch, zögerte aber, als sich der Nebel in seinem Gehirn etwas weiter lichtete. Was, wenn die Nummer zu wählen eine Sprengvorrichtung auslöst? Andererseits: Wenn sie ihn tot sehen wollten, warum war er dann jetzt noch am Leben?
Er legte das Telefon zurück und starrte es einen langen Moment an. Er startete das Auto und stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe. Die Außentemperaturanzeige stand auf siebenunddreißig Grad. Er sagte sich, dass das Telefon sicher war; seine Neugier schlug seinen Überlebensinstinkt. Er hielt den Atem an und wählte die Kurzwahl 1.
Keine Explosion. Clark atmete aus und hörte, wie das Telefon zweimal klingelte, bevor jemand abhob.
»Guten Abend, Mr. Shealy«, sagte eine Männerstimme. Sie hatte einen leicht asiatischen Einschlag, obwohl der Mann offenbar hart an seiner Ausdrucksweise gearbeitet hatte. »Ich hoffe, Sie haben friedlich geschlafen.«
»Wer ist da?«
»Warum überlassen Sie die Fragen nicht mir?«, fragte die Stimme. Der Kerl war ruhig. Frustrierend ruhig.
»Warum sagen Sie mir nicht, warum Sie mich betäubt haben?«, gab Clark zurück. Er fühlte sich, als sei er am Filmset von Mission: Impossible gelandet – vielleicht würde sich das Telefon in einer Rauchwolke auflösen, wenn das Gespräch beendet war.
»Wenn ich es richtig sehe, sind Sie Kopfgeldjäger, Mr. Shealy. Einer der besten.«
Clark schnaubte höhnisch. »Heute offenbar nicht.«
»Ja, diesmal haben Sie sich ein wenig übernommen. Aber dennoch würden wir Sie gern einstellen.«
Das ist doch zu bizarr. Clark fragte sich, ob er immer noch träumte und das Betäubungsmittel nachwirkte. »Sie können sich mich nicht leisten«, sagte er, mehr aus einer Gewohnheit heraus als aus klarem Denken. Es war sein üblicher Eröffnungssatz bei Verhandlungen.
»Vielleicht«, sagte der geheimnisvolle Mann und machte eine unheilvolle Pause, »sind Sie derjenige, der es sich nicht leisten kann, Nein zu sagen.«
Langsam reichte es ihm. »Kommen Sie zum Punkt«, verlangte Clark. »Denn wenn ich je herausfinde, wer Sie sind …«
»Clark?«
Die neue Stimme erschütterte ihn. Verwirrung wich Angst, als er die Möglichkeiten verarbeitete.
»Jess? Bist du das?«
»Ja. Und ich bin okay, Clark«, sagte sie, obwohl sie verängstigt klang. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, Schatz.« Er sagte die Worte aus dem Bauch heraus, während seine Gedanken rasten, sein Gehirn versuchte, zu verstehen, was vor sich ging, und seine Haare sich aus Angst um sie sträubten.
Jessicas nächste Worte kamen als Schwall heraus: »Es sind Chinesen, Clark. Den Mann, der mit dir spricht, nennen sie Huang Xu …« Ein dumpfer Schlag – das Geräusch einer Faust auf Knochen – unterbrach sie. Dann ein härterer Knall – vielleicht das Telefon auf einem Hartholzboden? Clark hörte gedämpftes Schreien und laute Kommandos auf Chinesisch. Ihm war übel. Er fühlte sich so hilflos.
»Jessica!«, gellte er ins Telefon. »Halt durch, Baby! Geht es dir gut?«
»Ihre Frau ist ziemlich temperamentvoll«, sagte die Stimme, ausdruckslos wie vorher, aber schwerer atmend. Clark nahm an, dass es der Mann war, den Jessica eben genannt hatte. Huang Xu. Clark würde den Namen nie wieder vergessen. »Aber wir wissen, wie wir sie beruhigen können.«
Zorn pulsierte durch Clarks Körper, während er Flüche in den Hörer spuckte und Xu drohte. Plötzlich fühlte er sich eingeengt. Unter Druck gesetzt. Wütend. Als würde sein Kopf vor Raserei explodieren. Er öffnete die Tür und stieg aus dem Auto. Benommen riss er sich zusammen. »Ich werde nicht ruhen, bis Sie ein toter Mann sind!«
»Fertig?«, fragte Xu.
