Der Dialog - Eelco de Geus - E-Book

Der Dialog E-Book

Eelco de Geus

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Beschreibung

Unsere Kommunikation verläuft schnell. So schnell, dass wir verlernt haben, einander wirklich zuzuhören. Wir argumentieren und diskutieren auf der Suche nach schneller, möglichst konfliktfreier Übereinstimmung und adäquaten Entscheidungen. Wir neigen dazu, unsere Positionen zu verteidigen, statt uns auf einen gemeinsamen Denkprozess einzulassen.Der Dialog bietet einen Rahmen, in dem wir unsere Kommunikation verlangsamen, einander wirklich zuhören und unsere Gedanken gleichwertig mitteilen. Das ermöglicht, unsere eigenen Bewertungen zu untersuchen, sodass wir andere Gedanken wieder zulassen können. So kann etwas Neues entstehen, das wir allein nie denken hätten können. Der Dialog bietet die Möglichkeit zu erfahren, was es bedeutet kollektiv zu denken.Kompakt zusammengestellt bietet Eelco de Geus hier eine Definition von Dialog, beschreibt die Hintergründe, erläutert die Anwendungsmöglichkeiten und vermittelt den Leserinnen und Lesern einen ersten Einblick in den Dialog als Prozess.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 420

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EELCO DE GEUS KEES VOORBERG

Im Dialog

MITEINANDER den Wandel gestalten

persönlich | professionell | gesellschaftlich

Renate Götz Verlag

Inhalt

Vorwort

Einleitung

TEIL 1 | Dialog als Perspektive

Dialog in unserer Zeit

Dialog als Kommunikationsform

Fundamente des Dialogs

TEIL 2 | Auf dem Weg zum Dialog

Dialog und Diversität

Ich und Wir: Gruppenentwicklung durch Dialog

Der Dialog und die Wirkung unseres Denkens

Das Vermeiden des Dialogs

Das dialogische Paradigma

Teil 3 | Dialog in der Praxis

Der Dialogkreis

Dialogprozessbegleitung

Dialog in persönlichen und beruflichen Kontexten

Teil 4 | DIALOGISCHES LEBEN UND ARBEITEN IM 21. JAHRHUNDERT

Persönliche Kompetenzen

Systemisch-dialogische Kompetenzen

Transpersönliche Kompetenzen

Abschluss

Literatur

Über die Autoren

Dieses Buch ist auch auf Niederländisch erhältlich:

In dialoog: persoonlijk, professioneel, maatschappelijk

Waerbeke vzw, B-9506 Waarbeke, 2018

waerbeke.be

2024 © Renate Götz Verlag

A-2731 Dörfles, Römerweg 6

[email protected]

rgverlag.com

Übersetzung: Sarah Schützle

Cover, Layout & Gesamtgestaltung: outLINE|grafik Eva Denk . outlinegrafik.at

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung oder Reproduktion des Inhalts ist laut Urheberrecht nicht zugelassen. Hiervon ausgenommen sind kurze Auszüge zwecks Buchvorstellungen.

In sämtlichen in diesem Buch enthaltenen Fallbeispielen wurden Namen und personenbezogene Hinweise aus Datenschutzgründen anonymisiert.

ISBN 978-3-99150-014-8

Jede individuelle Ansicht eröffnet eine einzigartige Perspektive auf eine größere Realität. Wenn ich die Welt mit Ihren Augen sehe und Sie die Welt mit meinen,werden wir beide etwas erkennen, was wir allein niemals entdeckt hätten.

Peter Senge

Vorwort von Eelco de Geus

Dieses Buch basiert auf unseren Erfahrungen der letzten 15 Jahre, in denen wir Dialogausbildungen und Dialogprojekte in unterschiedlichsten Kontexten begleitet haben.

