Der Creativity-Code - Marcus Sautoy - E-Book

Der Creativity-Code E-Book

Marcus Sautoy

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Beschreibung

Werden Computer schon bald Musik komponieren, Bücher schreiben, Bilder malen und mathematische Sätze beweisen? Und wenn ja, werden wir den Unterschied zu von Menschen gemachten Werken überhaupt bemerken? Der preisgekrönte Autor von "Die Musik der Primzahlen" erforscht die Zukunft der Kreativität und untersucht, wie maschinelles Lernen unser Verständnis davon, was Menschen können, sprengen, bereichern und verändern wird.

"Der Creativity-Code" ist eine glänzend geschriebene Studie über Kreativität und zugleich ein wunderbarer Leitfaden durch den Dschungel von Algorithmen und den Regeln, die ihnen zugrunde liegen. Der Oxforder Mathematiker und begnadete Erzähler Marcus du Sautoy untersucht, wie Gefühl und Gehirn in unseren Reaktionsweisen auf Kunst zusammenspielen und was es genau bedeutet, in Mathematik, Kunst, Sprache und Musik kreativ zu sein. Er erklärt, wovon es abhängt, ob Maschinen wirklich etwas Neues hervorbringen, und ob ihre Funktion nicht darin bestehen könnte, uns Menschen kreativer zu machen. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Buch über künstliche Intelligenz und zugleich darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

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Marcus du Sautoy

DER CREATIVITY CODE

Wie künstliche Intelligenz schreibt, malt und denkt

Aus dem Englischen von Sigrid Schmid

C.H.Beck

Zum Buch

Werden Computer schon bald Musik komponieren, Bücher schreiben, Bilder malen und mathematische Sätze beweisen? Und wenn ja, werden wir den Unterschied zu von Menschen gemachten Werken überhaupt bemerken? Der Oxforder Mathematiker und begnadete Erzähler Marcus du Sautoy untersucht, wie Gefühl und Gehirn in unseren Reaktionsweisen auf Kunst zusammenspielen und was genau es bedeutet, in Mathematik, Kunst, Sprache und Musik kreativ zu sein. Er erklärt, wovon es abhängt, ob Maschinen wirklich etwas Neues hervorbringen, und ob ihre Funktion nicht darin bestehen könnte, uns Menschen kreativer zu machen. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Buch über künstliche Intelligenz und zugleich darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

«Du Sautoy trägt die Fackel voran. Er bringt Licht in die Mathematik des Chaos, der Grundlage von Kunst und unserer emotionalen Reaktionen darauf.» – Hans Ulrich Obrist

Über den Autor

Marcus du Sautoy ist Charles Simonyi-Professor für Verständliche Wissenschaft und Professor für Mathematik an der Universität Oxford. Für seine Forschung und seine populärwissenschaftlichen Bücher erhielt der Autor mehrerer Bestseller u.a. den Berwick-Preis, die Zeeman-Medaille und den Michael-Faraday-Preis der Royal Society. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Eine mathematische Mystery Tour durch unser Leben (22013).

Inhalt

1: Der Lovelace-Test

2: Wie erzeugt man Kreativität?

Kann man Kreativität lehren?

3: Achtung, fertig, los!

Game Boy der Extraklasse

Erste Erfolge

«Wunderschön. Wunder-wunderschön.»

Der Mensch schlägt zurück

Zu neuen Gipfeln

4: Algorithmen, die geheime Macht im modernen Leben

Der Algorithmus, den ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde

Mathematik als geheimer Schlüssel zu einer glücklichen Ehe

Das Duell der Buchhändler

5: Von Top-Down zu Bottom-Up

Sehen oder nicht sehen

Algorithmische Halluzinationen

6: Evolution der Algorithmen

«Wenn Ihnen das gefällt …»

Trainingsanleitung für einen Algorithmus

Verzerrungen und blinde Flecken

Maschine gegen Maschine

7: Malen nach Zahlen

Was ist Kunst?

Kreative Kreaturen

Computer in der bildenden Kunst

Fraktale – der Code der Natur

Von AARON zum malenden Narren

8: Von den Meistern lernen

Die Wiederbelebung Rembrandts

Kreativität im Wettbewerb

Einblicke in die Gedankenwelt eines Algorithmus

Der Algorithmus ist die Kunst

9: Die Kunst der Mathematik

Das mathematische Beweisspiel

Die Ursprünge der Mathematik

Der Ursprung der Beweise

10: Das mathematische Teleskop

Coq, der Beweisprüfer

Die Grenzen der menschlichen Hardware

Wojewodskis Visionen

11: Der Klang der Mathematik

Bach – der erste Musikprogrammierer

Emmy – der KI-Komponist

«Das Spiel» – ein musikalischer Turing-Test

DeepBach – die Neuschöpfung des Komponisten via Bottom-Up

12: Die Songwriter-Formel

Puschkin, Dichtkunst und Wahrscheinlichkeiten

«The Continuator» – der erste KI-Jazzimprovisateur

Die Flow-Maschine

Quantenkomposition

Warum machen wir Musik?

13: DeepMathematics

Die Mathematik von Mizar

Ein mathematischer Turing-Test

Die mathematische Bibliothek von Babel

Mathematische Fabeln

Unglaubliche Geschichten

Die mathematische Erzählkunst

14: Sprachspiele

«Willkommen zu Jeopardy!»

Wie Watson arbeitet

Lost in Translation

Robotersprache

Gefangen im chinesischen Zimmer

15: KI als Geschichtenerzähler

Wie man in einem Monat einen Roman schreibt

Harry Potter und der Botnik des Todes

Was wäre, wenn …?

Der Große Automatische Mathematisator

Nachrichten von der KI

16: Warum wir erschaffen: Eine Begegnung der Gedanken

Dank

Abbildungsverzeichnis

Weiterführende Literatur

Bücher

Artikel

Online-Kurse

Extras

Personenregister

Für Shani,für all ihre Liebe und Unterstützung,ihre Kreativität und Intelligenz

1

Der Lovelace-Test

Kunstwerke stellen Regeln auf;Regeln erschaffen keine Kunstwerke.

Claude Debussy

Die Maschine war eine Schönheit: Sie bestand aus mehreren Türmen voller Zahnräder, die mit Ziffern an den Zähnen versehen waren und sich über eine Handkurbel bewegen ließen. Die siebzehnjährige Ada Byron drehte fasziniert an der Kurbel von Charles Babbages Apparatur und sah zu, wie sie Zahlen verarbeitete, Quadrat- und Kubikzahlen berechnete und sogar Quadratwurzeln zog. Maschinen hatten auf sie schon immer eine Faszination ausgeübt, die von den Tutoren, die ihre Mutter bereitwillig herbeibrachte, weiter angefacht wurde.

Jahre später studierte Ada, inzwischen mit dem Earl of Lovelace verheiratet, die Pläne für Babbages «Analytische Maschine», und dabei ahnte sie, dass die Maschine mehr war als ein Rechenschieber. Sie zeichnete ihre Vision der Fähigkeiten, über die diese Maschine womöglich verfügte, auf: «Die Analytische Maschine hat mit den reinen ‹Rechenmaschinen› nicht viel gemein. Sie ist eine Sache für sich, und die Überlegungen, zu denen sie einlädt, sind von äußerst interessanterer Natur.»

Ada Lovelace’ Aufzeichnungen gelten mittlerweile als die Anfänge der Entwicklung von Code, als Keimzelle der Revolution künstlicher Intelligenz, die heutzutage die Welt erfasst, befördert durch die Arbeiten von Pionieren wie Alan Turing, Marvin Minsky und Donald Michie. Doch die Leistungsfähigkeit von Maschinen generell schätzte Lovelace zurückhaltend ein: «Es ist wünschenswert, sich gegen die Möglichkeit überzogener Vorstellungen bezüglich der Fähigkeiten der Analytischen Maschine zu wappnen. Die Analytische Maschine gibt nicht vor, irgendetwas erschaffen zu können. Sie tut, was wir ihr befehlen.» Letztendlich, so glaubte sie, stieß die Maschine an Grenzen: Man bekam nie mehr aus ihr heraus, als man in sie hineingab.

