Der demokratische Konföderalismus - Müslüm Örtülü - kostenlos E-Book

Der demokratische Konföderalismus E-Book

Müslüm Örtülü

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der demokratische Konföderalismus strebt im Nahen und Mittleren Osten eine neue Gesellschaftsordnung jenseits des kapitalistischen Nationalstaatensystems an. Basisdemokratie, Geschlechterbefreiung und eine ökologisch-gemeinwohlorientierte Wirtschaft sollen an die Stelle hierarchischer, patriarchalischer und profitorientierter Strukturen treten. Doch woher kommt dieses Gesellschaftsmodell, was sind seine theoretischen Grundlagen und wie lässt es sich in einer kriegsgeschüttelten Region umsetzen? Müslüm Örtülü erörtert, ob der demokratische Konföderalismus tatsächlich eine Alternative zum »westlichen Entwicklungsweg« bietet - und ob in diesem Zuge auch eine Wiederaneignung von Politik, Wirtschaft und Wissen gelingen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 508

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch Pollux – Informationsdienst Politikwissenschaft

und die Open Library Community Politik 2024 – einem Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Vollsponsoren: Technische Universität Braunschweig | Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg | Eberhard-Karls Universität Tübingen | Freie Universität Berlin – Universitätsbibliothek | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Goethe-Universität Frankfurt am Main | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek | TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek | Humboldt-Universität zu Berlin | Justus-Liebig-Universität Gießen | Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt | Ludwig-Maximilians- Universität München | Max Planck Digital Library (MPDL) | Rheinische Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn | Ruhr- Universität Bochum | Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg | SLUB Dresden | Staatsbibliothek zu Berlin | Bibliothek der Technischen Universität Chemnitz | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Universitätsbibliothek „Georgius Agricola“ der TU Bergakademie Freiberg | Universitätsbibliothek Kiel (CAU) | Universitätsbibliothek Leipzig | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Universitäts- und Landesbibliothek Münster | Universitäts- und Stadtbibliothek Köln | Universitätsbibliothek Bielefeld | Universitätsbibliothek Erfurt | Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen | Universitätsbibliothek Kaiserslautern-Landau | Universitätsbibliothek Kassel | Universitätsbibliothek Osnabrück | Universität Potsdam | Universitätsbibliothek St. Gallen | Universitätsbibliothek Vechta | Zentralbibliothek ZürichSponsoring Light: Bundesministerium der Verteidigung | Bibliothek der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden | Bibliothek der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig | Bibliothek der Westsächsischen Hochschule Zwickau | Bibliothek der Hochschule Zittau/Görlitz, Hochschulbibliothek | Hochschulbibliothek der Hochschule Mittweida | Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) | Landesbibliothek Oldenburg | Österreichische ParlamentsbibliothekMikrosponsoring: Bibliothek der Berufsakademie Sachsen | Bibliothek der Evangelische Hochschule Dresden | Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig | Bibliothek der Hochschule für Bildende Künste Dresden | Bibliothek der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden | Bibliothek der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig | Bibliothek der Palucca-Hochschule für Tanz Dresden | Leibniz-Institut für Europäische Geschichte | Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Müslüm Örtülü

Der demokratische Konföderalismus

Eine politische Alternative für den Mittleren Osten?

Diese Arbeit wurde von Müslüm Örtülü als Dissertation am Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel mit dem Titel »Der Demokratische Konföderalismus - Eine Alternative zur Entwicklung?« eingereicht. Die erfolgreiche Disputation erfolgte am 01.08.2023.

Gefördert wurde die Arbeit durch ein Promotionsstipendium der Rosa Luxemburg Stiftung.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NoDerivatives 4.0 Lizenz (BY-ND). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, gestattet aber keine Bearbeitung.https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/

Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen oder Derivate einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Müslüm Örtülü

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Elanders Waiblingen GmbH, Waiblingen

https://doi.org/10.14361/9783839472736

Print-ISBN: 978-3-8376-7273-2

PDF-ISBN: 978-3-8394-7273-6

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7273-2

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

In Gedenken an Sorxwîn Rojhilat und Azadî Dêrik, die am 11. Februar 2024 bei einem türkischen Drohnenangriff in Qamişlo ums Leben kamen.

Inhalt

 

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Glossar

1.Einleitung

1.1Stand der Forschung und Forschungslücke

1.2Fragestellung

1.3Theoretischer Zugang und Methode

1.4Begriffsdefinitionen

1.5Aufbau der Arbeit und Vorgehen

2.Theoretischer Rahmen: Die Post-Development Theorie

2.1Was bedeutet Entwicklung?

2.1.1Entwicklung als Politikfeld und Wissenschaft

2.1.2Die fünf Stufen der Entwicklung

2.1.3Die exogenen Faktoren der Unterentwicklung

2.1.4Neoliberale Entwicklungspolitik

2.1.5Das ›Amöbenwort‹ Entwicklung

2.2Die Post-Development Kritik an der Entwicklungsidee

2.2.1Entwicklung als Diskurs

2.2.2Alternativen zur Entwicklung

2.2.3Ein theoretischer Rahmen für alternative Gesellschaftsmodelle

3.Die kurdische Frage und der kurdische Kampf um Selbstbestimmung

3.1Kurdistan und seine Bevölkerung

3.1.1Bevölkerungszusammensetzung Kurdistans

3.1.2Sprachliche Vielfalt

3.2Die kurdische Frage in Nordkurdistan und der Türkei

3.2.1Die Kurd:innen während des Zerfalls des Osmanischen Reiches

3.2.2Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Vierteilung Kurdistans

3.2.3Folgen der Republikgründung für die Kurd:innen

3.2.4Das Scheitern der frühen kurdischen Aufstände

3.2.5Das Wiederaufflammen der kurdischen Frage

3.2.6Debatten über die kurdische Frage innerhalb der türkischen Linken

3.2.7Die Jahre zwischen den Militärputschen

3.3Die kurdische Frage in Rojava und Syrien

3.3.1Gründung Syriens und die neue innerkurdische Grenze

3.3.2Die Situation der Kurd:innen unter französischem Protektorat

3.3.3Die Kurd:innen nach der syrischen Unabhängigkeit

3.3.4Im Fadenkreuz des arabischen Nationalismus

3.3.5Staatenlosigkeit und Politik des »arabischen Gürtels«

3.3.6Herrschaft der Baath-Partei und »der kurdische Tumor«

3.3.7Die kurdische Frage nach der Machtübernahme von Bashar al-Assad

3.4»Kurdistan ist eine Kolonie« – Die Arbeiterpartei Kurdistans PKK

3.4.1Die Person Öcalans als zentraler Fixpunkt der Organisation

3.4.2Aus den Fehlern der anderen lernen: Erste Gruppenbildung in Ankara

3.4.3Aufbruch nach Kurdistan, Parteigründung und Rückzug

3.4.4Vorbereitung auf den bewaffneten Kampf und Gastgeberrolle Syriens

3.4.5Vom ersten Schuss zum ersten Waffenstillstand

3.4.6Entführung Öcalans und neuer Kurs

3.4.7Paradigmenwechsel der PKK

3.5Zwischenfazit: Evolution des kurdisch-nationalen Befreiungskampfes

4.Alternative zur Entwicklung? Die Theorie des Demokratischen Konföderalismus

4.1Ablaufmodell der inhaltlichen Strukturierung

4.2Festlegung des Materials – Öcalans Verteidigungseingaben

4.3Analyse der Entstehungssituation

4.4Formale Charakteristika des Materials

4.5Richtung der Analyse

4.6Theoriegeleitete Differenzierung der Fragestellung

4.7Bestimmung der passenden Analysetechnik

4.8Bestimmung der Analyseeinheiten

4.9Theoriegeleitete Festlegung der inhaltlichen Hauptkategorien

4.10Bestimmung der Ausprägungen & Zusammenstellung des Kategoriensystems

4.10.1Wiederaneignung der Politik

4.10.2Wiederaneignung der Ökonomie

4.10.3Wiederaneignung des Wissens

4.11Formulierung von Definitionen, Ankerbeispielen und Kodierregeln

4.12Materialdurchlauf: Fundstellenbezeichnung

4.13Extraktion der Fundstellen – Überarbeitung des Kategoriensystems und Paraphrasierung des extrahierten Materials

4.14Zusammenfassung pro Kategorie und Zusammenfassung pro Hauptkategorie

4.14.1Gilgameschs Erben – Bd. I.: Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation (2001)

4.14.2Gilgameschs Erben – Bd. II.: Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation (2001)

4.14.3Plädoyer für den freien Menschen (2003)

4.14.4Jenseits von Staat, Macht und Gewalt (2004)

4.14.5Zivilisation und Wahrheit – Maskierte Götter und verhüllte Könige (2010)

4.14.6Die Kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige (2010)

4.14.7Soziologie der Freiheit (2010)

4.15Zusammenstellung der Ergebnisse und Interpretation in Richtung der Fragestellung

4.16Anwendung der inhaltsanalytischen Gütekriterien

5.Demokratischer Konföderalismus in der Praxis – Eine Alternative zur Entwicklung?

5.1Die Rojava-Revolution – Ein historischer Abriss

5.1.1Der Kurdische Nationalrat

5.1.2Verhältnis zur syrischen Opposition und die Politik des dritten Weges

5.1.3Rojava im Visier islamistischer Organisationen

5.1.4Türkische Militäroffensiven in Nordsyrien

5.1.5Etappen der Selbstverwaltung

5.2Das Selbstverwaltungsmodell von Rojava – Eine Alternative zur Entwicklung?

5.2.1Wiederaneignung der Politik in Nord- und Ostsyrien

5.2.2Wiederaneignung der Ökonomie in Nord- und Ostsyrien

5.2.3Wiederaneignung des Wissens in Nord- und Ostsyrien

5.3Fazit zur Wiederaneignung von Politik, Ökonomie und Wissen in Nord- und Ostsyrien

5.3.1Fazit Wiederaneignung der Politik

5.3.2Fazit Wiederaneignung der Ökonomie

5.3.3Fazit Wiederaneignung des Wissens

6.Fazit und Ausblick

6.1Die Wiederaneignung von Politik, Ökonomie und Wissen im demokratischen Konföderalismus

6.2Bedeutung der Forschungserkenntnisse und Grenzen der Arbeit

6.3Bedeutung der Forschungsarbeit außerhalb der akademische Welt

6.4Ausblick

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Danksagung

Zu allererst möchte ich mich bei Rukiye bedanken. Sie hat mir den Mut und die Kraft gegeben, mich dieser Dissertation zu widmen. In einer Phase, in der ich unglücklich mit meiner Lebenssituation war, hat sie mir klar gemacht, dass ich mich den Dingen widmen muss, die mir wichtig sind, und mich auf diesem Weg unterstützt. Die Entscheidung für die Dissertation war ein Ergebnis dessen.