»Gott helfe mir, ich werde Sie töten!«
Xu ließ das Schweigen ein paar Sekunden in der Luft hängen, bevor er sprach. »Wenn Sie mit Ihren leeren Drohungen fertig sind, habe ich Ihnen einen Handel vorzuschlagen.« Wieder wartete er einen Moment, zum Beweis, dass er das Gespräch beherrschte. »Sie sind Kopfgeldjäger, Mr. Shealy, und Sie haben Verbindungen zu vielen anderen Kopfgeldjägern. Es gibt da einen Mann, der etwas hat, was sehr wichtig für mich ist. Sie bringen ihn mir und ich werde Ihnen ein hübsches Kopfgeld zahlen: Ihre Frau, unverletzt.«
»Wenn Sie sie noch einmal anfassen, sind Sie tot.« Clark schrie nicht mehr. Dies war keine Drohung, sondern ein Versprechen.
»Ja, ja, schon gut. Folgendermaßen sieht der Deal aus: Unter dem Autositz finden Sie einen Ordner mit maßgeblichen Hintergrundinformationen über einen chinesischen Mathematiker namens Wan Dagan. Wir glauben, dass er sich in der Gegend von Las Vegas versteckt, konnten ihn aber bisher nicht ausfindig machen. Wir dachten, Ihr ausgedehntes Netzwerk von Kautionsbürgen und Kopfgeldjägern könnte da helfen.
Die Zeit drängt, Mr. Shealy. Die Regeln sind einfach. Sie haben achtundvierzig Stunden, um Professor Dagan zu finden und uns über die Kurzwahl 1 des Telefons in Ihrer Hand anzurufen. Wenn Sie uns anrufen, bevor Sie Dagan gefunden haben, wird Ihre Frau die Konsequenzen tragen müssen. Bringen Sie uns Dagan lebendig, und Ihre Frau wird leben. Wenn er stirbt, stirbt sie. Wenn Sie ihn nicht finden, stirbt sie. Wenn Sie auf irgendeine Art die Behörden einschalten, stirbt sie. Sind die Regeln klar?«
»Sie sind krank«, schnappte Clark und rieb sich den Nacken. »Ich kann niemanden in achtundvierzig Stunden finden.«
»Dann lassen Sie sich Zeit, Mr. Shealy. Aber den Termin zu verpassen hat Konsequenzen. Nach achtundvierzig Stunden fangen wir mit Schönheitsoperationen an Mrs. Shealy an. Am ersten Tag arbeiten wir an ihrem hübschen Lächeln. Die Zähne scheinen mir ein wenig eng gedrängt, deshalb werden wir vorn vier Zähne entfernen. Ohne Betäubung natürlich, denn wir haben keinen ausgebildeten Anästhesisten.«
Clark bedachte das Telefon mit weiteren Flüchen. Leere Drohungen, das wusste er, aber konnte seine Wut nicht länger kontrollieren. Er wollte Huang Xu mit bloßen Händen erwürgen – langsam, schmerzvoll. Er schwor Rache, koste es, was es wolle.
»Am nächsten Tag, nach genau zweiundsiebzig Stunden, fangen wir mit den Einschnitten für ihre Gesichtsstraffung an – ein kleiner Schnitt hier, ein weiterer da. Wir denken, die Veränderungen werden Ihnen gefallen.«
Clark schlug mit der Faust auf das Dach des Taurus, dann schüttelte er den Schmerz aus seiner Hand und versuchte, nachzudenken. Alles drehte sich – Zorn und die Nachwirkungen des Beruhigungsmittels forderten ihren gemeinsamen Tribut. Jessica brauchte ihn ruhig. Er atmete tief ein. Er presste die Zähne aufeinander.
»Am nächsten Tag, nach sechsundneunzig Stunden, fangen wir mit der Brustverkleinerung an …«
»Halt!«, schrie Clark. »Das reicht! Was wollen Sie von mir?«
Es entstand eine neuerliche Pause, und einen kurzen Moment dachte Clark, Xu habe aufgelegt. »Ich dachte, das hätten wir schon besprochen«, sagte Xu. »Aber ich habe versäumt, einen weiteren Vertragsbrecher zu erwähnen. Wenn Sie Dr. Silvoso kontaktieren oder irgendwie in seine Nähe kommen, stirbt Ihre Frau. Nur, damit Sie es wissen: Silvoso hat Sie nicht freiwillig verraten. Wir haben dieselbe Art Druck auf ihn ausgeübt wie jetzt auf Sie.«
Clark grunzte seine Zustimmung, aber er nahm sich vor, zurückzugehen und sich an Silvoso zu rächen, sobald Jessica in Sicherheit war.