Dieser Grundsatz galt in der Informatik viele Jahre lang als Mantra. Er bewahrt uns vor der Angst, wir könnten etwas in Gang setzen, das wir nicht kontrollieren können. Manche glaubten, man müsse zunächst die menschliche Intelligenz verstehen, bevor man eine Maschine auf künstliche Intelligenz programmieren könne.

Was in unseren Köpfen vor sich geht, ist immer noch ein Mysterium, aber seit ein paar Jahren hat sich die Einstellung gegenüber Code zunehmend geändert: weg von einer Top-Down-Einstellung bei der Programmierung und hin zu einem Bottom-Up-Ansatz, durch den der Computer dazu gebracht werden soll, sich seinen eigenen Weg zu suchen. Wie sich herausstellte, muss man das Problem der Intelligenz nicht vorher lösen. Man kann die Algorithmen einfach die digitale Landschaft durchstreifen und wie ein Kind lernen lassen. Inzwischen führt der Code, der durch maschinelles Lernen erzeugt wird, zu überraschend aufschlussreichen Erkenntnissen, er entdeckt bisher nicht erkannte Muster in medizinischen Aufnahmen und handelt geschickt an der Börse. Die gegenwärtige Generation der Programmierer glaubt, Ada Lovelace endlich widerlegt zu haben: Man kann mehr herausbekommen, als man einprogrammiert.

Dennoch gibt es immer noch einen Bereich menschlicher Aktivität, von dem wir glauben, dass er für Maschinen unzugänglich ist, und das ist die Kreativität. Wir verfügen über diese außergewöhnliche Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, Neues zu erfinden und Kunstwerke zu erschaffen, die die Bedeutung des Menschseins erheben, erweitern und verwandeln. Das sind die Emanationen einer Quelle, die ich als menschlichen Code bezeichne.

Wir glauben, dass man für diesen Code Mensch sein muss, weil er genau ein Spiegelbild dessen ist, was es bedeutet, Mensch zu sein. Mozarts Requiem lässt uns über unsere eigene Sterblichkeit nachdenken. Der Besuch einer Aufführung von Othello gibt uns die Gelegenheit, die Gefühlslandschaft zwischen Liebe und Eifersucht zu erkunden. Ein Porträt von Rembrandt scheint so viel mehr auszudrücken als das reine Antlitz des Modells. Wie kann eine Maschine jemals Mozart, Shakespeare oder Rembrandt ersetzen oder auch nur mit ihnen konkurrieren?

Gleich zu Beginn sei darauf hingewiesen, dass unter meinen Referenzen die künstlerischen Erzeugnisse der westlichen Welt überwiegen. Das ist die Kunst, die ich kenne, die Musik, mit der ich aufgewachsen bin, die Literatur, die meine Leseerfahrung prägt. Es wäre faszinierend zu wissen, ob sich die Kunst aus anderen Kulturkreisen besser für eine maschinelle Erfassung eignet, aber ich vermute, dass es sich hierbei um eine universelle Herausforderung handelt, die kulturelle Grenzen überschreitet. Und obwohl ich mich für meine westlich geprägte Sicht entschuldige, denke ich doch, dass die westliche Kunst einen geeigneten Maßstab für die Kreativität unserer digitalen Rivalen abgibt.

Natürlich gibt es auch jenseits der Kunst menschliche Kreativität: die Molekularküche des Sternekochs Heston Blumenthal; die Fußballkunststücke des niederländischen Stürmers Johan Cruyff; die kurvenreichen Bauten von Zaha Hadid; die Erfindung des Zauberwürfels durch den Ungarn Ernő Rubik. Sogar die Entwicklung von Code für ein Spiel wie Minecraft sollte zu den Großtaten der menschlichen Kreativität gezählt werden.

Vielleicht noch überraschender, Kreativität ist auch in meinem eigenen Fachbereich, der Mathematik, ein wichtiger Bestandteil. Der Reiz, etwas Neues zu schaffen, lässt mich Stunden an meinem Schreibtisch verbringen, um Gleichungen hervorzuzaubern und Beweise aufzustellen. Auf meinem kreativen Höhepunkt, an den ich immer wieder zurückdenke, entdeckte ich ein neues symmetrisches Objekt. Niemand wusste, dass dieses Objekt überhaupt möglich war. Aber nach Jahren harter Arbeit und einem Inspirationsblitz skizzierte ich auf meinen gelben Notizblock die Blaupause für diese neue Figur. Diese Aufregung macht den Reiz der Kreativität aus.

Aber was meinen wir eigentlich mit diesem gestaltwandelnden Begriff? Die bisherigen Definitionsversuche konzentrieren sich in der Regel auf drei Punkte: Kreativität ist der Antrieb, etwas Neues und Überraschendes zu entwickeln, das Wert hat.

Offenbar ist es ganz einfach, etwas Neues zu erschaffen. Ich kann meinen Computer dazu bringen, endlose Vorschläge für neue symmetrische Objekte zu liefern. Etwas Überraschendes und Wertvolles hervorzubringen, ist jedoch weitaus schwieriger zu erreichen. Im Falle meiner symmetrischen Schöpfung war ich zu Recht erstaunt über das, was ich mir ausgedacht hatte, wie andere Mathematiker auch. Niemand hatte diese seltsame neue Verbindung erwartet, die ich zwischen dem symmetrischen Objekt und dem gänzlich verschiedenen Bereich der Zahlentheorie entdeckte. Seinen Wert erhielt dieses Objekt durch den Umstand, dass es auf einen neuen Zugang zu einem mathematischen Feld hindeutete, das voller ungelöster Probleme steckt.

Wir alle werden in Denkmuster hineingezogen. Wir glauben zu erkennen, wie sich die Geschichte entwickeln wird, und dann werden wir plötzlich in eine neue Richtung geführt. Dieses Überraschungsmoment lässt uns aufmerken. Wahrscheinlich empfinden wir es deswegen als so aufregend, wenn wir auf einen kreativen Akt treffen, entweder unseren eigenen oder den eines anderen.

Aber was verleiht einer Sache Wert? Ist es nur eine Frage des Preises? Muss es von anderen anerkannt werden? Ich mag ein Gedicht oder ein Gemälde wertschätzen, das ich geschaffen habe, aber meine Vorstellung von seinem Wert werden wahrscheinlich nur wenige Menschen teilen. Ein Roman, dessen Handlung viele überraschende Wendungen nimmt, ist womöglich von relativ geringem Wert. Aber ein neuer und überraschender Ansatz, Geschichten zu erzählen, oder in der Architektur oder Musik, der von anderen nach und nach übernommen wird und der verändert, wie wir Dinge sehen oder erleben, wird allgemein als wertvoll anerkannt werden. Genau das bezeichnete Kant als «exemplarische Originalität» – eine originäre Handlung, die zur Inspiration für andere wird. Diese Form der Kreativität gilt seit Langem als einzigartig menschlich.

Und doch sind alle diese Ausdrucksformen der Kreativität letztendlich die Produkte neurochemischer Aktivität. Das ist der menschliche Code, den viele Millionen Jahre Evolution in unserem Gehirn immer weiter verfeinert haben. Wenn man anfängt, die Struktur der kreativen Schöpfungen der menschlichen Spezies aufzudröseln, dann entdeckt man Regeln, die den kreativen Prozessen immanent sind. Könnte unsere Kreativität algorithmischer und regelbasierter sein, als wir möglicherweise wahrhaben wollen?

Dieses Buch stellt sich der Herausforderung, die Grenzen der neuen KI auszuloten, um zu sehen, ob sie sich mit den Wunderwerken unseres menschlichen Codes messen oder sie sogar übertreffen kann. Kann eine Maschine malen, Musik komponieren oder einen Roman schreiben? Vielleicht kann sie nicht mit Mozart, Shakespeare oder Picasso konkurrieren – aber kann sie womöglich so kreativ sein wie menschliche Kinder, wenn sie eine Geschichte schreiben oder ein Bild malen? Kann eine Maschine lernen, kreativ zu sein, indem sie mit Kunst, die uns bewegt, interagiert und zu verstehen lernt, was jene von alltäglicher und uninteressanter Kunst unterscheidet? Mehr noch, kann sie unsere eigene Kreativität erweitern und uns helfen, Möglichkeiten zu erkennen, die wir übersehen?