Im Jahr 2008 begannen wir sowohl in den Niederlanden als auch in Österreich mit den ersten Ausbildungen zur Dialogprozessbegleitung. Diese werden bis heute, zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches in deutscher Sprache, in Österreich weitergeführt. In den Niederlanden arbeitete ich mit Kees Voorberg zusammen, in Österreich mit Benno Kapelari, mit dem ich später die Dialogakademie1 gründete. Jeweils zwölf Tage lang haben wir mit Gruppen von 10 bis 16 Personen erforscht, was es bedeutet, wirklich miteinander in Kontakt zu sein. Um Verbindung zu schaffen und mit den Unterschieden zwischen uns umzugehen, die früher oder später auftreten. Wir haben uns in Offenheit, gegenseitigem Zuhören und authentischer Kommunikation geübt. Wir untersuchten, wie dies zu unserer persönlichen und gemeinsamen Entwicklung beiträgt. Wir haben erfahren, dass wir im Dialog eine stärkere Verbindung zu uns selbst und zueinander schaffen. Eine wachsende Qualität unserer Beziehungen steigert unsere Fähigkeit, entspannt, kreativ und konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen, mit denen wir in unserem persönlichen Leben und in der Gesellschaft konfrontiert sind.

Heute scheinen diese Texte aktueller denn je zu sein. Die Bedrohungen durch die Corona-Krise, den Klimawandel und die globalen Spannungen haben zugenommen. Die unterschiedliche Art und Weise, wie wir als Menschen darüber denken und damit umgehen, führt zu einer zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung in der Gesellschaft. Menschen beschuldigen und verurteilen einander zunehmend gegenseitig, Beziehungen stehen unter Druck und viele Verbindungen gehen verloren. Der Dialog scheint schwieriger und gleichzeitig noch wichtiger zu werden, als er ohnehin schon war.

Wir hoffen, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass wir uns für die Unterschiede zwischen uns öffnen und einander zuhören können, damit das, was uns als Menschen verbindet, spürbar und sichtbar werden darf. In der Gesprächsform des Dialogs wird der Beitrag jedes Gruppenmitglieds für die Weiterentwicklung der Gruppe oder der Organisation als unentbehrlich betrachtet. Gegenseitiger Respekt, zuhören und sich authentisch mitteilen stehen dabei im Mittelpunkt. Der Dialog wird zum Pfeiler für das gemeinsame (kollektive) Denken der Gruppe.

Wir haben die Texte, die in der Zusammenarbeit zwischen Kees Voorberg und mir in den Niederlanden entstanden sind, gesammelt und zusammengefügt. Wir teilen unsere praktischen Dialogerfahrungen, die wir in den Ausbildungsgruppen und in unserer Arbeit mit Menschen, Gemeinschaften und Organisationen gesammelt haben. Wir beschreiben die theoretischen Grundlagen, die wir in der Praxis als hilfreich empfunden und für unsere eigene Arbeit weiter verfeinert und vertieft haben. Wir haben das Buch für Menschen geschrieben, die ihre dialogische Haltung vertiefen wollen, sowie für Menschen, die selbst Dialoge begleiten möchten – in der Familie, mit Angehörigen und Freunden oder in beruflichen und gesellschaftlichen Kontexten.

Wir sind uns bewusst, dass diese Texte die Perspektive und Erfahrungswelt nur zweier Menschen abbilden und dass es viele andere Möglichkeiten gibt, Dialog zu definieren und zu beschreiben. Dies ist wichtig, da ein so umfassendes Konzept wie der Dialog nicht durch Einzelne, sondern nur durch eine Vielfalt an Sichtweisen beschrieben werden kann. Es erfordert die Perspektivenvielfalt, die der Begriff selbst impliziert: Dialog zu führen bedeutet unter anderem, durch die Verbindung verschiedener Sichtweisen neuen gemeinsamen Sinn zu finden.