»Sind wir im Geschäft, Mr. Shealy?«
Clark schluckte trocken. Zögerte. Er stellte sich Jessica an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und umringt von anzüglich grinsenden Männern vor. Es würden bald tote Männer sein. So wahr mir Gott helfe.
Im Moment brauchte er aber Zeit. Er hatte diese Ereignisse nicht unter Kontrolle; ein unbekanntes Gefühl von Hilflosigkeit und Panik drohte ihn zu überwältigen.
»Ja, wir sind im Geschäft.«
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Clark öffnete den Ordner, den er unter dem Sitz gefunden hatte, und blätterte mit vor Wut zitternden Händen die Informationen über Professor Dagan durch. Er schaffte es nicht, seine Gedanken von Jessica zu lösen – was Xu und seine Kumpane vielleicht schon mit ihr angestellt hatten. Er dachte darüber nach, wie er die Telefonnummer zurückverfolgen konnte, die er eben gewählt hatte, wusste aber, dass sie ihn nur zu einem gestohlenen Handy führen würde oder zu einem, das unter falschem Namen registriert war.
Sein Kopf wurde langsam klarer. Warum hinterließen sie ein Handy statt einfach eine Nummer? Ihm wurde bewusst, dass das Telefon vermutlich mit einem Routen-Kontrollgerät ausgestattet war – einer Art elektronischer Hundeleine. Er dachte daran, es wegzuwerfen, aber er wollte nichts tun, was sie dazu bringen würde, es Jessica heimzuzahlen.
Er sah sich in dem Parkhaus nach verdächtigen Anzeichen um. Nichts. Es war jetzt 13.45 Uhr. Er stellte die Stoppuhr seiner Armbanduhr ein. Plötzlich war alles hektisch geworden. Die Zeit war der Feind. Jede verschwendete Sekunde konnte über Jessicas Überleben entscheiden. Er hatte weniger als achtundvierzig Stunden.
Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um sich auf die Dokumente vor sich zu konzentrieren. Er musste etwas tun. Die Straße entlangrasen, die Bösen finden, jemandem den Schädel einschlagen. Irgendetwas. Frustration und Anspannung verknoteten ihm alle Muskeln. Das Adrenalin verlangte Taten.
Stattdessen las er. Aufgrund der Flugtickets, Kreditkartenbelege und anderer Daten in der Akte rekonstruierte Clark rasch Dagans jüngste Aktivitäten. Der Mann war genau fünfundzwanzig Tage zuvor mit einem Forschungsvisum in die Vereinigten Staaten eingereist. Er landete auf dem Flughafen von Los Angeles, verbrachte einen Tag an der Westküste und flog dann nach Las Vegas, wobei er vier Tage lang eine Spur von Kreditkartenbelegen in und um die »Stadt der Sünde« hinterließ.
Er kaufte vierundzwanzig Computer, Topmodelle, mit den schnellsten Prozessoren und maximalem Speichervolumen. Er kaufte Kabel und Router und eine Alarmanlage. Er kaufte Handys und ein GPS-System mit Verfolgungseinrichtung. Nach diesen wilden Einkaufsaktionen schloss er das Kreditkartenkonto und tauchte unter – als sei er einfach von der Erdoberfläche verschwunden. Er konnte inzwischen überall sein. Clark fragte sich, ob der Professor überhaupt noch am Leben war.
Was, wenn nicht? Was würde Jessica zustoßen?
Clark wollte es nicht wissen.
Sein erster Anruf galt einem Kautionsbürgen in Vegas, einem persönlichen Freund, der Clark ein paar Gefallen schuldete. Der Mann versprach, seine Verbindungen vor Ort zu nutzen, um die Kranken- und Leichenschauhäuser von Vegas zu überprüfen, wenngleich er ihn warnte, dass die Krankenhausquellen die Datenschutzgesetze nicht umsonst übertraten. Er bot Clark an, ihn einen Bürocomputer benutzen zu lassen, damit er die üblichen Datenbänke im Internet überprüfen konnte.