Kreativität ist ein schwer zu fassendes Wort, das je nach Kontext viele verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Ich werde mich auf die Kreativität in der Kunst konzentrieren, aber damit will ich nicht sagen, dass dies die einzig mögliche Form der Kreativität ist. Meine Töchter sind kreativ, wenn sie mit Lego Schlösser bauen. Mein Sohn wird als kreativer Mittelfeldspieler gepriesen, wenn er seine Fußballmannschaft zum Sieg führt. Wir können Alltagsprobleme kreativ lösen und Organisationen kreativ führen. Und wie ich zeigen werde, ist die Mathematik ein wesentlich kreativeres Fach, als viele glauben, mit einer Kreativität, die viel mit den bildenden Künsten gemeinsam hat.

Der kreative Impuls ist ein entscheidender Teil dessen, was den Menschen von anderen Tieren unterscheidet, und doch lassen wir ihn oft brachliegen und werden stattdessen Sklaven unseres formelhaften Lebens, der Routine. Um kreativ zu sein, brauchen wir einen Impuls, um von den ebenen Pfaden, die wir jeden Tag austreten, abzuweichen. Hier könnte eine Maschine helfen: Vielleicht könnte sie uns diesen Impuls geben, einen neuen Vorschlag machen, uns davon abhalten, einfach jeden Tag denselben Algorithmus zu wiederholen. Die Maschinen könnten uns Menschen letztendlich helfen, uns weniger wie Maschinen zu verhalten.

Sie fragen sich vielleicht, warum ausgerechnet ein Mathematiker Sie auf diese Reise mitnehmen möchte. Ganz einfach, weil KI, maschinelles Lernen, Algorithmen und Code alle auf Mathematik basieren. Wer verstehen will, wie und warum die Algorithmen, die das moderne Leben bestimmen, tun, was sie tun, muss die mathematischen Regeln verstehen, die ihnen zugrunde liegen. Andernfalls wird man zum Spielball der Maschinen.

Die Herausforderung durch die KI trifft uns ins Mark, weil sie zeigt, wie viele Aufgaben, an denen Menschen arbeiten, Maschinen ebenso gut oder sogar besser ausführen können. Aber anstatt mich auf eine Zukunft mit fahrerlosen Autos und computergestützter Medizin zu konzentrieren, möchte ich in diesem Buch untersuchen, ob diese Algorithmen bedeutungsvoll mit der Leistungsfähigkeit des menschlichen Codes konkurrieren können. Können Computer kreativ sein? Was bedeutet es überhaupt, kreativ zu sein? Welcher Teil unserer emotionalen Reaktion auf Kunst ist ein Produkt unseres Gehirns, das auf Muster und Strukturen reagiert? Das sind einige der Fragen, um die es gehen wird.

Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein intellektuelle Herausforderung. So wie die künstlerische Leistung des Menschen uns Einblicke in den komplexen menschlichen Code ermöglicht, der unser Gehirn steuert, wird uns die von Computern generierte Kunst überraschend aussagekräftige Einsichten bieten, wie der Code funktioniert. Bei einer solchen Bottom-Up-Entwicklung von Code ergibt sich das Problem, dass die Programmierer oft nicht wirklich verstehen, wie der endgültige Code funktioniert. Warum trifft die KI diese Entscheidung? Die Kunst, die sie schafft, kann als starke Linse wirken, durch die man Zugang zu den unbewussten Entscheidungen des neuen Codes erhält. Und sie kann auch Einschränkungen und Gefahren aufdecken, die mit der Erstellung von Code verbunden sind, den wir nicht vollständig verstehen.

Es gibt einen anderen, persönlicheren Grund, warum ich mich auf diese Reise begeben will. Ich befinde mich in einer existenziellen Krise. Ich habe mich gefragt, ob mit dem Ansturm neuer Entwicklungen in der KI nicht auch das Berufsbild des Mathematikers in den kommenden Jahrzehnten verschwinden wird. In der Mathematik geht es um Zahlen und Logik. Beherrscht ein Computer nicht gerade das am besten?

Meine Verteidigung gegen die Computer, die an die Fakultätstür klopfen und einen Platz am Tisch haben wollen, basiert unter anderem auf dem Umstand, dass es in der Mathematik nicht nur um Zahlen und Logik geht. Sie ist ein höchst kreativer Fachbereich, der Schönheit und Ästhetik umfasst. Ich lege in diesem Buch dar, dass die Mathematik, die wir in unseren Seminaren und Zeitschriften teilen, nicht nur das Ergebnis von mechanischen Vorgängen ist. Intuition und künstlerische Sensibilität sind wichtige Eigenschaften eines guten Mathematikers. Sicherlich sind das Eigenschaften, die man einer Maschine niemals wird einprogrammieren können. Oder etwa doch?

Aus diesem Grund achte ich als Mathematiker darauf, in welchem Umfang die neue KI Zugang zu den Galerien, Konzertsälen und Verlagen der Welt gewinnt. Der große deutsche Mathematiker Karl Weierstraß schrieb einmal: «Ein Mathematiker, der nicht irgendwie ein Dichter ist, wird nie ein vollkommener Mathematiker sein.» Wie Ada Lovelace hervorragend demonstrierte, braucht es ebenso viel Byron wie Babbage. Zwar hielt sie Maschinen für begrenzt, aber sie erkannte erstmals deren künstlerisches Potenzial:

Sie könnte auf andere Dinge als Zahlen angewandt werden … Ließen sich beispielsweise die grundlegenden Beziehungen von Tönen gemäß der Harmonie- und Kompositionslehre auf diese Weise beschreiben und anpassen, dann könnte die Maschine komplizierte, wissenschaftliche Musikstücke beliebiger Komplexität und Länge komponieren.

Dennoch schrieb sie jeden kreativen Akt dem Programmierer zu, nicht der Maschine. Ist es möglich, die Verantwortung mehr in Richtung Code zu verschieben? Die gegenwärtige Generation von Programmierern glaubt das.

In der Frühzeit der KI entwickelte Alan Turing seinen berühmten Test, um die Intelligenz eines Computers zu messen. Ich möchte nun einen neuen Test vorschlagen: den Lovelace-Test. Um den zu bestehen, muss ein Algorithmus ein kreatives Kunstwerk erschaffen, und der Vorgang muss wiederholbar sein (darf also nicht das Ergebnis eines Hardware-Fehlers sein), ohne dass der Programmierer erklären kann, wie der Algorithmus zu seinem Ergebnis gelangt ist. Wir fordern die Maschinen heraus: Sie sollen etwas Neues und Überraschendes erfinden, das Wert hat. Damit eine Maschine als wahrhaft kreativ gelten kann, ist jedoch noch ein zusätzlicher Schritt notwendig: Ihr Beitrag sollte mehr sein als Ausdruck der Kreativität des Programmierers oder der Person, die die Daten zusammengestellt hat. Diese Aufgabe hielt Ada Lovelace für unerfüllbar.

2

Wie erzeugt man Kreativität?

Der größte Feind der Kreativitätist der gesunde Menschenverstand.

Pablo Picasso

Kreativität wird heutzutage viel Wert beigemessen, was dazu führte, dass eine Reihe von Schriftstellern und Denkern versucht hat, in Worte zu fassen, was Kreativität eigentlich ist, wie man sie anregt und warum sie wichtig ist. Bei einer Komiteesitzung der Royal Society, bei der es darum ging, die Auswirkungen des maschinellen Lernens auf die Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten einzuschätzen, begegnete ich zum ersten Mal den Theorien der Kognitionswissenschaftlerin Margaret Boden. Besonders relevant finde ich diese, wenn es darum geht, die kreative Leistung von Maschinen zu beurteilen.