Aus unserer Sicht ist Dialog nicht nur eine Technik oder Methode. Es ist ein Prozess, in dem kollektive Entwicklung mit persönlichem Wachstum Hand in Hand geht. Die Grenzen, an die wir in der Begegnung mit anderen geraten, betrachten wir als Chance und Anlass, unsere eigenen Annahmen über die Welt zu erkunden, sodass eine innere Offenheit für andere Sichtweisen entsteht. Diese Bereitschaft zum persönlichen Wachstum ist die Basis, auf der wir uns im Miteinander gemeinsam weiterentwickeln. Ohne diesen Aspekt wird der Dialog schnell auf eine Gesprächstechnik oder -methode reduziert, die nicht uninteressant und sehr wohl funktionell sein kann, über kurzfristige Problemlösung hinaus jedoch wenig zur Entwicklung des Kollektivs beiträgt.

Die vor Ihnen liegenden Texte sind unser Versuch, diesen prozessorientierten Blick auf den Dialog zu skizzieren.

Wir danken allen Teilnehmenden der Ausbildungen und LernRäume für ihr unerschütterliches Vertrauen in den Dialog, für ihren Mut, sich gemeinsam mit uns auf diesen Weg zu begeben und sich auch den schwierigen Momenten zu stellen. Gerade diese Momente haben unser Verständnis vertieft und uns neue Einblicke in den Prozess des Dialogs gegeben. Es sind diese Erkenntnisse, die es uns ermöglicht haben, die vorliegenden Beschreibungen des Dialogs als Prozess auf Papier zu bringen.

Wir danken allen Menschen, die implizit oder auch explizit mitgearbeitet haben an der Zusammenstellung der ursprünglichen niederländischen Texte. Wir danken Sarah Schützle für ihre geduldigen und wunderbaren Übersetzungen, Alina Czettl für die Überprüfung der deutschen Texte, Renate Götz und Eva Denk für die Gestaltung, Realisierung und Verbreitung der deutschen Ausgabe.

Mit Kees Voorberg verbindet mich eine tiefe Freundschaft und ein langer Entwicklungsweg. Ich danke ihm für den gemeinsamen Weg und das gemeinsame Lernen. Er ist ein Vorbild für eine tiefgehend prozessorientierte Lebenshaltung, die mich bis heute inspiriert und begleitet.

Mein persönlicher Dank geht an Benno und Maria Kapelari, wichtiger Partner und wichtige Partnerin in der Dialogakademie, die der Dialogarbeit in Österreich einen kräftigen Impuls gegeben haben. Sabine Helene Kresa, als Vorreiterin für den Dialog in Organisationen, für das gemeinsame Lernen. Christian Hörl, für das Vorleben einer dialogischen Haltung, die mich bis heute inspiriert, und mit ihm das Netzwerk des Dialogprojekts Arbogast, wo der Dialog im Westen Österreichs seit vielen Jahren praktiziert und verbreitet wird. Ich danke allen Kolleg*innen und Freund*innen im Dialognetzwerk der Niederlande, Südtirols, Österreichs und Deutschlands, sowie Peter Garret und allen internationalen Kolleg*innen in der Academy for Professional Dialogue für ihre Inspiration und Freundschaft auf unserem gemeinsamen Weg.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Julia und unseren Kindern Leander, Jannes und Roos. Wir führen ein Leben, das dem Dialog auf vielen Ebenen gewidmet ist, uns zutiefst herausfordert und unser Miteinander immer weiterträgt. Dieser Versuch, wo möglich dialogisch zu leben – als Paar, als Eltern, als Familie und als Kolleg*innen, auch wenn das Leben uns manchmal vor schwierige Herausforderungen stellt –, ist eine wichtige Quelle unserer Verbundenheit und unseres gemeinsamen Lernens, für die ich unendlich dankbar bin. Julias Wissen über Human Design ist ein wichtiger Beitrag zu und eine große Inspiration für unsere gemeinsame Dialogarbeit, sowohl in Ausbildungen und Seminaren als auch in unserem persönlichen Leben mit unseren Kindern. Ohne alledem wäre diese vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen.