Ich möchte mich bei meinen Eltern bedanken. Sie haben große Opfer aufgebracht, um meinen Bildungsweg zu ermöglichen. Sie mussten hart arbeiten und ihre eigenen Bedürfnisse stets hinten anstellen. Ihr größter Wunsch war es, dass ihre Kinder sich bilden und irgendwann ein einfacheres Leben haben. Ihr Glaube an mich war stets meine größte Motivation. Zu großem Dank bin ich auch meinem jüngeren Bruder verpflichtet. Ich war für ihn nicht immer die Unterstützung, die man sich von einem größeren Bruder erhofft. Trotz dessen stand er stets zu mir, auch während der gesamten Zeit dieser Dissertation.

Natürlich bin ich auch einem weiteren Menschen zu großem Dank verpflichtet, der mir mindestens so nah steht wie ein eigener Bruder. Mehdi ist wohl der Freund, den sich jeder Mensch im Leben wünscht. Ich kann meine Dankbarkeit ihm gegenüber nicht in Worte fassen. Die Gespräche mit ihm haben mir immer wieder geholfen, das Wesentliche im Leben wiederzuerkennen. Ohne diese Gespräche wüsste ich nicht, ob ich heute in der Lage wäre, diese letzten Worte der Dissertation zu Papier zu bringen.

Die Forschungsreise in Nord- und Ostsyrien war für mich persönlich der schönste und zugleich wichtigste Zeitabschnitt während der Anfertigung dieser Dissertation. Die Menschen vor Ort haben mich nicht nur bei meiner Forschung unterstützt, sie haben ihre Wohnungen, ihre Essen und ihre Lebensgeschichten mit mir geteilt. Ich möchte vom Herzen allen danken, die bei der Planung und Umsetzung der Reise mitgewirkt haben.

Und zum Schluss möchte ich meinem Betreuer Prof. Dr. Aram Ziai danken. Er hat mir direkt bei der Vorstellung meines Dissertationsvorhabens meine Zweifel genommen und es geschafft, mir mit seinen wertvollen Tipps und Ratschlägen stets ein Gefühl der Ruhe und Zuversicht zu geben.

Abkürzungsverzeichnis

 

ADYÖD

Demokratischer Hochschulverein von Ankara

ANAP

Mutterlandspartei

AP

Gerechtigkeitspartei

ARGK

Volksbefreiungsfront Kurdistans

CHP

Republikanische Volkspartei

DDKO

Revolutionäre Kulturvereinigungen des Ostens

DP

Demokratische Partei

DTK

Demokratischer Gesellschaftskongress

ENKS

Kurdischer Nationalrat

ERNK

Volksbefreiungsfront Kurdistans

FSA

Freie Syrische Armee

HPG

Volksverteidigungskräfte

HRK

Befreiungskräfte Kurdistans

IS

Islamischer Staat

JITEM

Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie

KADEK

Kongress für Freiheit und Demokratie Kurdistans

KCK

Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans

KEF

Komitee für Einheit und Fortschritt

Kongra-Gel

Volkskongress Kurdistans

MGK

Nationaler Sicherheitsrat

MHP

Partei der Nationalistischen Bewegung

MSD

Demokratischer Syrienrat

PDK

Demokratische Partei Kurdistans

PDK-S

Demokratische Partei Kurdistans in Syrien

PDK-T

Demokratische Partei Kurdistans-Türkei

PKK

Arbeiterpartei Kurdistans

PYD

Partei der Demokratischen Einheit

QSD

Demokratische Kräfte Syriens

TEV-DEM

Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft

THKO

Volksbefreiungsarmee der Türkei

THKP-C

Volksbefreiungspartei-Front der Türkei

TIP

Arbeiterpartei der Türkei

WJAS

Stiftung der freien Frau in Syrien

YBŞ

Widerstandseinheiten von Şengal

YJŞ

Fraueneinheiten von Şengal

YNK

Patriotische Union Kurdistans

YPG

Volksverteidigungseinheiten

YPJ

Frauenverteidigungseinheiten

YXG

Selbstverteidigungseinheiten des Volkes

Glossar

In diesem Glossar werden Begrifflichkeiten und Organisationsbezeichnungen, die im Zusammenhang mit der »kurdischen Frage« stehen, aufgeschlüsselt. Alle hier definierten Begriffe sind bei ihrer ersten Erwähnung in der Arbeit in kursiv gesetzt.

 

Arbeiterpartei Kurdistans: kurd. Partiya Karkerên Kurdistan, kurz PKK, ist eine 1978 gegründete Partei, die für die Befreiung Kurdistans kämpft. Die PKK nahm zur Umsetzung dieses Ziels 1984 den bewaffneten Kampf auf. Heute tritt die PKK für den Demokratischen Konföderalismus als Gesellschaftskonzept für Kurdistan und den Mittleren Osten ein.

Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien: kurd. Rêveberiya Xweser a Bakur û Rojhilatê Sûriyê, ist seit 2018 die offizielle Bezeichnung für die selbstverwalteten Gebiete Syriens, die sich im Sinne des Demokratischen Konföderalismus organisieren.

Azadî: dt. Freiheit, ist der Name einer kurdischen Untergrundorganisation, die 1923 gegründet wurde und 1925 den Şêx Seîd Aufstand in Nordkurdistan gegen die türkische Republik vorbereitete und unterstützte.

Befreiungskräfte Kurdistans:kurd. Hêzen Rizgariya Kurdistan, kurz HRK, ist die erste bewaffnete Organisierung der Arbeiterpartei Kurdistans. Ihre Gründung wurde mit der ersten Aktion der Guerillaeinheiten am 15. August 1984 bekanntgegeben. Nachdem sich die Anzahl der Anschlüsse an die Guerilla in den Folgejahren rasant vermehrte, wurde 1986 eine Neustrukturierung der bewaffneten Einheiten vorgenommen. Die HRK wurde aufgelöst und die ARGK (siehe Volksbefreiungsarmee Kurdistans) an ihre Stelle gebildet.

Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft: kurd. Tevgera Civaka Demokratîk, kurz TEV-DEM ist eine 2011 gegründete Dachorganisation aus Nord- und Ostsyrien. TEV-DEM war nach ihrer Gründung für den Aufbau der lokalen Rätestrukturen in der Gesellschaft verantwortlich. Seit 2018 betreut TEV-DEM den Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen in Nord- und Ostsyrien.

Demokratische Kräfte Syriens: arab. Quwwāt Sūriyā ad-dīmuqrāṭīya, kurz QSD, ist ein 2015 gegründetes multiethnisches Militärbündnis, zu dem verschiedene Einheiten aus Nord- und Ostsyrien gehören. Auch die Frauenverteidigungseinheiten und Volksverteidigungseinheiten sind Teil der Demokratischen Kräfte Syriens.

Demokratische Partei Kurdistans: kurd. Partiya Demokrat a Kurdistanê, kurz PDK, ist eine 1946 gegründete kurdische Partei, die heute in Südkurdistan die dominante politische Kraft darstellt. Ihr erster Vorsitzender war Mustafa Barzanî. Die PDK gilt gegenwärtig neben der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)als einflussreichste kurdische Partei. Sie vertritt eine nationalistisch-konservative politische Agenda und stellt damit gewissermaßen den ideologischen Gegenpol zur PKK innerhalb der kurdischen Gesellschaft dar.

Demokratische Partei Kurdistans in Syrien: kurd. Partiya Demokrat a Kurdistanê li Sûriye, kurz PDK-S, ist eine 1957 in Syrien gegründete kurdische Partei. Sie entstand nach dem Vorbild der in Südkurdistan agierenden Demokratischen Partei Kurdistans unter der Führung Mustafa Barzanîs. Die PDK-S spaltete sich in den nachfolgenden Jahrzehnten gleich mehrfach, ehe sich im Zuge der Rojava-Revolution ein Teil der Spaltungen unter dem Kurdischen Nationalrat wieder zusammenfanden.

Demokratische Partei Kurdistans-Türkei: kurd.Partiya Demokrat a Kurdistan-Tirkiye, kurz PDK-T, ist eine 1965 in Nordkurdistan gegründete politische Partei nach dem Vorbild der in Südkurdistan agierenden Demokratischen Partei Kurdistans. Die PDK-T musste von Anfang an in der Illegalität agieren, konnte allerdings nie in der Bevölkerung nachhaltig Fuß fassen. Sowohl der Gründer der Partei Faik Bucak als auch sein Nachfolger Sait Elçi wurden ermordet.

Demokratischer Syrienrat: kurd. Meclisa Sûriya Demokratîk, kurz MSD, ist eine Dachorganisation, zu der Vertreter:innen der verschiedenen ethnischen und religiösen Strukturen sowie unterschiedliche politische Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen Syriens gehören. Ziel des MSD ist es, eine demokratische Nachkriegsordnung für Syrien zu etablieren.

Fraueneinheiten von Şengal: kurd. Yekîneyên Jinên Şengalê, kurz YJŞ, sind die autonomen Verteidigungseinheiten der Frauen aus Şengal. YJŞ wurde nach der Befreiung der Stadt vom IS im August 2015 gegründet.

Frauenverteidigungseinheiten: kurd. Yekîneyên Parastina Jin, kurz YPJ, sind die 2012 gegründeten autonomen militärischen Frauenstrukturen der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyriens. Die YPJ ist zugleich Teil der Demokratischen Kräfte Syriens.

Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans: kurd. Koma Civakên Kurdistan, kurz KCK, ist ein 2005 gegründeter Dachverband für die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die sich im Sinne des Demokratischen Konföderalismus organisieren. Die KCK wurde im Rahmen des Paradigmenwechsels der PKK gegründet.

Gesellschaft für das Erwachen und den Fortschritt der Kurd:innen:arab. KurdistanTa’ali wa Taraqi Jamiyati, war die erste kurzlebige kurdisch-nationale Organisation im Osmanischen Reich. Sie wurde 1908 von Angehörigen einer jungen Generation der kurdischen Aristokratie gegründet, die von ihren Familien zum Studium nach Istanbul geschickt wurden und dort mit der Idee des Nationalismus in Berührung kamen.

Gesellschaft für den Fortschritt in Kurdistan: türk. Kurdistan Teali Cemiyeti, ist eine kurdische Partei, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges während des Zerfalls des Osmanischen Reiches entstand. Die Partei versuchte unter den Siegermächten für die Anliegen der Kurd:innen zu werben.