Boden ist eine originelle Denkerin, die im Laufe der Jahrzehnte viele verschiedene Disziplinen miteinander verschmolzen hat: Philosophie, Psychologie, Medizin, KI-Forschung und Kognitionswissenschaft. Inzwischen ist sie über 80 Jahre alt, mit fliegendem weißem Haar und einem stets aktiven Gehirn, und beschäftigt sich eifrig mit den Zukunftsaussichten der «Blechdosen», wie sie Computer gerne nennt. In diesem Zusammenhang hat sie drei verschiedene Formen menschlicher Kreativität identifiziert.

Explorative Kreativität bedeutet, die äußeren Grenzen des bereits Vorhandenen zu erforschen, sie möglichst zu erweitern, sich aber immer noch an die Regeln zu halten. Bachs Musik ist der Höhepunkt einer Forschungsexpedition in die Tonalität, zu der barocke Komponisten aufbrachen, indem sie verschiedene Stimmen miteinander verwoben. Seine Präludien und Fugen erweitern die Grenzen des bis dato Machbaren, bevor das Genre schließlich aufgebrochen wurde und in die Klassik von Mozart und Beethoven überging. Renoir und Pissarro ersannen eine neue Möglichkeit, sich die Natur und die Welt um uns herum vorzustellen, aber erst Claude Monet sprengte die Grenzen wirklich mit seinen Seerosen, die er immer wieder malte, bis sich seine Farbtupfer in einer neuen Form der Abstraktion auflösten.

In der Mathematik nimmt diese Art der Kreativität einen besonderen Stellenwert ein. Die Klassifizierung von endlichen einfachen Gruppen ist eine Meisterleistung explorativer Kreativität. Ausgehend von der einfachen Definition einer Symmetriegruppe – einer durch vier einfache Axiome definierten Struktur – haben Mathematiker 150 Jahre lang eine Liste aller denkbaren Symmetrieelemente erstellt und so letztendlich die Monster-Symmetriegruppe entdeckt, die mehr Symmetrien umfasst, als es Atome auf der Erde gibt, und die dennoch in keine andere Gruppe passt. Bei dieser Form der mathematischen Kreativität werden Grenzen überschritten, aber die Spielregeln eingehalten. Der Mathematiker ist dann wie ein Entdecker, der ins Unbekannte vorstößt, aber nicht über die Grenzen unseres Planeten hinausgehen kann.

Boden glaubt, dass die Exploration 97 Prozent der menschlichen Kreativität ausmacht. Diese Form der Kreativität beherrschen Computer besonders gut: Für die Aufgabe, die Grenzen eines Musters oder eines Regelwerks auszuloten, eignen sich Computer, die viel mehr Berechnungen durchführen können als das menschliche Gehirn, perfekt. Aber reicht das? Unter wirklich originellen kreativen Handlungen stellen wir uns in aller Regel etwas völlig Unerwartetes vor.

Die zweite Art von Kreativität ist die Kombination. Ein Künstler kombiniert zwei völlig unterschiedliche Gebilde. Oftmals können die Regeln für die eine Welt einen interessanten neuen Rahmen für die andere bilden. Kombination ist im Bereich der mathematischen Kreativität ein äußerst machtvolles Werkzeug. Die endgültige Lösung der Poincaré-Vermutung, die die möglichen Formen unseres Universums beschreibt, wurde durch die Anwendung sehr unterschiedlicher Werkzeuge zum Verständnis der Strömung über Oberflächen gefunden. Das kreative Genie Grigori Perelman erkannte überraschend, dass man über die Art und Weise, wie eine Flüssigkeit über eine Oberfläche fließt, mögliche Oberflächen klassifizieren kann.

Bei meiner eigenen Forschung habe ich Methoden aus der Zahlentheorie angewendet, um Primzahlen zu verstehen und mögliche Symmetrien zu klassifizieren. Die Symmetrien geometrischer Objekte scheinen auf den ersten Blick nichts mit Zahlen gemein zu haben. Aber als wir bei der Sprache, die uns geholfen hat, die Geheimnisse der Primzahlen zu erforschen, die Primzahlen durch symmetrische Objekte ersetzten, ergaben sich überraschende neue Erkenntnisse in der Theorie der Symmetrie.

Auch die Kunst hat von dieser Form der wechselseitigen Befruchtung stark profitiert. Philip Glass entwickelte aus Anregungen, die er durch die Arbeit mit Ravi Shankar erhalten hatte, den additiven Prozess, der das Herzstück seiner minimalistischen Musik bildet. Zaha Hadid verband ihre Kenntnis der Architektur mit ihrer Liebe zu den reinen Formen des russischen Malers Kasimir Malewitsch zu einem einzigartigen Stil kurvenreicher Gebäude. Auch in der Küche haben kreative Meisterköche Küchen aus verschiedenen Teilen der Welt miteinander fusioniert.

Es gibt interessante Hinweise darauf, dass diese Art der Kreativität sich auch für KI hervorragend eignen könnte. Man nehme einen Algorithmus, der Blues spielt, kombiniere ihn mit der Musik von Boulez, und man erhält eine seltsame hybride Komposition, die womöglich eine völlig neue Klangwelt erschafft. Natürlich könnte dies auch in eine armselige Kakophonie münden. Der Programmierer muss zwei Genres finden, die algorithmisch auf interessante Weise miteinander verschmolzen werden können.

Bodens dritte Form der Kreativität ist die geheimnisvollste und am schwersten fassbare von den dreien: die transformative Kreativität. Damit sind jene seltenen Momente gemeint, die alles verändern und die es in jeder Kunstform gibt. Man denke nur an Picasso und den Kubismus, Schönberg und die Atonalität, Joyce und die Moderne. Sie sind wie Phasenübergänge, wenn Wasser plötzlich vom flüssigen in den gasförmigen Zustand übergeht. Mit diesem Bild beschrieb Goethe die zwei Jahre, in denen er mit der Arbeit an Die Leiden des jungen Werther rang, bis ein zufälliges Ereignis als unerwarteter Katalysator wirkte: «In diesem Augenblick war der Plan zu Werther gefunden; das Ganze schoss von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird.»

Nicht selten kommt es zu diesen transformatorischen Momenten, wenn man die Spielregeln ändert oder eine Annahme aufgibt, mit der frühere Generationen gearbeitet haben. Das Quadrat einer Zahl ist immer positiv. Alle Moleküle bestehen aus langen Linien und nicht aus Ketten. Musik muss im Rahmen einer harmonischen Tonskala geschrieben werden. Gesichter haben Augen auf beiden Seiten der Nase. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, einen derart entscheidenden Bruch zu programmieren, und doch gibt es eine Metaregel für diese Art der Kreativität: Man hebt Einschränkungen auf und wartet ab, was dabei herauskommt. Die Kunst, der kreative Akt, besteht darin, dass man entscheidet, welche alten Einschränkungen man aufgibt oder welche neuen Einschränkungen man einführt, damit man am Ende etwas Neues, Wertvolles erhält.

Wenn ich einen bestimmten transformativen Moment in der Mathematik benennen müsste, dann wäre die Einführung der Quadratwurzel von –1 Mitte des 16. Jahrhunderts ein aussichtsreicher Kandidat. Von dieser Zahl glaubten viele Mathematiker, dass sie nicht existierte. Sie wurde als imaginäre Zahl bezeichnet (ein abwertender Begriff, den Descartes erfand, um darauf hinzuweisen, dass es natürlich nichts dergleichen gebe). Und doch widersprach ihre Einführung keineswegs der bis dahin bekannten Mathematik. Tatsächlich stellte sich heraus, dass es ein Fehler gewesen war, diese Zahl auszuschließen. Wie könnte ein Computer die Vorstellung der Quadratwurzel von –1 erfinden, wenn die Daten, mit denen er gefüttert wird, ihm sagen, dass es keine Zahl gibt, deren Quadrat negativ sein kann? Ein wirklich kreativer Akt erfordert manchmal, dass wir aus dem System aussteigen und eine neue Realität erschaffen. Kann ein komplexer Algorithmus das?