Eelco de Geus

Wienerwald, Juni 2022

1 Dialogakademie Wien, www.dialogakademie.eu

PERSÖNLICHE WORTE von Kees Voorberg

Ein Tanz der Freude

Im Niederländischen, meiner eigenen Sprache, in der dieses Buch ursprünglich geschrieben wurde, kennen wir den Ausdruck „een gat in de lucht springen“ (vor reiner Freude „einen Luftsprung machen“). Man sagt es, wenn man sich über etwas sehr freut, und ich freue mich heute sehr, dass unsere Texte jetzt auf Deutsch erschienen sind. In den letzten Jahren hat das Buch seinen Weg in die Niederlande und nach Belgien gefunden und viele Menschen dazu inspiriert, sich selbst auf das Abenteuer des Dialogs einzulassen und ihn mit Freunden, Familienmitgliedern und Kollegen sowie im sozialen Umfeld, in dem sie leben und arbeiten, zu erproben. Und nun kann das Buch seine Reise im deutschen Sprachraum fortsetzen.

Eelco hat zusammen mit Benno Kapelari und anderen bereits wichtige Arbeit geleistet, indem er die Dialogakademie im Wiener Raum gegründet und entwickelt hat, um den spezifischen Dialogansatz, den wir in unserem Buch beschreiben und den wir Dialogprozessarbeit nennen, in Österreich und im gesamten deutschsprachigen Raum einzuführen. Das Buch bietet eine solide Grundlage für unsere Arbeit.

Ich danke Eelco für unsere langjährige tiefe Freundschaft und für unsere Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Dialogprozessarbeit, in Workshops, Schulungen und durch das Schreiben dieses Buches. Unsere Freundschaft begann an einem Samstagmorgen im Oktober 1996, als wir uns zu Beginn eines Wochenend-Workshops zum Thema Community Building zum ersten Mal trafen. Innerhalb einer Stunde nach Beginn des Workshops gerieten wir aneinander und ärgerten uns darüber, wie anders der andere war. Darin lag bereits der Keim dessen, was später unsere gemeinsame Arbeit werden sollte: zu erforschen, wie wir als Menschen mit unseren Unterschieden auf fruchtbare und inspirierende Weise leben können.

Ich möchte Eelco für die Arbeit danken, die er geleistet hat, um unser Buch für den deutschen Sprachraum anzupassen und es für die Veröffentlichung in deutscher Sprache vorzubereiten. Dabei hat er das Buch in einer Reihe von Punkten aktualisiert. Das ist wichtig, denn die Welt nach Corona und all dem, was Corona ausgelöst hat, sieht anders aus als vorher.

Ich wünsche den Leser*innen, dass sie fruchtbare Differenzen erleben und einen freudvollen Umgang damit finden.

Kees Voorberg

Radda in Chianti, Italien, Juni 2022

VORWORT von Benno Kapelari

Dieses Buch ist eine Einladung. Eine Einladung bewusst wahrzunehmen, welche kommunikativen Qualitäten in einem Gespräch die Türen zu mehr Verbindung untereinander öffnen – bis hin zur Überwindung scheinbar unüberbrückbarer Gräben.

Gerade heute, in einer Zeit wiederkehrender Polarisierungen und Ausgrenzungen in den Gesellschaften, ist dieses Buch von Eelco de Geus und Kees Voorberg wie ein Sonnenaufgang. Die beiden legen mit Sorgfalt und Achtsamkeit ihre Aufmerksamkeit auf eine Qualität des Miteinander-Redens, die jedem einzelnen Menschen den Raum gibt, der ihr oder ihm gebührt.

Kees Voorberg und Eelco de Geus sind Forscher im besten Sinne des Wortes, die unzählige, kleine und große Edelsteine mit Hilfe der Linse des Dialogs im weiten Feld menschlicher Kommunikation entdecken und sichtbar machen. Sie folgen damit einer Tradition Erkundender, die die Kernfähigkeiten dialogischer Redekreise – und der davon initiierten Dialogprozesse – immer tiefer im menschlichen Sein verankern helfen.