Hohe Kurdische Rat: kurd. Desteya Bilind a Kurd, ist ein 2012 gegründeter Dachverband in Nord- und Ostsyrien, an dem fünf Vertreter:innen der Partei der Demokratischen Einheit undder Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft sowie fünf Vertreter:innen des Kurdischen Nationalrates partizipieren. Der Hohe Kurdische Rat sollte die unterschiedlichen kurdischen Organisationen in der Region zusammenzuführen. Der Versuch scheiterte allerdings an den divergierenden Interessen der Gruppen.

Kongra Star: ist eine Dachorganisation aller Frauenstrukturen in Nord- und Ostsyrien. Sie ist die Nachfolgeorganisation des 2005 gegründeten Frauendachverbands Yekitiya Star.

Kongress für Freiheit und Demokratie Kurdistans: kurd. Kongreya Azadîya Demokrasîya Kurdistan, kurz KADEK, ist die 2002 gegründete und im Folgejahr wieder aufgelöste Nachfolgeorganisation der PKK.

Kurdischer Nationalrat: kurd. Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê, kurz ENKS, ist ein 2011 gegründeter Zusammenschluss verschiedener Parteien, die alle aus der Demokratischen Partei Kurdistans in Syrien hervorgegangen sind. Der ENKS versteht sich als politisches Gegengewicht zu den politischen Organisationen, die hinter dem Projekt der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien stehen.

Mexmûr: auch Makhmour, ist ein Geflüchtetencamp im Nordirak, in dem rund 12.000 Menschen leben, die in 1990er Jahren im Zuge des Krieges aus Nordkurdistan flüchten mussten. Die Bevölkerung des Camps organisiert sich im Sinne des demokratischen Konföderalismus.

Nordkurdistan: ist eine Bezeichnung für die kurdischen Siedlungsgebiete innerhalb der türkischen Staatsgrenzen.

Ostkurdistan: ist eine Bezeichnung für die kurdischen Siedlungsgebiete innerhalb der iranischen Staatsgrenzen.

Partei der Demokratischen Einheit: kurd. Partiya Yekîtiya Demokrat, kurz PYD, ist eine 2003 gegründete Partei, die in Rojava und Syrien aktiv ist. Die PYD orientiert sich ideologisch an den Ideen Abdullah Öcalans und versteht sich als treibende Kraft hinter dem Aufbau des demokratischen Konföderalismus in Nord- und Ostsyrien.

Patriotische Union Kurdistans: kurd. Yekêtiy Nîştimaniy Kurdistan, kurz YNK, ist eine 1975 gegründete kurdische Partei in Südkurdistan. Die YNK ist unter der Führung des späteren irakischen Präsidenten Celal Talabani als Abspaltung aus der Demokratischen Partei Kurdistans hervorgegangen. Sie ist gegenwärtig die zweitgrößte politische Partei in Südkurdistan.

Revolutionäre Kulturvereinigungen des Ostens: türk. Devrimci Doğu Kültür Ocakları, kurz DDKO, ist eine kurdische Organisation, die 1969 gegründet wurde und in Nordkurdistan und der Türkei agierte. Sie ist aus der Arbeiterpartei der Türkei hervorgegangen und stellte als erste Organisation eine Verbindung zwischen einer kurdisch-nationalen und einer sozialistischen Agenda her. Die DDKO wurde 1971 verboten.

Revolutionäre Kurdistans: kurd. Şoreşgerên Kurdistan, ist der Name der politischen Organisierung um Abdullah Öcalan, aus der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans hervorgegangen ist.

Rojava: Gängiger Name für die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens. Rojava bedeutet auf Deutsch »Westen« und steht für Westkurdistan, also die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien.

Selbstverteidigungseinheiten des Volkes: kurd. Yekinêyên Xweparastina Gel, kurz YXG, ist die Vorgängerorganisation der 2011 gegründeten Volksverteidigungseinheiten.

Şengal: ist eine Stadt im Nordirak, die eine traditionelle Heimatregion der êzîdischen Kurd:innen darstellt. Die Stadt wurde 2014 vom sog. Islamischen Staat erobert und die Bevölkerung einem Genozid ausgesetzt. Nach der Befreiung der Stadt vom Islamischen Staat im Jahr 2015 wurden in Teilen Şengals Selbstverwaltungsstrukturen im Sinne des demokratischen Konföderalismus etabliert.

Volksbefreiungsarmee Kurdistans: kurd. Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan, kurz ARGK, war ab 1986 der Name für den bewaffneten Arm der PKK. Sie ist die Nachfolgeorganisation der Befreiungskräfte Kurdistans und wurde ab 2000 von den Volksverteidigungskräften abgelöst.

Volksbefreiungsfront Kurdistans: kurd. Eniya Rizgariya Neteweyîya Kurdistanê, kurz ERNK, wurde 1985 von der PKK gegründet und fungierte als Dachorganisation für alle Sympathisant:innen der Partei. Im Rahmen der Neuorientierung der PKK im Zuge des Paradigmenwechsels wurde die ERNK im Jahr 2000 aufgelöst.

Volkskongress Kurdistans: kurd. Kongra Gelê Kurdistan, kurz Kongra-Gel, ist eine 2003 auf Vorschlag Öcalans im Zuge des Paradigmenwechsels der PKK gegründete Organisation. Der Kongra-Gel stellt einen Kongress dar, in welchem neben PKK-Verantwortlichen auch zivile Repräsentant:innen aus allen Teilen Kurdistans vertreten sein sollen.

Volksverteidigungseinheiten: kurd. Yekîneyên Parastina Gel, kurz YPG, sind die 2011 gegründeten militärischen Strukturen der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyriens. Die YPG ist zugleich Teil der Demokratischen Kräfte Syriens.

Volksverteidigungskräfte: kurd. Hêzên Parastina Gel, kurz HPG, ist seit 2000 der Name für die bewaffneten Einheiten unter dem Dach der Arbeiterpartei Kurdistans. Die Gründung der HPG erfolgte im Zuge des Paradigmenwechsels der PKK und geht mit einer Neuausrichtung des Verständnisses für den bewaffneten Kampf einher.

Westkurdistan: siehe Rojava

Widerstandseinheitenvon Şengal:kurd. Yekîneyên Berxwedana Şingal, kurz YBŞ, sind die Verteidigungseinheiten aus Şengal. Die YBŞ wurde 2014 im Zuge der Befreiungsoperation der Stadt Şengal vom sogenannten Islamischen Staat gegründet.

Xoybûn: auch Khoybun, ist eine 1927 im Libanon gegründete kurdische Partei, die ab 1928 den Aufstand gegen die türkische Republik im Ararat-Gebirge anführte. Nach der Niederschlagung des Aufstandes widmeten sich die Partei-Mitglieder in Syrien Aktivitäten im Bereich der kurdischen Sprache und Literatur.

Yekitiya Star: eine 2005 in Rojava gegründete Dachorganisation der kurdischen Frauenstrukturen. Ab 2016 ging Yekitiya Star in Kongra Star auf, das eine umfassendere Selbstorganisierung der Frauen in Nord- und Ostsyrien gewährleisten soll.

1. Einleitung

Ende 2014 blickten Millionen Menschen auf der ganzen Welt gebannt auf eine kleine Stadt im Norden Syriens. Die kurdisch besiedelte Stadt mit dem offiziellen Namen Ain al-Arab, zu Deutsch in etwa »Auge der Araber«, galt als das nächste Angriffsziel des sogenannten Islamischen Staates (kurz IS). Tatsächlich gelang es der dschihadistischen Armee im Zuge ihrer Offensive weite Teile der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Es wäre ein weiterer Sieg im scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch des IS. Doch den Bewohner:innen und den Kämpfer:innen der Volksverteidigungseinheiten (kurd. Yekîneyên Parastina Gel, kurz YPG) sowie der Frauenverteidigungseinheiten (kurd. Yekîneyên Parastina Jin, kurz YPJ) gelang es schließlich mit Unterstützung der Internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat die Stadt nach monatelangen Kämpfen vor den Augen der Weltöffentlichkeit erfolgreich zu verteidigen (Sabio 2016: 75–78). Mit der Schlacht um Kobanê, so der kurdische Name für die Stadt, erlangte die Region Rojava eine zuvor kaum vorstellbare Berühmtheit. Kobanê war die erste Stadt, in der 2012 die »Revolution von Rojava« ausbrach (Flach et al. 2015: 84) und Kobanê war nun auch die Stadt, in der die Revolution gegen den IS erfolgreich verteidigt werden konnte.

Rojava ist der heute gängig gebrauchte Name für eine Region im Norden Syriens, die in etwa der Größe Dänemarks entspricht. Dass der IS nach seinem Siegeszug über weite Teile des Iraks und Syriens hier seine erste militärische Niederlage einstecken musste, sorgte für Anerkennung und Begeisterung in der gesamten Weltöffentlichkeit. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, weshalb Rojava die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf der ganzen Welt auf sich gezogen hat und das weiterhin tut. Dort wird nämlich ein alternatives Gesellschaftsmodell geprobt. Die in Rojava etablierte Selbstverwaltung beruht auf den Prinzipien der Rätedemokratie, der Geschlechterbefreiung und der ökologischen Gerechtigkeit. Ideengeber dieses Modells ist Abdullah Öcalan, der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (kurd. Partiya Karkerên Kurdistan, kurz PKK). Aus seiner Zelle auf einer türkischen Gefängnisinsel heraus, in der er seit 1999 einsitzt, hat Öcalan ein Gesellschaftskonzept entworfen, das Rojava als Vorbild dient und den Namen demokratischer Konföderalismus trägt.

Bereits vor der Revolution von Rojava wurde der demokratische Konföderalismus in kleinerem Maßstab in anderen Teilen Kurdistans geprobt. Das Beispiel Rojava weist jedoch ein Alleinstellungsmerkmal auf. Die territoriale Größe der Region, die mittlerweile mehr als zehnjährige Zeitspanne der praktischen Umsetzung, das weitgehende Fehlen einer staatlichen Autorität als Gegenmacht sowie die multiethnische und multireligiöse Gesellschaftszusammensetzung machen Rojava zu einem besonderen Experimentierfeld für die Idee des demokratischen Konföderalismus. Hier wird die Idee einem wegweisenden Praxistest unterzogen.