Die Geschichte der romantischen Bewegung in der Musik ist in vielerlei Hinsicht eine Liste von Regelbrüchen. Anstatt sich wie die klassischen Komponisten nur in engen Tonskalen zu bewegen, wechselte ein «Parvenu» wie Schubert die Tonarten und durchbrach so die Erwartungen. Schumann ließ Akkorde unaufgelöst, bei denen Haydn oder Mozart eine Auflösung als notwendig empfunden hätten. Chopin wiederum komponierte dichte Phrasen mit chromatischen Läufen und stellte mit seinen ungewöhnlich akzentuierten Passagen und Tempiwechseln die rhythmischen Erwartungen auf die Probe. Die Entwicklung von einer musikalischen Bewegung zur nächsten: vom Mittelalter zum Barock, von der Klassik zur Romantik, vom Impressionismus zum Expressionismus und darüber hinaus ist eine Geschichte der Regelbrüche. Die Kreativität jeder Bewegung kann nur vor dem Hintergrund der vorhergehenden eingeschätzt werden. Es versteht sich fast von selbst, dass der historische Kontext eine wichtige Rolle spielt, um etwas als neu definieren zu können. Kreativität ist keine absolute, sondern eine relative Handlung. Wir sind kreativ innerhalb der Grenzen unserer Kultur und unseres Referenzrahmens.

Kann ein Computer diese Art von Phasenübergängen einleiten und uns in einen neuen musikalischen oder mathematischen Zustand führen? Das ist eine Herausforderung. Algorithmen lernen aufgrund der Daten, mit denen sie interagieren, wie sie sich verhalten sollen. Bedeutet das nicht, dass sie ewig dazu verdammt sein werden, immer nur Altbekanntes zu reproduzieren?

Picasso sagte einmal: «Der größte Feind der Kreativität ist der gesunde Menschenverstand.» Das scheint zunächst dem Funktionsprinzip von Maschinen zu widersprechen. Und doch lässt sich ein System so programmieren, dass es sich irrational verhält. Man kann eine Metaregel erstellen, die die Maschine anweist, den Kurs zu ändern. Wie wir sehen werden, ist das in der Tat etwas, das maschinelles Lernen sehr gut beherrscht.

Kann man Kreativität lehren?

Viele Künstler pflegen ihren eigenen Schöpfungsmythos und machen externe Kräfte für ihre Kreativität verantwortlich. Im antiken Griechenland sagte man von Dichtern, sie seien von den Musen besessen, die ihnen Inspiration einhauchten und so manchmal in den Wahnsinn trieben. Platon schrieb: «Ein Dichter ist ein heiliges Wesen und nicht eher imstande zu dichten, als bis er in Begeisterung gekommen und außer sich geraten ist und die klare Vernunft nicht mehr in ihm wohnt, denn nicht menschliche Kunst, sondern göttliche Kraft befähigt sie zu ihren Schöpfungen.» Der große indische Mathematiker Ramanujan schrieb seine großen Erkenntnisse ebenfalls Eingebungen zu, die er im Traum von seiner Familiengöttin Namagiri erhalten hatte. Ist Kreativität nun eine Form des Wahnsinns oder ein göttliches Geschenk?

Einer meiner mathematischen Helden, Carl Friedrich Gauß, war einer der Schlimmsten, wenn es darum ging, seine kreativen Spuren zu verwischen. Gauß wird zugeschrieben, die moderne Zahlentheorie geschaffen zu haben, als er im Jahr 1798 eines der größten mathematischen Werke aller Zeiten veröffentlichte: Disquisitiones Arithmeticae. Doch als Leser im Buch nach Hinweisen suchten, woher er seine Ideen bekommen hatte, standen sie vor einem Rätsel. Das Werk wurde als Buch mit sieben Siegeln beschrieben. Gauß schien Eingebungen wie Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, ohne einen Hinweis zu hinterlassen, wie er diesen Zaubertrick zustande gebracht hatte. Als man ihn später danach fragte, antwortete er, dass ein Architekt nach der Fertigstellung des Hauses das Gerüst nicht stehen lasse. Wie Ramanujan schrieb auch Gauß eine Erkenntnis der «Gnade Gottes» zu und erklärte: «Ich selbst wäre nicht imstande, den leitenden Faden zwischen dem, was ich vorher wusste, … und dem, wodurch es gelang, nachzuweisen.»

Doch allein der Umstand, dass ein Künstler nicht artikulieren kann, woher seine Ideen stammen, bedeutet nicht, dass es keine Regeln gibt. Kunst ist ein bewusster Ausdruck der unzähligen Logikgatter, aus denen unsere unbewussten Denkprozesse bestehen. Natürlich gab es einen roten Faden, der Gauß’ Gedanken logischerweise verband: Es fiel ihm nur schwer zu artikulieren, was er vorhatte – oder vielleicht wollte er das Geheimnis, und damit das Bild von sich selbst als schöpferischem Genie, bewahren. Coleridges Behauptung, er habe die drogeninduzierte Vision von Kubla Khan in ihrer Gesamtheit auf einmal empfangen, wird von dem vielen vorbereitenden Material widerlegt, das die Arbeit des Dichters an den Ideen zu dem Gedicht vor jenem schicksalhaften Tag zeigt, an dem er von der Person aus Porlock unterbrochen wurde. Natürlich ist es eine schöne Geschichte. Auch mein eigener Schöpfungsbericht wird sich auf den Geistesblitz konzentrieren statt auf die jahrelange Vorarbeit, die ich geleistet habe.

Wir haben die schlechte Angewohnheit, das kreative Genie zu romantisieren. Der einsame Künstler, der in der Isolation arbeitet, ist offen gestanden ein Mythos. In den meisten Fällen ist das, was wie ein Sprung aussieht, in Wahrheit ein kontinuierliches Wachstum. Brian Eno spricht von der «Szenie» statt dem Genie, um hervorzuheben, dass die kreative Intelligenz oft aus einer Gemeinschaft hervorgeht. Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates pflichtet ihm bei: «Kreative Arbeit sollte, ebenso wie wissenschaftliche Arbeit, als eine Gemeinschaftsleistung betrachtet werden – als Versuch eines Individuums, vielen Stimmen eine Stimme zu geben, als Versuch, zu synthetisieren und zu erforschen und zu analysieren.»

Was braucht man, um Kreativität anzuregen? Könnte man sie einer Maschine einprogrammieren? Gibt es Regeln, die wir befolgen können, um kreativ zu werden? Mit anderen Worten: Könnte Kreativität eine erlernbare Fähigkeit sein? Einige Menschen glauben, dass etwas zu lehren oder zu programmieren bedeutet, den Menschen zu zeigen, wie man das Vorangegangene imitiert, und dass Nachahmung und das Befolgen von Regeln mit Kreativität unvereinbar sind. Und doch gibt es überall um uns herum Beispiele von kreativen Menschen, die studiert und gelernt und ihre Fähigkeiten verbessert haben. Wenn wir untersuchen, was diese Menschen tun, könnten wir sie dann nachahmen und letztendlich selbst kreativ werden?

Diese Fragen stelle ich mir in jedem Semester neu. Für eine Promotion müssen Doktoranden der Mathematik ein neues mathematisches Konstrukt entwerfen. Sie müssen sich etwas ausdenken, das noch nie zuvor gemacht wurde. Meine Aufgabe ist es, ihnen beizubringen, wie man das macht. Natürlich haben sie bis zu einem gewissen Grad bereits eine Ausbildung in dieser Hinsicht erhalten. Das Lösen von Problemen erfordert auch dann noch persönliche Kreativität, wenn die Lösung bereits bekannt ist.