Clark fuhr zum Büro seines Freundes. Auf der Fahrt dorthin rasten seine Gedanken, die gefürchteten Möglichkeiten lähmten beinahe seine Denkprozesse. Dies alles war zu real, um ein Albtraum zu sein. Zu konkret. Zu verheerend.
Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten saß Clark am Computer seines Freundes und rannte in eine Sackgasse nach der anderen. Er konnte kaum still sitzen. Jedes Mal, wenn der Computer das Sanduhr-Symbol zeigte, erinnerte er Clark an die vorbeifliegenden Sekunden. Er hatte niemals so einen enormen Druck gespürt, als hätten die Wände des geliehenen Büros begonnen, auf ihn zuzukommen wie eine Autopresse, die seinen Körper Zentimeter um Zentimeter verdichtete.
Er wurde verrückt. Aber wenn er das wusste, bedeutete das dann, dass er noch zurechnungsfähig war?
Um 16 Uhr rief Clark über das Internet seine Outlook-Datenbank auf und stellte eine Liste der zwanzig besten Kopfgeldjäger in den Regionen um L.A. und Vegas auf. Er fügte die Namen von ein paar berüchtigten Kopfgeldjägern in Vegas hinzu, die den Ruf hatten, Ärger zu machen, und e-mailte einschlägige Informationen aus Dagans Akte, inklusive eines eingescannten Fotos. Wenn man es genau nahm, bat er sie, das Gesetz zu umgehen. Kopfgeldjäger, oder »Kautionsbürgen«, wie es auf den Visitenkarten seiner anspruchsvolleren Freunde stand, erhielten ihre Befugnis durch einen Bürgschaftsvertrag. Jeder Straftäter, der auf Kaution freigelassen wurde, unterzeichnete solch einen Vertrag und überließ dem Bürgen damit die Erlaubnis, den Straftäter zu verhaften, wenn er oder sie einen Gerichtstermin verpasste. Der Bürge gab seine Befugnis dann an Kopfgeldjäger wie Clark weiter und übertrug ihnen damit die sekundäre Befugnis, den Flüchtigen zu verhaften und den Straftäter zurück vor den Richter zu bringen. Aber amtlich zugelassene Kopfgeldjäger hatten nicht mehr Autorität, Festnahmen an Mitgliedern der Allgemeinheit vorzunehmen, als eine Vollzeitmutter.
Doch wen kümmerte das? Diese Männer waren Kopfgeldjäger, nicht der Typ, der sich mit juristischen Einzelheiten aufhielt, vor allem, wenn sie das verführerische Knistern von Banknoten hörten. Clark formulierte seine E-Mails zurückhaltend; seine Freunde konnten zwischen den Zeilen lesen.
Sämtliche Kopfgeldjäger würden sofort Dagans Hintergrund checken und feststellen, dass es keine schwebenden Verfahren gab und deshalb auch keinen Bürgschaftsvertrag. Trotzdem würden Clarks Freunde Dagan gegen entsprechende Bezahlung herbeischaffen und eine Anklage wegen widerrechtlicher Verhaftung riskieren. Dafür würde jeder Kopfgeldjäger seine oder ihre elektronische Datenbank von dubiosen Gestalten sprengen und anbieten, die Belohnung mit jedem zu teilen, der Dagan fand. Von dieser Schicht von habgierigen Einzelpersonen wiederum konnte man dasselbe erwarten, bis die Hälfte der Pseudo-Gesetzeshüter der Westküste nach dem Mann suchte. Der Trick war natürlich, dass das Kopfgeld hoch genug war, um ihr Interesse zu wecken.
Clark ging eine geistige Liste verfügbaren Kapitals durch – seine Geschäftskonten und Kreditrahmen, seine privaten und Kapitalkonten, eine Hypothek, die er ausschöpfen konnte, sogar die ungefähr Zwanzigtausend, die er heimlich vor den Renovierungen in Sicherheit gebracht hatte, die Jessica ständig erwähnte. Die Summe kam auf beinahe dreihunderttausend Dollar. Er würde sich außerdem von Freunden etwas leihen müssen oder seinen Bankberater zu einem ungesicherten Kredit überreden. Es würde eine halbe Million erfordern, um die ungeteilte Aufmerksamkeit der besten Kopfgeldjäger zu bekommen. Sein E-Mail-Angebot war einfach: Im Anhang befinden sich Informationen über Professor Wan Dagan, einen Mann, den vorzuführen ich den Auftrag habe. Bringen Sie ihn mir innerhalb von sechsunddreißig Stunden nach Absenden dieser E-Mail LEBEND oder liefern Sie mir Informationen, die zu seiner Festnahme durch mich führen, und verdienen Sie 500 000 US$.