Das Konzept des demokratischen Konföderalismus ist das Ergebnis eines langen und steinigen Paradigmenwechsels innerhalb der Arbeiterpartei Kurdistans. Die PKK hatte 1984 den bewaffneten Kampf für einen eigenen kurdischen Staat aufgenommen. Doch bereits 1993 sendete sie mit einem einseitigen Waffenstillstand das Signal aus, wonach die Errichtung eines unabhängigen Nationalstaates nicht zwingend das Ziel des kurdischen Befreiungskampfes darstellen muss. Nach der Entführung und Inhaftierung ihres Vorsitzenden Öcalan hat dieser seine Verteidigungseingaben vor der europäischen Gerichtsbarkeit als Gelegenheit genutzt, den Ansatz weiterzuentwickeln und schließlich ein neues Gesellschaftsmodell vorzustellen, mit dem nicht nur die kurdische Frage gelöst, sondern die Demokratisierung des Mittleren Ostens1 in Angriff genommen werden soll.2 Öcalan begreift seine Idee als Antwort auf das Scheitern des Realsozialismus, auf die Desillusionierung im Zuge der antikolonialen Befreiungskämpfe und auf die knapp hundert Jahre andauernde Krise des Mittleren Ostens nach ihrer Neustrukturierung infolge des Ersten Weltkrieges. Er begibt sich in seinen Schriften auf die Suche nach Gründen für die vergangenen Niederlagen von Gesellschaftsmodellen und Bewegungen, die den Anspruch formulierten, eine Alternative zum herrschenden System darzustellen. Die Lehren, die er daraus zieht, münden im Konzept des demokratischen Konföderalismus, das die politische Struktur seiner Theorie darstellt.3

In dem als Rojava bekannten Gebieten in Nord- und Ostsyrien wird versucht, dieses Konzept in die Praxis umzusetzen. Das ist ein Experiment mit hoher politischer Sprengkraft. Denn viele Profiteur:innen der bestehenden Ordnung in Syrien und der gesamten Region betrachten das Modell als eine Gefahr. In Rojava wird schließlich ein antistaatliches und demokratisch organisiertes Gesellschaftsmodell geprobt, welches die bestehende Ordnung nicht nur in Frage stellt, sondern langfristig ersetzen will. Erfolgreiche Erfahrungen in Rojava könnten Nachahmungseffekte in andern Teilen der Region bewirken. Daraus erklären sich auch die vielfältigen Angriffe, denen Rojava ausgesetzt ist und die auch zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen andauern.

Während die einen das dortige Gesellschaftskonzept zu einer Gefahr für die eigenen politischen Interessen erklären, symbolisiert Rojava für andere den Hoffnungsschimmer einer alternativen Ordnung. Menschen aus der ganzen Welt sind in den letzten Jahren nach Rojava gereist, um von den Errungenschaften der Gesellschaft zu lernen und/oder das Selbstverwaltungssystem vor feindlichen Angriffen zu verteidigen. Rojava ist somit zu einem Bezugspunkt für viele Menschen geworden, die die Hoffnung auf ein anderes Leben nicht aufgegeben haben.

Mit einem »anderen Leben« zur dominanten Ordnung des westlichen Kapitalismus beschäftigt sich auch die Post-Development Theorie. Ihr Konzept der »Alternative zur Entwicklung« soll gesellschaftliche Lebensformen jenseits des westlichen »Entwicklungspfades« sichtbar machen. Der gemeinsame Nenner dieser multiplen »Alternativen« ist die Wiederaneignung von Politik, Ökonomie und des Wissens durch die Gesellschaft sowie die Zurückweisung der vermeintlich universalistischen Verwaltungs- und Wissensstrukturen aus dem Globalen Norden. Mit der Frage, ob der demokratische Konföderalismus auch eine solche Alternative im Sinne der Post-Development Theorie darstellt, wird sich die vorliegende Forschungsarbeit beschäftigen.

1.1 Stand der Forschung und Forschungslücke

Der Aufbauprozess des Gesellschaftsmodells von Rojava ist auch nach dem zehnten Jahrestag der Revolution, der im Juli 2022 begangen wurde, weiterhin in vollem Gange. Doch auch der Krieg in Syrien dauert weiterhin an, ebenso wie die Angriffe gegen die Bevölkerung Rojavas. Vor diesem Hintergrund ist eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit in Rojava kein leichtes Unterfangen. Es gibt zwar mittlerweile ein relativ breites Spektrum an wissenschaftlichen Artikeln und Arbeiten zum Selbstverwaltungsmodell von Rojava, doch die wenigsten von ihnen basieren auf Datenmaterial, das durch Feldforschung vor Ort gesammelt wurde (Dirik 2021: 2). Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dafür leisten, diese Forschungslücke zu schließen, auch wenn sie aufgrund des fortwährenden Aufbauprozesses der Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava lediglich eine aktuelle Momentaufnahme darstellen kann.

Obwohl die Theorie des demokratischen Konföderalismus bereits Mitte der 2000er Jahre durch die Arbeiterpartei Kurdistans und ihres inhaftierten Vorsitzenden Öcalan verkündet wurde, lassen sich auch zu diesem Themenkomplex kaum wissenschaftliche Arbeiten ausfindig machen. Eine wichtige Ausnahme bilden die wissenschaftlichen Beiträge von Joost Jongerden, die er zum Teil gemeinsam mit Hamdi Akkaya und anderen Co-Autor:innen verfasst hat. Insbesondere Jongerden und Akkaya haben sich in verschiedenen Artikeln mit der ideologischen Neuausrichtung der Arbeiterpartei Kurdistans und ihrer Hinwendung zum demokratischen Konföderalismus beschäftigt. Eine Auswahl ihrer Beiträge ist im Jahr 2022 in einem deutschsprachigen Sammelwerk erschienen (Jongerden/Akkaya 2022). Eine weitere Ausnahme bildet der Beitrag von Damian Gerber und Shannon Brincat, die sich in ihrem Artikel mit der Theorie des demokratischen Konföderalismus auseinandersetzen und diese mit den Konzepten von Öcalans Ideengeber Murray Bookchin vergleichen (Gerber/Brincat 2018). Darüber hinaus mangelt es an wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Konzept des demokratischen Konföderalismus, insbesondere wenn es darum geht, die Verteidigungsschriften Abdullah Öcalans als Quellengrundlage für eine solche Auseinandersetzung zu nehmen. Im vierten Teil dieser Arbeit soll diese Lücke durch die Untersuchung von Öcalans Theorie auf Grundlage seiner Schriften geschlossen werden.

In der Post-Development Theorie nehmen die »Alternativen zur Entwicklung« einen wichtigen Platz ein. In verschiedensten wissenschaftlichen Beiträgen werden Praxisbeispiele aus der gesamten Welt sichtbar gemacht, die alternative Gesellschaftsformen jenseits des sogenannten Entwicklungspfades darstellen. Als klassisches Beispiel innerhalb der Post-Development Theorie gilt das zapatistische Gesellschaftsmodell im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, das von unterschiedlichen Autor:innen aufgegriffen und untersucht wurde (u.a. Esteva 2006, Sachs 2006, Gilgenbach/Moser 2012). Daneben nimmt Indien einen wichtigen Platz in den Debatten der Post-Development Theorie ein. So beschäftigen sich beispielsweise verschiedene Autor:innen im Sammelband »Ecologies of Hope & Transformation« mit Alternativen zur Entwicklung aus Indien (Singh et al. 2018). Ein weiteres vielzitiertes Beispiel in der Post-Development Theorie für gesellschaftliche Lebensformen jenseits des Entwicklungspfades ist die Realität der »comunidades negras« – der afrokolumbianischen Gemeinschaften in Kolumbien. Auf der Grundlage von eigenen Forschungsaufenthalten und einem engen Austausch mit den Aktivist:innen der »Proceso de Comunidades Negras«, eine Dachorganisation von zahlreichen afrokolumbianischen Basisgruppen, ist Arturo Escobars Werk »Territories of Difference – place, movements, life, redes« entstanden. Darin setzt er sich nicht nur mit der Lebensrealität der Community auseinander, sondern zeigt auch ihre politischen und gesellschaftlichen Visionen auf, die eine Alternative zur Entwicklung darstellen (Escobar 2008: X).

Eine Alternative zur Entwicklung stellt auch das Konzept des »Buen Vivir« dar, das von indigenen Gemeinschaften in Ecuador und Bolivien umgesetzt wird. In beiden Ländern haben die Prinzipien des Buen Vivir teilweise sogar Eingang in die Verfassung gefunden, insbesondere im Hinblick auf die Rechte der Natur und die Anerkennung des Grundrechts auf Wasser (Acosta 2017a: 74). Zum Buen Vivir gehört sowohl die Idee des plurinationalen Staates, in dem viele verschiedene nationale Identitäten einen gleichberechtigten Platz finden sollen, als auch die Ablehnung der Fortschrittsideologie und des Primats des Wirtschaftswachstums (Acosta 2017b: 130, 145f.). Auch wenn das Buen Vivir kein universalistisches Konzept ist, so handelt es sich laut Acosta doch um eine globale Idee. Denn ähnliche Grundannahmen wie im Buen Vivir sieht er u.a. in der Ubuntu-Philosophie (Gemeinschaftssinn) in den subafrikanischen Ländern und dem Konzept des Swaraj (Selbstregierung) aus Indien verwirklicht (Acosta 2017a: 73). Die beiden letzteren Konzepte werden im Übrigen ebenfalls als Alternativen zur Entwicklung von der Post-Development Theorie aufgegriffen (Ziai 2017: 2548). Darüber hinaus liefern Schaffar und Ziai in ihrem gemeinsamen Beitrag einen Einblick in alternative Gesellschaftskonzepte im Sinne der Post-Development Theorie aus Thailand (Suffizienzwirtschaft) und dem Iran (Gharbzadegi) (Schaffar/Ziai 2018). Ein weiteres wichtiges Sammelwerk mit verschiedensten Praxisbeispielen für Alternativen zur Entwicklung wurde 2019 von Elise Klein und Carlos Eduardo Morreo herausgegeben. In »Postdevelopment in Practice. Alternatives, Economies, Ontologies« setzen sich die Autor:innen in verschiedenen Beiträgen mit Beispielen für »Alternativen zur Entwicklung« aus Regionen des Globalen Südens, aber auch aus dem Globalen Norden, auseinander (Klein/Morreo 2019).

Noch keinen richtigen Eingang in die Debatten der Post-Development Theorie hingegen hat die Idee des demokratischen Konföderalismus und ihre Umsetzung in Rojava gefunden. Diese Leerstelle zu füllen, stellt eine der Hauptmotivationen für die vorliegende Forschungsarbeit dar.

1.2 Fragestellung

Die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit lautet: Stellt der Demokratische Konföderalismus eine Alternative zur Entwicklung im Sinne der Post-Development Theorie dar?