Diese Ausbildung ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Sprung ins Ungewisse. Indem man übt, wie andere zu ihrem Durchbruch gelangt sind, hofft man, ein Umfeld zu schaffen, das die eigene Kreativität fördert. Und doch ist dieser Sprung noch lange nicht garantiert. Ich kann nicht irgendjemanden von der Straße holen und ihm beibringen, ein kreativer Mathematiker zu sein. Vielleicht kann man das mit zehn Jahren Ausbildung erreichen, aber nicht jedem Gehirn ist es möglich, mathematische Kreativität zu erlangen. Offenbar erreichen manche Menschen nur in bestimmten Bereichen Kreativität, aber was das eine Gehirn zum Schachmeister und das andere zum Nobelpreisträger für Literatur macht, ist schwer zu verstehen.

Margaret Boden hat erkannt, dass es bei der Kreativität nicht nur darum geht, Shakespeare oder Einstein zu sein. Sie unterscheidet zwischen «psychologischer Kreativität» und «historischer Kreativität». Viele von uns vollbringen Akte persönlicher Kreativität, die für uns vielleicht neu, aber historisch gesehen ein alter Hut sind. Sie sind das, was Boden als Momente psychologischer Kreativität bezeichnet. Durch wiederholte Akte persönlicher Kreativität hofft man, letztendlich etwas hervorzubringen, das von anderen als neu und wertvoll anerkannt wird. Historische Kreativität ist selten, aber sie entsteht durch die Förderung der psychologischen Kreativität.

Mein Rezept, um bei Studenten Kreativität zu fördern, folgt den drei von Boden identifizierten Kreativitätstypen. Die explorative Kreativität ist der vielleicht offensichtlichste Weg. Dabei muss man zunächst verstehen, wie man an die Stelle gelangt ist, an der man sich derzeit befindet, und versucht dann, neue Möglichkeiten auszuloten. Das erfordert ein tiefes Eintauchen in das, was bisher geschaffen wurde. Aus diesem tiefen Verständnis heraus könnte etwas noch nie Dagewesenes entstehen. Oft ist es wichtig, den Schülern zu vermitteln, dass ein Schöpfungsakt, der von einem Urknall begleitet wird, sehr selten ist. Schöpfungen entstehen allmählich. Vincent van Gogh schrieb: «Große Dinge entstehen nicht spontan, sondern indem kleine Dinge zusammenkommen.»

Bodens zweite Strategie, die kombinatorische Kreativität, ist nach meiner Erfahrung ein starkes Instrument, um neue Ideen anzuregen. Ich ermutige Studenten oft dazu, Seminare zu besuchen und Aufsätze zu lesen, deren Themen nicht mit dem Problem, das sie bearbeiten, zusammenhängen. Ein Gedankengang aus einem anderen Teil des mathematischen Universums kann mit dem vorliegenden Problem in Resonanz treten und eine neue Idee hervorbringen. Einige der kreativsten wissenschaftlichen Arbeiten finden heute an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen statt. Je mehr wir aus unseren Silos heraustreten und unsere Ideen und Probleme miteinander teilen, umso eher können wir kreativ sein. Hier lassen sich relativ einfach gute Ergebnisse erzielen.

Auf den ersten Blick scheint die transformative Kreativität nur schwerlich als Strategie nutzbar zu sein. Aber auch hier geht es darum, den Status quo auf die Probe zu stellen, indem einige der bestehenden Beschränkungen aufgehoben werden. Man ändere eine Grundregel, die als fester Bestandteil des Gefüges des betreffenden Themas akzeptiert ist, und warte ab, was dann passiert. Dies sind brenzlige Momente, weil man das System zum Einsturz bringen kann, aber das bringt mich zu einer der wichtigsten Zutaten, die man braucht, um Kreativität zu fördern: Man muss ein mögliches Scheitern akzeptieren.

Wer nicht bereit ist, zu scheitern, wird nicht die Risiken eingehen, die es ermöglichen, auszubrechen und etwas Neues zu schaffen. Aus diesem Grund sind unser Bildungssystem und unser wirtschaftliches Umfeld, in denen Scheitern als verwerflich gilt, oft eine grauenhafte Umgebung für die Entwicklung von Kreativität. Bei meinen Studenten lege ich Wert darauf, dass die Misserfolge ebenso gefeiert werden wie die Erfolge. Die Misserfolge werden es nicht in die Doktorarbeit schaffen, das ist klar, aber man kann aus Misserfolgen viel lernen. Gegenüber meinen Studenten zitiere ich immer wieder Becketts Aufruf: «Scheitern Sie. Scheitern Sie wieder. Scheitern Sie besser.»

Sind das Strategien, die sich in Code umsetzen lassen? In der Vergangenheit bot der Top-Down-Ansatz beim Programmieren nur geringe Aussicht auf Kreativität. Die Programmierer waren vom Endprodukt ihrer Algorithmen kaum überrascht. Es gab keinen Raum für Experimente oder Misserfolge. Aber das hat sich in letzter Zeit geändert: weil ein Algorithmus, der auf einem fehlerfreundlichen Code aufbaut, etwas Neues tat, seine Schöpfer schockierte und einen unfassbaren Wert hatte. Dieser Algorithmus gewann ein Spiel, von dem viele glaubten, dass es die Fähigkeiten einer Maschine übersteigt. Es ist ein Spiel, das Kreativität erfordert.

Die Nachricht von diesem Durchbruch löste meine existenzielle Krise als Mathematiker aus.

3

Achtung, fertig, los!

Wir konstruieren und konstruieren und doch istIntuition immer noch eine gute Sache.

Paul Klee

Mathematik wird oft mit dem Schachspiel verglichen. Sicherlich gibt es da Verbindungen, aber nachdem Deep Blue im Jahr 1997 die besten Schachmeister besiegte, die die Menschheit zu bieten hatte, führte das nicht zur Schließung von mathematischen Fakultäten. Schach ist eine gute Analogie für den formellen Aufbau eines Beweises, doch ein anderes Spiel steht der kreativen und intuitiven Seite eines Mathematikerlebens in den Augen der Mathematiker sehr viel näher: das chinesische Spiel Go.

Ich selbst entdeckte Go im Grundstudium bei einem Besuch in der mathematischen Fakultät von Cambridge, bei dem ich herausfinden wollte, ob ich meine Doktorarbeit bei der großartigen Forschergruppe machen konnte, die an der Klassifikation der einfachen endlichen Gruppen, einer Art Periodensystem der Symmetrie, mitgearbeitet hatte. Ich saß im Gespräch mit John Conway und Simon Norton, zwei Architekten dieses großen Projekts, über die Zukunft der Mathematik, als mir zwei Studenten am Nebentisch auffielen, die wütend schwarze und weiße Steine auf ein Holzbrett knallten, in das ein Gittermuster eingeritzt war.

Ich fragte Conway schließlich, was die beiden da machten. «Das ist Go, das älteste heute noch gespielte Spiel.» Im Gegensatz zu dem kriegerischen Spiel Schach gehe es bei Go um Territorien, erklärte er. Die Spieler legten abwechselnd weiße und schwarze Spielsteine auf ein 19 × 19 Felder großes Gittermuster. Wenn es einem Spieler gelingt, eine Steingruppe des Gegners mit den eigenen Steinen zu umzingeln, dann erobert er die Steine des Gegners. Es gewinnt der Spieler, der bis zum Ende der Partie die meisten Steine eingenommen hat. Das klang recht einfach. Die Raffinesse des Spiels, erklärte Conway, bestehe darin, dass man versuchen muss, den Gegner zu umzingeln, aber gleichzeitig darauf zu achten hat, dass die eigenen Steine nicht eingenommen werden.

«Es ist ein bisschen wie Mathematik: einfache Regeln, aus denen sich eine wunderschöne Komplexität ergibt.» Conway erkannte, dass sich das Spiel in der Endphase wie eine neue Art von Zahlen verhielt, die er «surreale Zahlen» nannte, als er bei einer Tasse Kaffee im Gemeinschaftsraum zwei Experten beim Spielen zusah.