Um 16.05 Uhr war die Jagd eröffnet.
Innerhalb von weniger als einer halben Stunde erhielt Clark seinen ersten Anruf, eine unbekannte Nummer mit einer Vorwahl von Vegas, die sein Herz schneller schlagen ließ. Es stellte sich heraus, dass es Joe Peters war, von der Werkstatt, wo Clark an diesem Morgen den Cadillac Escalade gelassen hatte. War das erst heute Morgen? Es kam ihm vor wie ein ganz anderes Leben.
Das Auto sei fertig, informierte ihn Peters. Während Jessicas Uhr tickte, war der Escalade das Letzte, woran Clark dachte. Aber der nächste Schritt von Clarks Untersuchung erforderte eine Rückreise nach L.A., und Peters' Werkstatt lag nur zehn Minuten vom Weg ab. Clark würde vielleicht das Bargeld brauchen, das der Cadillac bringen konnte. Außerdem konnte Clark die zehn Minuten auf seiner dreieinhalbstündigen Fahrt aufholen, indem er die obere Leistungsgrenze des Cadillacs ausprobierte. Wenn er durchschnittlich fünfundachtzig Meilen die Stunde fuhr, konnte er es in drei Stunden schaffen.
Seine Stoppuhr zeigte an, dass zwei Stunden und sechsundzwanzig Minuten verstrichen waren. Der Schraubstock um seinen Magen zog sich weiter zu.
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Clark betrat sein Haus durch die Seitentür, wobei er den Türknauf mit seinem Hemdärmel anfasste, damit seine Fingerabdrücke nicht die der letzten Person verwischten, die die Tür berührt hatte. Es fühlte sich surreal an: sein eigenes Haus ein Tatort – einer, den er nicht einmal den Cops melden konnte. Er trat in den Vorraum und rief ihren Namen.
»Jess?«
Seine Stimme echote in der Stille. Er wartete und wagte nicht einmal zu atmen, als könne das Ganze doch noch nur ein böser Traum sein. Vielleicht würde Jessica einfach um die Ecke gesprungen kommen, ihm die Arme um den Hals schlingen und ihn ungeduldig und erwartungsvoll küssen, wie sie es immer tat, wenn er zu lang weggewesen war.
Im Herzen wusste er aber, dass das nicht geschehen würde. Er ging langsam von Zimmer zu Zimmer, begleitet von dem Geräusch des Bluts, das in seinen Ohren rauschte, Herzschlag um Herzschlag, während seine Verzweiflung Wurzeln schlug. Er wusste eigentlich gar nicht, wonach er suchte. Vielleicht würde er einen kleinen Hinweis darauf finden, wo sie jetzt sein mochte. Irgendetwas, das nicht ins Bild passte.
Es sah alles deprimierend normal aus. Die Post wahllos über die Küchentheke verstreut, als habe Jessica eine ihrer wertvollen Zeitschriften aus dem Stapel gezogen und die Rechnungen ungeöffnet gelassen, in der Hoffnung, dass sie sich von selbst bezahlten. Eine Decke, die als Knäuel an einer Seite des Sofas lag, das Kissen auf der anderen Armlehne – Anzeichen dafür, dass Jessica es sich am Vorabend vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. Ein Übungsball in einer Ecke des Raums, ein Beweis der Vernarrtheit seiner Frau in Bauchmuskeln.
Er inspizierte jedes Möbelstück, Papier und sonstige Gegenstände, und die Sandalen, die neben der Hintertür von den Füßen gekickt worden waren. Das Haus sah genauso aus wie an jedem Tag. Und jedes Detail erinnerte ihn an Jess.
Er ging ins Erdgeschoss-Büro und checkte den Computer. Die letzte E-Mail war um 9.05 Uhr an diesem Morgen verschickt worden. Sie hatte sich nicht abgemeldet. Der Computerordner über Johnny Chin war unverändert, soweit Clark das beurteilen konnte. Er prüfte die Vorder- und die Hintertür, um sicherzugehen, dass beide verschlossen waren. Jessicas Auto stand noch in der Garage. Es schien, als habe sie sich einfach spurlos in Luft aufgelöst.