Diese Frage soll zunächst auf der Ebene der Theorie beantwortet werden. Als Datengrundlage dienen die Verteidigungsschriften, die Abdullah Öcalan nach seiner Inhaftierung verfasst hat. Im zweiten Schritt soll die Umsetzung des demokratischen Konföderalismus in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien untersucht werden, um zu prüfen, ob das Konzept in der Praxis als eine Alternative im Sinne der Post-Development Theorie betrachtet werden kann. Dieser Teil der Untersuchung basiert auf Expert:inneninterviews mit lokalen Aktivist:innen, die ich während eines Forschungsaufenthalts in der Region im Jahr 2021 durchgeführt habe.

Ziel der Forschungsarbeit ist es, mit Hilfe der Post-Development Theorie ein umfassendes Verständnis für den demokratischen Konföderalismus auf theoretischer und praktischer Ebene zu gewinnen. Darüber hinaus soll, sofern die Fragestellung der Forschungsarbeit positiv beantwortet werden kann, die Post-Development Theorie mit dem Rojava-Beispiel um eine weitere »Alternative zur Entwicklung« bereichert werden.

1.3 Theoretischer Zugang und Methode

Wie bereits aufgezeigt, bildet die Post-Development Theorie den theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Ihr Konzept der »Alternative zur Entwicklung« wird hierbei die Grundlage für das Kategoriensystem darstellen, mit dessen Hilfe ich das Datenmaterial der Forschungsarbeit im Sinne der Fragestellung untersuchen werde. Dieser theoretische Zugang ermöglicht es uns, gesellschaftliche Systeme in Theorie und Praxis ausfindig und sichtbar zu machen, die mit den Grundsätzen des Entwicklungsdiskurses und des Universalismusanspruchs westlicher Gesellschaftskonzepte und Wissenssysteme brechen sowie die Wiederaneignung der Politik, der Ökonomie und des Wissens durch die Gesellschaft möglich machen.

Das Datenmaterial für die Untersuchung der Theorie des demokratischen Konföderalismus bilden die Verteidigungsschriften Abdullah Öcalans. Bei der Untersuchung des umfangreichen Materials wird regelgeleitet nach den Vorgaben der »qualitativen Inhaltsanalyse« nach Philipp Mayring vorgegangen (Mayring 2010). Dieses methodische Vorgehen ermöglicht es, im Hinblick auf die Forschungsfrage relevante Inhalte aus dem Datenmaterial zu extrahieren und auszuwerten (ebd.: 92ff.). Für die Untersuchung der praktischen Umsetzung des demokratischen Konföderalismus in Rojava wird auf Leitfadeninterviews mit Expert:innen zurückgegriffen. Die ausgewählten Gesprächspartner:innen kommen aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen und haben in ihren Arbeitsbereichen zum Teil jahrelange Erfahrungen gesammelt, was sie zu Expert:innen ihres Feldes macht. Bei der Auswahl der Interviewpartner:innen wurde darauf geachtet, dass diese die Bereiche Politik, Ökonomie und Wissen – also die drei Grundpfeiler der »Alternative zur Entwicklung« – abdecken. Bei einem Leitfadeninterview kann der oder die Gesprächspartner:in eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen. Zugleich besteht für den/die Interviewer:in die Möglichkeit, den Gesprächsverlauf in einem gewissen Maße im Sinne der Fragestellung zu steuern. Dabei wird der Maxime »so offen wie möglich, so strukturierend wie nötig« vorgegangen (Helfferich 2019: 876). Die Auswertung der Daten aus den Expert:inneninterviews wird entsprechend der drei Bereiche des Konzepts der »Alternative zur Entwicklung« in »Wiederaneignung der Politik«, »Wiederaneignung der Ökonomie« und »Wiederaneignung des Wissens« unterteilt.

1.4 Begriffsdefinitionen

Bevor ich den Aufbau der Dissertation vorstelle, möchte ich an dieser Stelle noch einige Begriffsdefinitionen festhalten, die für die weitere Arbeit von Relevanz sind. In seinen Verteidigungsschriften führt Abdullah Öcalan immer wieder neue Begriffe und Konzepte ein, die er mit dem Attribut »demokratisch« versieht. Dazu gehören unter anderem »demokratische Republik«, »demokratische Autonomie«, »demokratische Zivilisation«, »demokratische Moderne« oder die »demokratische Nation«. Ich werde die Konzepte, die Öcalan im Zuge der ideologischen Neuausrichtung der PKK entwirft, zunächst im Abschnitt »Paradigmenwechsel der PKK« (Kap. 3.4.7) vorstellen, bevor ich sie in Kapitel vier dieser Arbeit genauer definieren werde.

Der »demokratische Konföderalismus« übernimmt in Öcalans Theorie die Funktion der politischen Struktur (Öcalan 2020: 466). Wenn in der vorliegenden Forschungsarbeit vom »demokratischen Konföderalismus« die Rede ist, so wird darunter aus Gründen der einfacheren Verständlichkeit die gesamte Gesellschaftstheorie verstanden. Bei der Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit werde ich mich somit nicht bloß mit den politischen Strukturen, die im Sinne von Öcalans Konzept aufgebaut werden sollen, beschäftigen, sondern mit seiner Theorie als Ganzes.

Der in diesem Teil der Arbeit verwendete Begriff »Kurdistan« bezeichnet die traditionellen Siedlungsgebiete der Kurd:innen in allen vier Staaten, auf welche sie aufgeteilt sind. Es handelt sich also um eine geografische Bezeichnung, die jedoch nicht eindeutig abgrenzbar ist. So gibt es beispielsweise ehemals mehrheitlich von Kurd:innen bewohnte Orte, in denen sich heute die Bevölkerungsverhältnisse durch freiwilligen oder unfreiwilligen Zu- bzw. Wegzug verändert haben. Andererseits gibt es Orte, auf welche die Kurd:innen ebenso historische Ansprüche erheben wie andere Gemeinschaften oder die jeweiligen Zentralstaaten. Dennoch wird der Begriff in dieser Arbeit verwendet, weil dies die Eigenbezeichnung der Kurd:innen für ihre traditionellen Siedlungsgebiete ist. Dies schließt allerdings nicht aus, dass diese Regionen auch anders bezeichnet werden können und ist auch nicht als Wertung zu verstehen, ob ein »umstrittener Ort« nun zu Kurdistan gehört oder nicht. Da die Kurd:innen diese durch staatliche Grenzen voneinander getrennten Gebiete als ihr zusammenhängendes Siedlungsgebiet betrachten, verwenden sie auch die Bezeichnungen Nordkurdistan (Südosten der Türkei), Ostkurdistan (Nordwesten des Iran), Südkurdistan (Nordirak) und Westkurdistan bzw. Rojava (für Teile Nordsyriens). Auch wenn die Zuordnung zu den Himmelsrichtungen nicht ganz exakt ist, werden die genannten Bezeichnungen der kurdischen Siedlungsgebiete unter den Kurd:innen vielfach verwendet. Der Einfachheit halber werde auch ich in dieser Arbeit auf diese Bezeichnungen zurückgreifen. Wenn also beispielsweise von »Südkurdistan« die Rede ist, so ist dies als Synonym für den Nordirak bzw. die mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Gebiete des Iraks zu verstehen. Der Begriff »Rojava« ist kurdisch und bedeutet »Westen«. Die Bezeichnung Rojava wird heute jedoch nicht nur für die mehrheitlich kurdischen Gebiete in Nordsyrien verwendet, sondern für alle Gebiete Nord- und Ostsyriens, in denen das Selbstverwaltungssystem nach den Prinzipien des demokratischen Konföderalismus etabliert wurde. Denn die »Revolution von Rojava« hat zwar, wie in Kapitel fünf näher ausgeführt werden wird, in den kurdischen Siedlungsgebieten Nordsyriens ihren Anfang genommen, sich im Zuge des Kampfes gegen den IS allerdings auf weitere, mehrheitlich arabische Gebiete Nord- und Ostsyriens ausgeweitet. Die in der Forschungsarbeit verwendeten Begriffe »Zentralmacht«, »Zentralstaat« oder »Zentralregierung« beziehen sich auf die Staatsgewalt der jeweiligen Länder, auf welche die kurdischen Siedlungsgebiete heute aufgeteilt sind.

1.5 Aufbau der Arbeit und Vorgehen

Die Forschungsarbeit beginnt im nachfolgenden Kapitel mit einer Einführung in die Post-Development Theorie. Die Post-Development-Theorie ist ein entwicklungstheoretischer Zugang, der eine »Fundamentalkritik der Entwicklung« (Ziai 2012) darstellt. Um diese Kritik nachvollziehen zu können, wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit zunächst die Geschichte des Entwicklungsdiskurses und sein praktischer Niederschlag in der Entwicklungspolitik erörtert. Anschließend stelle ich die Positionen der Post-Development Theorie zum Entwicklungsdiskurs dar und widme mich ihrem Konzept der »Alternative zur Entwicklung«. Zum Abschluss des Kapitels werde ich anhand der Ausführungen der Post-Development Theorie zu gesellschaftlichen Alternativen jenseits des Entwicklungspfades ein vorläufiges Kategoriensystem entwickeln, mit dem in den späteren Teilen der Arbeit die Untersuchung des demokratischen Konföderalismus in der Theorie und in der Praxis vorgenommen werden soll.

Im dritten Kapitel soll die kurdische Frage, ihre Geschichte und der Kampf der Kurd:innen um Anerkennung und Selbstbestimmung dargestellt werden. Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, den demokratischen Konföderalismus als Lösungsmodell für die kurdische Frage in einen historischen Kontext zu setzen und soll aufzeigen, dass der demokratische Konföderalismus einen qualitativen Wandel im Selbstbestimmungskampf der Kurd:innen darstellt. Das Kapitel beginnt mit einigen einführenden Informationen zur Geographie und Bevölkerungszusammensetzung Kurdistans. Anschließend widme ich mich nacheinander den historischen Verläufen der kurdischen Frage in der Türkei (bzw. in Nordkurdistan) und in Syrien (bzw. Rojava), bevor ich mich abschließend mit der Geschichte der Arbeiterpartei Kurdistans auseinandersetze. Ausgeklammert werden in diesem Kapitel die historischen Entwicklungen in den kurdischen Siedlungsgebieten des Iraks und des Irans. Die kurdische Frage ist zwar auch Teil der Geschichte und Gegenwart dieser beiden Staaten. Doch in Bezug auf die Entstehung und Umsetzung des demokratischen Konföderalismus spielen der Irak und der Iran nur eine untergeordnete Rolle und können deshalb für die Beantwortung der Forschungsfrage vernachlässigt werden. Nordkurdistan hingegen ist relevant, weil die Arbeiterpartei Kurdistans hier ihren Ursprung hat, während die Geschichte Syriens bzw. Rojavas für die Untersuchung der praktischen Umsetzung des demokratischen Konföderalismus von Bedeutung ist. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Überblick über die Evolution des kurdischen Befreiungskampfes. Hier soll zusammenfassend dargestellt werden, weshalb die PKK mit ihrem Lösungsmodell des demokratischen Konföderalismus eine neue historische Etappe im kurdischen Befreiungskampf repräsentiert.