Mich haben Spiele schon immer fasziniert. Wenn ich ins Ausland reise, lerne ich gerne Spiele, die die Einheimischen spielen, und bringe sie mit zurück. Nach meiner Rückkehr aus der Wildnis von Cambridge in mein sicheres Oxford beschloss ich, im örtlichen Spielzeugladen ein Go-Brett zu kaufen, um herauszufinden, was diese Studenten daran faszinierte. Bei den ersten Runden mit einem Kommilitonen in Oxford merkte ich, wie subtil das Spiel war. Ich fand nur schwer eine klare Strategie, die mir zum Sieg verhelfen würde. Je mehr Steine auf dem Brett lagen, umso komplizierter schien das Spiel zu werden, anders Schach, wo das Spiel mit der Zeit einfacher wird, wenn die Figuren nach und nach entfernt werden.

Der amerikanische Go-Verband schätzt, dass man eine Zahl mit 300 Ziffern bräuchte, um die Anzahl der regelkonform möglichen Go-Partien zu beziffern. Beim Schach, so der Informatiker Claude Shannon, würde eine Zahl mit 120 Ziffern (die inzwischen so genannte Shannon-Zahl) ausreichen. Beides sind keineswegs kleine Zahlen, aber sie vermitteln einen Eindruck von der großen Bandbreite möglicher Permutationen.

Als Kind habe ich viel Schach gespielt. Es machte mir Spaß, die logischen Konsequenzen eines möglichen Zuges durchzugehen. Das sprach den Mathematiker an, der in mir heranwuchs. Der Baum der Möglichkeiten im Schach verzweigt sich in kontrollierter Weise, so dass es für einen Computer und sogar für einen Menschen eine überschaubare Aufgabe darstellt, die Auswirkungen verschiedener Pfade durch den Baum zu analysieren. Go hingegen scheint kein Spiel zu sein, das es zulässt, die logischen Implikationen eines zukünftigen Zuges zu analysieren. Das Navigieren im Baum der Möglichkeiten wird schnell unmöglich. Das heißt nicht, dass ein Go-Spieler die logischen Konsequenzen seines nächsten Zuges nicht durchschauen könnte, aber diese Fähigkeit scheint eher mit einem intuitiveren Gespür für die Muster des Spiels in Verbindung zu stehen.

Das menschliche Gehirn ist darauf ausgerichtet, Strukturen und Muster in visuellen Bildern aufzuspüren. Ein Go-Spieler erkennt dank dieser Fähigkeit des Gehirns beim Blick auf die Lage der Steine die Muster und kann diese Erkenntnis bei der Planung seines nächsten Zuges nutzen. Computer haben generell Schwierigkeiten mit dem Sehen. Mit diesem Problem kämpfen Ingenieure schon seit Jahrzehnten.

Der hochentwickelte Sinn des menschlichen Gehirns für visuelle Strukturen wurde im Laufe von Millionen von Jahren immer weiter verfeinert und war entscheidend für unser Überleben. Die Überlebensfähigkeit eines Tieres hängt zum Teil von seiner Fähigkeit ab, in dem visuellen Durcheinander, mit dem die Natur uns konfrontiert, Strukturen zu erkennen. Ein Muster im Chaos des Dschungels ist wahrscheinlich ein Hinweis auf die Anwesenheit eines anderen Tieres – und diesen Hinweis sollte man besser bemerken, denn dieses Tier könnte einen auffressen (oder man könnte es selbst verzehren). Der menschliche Code ist hervorragend dazu geeignet, Muster zu lesen, zu interpretieren, wie sich diese Muster entwickeln können, und angemessen zu reagieren. Diese Fähigkeit ist einer unserer wichtigsten Aktivposten und spielt auch eine Rolle bei unserer Wertschätzung für die Muster in Musik und Kunst. Auch als Mathematiker bediene ich mich der Mustererkennung, wenn ich mich in die unerforschten Bereiche des mathematischen Dschungels begebe. Eine einfache logische Schritt-für-Schritt-Analyse der unmittelbaren Umgebung bringt da nicht viel. Sie muss mit einem intuitiven Gespür für das, was da draußen sein könnte, einhergehen. Diese Intuition entwickelt sich im Laufe der Zeit, die man mit der Erforschung des bekannten Raums verbringt. Aber oft kann es schwerfallen, logisch zu begründen, warum man glaubt, dass es dort draußen interessantes Gebiet zu erforschen gibt. Eine mathematische Vermutung ist per Definition noch nicht bewiesen, aber der Mathematiker, der eine Vermutung aufgestellt hat, ist zu der Ansicht gelangt, dass die mathematische Aussage, die er gemacht hat, ein Stückchen Wahrheit enthält. Beobachtung und Intuition gehen Hand in Hand, wenn man nach neuen Wegen durch das Dickicht sucht.

Ein Mathematiker, der gute Vermutungen anstellen kann, wird oft mehr Respekt ernten als einer, der die logischen Punkte miteinander verknüpft, um so herauszufinden, ob die Vermutung der Wahrheit entspricht. Im Go-Spiel entspricht die endgültige Siegerposition in gewisser Hinsicht der Vermutung, und die Spielzüge sind die logischen Züge auf dem Weg zum Beweis dieser Vermutung. Aber dieses Muster unterwegs zu erkennen, ist teuflisch schwer.

Schach war zwar hilfreich, um einige Aspekte der Mathematik zu erklären, aber die Ähnlichkeit von Go mit der Arbeitsweise von Mathematikern wurde stets für größer gehalten. Deshalb waren die Mathematiker nicht allzu beunruhigt, als Deep Blue die besten menschlichen Schachspieler schlug. Die eigentliche Herausforderung war Go. Jahrzehntelang ging man davon aus, dass Computer Go niemals würden spielen können. Wie bei allen Absolutheiten fühlten sich kreative Programmierer auch hier herausgefordert, diese Behauptung auf die Probe zu stellen. Aber selbst Nachwuchsspieler schienen noch die komplexesten Algorithmen besiegen zu können. Und so verschanzten sich die Mathematiker fröhlich hinter der Schutzmauer, die Go ihnen bot. Wenn ein Computer Go nicht spielen konnte, dann konnte er unmöglich das noch subtilere und ältere Spiel der Mathematik spielen.

Doch ebenso wie die Chinesische Mauer am Ende überwunden wurde, zerfiel auch mein Schutzwall auf spektakuläre Weise.

Game Boy der Extraklasse

Anfang des Jahres 2016 wurde die Fertigstellung eines Go-Programms bekannt gegeben, das sich, nach der Überzeugung seiner Entwickler, auch gegen die besten menschlichen Spieler behaupten konnte. Angesichts der gescheiterten Versuche in der Vergangenheit reagierten Go-Spieler auf der ganzen Welt auf diese Ankündigung äußerst skeptisch. Daraufhin schrieb die Entwicklerfirma einen Wettbewerb aus; dem Sieger winkte ein Preisgeld in Höhe von einer Million Dollar. Der internationale Champion Lee Sedol aus Korea nahm die Herausforderung an. Der Name von Sedols Herausforderer: AlphaGo.

AlphaGo ist das Kind von Demis Hassabis. Hassabis wurde 1976 in London als Sohn eines griechisch-zypriotischen Vaters und einer singapurischen Mutter geboren. Beide Eltern sind Lehrer und, laut Hassabis, technophobe Bohemiens. Seine Geschwister haben künstlerische Laufbahnen eingeschlagen, die Schwester wurde Komponistin, der Bruder studierte Creative Writing. Hassabis kann also nicht sagen, auf wen seine wissenschaftliche Neigung zurückgeht. Schon als Kind aber zeigte sich seine Begabung, vor allem, wenn es um Spiele ging. Im Schach war er so gut, dass er mit elf Jahren in der weltweiten Rangliste seiner Altersgruppe den zweiten Platz belegte.

Doch dann überfiel Hassabis bei einem internationalen Wettkampf in Liechtenstein ein Gedanke, der ihn seitdem nicht mehr losließ: Was zum Teufel machten sie alle da? In der Halle wimmelte es von großen Köpfen, die die logischen Feinheiten dieses faszinierenden Spiels erforschten. Hassabis meinte plötzlich zu sehen, wie völlig sinnlos ein solches Unterfangen war. In einem Radiointerview der BBC sprach er aus, was er damals dachte: «Wir verschwendeten unsere Denkkraft. Was wäre, wenn wir diese Gehirnleistung für etwas Nützlicheres einsetzen würden, zum Beispiel ein Heilmittel gegen Krebs zu finden?»