Dialogische Redeformen sind uralt und tief mit der menschlichen Kultur verwoben. Als polares Gegenüber zur Diskussion, die jahrhundertelang das prägende Element abendländischer Gesprächskultur war, schafft der Dialog eine Qualität des Austausches, die Kooperation zwischen Menschen in jedem Lebensumfeld ermöglicht und vertieft.

Möglicherweise gibt dieses Buch den Impuls, dialogische Redeformen und Haltungen, die die menschliche Kultur seit ihren Anfängen bis heute prägten und in Zukunft noch prägen werden, weiter zu erforschen.

Ich freue mich, dass dieses Buch nun endlich im deutschsprachigen Raum erscheint, und wünsche ihm, dass es Anregung für viele Menschen sein wird, den Weg dieser Beziehung-stiftenden und Brücken-bauenden Gesprächsform zu erkunden.

In großer Dankbarkeit,

Benno Kapelari

Ramsau, Juni 2022

VORWORT von Sabine Helene Kresa

Nur selten scheitern große Vorhaben an komplizierten Inhalten. Viel öfter scheitern sie an der Komplexität menschlicher Beziehungen.

Als Dialogprozessbegleiter*innen in Organisationen öffnen wir sichere Begegnungsräume inmitten bestehender Hierarchien und Dynamiken, die Gleichwertigkeit zulassen, Authentizität, Offenheit und Transparenz fördern. Räume, in denen Vielfalt willkommen ist und echte Verbindung entsteht. Die Verbindung von Menschen, Geschichten, Perspektiven und Ideen. Klarheit, Ruhe, Effizienz, eine gemeinsame Ausrichtung sowie Engagement und Vertrauen jenseits von Kontrolle, Macht und Regelwerken werden möglich.

Ich bin froh und sehr dankbar, dass wir dieses wunderbare und so wesentliche Buch nun auch in deutscher Sprache in unseren Händen halten. Die von Eelco de Geus und Kees Voorberg vorgestellten Gedanken und Modelle sind hochwirksame Blaupausen für die Entwicklung einer partizipativen, holistischen und vor allem menschlichen Unternehmenskultur.

Sie haben mein unternehmerisches Weltbild erfreulich auf den Kopf gestellt und bilden seit über zwölf Jahren die tragfähige Basis meiner Arbeit in unterschiedlichsten Organisationen und Gemeinschaften. Die Wirkungen, die das Dialogmodell und Co. dabei in der Praxis entfalten, sind bemerkenswert kraftvoll und nachhaltig. Sie ermutigen uns, die Menschlichkeit als größtes Potenzial zu feiern und sie beherzt in alle Aspekte der Zusammenarbeit einzuladen.

Es ist durchaus möglich, dass Sie beim Lesen Ihrer Welt ein Stück weit neu begegnen und dabei auch sich selbst. Unter Umständen werden Sie, so wie ich, öfter zustimmend nicken, manchmal bedächtig den Kopf schütteln, ab und an innehalten und in der Stille zwischen den Zeilen sogar ganz frischen eigenen Gedanken begegnen.

Und was das Schönste wäre, vielleicht spüren Sie eine Aufbruchsstimmung, eine Art Unrast, den Dialog überall hin mitzunehmen, wo Sie in Ihrem Leben Beziehungen gestalten. Denn genau dort, wo Sie in Ihrer ganz eigenen Art und Weise das hier Gelesene anwenden, kann dieses Buch seine größte Magie entfalten.

Sabine Helene Kresa

Wien, Juni 2022

Einleitung

Nicht in der Isolation werden wir uns selbst entdecken, sondern in der Stadt, in der Menge, als ein Ding unter Dingen, als Mensch unter Menschen.