Wodurch sich diese Etappe im Besonderen auszeichnet, wird im nachfolgenden vierten Kapitel der Arbeit erörtert. Hier werde ich mich dem ersten Teil der Fragestellung dieser Forschungsarbeit widmen. Die Untersuchung der Frage, ob die Theorie des demokratischen Konföderalismus eine Alternative zur Entwicklung im Sinne der Post-Development Theorie darstellt, soll mit Hilfe der Methode der inhaltlichen Strukturierung als Teilbereich der qualitativen Inhaltsanalyse beantwortet werden. Die Untersuchung erfolgt systematisch und schrittweise nach den Vorgaben von Mayring. Das umfangreiche Datenmaterial umfasst die Verteidigungsschriften Abdullah Öcalans, aus deren Inhalt mit Hilfe des in Kapitel zwei erarbeiteten Kategoriensystems relevante Informationen extrahiert und im Sinne der Fragestellung zusammengefasst werden. Die Untersuchung verläuft chronologisch nach dem Datum der Verschriftlichung des Materials, wodurch auch die Entwicklung in Öcalans Denken nachgezeichnet werden kann.

Das daran anknüpfende fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der praktischen Umsetzung von Öcalans Ideen in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien. In diesem Kapitel soll der zweite Teil der Forschungsfrage, nämlich ob der demokratische Konföderalismus in seiner praktischen Umsetzung eine Alternative zur Entwicklung darstellt, beantwortet werden. Die Datengrundlage für die Beantwortung dieser Frage bildet ein Korpus von 28 Expert:inneninterviews, die ich im Rahmen eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts in der Region führen durfte. Angelehnt an das vorgenannte Kategoriensystem werden die transkribierten und übersetzten Gesprächsinhalte entsprechend der Teilbereiche des Konzepts der Alternative zur Entwicklung, als »Wiederaneignung der Politik«, »Wiederaneignung der Ökonomie« und »Wiederaneignung des Wissens« strukturiert und im Sinne der Fragestellung aufgearbeitet.

Abgerundet wird die Arbeit durch ein Fazit, in dem die wichtigsten Erkenntnisse der Forschungsarbeit nochmals prägnant zusammengefasst werden sollen. Außerdem sollen die wissenschaftliche sowie allgemeine Relevanz der Forschungsarbeit erörtert, die Grenzen der Dissertation diskutiert und weiterführende Fragen für die zukünftige Forschung aufgezeigt werden.

Ich habe mich bei dieser Dissertation für eine gegenderte Schreibweise mit »Doppelpunkt« entschieden. Auf diese Weise soll die Vielfalt der Geschlechter mitberücksichtigt werden. Das generische Maskulinum wird nur in Originalzitaten verwendet. Die Namen von Organisationen, Parteien und anderen Strukturen, die in der Dissertation vorkommen, werden bei ihrer Erstbenennung kursiv gesetzt. Dabei füge ich in Klammern die jeweilige Bezeichnung in der Originalsprache sowie die gängige Abkürzung an. Alle kursiv gesetzten Bezeichnungen tauchen im Glossar der Forschungsarbeit auf.

1Der Begriff »Mittlerer Osten« (abgeleitet aus dem Englischen »Middle East«) ist, ebenso wie die im deutschsprachigen Raum verwendete Bezeichnung »Naher Osten«, nicht nur in Bezug auf die geographische Einordnung ungenau, er ist auch politisch problematisch, weil sie aus einem eurozentrischen Blickwinkel entstammt. Eine genauere und neutralere geographische Bezeichnung der Region wäre beispielsweise »Westasien« (ArbeiterIn 2022). Obwohl ich diese Kritik teile, habe mich aus Gründen der Einheitlichkeit und einfacheren Verständlichkeit dennoch dazu entschieden, in der vorliegenden Forschungsarbeit die Begrifflichkeit des Mittleren Ostens zu nutzen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war, dass sowohl Öcalan in seinen Schriften als auch meine Interviewpartner:innen durchgängig diese Bezeichnung für die Region nutzen bzw. genutzt haben.

2Die Geschichte der Arbeiterpartei Kurdistans wird in Abschnitt 3.4 dieser Dissertation behandelt.

3Die Theorie des demokratischen Konföderalismus ist Gegenstand von Kapitel 4 dieser Arbeit.

2. Theoretischer Rahmen: Die Post-Development Theorie

Das Gesellschaftsprojekt des demokratischen Konföderalismus mit einem entwicklungstheoretischen Zugang wie dem Post-Development-Ansatz zu erklären, mag auf dem ersten Blick verwirrend klingen. Was hat eine Entwicklungstheorie mit dem gesellschaftlichen Modell zu tun, das seit dem Jahr 2012 im Bürgerkriegsland Syrien im Entstehen ist? Im Falle der Post-Development Theorie tatsächlich einiges. In diesem Kapitel soll ausgearbeitet werden, weshalb ich diesen theoretischen Zugang für das Konzept des demokratischen Konföderalismus gewählt habe.

Hierzu möchte ich zunächst den Post-Development Ansatz innerhalb der Entwicklungstheorien verorten. So werden im nachfolgenden Abschnitt die Herkunft und die unterschiedlichen Definitionsmöglichkeiten des Begriffs »Entwicklung« dargelegt. Darauf aufbauend soll eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit der Entwicklungstheorie und ihre Auswirkungen in der praktischen Sphäre, der Entwicklungspolitik, dargestellt werden. Auf Grundlage dieser Ausführungen werde ich mich der Einordnung des Post-Development Ansatzes innerhalb der Entwicklungstheorien widmen. Ziel wird es hierbei sein, die Kritiken der Post-Development Theoretiker:innen zum gängigen Entwicklungskonzept innerhalb der Disziplin auszuarbeiten und die Alternativen des Post-Development Stranges darzustellen. Abgerundet wird dieser Teil der Arbeit durch eine Darstellung der Beweggründe für die Frage, weshalb der Post-Development Ansatz als theoretischer Zugang für die Forschungsarbeit ausgewählt wurde.

2.1 Was bedeutet Entwicklung?

Der Versuch, eine einheitliche und allgemeingültige Definition für den Begriff »Entwicklung« zu finden, gestaltet sich nicht einfach. Zu unterschiedlich sind die Definitionen, zu groß die Differenzen in der Einordnung des Begriffs. Eigentlich ist das verwunderlich, denn bereits seit den 1950er Jahren werden weltweit an Universitäten in Teilbereichen verschiedener Wissenschaftszweige wie der Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft und Geographie Forschungen zum Thema Entwicklung betrieben (Fischer et al. 2016a: 5). Doch in Bezug auf die Deutungshoheit bleibt selbst heute der Begriff »Entwicklung« innerhalb der Sozialwissenschaften eine umkämpfte Kategorie. Ursächlich hierfür ist, dass der Begriff sowohl im akademischen als auch im politischen Betrieb als eine Projektionsfläche für unterschiedliche Standpunkte und Leitbilder fungiert (Burchardt et al. 2017: 20).

Dabei hat der Entwicklungsbegriff ursprünglich wenig mit Wissenschaft und Politik zu tun. Seine Wurzeln liegen vielmehr in der Theologie (Fischer et al. 2004: 24). Hier wurde Entwicklung im Kontext der Heilsgeschichte als der Weg zu einer wie auch immer gearteten religiösen Erlösung verstanden. Bereits im 12. Jahrhundert findet sich in der Lehre des kalabrischen Abtes Joachim von Fiore die Vorstellung einer stufenweisen Entwicklung der Welt auf ein Endziel hin. Dieses Ziel wird von Fiore als das Reich Gottes definiert (Loewenstein 2009: 46). Die Einführung des teleologischen Entwicklungsbegriffs in die Theologie hatte weitreichende Folgen für das vorherrschende Geschichtsverständnis. Letztlich führte die Vorstellung eines allgemeingültigen, religiös begründeten Ziels der Menschheit zur Ablösung der bis dahin dominanten und aus der Antike stammenden zyklischen Vorstellung von Zeit (ebd.: 49). Dieses Grundverständnis von Zeit und Entwicklung begleitet uns in abgewandelter Form bis in die Gegenwart.

Der Entwicklungsbegriff sollte in den kommenden Jahrhunderten weit über die Grenzen der Theologie hinaus Karriere machen. Als nächstes fand der er Eingang in die Philosophie und in die Biologie. In den Schriften des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz tauchen Begriffe wie evolutio, developpement und enveloppement auf, die mit dem heutigen Verständnis von Entwicklung verwandt sind und allesamt über einen richtungsweisenden Charakter verfügen. Aus der Sicht von Leibniz ist Entwicklung als etwas zu verstehen, das im Kern im Individuum oder in der Gesellschaft angelegt ist, aber noch auf seine Entfaltung wartet. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch bei Immanuel Kant, der ebenfalls von den natürlichen Anlagen des Menschen spricht, die sich durch sein aktives Zutun entfalten würden (Nohlen/Nuscheler 1993: 58).

In den Naturwissenschaften wurde der Begriff zunächst zur Beschreibung des natürlichen Wachstums von Lebewesen verwendet. Dadurch entstand eine inhaltliche Nähe zwischen den Begriffen der Evolution und der Entwicklung (Quintero 2013: 93). Die Evolution beschreibt die Entwicklung von Lebewesen durch das Prinzip der Selektion über einen sehr langen Zeitraum. Der Evolutionsbegriff selbst leitet sich aus dem lateinischen Verb »evolvere« ab, was sich im Deutschen mit »entwickeln« übersetzen lässt. Bekannt für die Übertragung von evolutionstheoretischen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften auf die Sphären der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens war im 19. Jahrhundert der Philosoph Herbert Spencer. In seinem 1864 erschienenen Werk »Principles of Biology« verwendete er erstmals das Konzept des »survival of the fittest« in Bezug auf menschliche Gemeinschaften (er spricht von Rassen), weswegen Spencer auch als Vater des Sozialdarwinismus betrachtet wird (Vester 2009: 59). Als kennzeichnend für die vorläufig letzte Phase der Evolution begreift Spencer die seine Lebensepoche prägenden Merkmale der Aufklärung und der Ausbreitung kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen (Loewenstein 2009: 301).

Im 18. und 19. Jahrhundert gelingt dem Konzept der Entwicklung, verstanden als zielorientierter gesellschaftlicher Fortschritt, der endgültige Durchbruch. Mit Anleihen aus der Theologie, den Naturwissenschaften oder beiden taucht das Konzept nicht nur bei Spencer, sondern auch in den Theorien und Konzepten von namhaften Ökonomen, Philosophen und Soziologen wie Adam Smith, John Stuart Mill, David Ricardo, Friedrich List, Karl Marx, Auguste Comte und Thomas Robert Malthus auf (Fischer et al. 2016a: 4).