Seine Eltern waren ziemlich schockiert, als er nach dem Turnier (das er nach einem zehnstündigen Duell mit dem erwachsenen niederländischen Weltmeister knapp verlor) verkündete, dass er die Schachwettbewerbe aufgeben wollte. Alle hatten geglaubt, dass dies sein Leben sein würde. Aber er hatte die dafür aufgebrachte Zeit nicht verschwendet. Einige Jahre zuvor hatte er sich von den 200 britischen Pfund Preisgeld, die er für den Sieg gegen den US-amerikanischen Spieler Alex Chang bekommen hatte, seinen ersten Computer gekauft: einen ZX Spectrum. Mit diesem Computer begann seine Obsession, Maschinen beizubringen, für ihn zu denken.

Schon bald stieg Hassabis auf einen Commodore Amiga um, der so programmiert werden konnte, dass er die Spiele spielen konnte, die ihm Spaß machten. Schach war immer noch zu kompliziert, aber er schaffte es, den Commodore so zu programmieren, dass er Othello spielen konnte, ein Spiel, das dem Go-Spiel mit seinen schwarzen und weißen Steinen ähnelt, die bei Othello aber umgedreht werden, wenn sie zwischen Steinen der entgegengesetzten Farbe gefangen sind. Es ist kein Spiel, das Großmeistern würdig ist, also probierte er sein Programm an seinem jüngeren Bruder aus. Es schlug ihn jedes Mal.

Damals war das klassische «Wenn-dann»-Programmierung: Er musste die Reaktion auf jeden Zug seines Gegners von Hand einprogrammieren, etwa so: «Wenn dein Gegner diesen Zug spielt, dann antworte mit diesem Zug.» Das kreative Element kam von Hassabis und seiner Fähigkeit, die richtigen Spielzüge herauszufinden, um das Spiel zu gewinnen. Es fühlte sich aber dennoch ein bisschen wie Zauberei an. Man musste den richtigen Zauberspruch codieren, und dann musste der Commodore, ähnlich wie ein Zauberlehrling, nur noch die Anweisungen ausführen.

Hassabis beendete die Schule im Rekordtempo mit sechzehn Jahren und erhielt eine Einladung zum Informatikstudium in Cambridge. Er hatte eine Schwäche für Cambridge, seit er Jeff Goldblum in dem Film Wettlauf zum Ruhm gesehen hatte. «Ich dachte: Das macht man also in Cambridge? Man geht dorthin und erfindet im Pub die DNS? Wow.»

In Cambridge aber musste er ein Jahr bis zur Aufnahme des Studiums warten: Sechzehnjährige waren dort nicht zugelassen. Um die Zeit zu überbrücken, gewann er einen Arbeitsplatz bei einem Spieleentwickler, nachdem er bei einem Wettbewerb der Zeitschrift Amiga Power den zweiten Platz belegt hatte. Dort entwickelte er sein eigenes Spiel Theme Park, bei dem die Spieler einen eigenen Themenpark aufbauen und betreiben mussten. Das Spiel war ein Riesenerfolg, verkaufte sich mehrere Millionen Mal und gewann einen Goldenen Joystick. Mit genug Geld in der Tasche, um sein Studium an der Universität zu finanzieren, machte sich Hassabis auf nach Cambridge.

Im Studium lernte er die Großen der KI-Revolution kennen: Alan Turing und seinen Intelligenztest; Arthur Samuel und sein Damespiel-Programm; John McCarthy, der den Begriff «künstliche Intelligenz» prägte; Frank Rosenblatt und seine ersten Experimente mit neuronalen Netzen. Dies waren die Schultern, auf die sich Hassabis zu stellen hoffte. In den Vorlesungen wiederholte sein Professor immer wieder das Mantra, dass ein Computer aufgrund der kreativen und intuitiven Eigenschaften des Spieles niemals Go werde spielen können. Das wirkte auf den jungen Hassabis wie ein rotes Tuch. Er verließ Cambridge fest entschlossen zu beweisen, dass sein Professor falschlag.

Sein Ansatz bestand darin, kein Programm zu schreiben, das Go spielen konnte, sondern ein Metaprogramm, dessen Aufgabe es sein sollte, ein Programm zu codieren, das das Spiel beherrschte. Es klang nach einer verrückten Idee, aber der entscheidende Unterschied bestand darin, dass das Metaprogramm so erstellt werden sollte, dass es mit jedem Spiel, das das Go-Spielprogramm spielte, aus dessen Fehlern lernte.

Hassabis hatte von einer ähnlichen Idee des KI-Forschers Donald Michie in den 1960er Jahren erfahren. Michie hatte damals einen Algorithmus namens MENACE geschrieben, der von Grund auf die beste Strategie für das Spiel Tic Tac Toe lernte. (MENACE stand für Machine Educable Noughts And Crosses Engine.) Um den Algorithmus zu demonstrieren, hatte Michie 304 Streichholzschachteln zusammengebaut, die alle möglichen Kombinationen von Nullen und Kreuzen repräsentieren, die bei dem Spiel vorkommen können. Jede Streichholzschachtel war mit verschiedenfarbigen Kugeln gefüllt, die mögliche Züge darstellten. Die Kugeln wurden bei einem verlorenen Spiel aus den Schachteln entfernt und bei Gewinnen als Belohnung hinzugefügt. Da der Algorithmus immer weiterspielte, führte die Neuverteilung der Kugeln schließlich zu einer fast perfekten Spielstrategie. Diese Idee, aus den Fehlern zu lernen, wollte Hassabis nutzen, um seinen Algorithmus für das Go-Spiel zu trainieren.

Hassabis hatte ein gutes Vorbild für seine Strategie: Das Gehirn eines Neugeborenen bringt kein fertiges Programm mit, wie es sein Leben führen soll. Das Gehirn wird durch die Interaktionen des Kindes mit seiner Umgebung programmiert.

Um besser zu verstehen, wie das Gehirn lernt, Probleme zu lösen, beschloss er, am University College London in Neurowissenschaften zu promovieren. In den Kaffeepausen nach der Laborarbeit erzählte Hassabis dem Neurowissenschaftler Shane Legg von seinem Plan, eine Firma zu gründen, um seine Ideen umzusetzen. Ihren Professoren gegenüber hingegen bewahrten sie Stillschweigen. Es zeigt, wie niedrig der Stellenwert von KI auch vor zehn Jahren noch war. Doch die beiden Wissenschaftler waren überzeugt davon, etwas Großem auf der Spur zu sein, und so gründeten sie im September 2010, zusammen mit Mustafa Suleyman, einem Kindheitsfreund Hassabis, DeepMind.

Das Unternehmen brauchte Geld, aber Kapitel aufzutreiben war anfangs alles andere als einfach. Gaben sie an, dass sie Spiele spielen und die Intelligenz erforschen wollten, klang das für die meisten Investoren nicht gerade seriös. Einige wenige jedoch verstanden ihre Vision. Zu diesen ersten Investoren gehörten Elon Musk und Peter Thiel. Thiel hatte nie außerhalb des Silicon Valley investiert und versuchte, Hassabis zu überreden, an die US-Westküste umzusiedeln. Der gebürtige Londoner behauptete sich jedoch mit dem Argument, in London gebe es noch mehr ungenutztes Talent, das man einsetzen konnte. Hassabis erinnert sich an ein verrücktes Gespräch mit Thiels Anwältin: «Gibt es in London überhaupt ein Urheberrecht für geistiges Eigentum?», fragte sie ahnungslos. «Sie dachten wohl, wir kämen aus Timbuktu!» Die Gründer mussten die Mehrheit der Anteile an die Investoren abgeben, aber sie hatten das Geld, das sie brauchten, um sich daranzumachen, das KI-Problem zu knacken.