Er stellte sich die Szene vor: Ein UPS-Laster bog in den Seitenweg ein und der Fahrer klopfte mit einem Päckchen an die Tür zum Vorraum. Jessica, die nie Berührungsängste hatte, grüßt ihn lächelnd. »Unterschreiben Sie hier«, sagt er, und während sie ihre flüssige Unterschrift kritzelt, drängt er sich hinein und überwältigt sie. Natürlich nicht kampflos. Seine Jess hätte sich definitiv gewehrt.
Aber er fand einfach keine Anzeichen dafür.
Clark stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, bestürzt über die Ruhe der Szenerie dort. Die untergehende Sonne beleuchtete den Raum durch das Fenster in der Westmauer, schwebende Staubpartikel hoben sich in ihrem abendlichen Menuett darin ab. Das Bett war gemacht, und Jessicas schäbiger Teddybär, von dem ihre Mutter sagte, er sei seit der ersten Klasse ihr Liebling gewesen, ruhte zufrieden an den Kissen. Ganz nach ihrer Gewohnheit hatte Jess ihren Pyjama sorgfältig gefaltet und neben den Bären gelegt. Clark hob ihn hoch, hielt ihn sich ans Gesicht und atmete Jessicas Duft ein. Während er den Pyjama mit beiden Händen umklammerte, versprach er sich selbst, dass ihr nichts geschehen würde. Das würde er nicht zulassen.
Das habe ich schon.
Er schob den Gedanken von sich und legte den Pyjama zurück aufs Bett. Er wollte einfach zusammenbrechen und weinen, oder vielleicht ausrasten und gegen die Wand boxen, aber dies war nicht der richtige Moment, um emotional zu werden. »Ich hole sie zurück«, sagte er zu ihrem Teddy, als könnten seine Worte es wahr machen. »Ihr wird nichts passieren.«
Er trat hinaus in den eingezäunten Garten und verlor fast die Fassung. Auch hier war alles in Ordnung, aber er hatte seinen emotionalen Schutzschild etwas sinken lassen, als er hinausgegangen war. Und jetzt, während er auf das Trampolin starrte, begannen die Tränen über seine Wangen zu rollen.
Er erinnerte sich an sie, wie sie vielleicht nie wieder sein würde. Selbstsicher, überschwänglich, unbeeindruckt von ihrem dysfunktionalen Leben.
Jess, die auf dem Trampolin springt, genauso in Form wie in ihren aktiven Kunstspringertagen, und Drehungen und Salti springt, den Körper stocksteif, während sie durch die Luft fliegt. »Na komm schon, du großes Baby«, stichelt sie. Clark, in seiner Männlichkeit herausgefordert, erklimmt das Trampolin und versucht, den Mut für einen einzigen Rückwärtssalto aufzubringen.
»Ich habe dich«, sagt sie. »Vertrau mir.« Eine starke Hand an seinem rechten Oberschenkel; ihre andere Hand ruht an seinem unteren Rücken. Sie steht neben ihm und wippt behutsam. »Denk daran: Du brauchst eine gute Höhe, dann ziehst du die Knie hoch und stößt dich nach hinten ab. Ich werfe deine Beine herum, wenn ich muss.«
Eine Minute lang hüpft Clark schlotternd, während Jessica ihn höher treibt. Als Nächstes zählt sie: »Eins … zwei … drei.« Er springt, zieht die Beine an, verliert Gleichgewicht und Perspektive, während Jessica seine Beine herumschleudert. Das Nächste, was er weiß … er landet mit den Füßen voran auf dem Trampolin. Aus dem Gleichgewicht gebracht fällt er vorwärts, aber Jess schnappt ihn am Hemd und fängt ihn lachend ab. Sie umarmen sich … küssen sich.
Sie unterbricht es. »Nächstes Mal musst du mehr Höhe bekommen. Und spring gerader nach oben, nicht so sehr rückwärts.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, sagt er im Heruntersteigen.
Nach ein paar Minuten verblasste die Erinnerung, Jessicas blondes Haar verschwamm mit dem Abenddunst einer Nacht in Los Angeles. Sie war ein zweiunddreißigjähriges Kind, das Trampolin ihre Entspannung. Er fragte sich, ob sie je wieder so unbekümmert sein würde.
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