2.1.1 Entwicklung als Politikfeld und Wissenschaft

Mitte des 20. Jahrhunderts fand der Entwicklungsbegriff auch Eingang in das Feld des Politischen. In den Anfangsjahren herrschte in diesem Bereich weitgehende Einigkeit über das Verständnis und die Bedeutung von Entwicklung. Doch in dem Maße, in welchem die Entwicklungspolitik zu einem einflussreichen Bereich der internationalen Politik aufstieg, entstanden auch unterschiedliche Vorstellungen und Ansätze darüber, was »Entwicklung« eigentlich ist und wie sie in Gang gesetzt werden soll. Verschiedene Entwicklungstheorien bildeten sich heraus, die unterschiedliche Ursachen für »Unterentwicklung« identifizierten und entsprechend unterschiedliche Entwicklungswege präsentierten. Bei aller Unterschiedlichkeit bauen, mit Ausnahme der Post-Development Theorie, alle Entwicklungstheorien auf bestimmten gemeinsamen Prämissen auf, die in diesem Abschnitt herausgearbeitet werden sollen.

Der Beginn der Karriere des Entwicklungskonzepts in der internationalen Politik lässt sich sehr genau auf den 20. Januar 1949 datieren. An diesem Datum hielt der neugewählte 33. US-Präsident Harry S. Truman seine Antrittsrede, in welcher er sein »Four-Point-Programm« als Teil einer umfassenden Containment-Politik gegenüber der Sowjetunion verkündete (Stockmann/Menzel 2016: 28). Die Rolle der Entwicklungspolitik als Teil dieser Strategie erörterte Truman mit folgenden Worten:

»Fourth, we must embark on a bold new program for making the benefits of our scientific advances and industrial progress available for the improvement and growth of underdeveloped areas. More than half the people of the world are living in conditions approaching misery. Their food is inadequate. They are victims of disease. Their economic life is primitive and stagnant. Their poverty is a handicap and a threat both to them and to more prosperous areas. For the first time in history, humanity possesses the knowledge and skill to relieve the suffering of these people.[…] I believe that we should make available to peace-loving peoples the benefits of our store of technical knowledge in order to help them realize their aspirations for a better life. And, in cooperation with other nations, we should foster capital investment in areas needing development.« (Truman 1949)

Trumans Antrittsrede markiert eine Zäsur in der internationalen Politik dar. Der amerikanische Präsident erklärt die Entwicklungspolitik zur »historischen Verantwortung« seiner Nation. Das Problem der »Armut« definiert er sowohl als Gefahr für die betroffenen Länder als auch für die wohlhabenden Teile der Welt. Zugleich unterscheidet er zwischen »underdeveloped« und »prosperous areas« auf der Welt, wobei er den »entwickelten Ländern« die Fähigkeit zuschreibt, den »unterentwickelten Teilen der Welt« ein besseres Leben ermöglichen zu können (Sachs 1993: 9).

Die Einführung der Entwicklungsidee in die internationale Politik durch Truman fällt in eine historische Epoche, in welcher die USA bestrebt ist, ihre Stellung als neue Weltmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu konsolidieren. Die größte Herausforderung stellen in diesem Zusammenhang das Erstarken der Sowjetunion und der wachsende Einfluss sozialistischer Ideen in den ehemals kolonisierten Ländern der Welt dar. Die Eingrenzung des Einflusses der Sowjetunion auf diese Teile der Welt stellt für die USA wohlmöglich die zentrale Antriebskraft für das Projekt der Entwicklungspolitik dar (Escobar 2012: 34).

Die Entwicklungspolitik ist vor dem Hintergrund der historischen Bedingungen ihrer Entstehung also keineswegs als ein Akt der selbstlosen Unterstützung der USA und der »entwickelten Welt« gegenüber den »unterentwickelten Ländern« zu verstehen. Trotz dessen legte die Idee der Entwicklung in der internationalen Politik über ideologische Grenzen hinweg eine beispiellose Karriere hin. So war die Vorstellung eines unilinearen Entwicklungspfades auch im realsozialistischen Ostblock vorherrschend. Dort wurde lediglich propagiert, dass unter sozialistischen Bedingungen die Entwicklung von »unterentwickelten Staaten« besser funktionieren würde (Cleaver 1993: 345). Zugleich hatte das Entwicklungskonzept auch auf die dekolonialisierte Welt eine unheimliche Anziehungskraft. Die Regierungen vieler Länder, die sich vom Joch des Kolonialismus befreit hatten, hofften nun durch Entwicklungshilfen zum jeweiligen Primus in Washington oder Moskau aufschließen zu können. Die Idee der Entwicklung galt somit über lange Jahrzehnte als eine unhinterfragbare »heilige Kuh« (Rahnema 2006: IX).

Einen nicht unbedeutenden Beitrag hierzu leistete die akademische Welt. Kurz nach dem Einläuten der Entwicklungsära durch den US-Präsidenten Truman wurde ein reges universitäres Interesse an den Theorien zur Entwicklung angefacht, was sich weltweit in der Gründung von Lehrstühlen und Abteilungen für dieses neue soziologische Fachgebiet äußerte. Insbesondere die einstige globale Kolonialmacht Großbritannien engagierte sich fleißig und finanzierte auch in ehemaligen Kolonialländern universitäre Abteilungen, welche die Gründe und Ursachen für die »Unterentwicklung« in den jeweiligen Ländern wissenschaftlich durchleuchten sollten (Fischer et al. 2016a: 5). Damit war die Entwicklungsforschung vorwiegend als empirische Wissenschaft angelegt. Sie sollte einerseits universelle Muster der Entwicklung anhand der erfolgreichen »Entwicklungsbeispiele« im Globalen Norden herausarbeiten. Andererseits sollte sie herausfinden, warum die als defizitär betrachteten »unterentwickelten« Länder in ihrem Aufholprozess auf dem Pfad der Entwicklung hinterherhinken und wie ihnen bei ihren vermeintlichen Problemen geholfen werden kann. Die Entwicklungstheorie zog so aus ihren Forschungserkenntnissen Schlüsse, die wiederum als Handlungsanweisungen für die Entwicklungspolitik dienen konnten (Stockmann/Menzel 2016: 19f.).

2.1.2 Die fünf Stufen der Entwicklung

Eng mit der Theoriebildung in der Entwicklungspolitik verbunden ist der Name Walt Whitman Rostow. Die von ihm konzipierte Theorie der fünf Wachstumsstadien ist eines der zentralen Werke der Modernisierungstheorien, die wiederum eine prägende Rolle innerhalb der Entwicklungsforschung spielen. Laut Rostows Theorie gibt es fünf universell geltende Wachstumsstadien, in welche sich alle Länder der Welt einordnen lassen: Die traditionelle Gesellschaft, die Anlaufperiode, die Periode des wirtschaftlichen Aufstiegs, die Reifeperiode und das Zeitalter des hohen Massenkonsums (Rostow 2016: 45). Die einzelnen Stufen sind gekennzeichnet durch das technologische Produktionsniveau und die politische Struktur der jeweiligen Staaten. Nach Rostows Schema durchleben zunächst einmal alle Länder die Stufe der traditionellen Gesellschaft. Als Pioniere der Überwindung dieser ersten Stufe betrachtet Rostow die Länder Westeuropas des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die diesen Sprung mittels technologischen Fortschritts in der Landwirtschaft und der Industrie bewerkstelligt haben sollen. Für seine Gegenwart stellt der Modernisierungstheoretiker fest, dass die Überwindung der traditionellen Gesellschaftsform oftmals nur durch die Intervention »entwickelter Gesellschaften« ermöglicht werde (ebd.: 47f.), womit er auf die »historische Verantwortung« der Industriestaaten aus dem oben zitierten »Four-Point-Programm« Trumans anspielt. Das Zeitalter des hohen Massenkonsums, also die letzte Stufe seines linearen Entwicklungsschemas, sieht Rostow zu seiner Lebenszeit lediglich in den USA, in Westeuropa und in Japan realisiert (ebd.: 53). Diese Länder haben in seiner Vorstellung das Ziel erreicht, zu dem der Rest der Welt strebt.

Die Modernisierungstheorie von Rostow baut auf dem binären Verständnis von modernen und traditionellen Gesellschaften auf. Die zweite bis vierte Stufe seiner Theorie können als Zwischenetappen im linearen Geschichtsverständnis des Ökonomen Rostow verstanden werden. Laut seiner Theorie ist die fünfte Stufe durch Eigenschaften wie Rationalismus, Universalismus, Demokratisierung, Massenkonsum und Leistungsmotivation gekennzeichnet, während die erste Stufe der traditionelle Gesellschaft das genaue Gegenteil dieser positiven Attribute repräsentiert (Fischer et al. 2016b: 140). Mit diesen Zuschreibungen trägt Rostow nicht nur zu einer homogenisierenden Sichtweise auf die vielfältige Welt der nicht-westlichen gesellschaftlichen Lebensweisen bei, er zeichnet auch ein defizitäres Bild der vermeintlich traditionellen Gesellschaften. Durch Rostows Konzeption entsteht eine globale Hierarchisierung der unterschiedlichen globalen Gesellschaften und Kulturen. Welche Absicht das 1960 veröffentlichte Hauptwerk des Professors für Politische Ökonomie verfolgt, wird bereits am Titel deutlich: »The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto« (Rostow 1960). Rostows Modell ist Tel der US Containment-Politik und dient als theoretische Legitimation für die US- Entwicklungspolitik in den ehemaligen Kolonialländern, um deren Gunst sie mit der Sowjetunion konkurriert (Gonçalves 2005: 29).

Doch nicht nur aus dem kapitalistischen Zentrum ging eine Begeisterung fürs Rostows Theorie aus. Auch auf die politischen Eliten der ehemaligen Kolonialländer übte seine Theorie der fünf Wachstumsstufen eine starke Anziehungskraft aus. Denn mit seiner Theorie prophezeite Rostow der »unterentwickelten Welt« den Weg zum Wohlstand. Mit jeder Stufe nach oben sollten sich demnach die Gesellschaften der »Entwicklungsländer« ein Stück mehr von ihrer »Unterentwicklung« befreien, bis sie schließlich durch eine »nachholende Entwicklung« das wirtschaftliche Niveau der Industrieländer erreichen (Schmidt/Schröder 2016: 22). Die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg der »Entwicklungsländer« sei in der neueren Geschichte oftmals durch die Intervention »entwickelterer Gesellschaften« geschaffen worden. Das habe zum Zerbröckeln der »alten Kultur« geführt, während sich zeitgleich die Überzeugung in der jeweiligen Gesellschaft für die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums immer mehr durchgesetzt habe. Als »alte Kultur« versteht Rostow »traditionelle« Gesellschaftsformen, samt ihrer Wertevorstellungen und politischen Strukturen. Diese, als »wenig produktiv« dargestellten, Gesellschaftsstrukturen macht er als Hindernis auf dem Weg zur Entwicklung aus. Der Aufbau eines »schlagkräftigen, zentralisierten Nationalstaates«, welcher die traditionellen Gesellschaftsstrukturen zurückdrängt, ist für Rostow eine »notwendige Bedingung für den wirtschaftlichen Aufstieg« (Rostow 2016: 48f.). Die Ausführungen des einflussreichen Modernisierungstheoretikers hierarchisieren nicht nur die Gesellschaften, sie rechtfertigen im Namen der »Entwicklung« auch die wirtschaftliche, politische und/oder militärische Intervention der »Industriestaaten« in die Länder des Globalen Südens. Rostow selbst war in höchstem Maße von seiner Theorie überzeugt. 1963 diskutierte er auf einer Konferenz in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba nämlich mit dem französischen Soziologen René Dumont über die Frage, ob der afrikanische Kontinent schon in 20 Jahren oder erst in 40 Jahren das Wirtschaftsniveau der Schweiz erreicht haben wird (Fischer et al. 2004: 18).

2.1.3 Die exogenen Faktoren der Unterentwicklung

Doch auch heute, knapp 60 Jahre später, gibt es keinen Staat in Afrika der annähernd das Wirtschaftsniveau der Schweiz erreicht hätte. Bereits ab den 1970er Jahren folgte auf den anfänglichen Enthusiasmus, welchen die Debatten über die Entwicklungspolitik und Modernisierung weltweit losgetreten hatten, eine allgemeine Ernüchterung. Die »nachholende Entwicklung« und der Aufstieg der »Entwicklungsländer« auf Rostows Stufenleiter der Modernisierung waren weitgehend ausgeblieben. Daraufhin verschoben sich die Diskussionen über die Ursachen der ausbleibenden Entwicklung. Kritische Theoretiker:innen wie Vertreter:innen der Dependenz, Weltsystem- und Neoimperialismustheorien gewannen innerhalb der Entwicklungsdebatte an Gewicht (ebd.: 36). Ihr wichtigster gemeinsamer Einwand gegen die bisherigen Entwicklungstheorien bestand darin, dass sie nicht die Länder des Globalen Südens primär für ihre »Unterentwicklung« verantwortlich machten, sondern die Ursachen im kapitalistischen System und den Folgen der kolonialistischen Epoche suchten. Unterentwicklung wird aus ihrer Perspektive also durch exogene Faktoren verursacht (Schmidt 2016: 131). Das Entwicklungskonzept wird von den kritischen Entwicklungstheorieströmungen zwar nicht in Frage gestellt. Die propagierte nachholende Entwicklung unter kapitalistischen Vorzeichen, wie sie die Modernisierungstheoretiker:innen propagieren, schließen viele der kritischen Entwicklungstheoretiker:innen jedoch aus.

Dass die kapitalistische Wirtschaft expandieren und sich immer neue nicht-kapitalistische Gebiete einverleiben muss, um überlebensfähig zu bleiben, hat bereits Rosa Luxemburg im Jahr 1913 in ihrer Imperialismustheorie dargelegt. Demnach eignet sich das kapitalistische Zentrum hierdurch Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und Absatzmärkte an (Luxemburg 2016: 154). Ähnlich wie Luxemburg erkennt der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein eine der kapitalistischen Ordnung immanente Tendenz, immer weitere Teile des Globus in sein Weltsystem einzuverleiben. So habe das kapitalistische Weltsystem seit seiner Entstehung, das Wallerstein grob in den Zeitraum des ›langen 16. Jahrhundert‹ zwischen 1450 und 1650 festlegt (Imbusch 1990: 31), beständig Gebiete der Außenarena peripherisiert. Mittlerweile ist dieser Prozess laut Wallerstein abgeschlossen, da das Weltsystem weltumfassend geworden sei (Zündorf 2010: 31f.). Die Unterteilung der Länder erfolgt in der Weltsystemtheorie nicht in die Kategorien »entwickelt« und »unterentwickelt«, sondern in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie des Weltsystems. Zwischen diesen drei Ebenen sind laut Wallerstein zwar Auf- und Abstiege möglich, doch das gesamte Weltsystem sei stets bestimmt durch ein Nullsummenspiel. Das bedeutet, der Aufstieg eines Landes in eine höhere Kategorie ist verbunden mit dem Abstieg eines anderen Landes auf eine niedrigere Stufe (Imbusch 1990: 80). Die Perspektive eines globalen Aufstiegs aller Länder in das Zeitalter des hohen Massenkonsums, wie von Rostow prophezeit, schließt die Weltsystemtheorie aus.

Die Dependenztheorien stützen sich in erster Linie auf die entwicklungspolitischen Erfahrungen aus Lateinamerika. Sie kritisieren, dass sich die Modernisierungstheorien ausschließlich mit den historischen Erfahrungen des kapitalistischen Zentrums befassen und daraus ihre Leitlinien der Entwicklungspolitik für die »unterentwickelten Länder« ableiten. Die (koloniale) Geschichte der Entwicklungsländer und ihr Beziehungsgeflecht zum kapitalistischen Zentrum werden in dieser Perspektive verkannt oder als nicht relevant erachtet (Frank 2008: 148). Sowohl die Dependenztheorie als auch die Weltsystemtheorie gehen von einem strukturellen Ausbeutungsverhältnis zwischen der »unterentwickelten« (in den Theorien als Satellit bzw. Peripherie bezeichnet) und der »entwickelten Welt« (als Metropole bzw. Zentrum bezeichnet) aus, welche sich durch den »ungleichen Tausch« kennzeichnet (Schmidt 2016: 137, Lipke 2010: 25).

Das Theorem des ungleichen Tauschs erklärt, dass innerhalb der globalen Handelsbeziehungen des kapitalistischen Weltsystems eine strukturelle Benachteiligung der Staaten der Peripherie gegenüber dem kapitalistischen Zentrum vorherrscht. Es findet somit in der kapitalistischen Weltordnung ein permanenter Wertetransfer aus den »unterentwickelten Ländern« in die »entwickelte Welt« statt (Hopfmann 2003: 357). Diese strukturelle Benachteiligung der Peripherie wird als eine Folge des kolonialistischen Zeitalters erachtet (Schmidt 2016: 137). Das postkoloniale Abhängigkeitsverhältnis des Globalen Südens gegenüber den Industriestaaten werten die Denker:innen dieses Theoriestrangs als eine Fortsetzung des asymmetrischen Ausbeutungsverhältnisses, welches die Entwicklungspotenziale der benachteiligten Staaten blockiert (Gu 2010: 259). André Gunder Frank, der wohl bekannteste Dependenztheoretiker, spricht in diesem Zusammenhang von der »Entwicklung der Unterentwicklung«, also einer Unterentwicklung, die erst durch den historischen Prozess der Entwicklung des Kapitalismus in den Satellitenstaaten hervorgerufen worden sei und durch die strukturelle Benachteiligung ständig reproduziert werde (ebd.: 155).

Die meisten Weltsystem- und Dependenztheoretiker:innen schließen hieraus, dass weder die Staaten des Zentrums ein Interesse an der »Entwicklung« der Peripherie haben können, noch dass für die Staaten der Peripherie unter diesen Bedingungen Möglichkeiten zur Entwicklung gegeben sind. Über die Frage, welche Perspektiven sich für die Staaten dennoch auftun können, um aus ihrem peripheren Status herauszugelangen, gibt es hingegen keine Einigkeit. Wallerstein, der das globale Weltsystem in einer strukturellen Krise wähnt, erkennt für die Zukunft zwei Optionen, die entweder durch eine Restaurierung des Weltsystems (»Geist von Davos« – Weltwirtschaftsforum) oder durch die Realisierung einer gerechteren Weltordnung (»Geist von Porto Alegre« – Ort des ersten Weltsozialforums im Jahr 2001) gekennzeichnet sein wird (Wallerstein 2010: 13). Ansonsten reichen die Vorschläge für den Weg aus »Unterentwicklung« von der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution und/oder der Abkopplung der peripheren Staaten vom Weltsystem (Samir Amin und André Gunder Frank) bis hin zur Nutzung der Spielräume für Entwicklung und Emanzipation innerhalb der existenten abhängigen Situation zum Zentrum (Fernando Henrique Cardoso) (Schmidt 2016: 138,142).

2.1.4 Neoliberale Entwicklungspolitik

Die Kritik an den Modernisierungstheorien galt als ein erster Wendepunkt in der noch jungen Geschichte der Entwicklungspolitik. Rostows Theorie verlor sowohl durch die Kritik der Dependenz- und Weltsystemtheorien an Legitimität, als auch aufgrund ihrer ausbleibenden Erfolge. Für die westliche Entwicklungspolitik ging damit der Verlust ihrer ideologischen Stütze einher. Die Kritiker:innen der Modernisierungstheorie konnten da keinen Ersatz darstellen, denn schließlich machten sie exogene Faktoren als Ursache für die »Unterentwicklung« aus. Eine partielle Neuausrichtung der Entwicklungspolitik erfolgte schließlich Ende der 1970er Jahre, als das Wirtschaftsparadigma des Neoliberalismus ausgehend von Großbritannien und anschließend den USA seine Wirkung entfaltete (Altvater 2008: 50). Spätestens ab Anfang der 80er Jahre dominierte der Neoliberalismus auch die Entwicklungstheorien und löste somit die Modernisierungstheorien ab (Schmidt/Schröder 2016: 25).

Der neoliberale Zugang zur Entwicklungstheorie knüpft an zentralen Prämissen der Modernisierungstheorie an. Der universelle Geltungsanspruch wie der unbedingte Glaube an einen unilinearen Entwicklungspfad bleiben unangetastet. Lediglich die Wahl der Mittel auf dem Pfad der Entwicklung änderte sich. Hatte US-Präsident Truman noch mittels Technologietransfer und Kapitalinvestitionen entsprechend auf eine Industrialisierung der »Entwicklungsländer« gesetzt (Stockmann/Menzel 2016: 29), erhebt das neoliberale Paradigma den Freihandel, Privatisierungen und den Abbau staatlicher Regulation zum wichtigsten Maßstab der Entwicklungspolitik (Schmidt/Schröder 2016: 27).