– J. P. Sartre

Menschen brauchen Beziehungen. Wir brauchen Begegnungen, in denen wir wahrgenommen werden, uns berühren lassen und für andere bedeutungsvoll sind. Nur dann werden wir uns unseres eigenen Seins und Wirkens bewusst. Beziehungen geben unserem Leben einen Sinn, der uns dazu motiviert, etwas beitragen zu wollen, das für andere und für das eigene Leben Bedeutung hat. Es erfüllt und verbindet uns, macht uns lebendig, präsent und gesund.

In unserer heutigen Welt stellt sich die Frage, wie wir in Beziehungen authentische Verbindung schaffen und aufrechterhalten können. Wie können wir Gemeinschaft und Partnerschaft auf eine gesunde Weise gestalten? Wie wahren wir unsere Grenzen, bleiben unserer eigenen Identität treu, ohne die Verbindung zu verlieren? Wie können Beziehungen so gelingen, dass sie es uns ermöglichen, gemeinsam die Fragen unserer Zeit zu bewältigen?

BEZIEHUNGSQUALITÄT

Dialogisches Leben ist nicht eins, in dem man viel mit Menschen zu tun hat, sondern eins, in dem man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun hat.

– Martin Buber

Diese Aussage von Martin Buber berührt. Sie rührt an eine Erinnerung, eine Sehnsucht nach Kontakt mit anderen, die wirklich zählt, die unser Leben bereichert und ihm einen Sinn gibt.

Wir kennen es aus Momenten, in denen wir das Gefühl haben, gesehen und für das anerkannt und respektiert zu werden, wer wir sind, wofür wir stehen und was wir tun. Wir kennen es aus jenen Situationen, in denen wir gemeinsam mit anderen kreativ sind und aus einem Gemeinschaftsgefühl heraus erfolgreich Neues in die Welt bringen.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie schwierig es sein kann, in einer authentischen Beziehung zu anderen zu sein. Beziehung und Kommunikation ist das, was wir brauchen, um kreativ miteinander zu arbeiten: Wie oft landen wir jedoch in einem mühsamen Durcheinander von Missverständnissen, Unklarheiten und Konflikten? Wie kompliziert scheint es in der heutigen Welt zu sein, als Partner*innen zusammenzuleben, als Team zusammenzuarbeiten oder eine gemeinsame Richtung für Wachstum und Veränderung in unseren Organisationen oder in der Gesellschaft zu finden? Wie schwierig scheint es, im Gespräch zu bleiben, wenn unsere unterschiedlichen Meinungen unvereinbar scheinen?

In diesem Buch geht es um die Art und Weise, wie der Dialog die Qualität von Beziehungen vertieft, Verbindung und Vertrauen in und zwischen Menschen stärkt und Unterschiedlichkeit als Ressource für Kreativität und Veränderung verwertet.

Dialog bietet Raum, Erfahrungen zu teilen und Meinungen auszutauschen, ohne sie zu bewerten. Dialog ermöglicht es uns, den Wurzeln unserer Annahmen und Bewertungen auf den Grund zu gehen und gemeinsam neue Perspektiven zu finden. In diesem möglichst wertungsfreien Raum lauschen wir unseren Geschichten und bauen Vertrauen und Verständnis auf, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Daraus entsteht eine schöpferische Kraft, ein kreativer Impuls, aus dem neue Gedanken und Sichtweisen hervorkommen. So findet im Dialog der Wandel statt, den wir persönlich und kollektiv brauchen, um uns als Menschen in der Welt weiterzuentwickeln.

DER DIALOGPROZESS

Der Weg, den wir in unserer Arbeit als Dialogprozessbegleiter*innen gehen, ist geprägt von einer ständigen Suche nach der Art und Weise, wie wir gleichwertig, respektvoll und ko-kreativ miteinander leben und arbeiten können. Nicht nur aus idealistischen Gründen, sondern auch aus praktischer Erfahrung: Wo mehr Verbindung und Kontakt ist, ist mehr möglich. Gemeinsam erreichen wir mehr und wir erreichen es letztendlich schneller.

Was wir im Laufe der Jahre über den Dialog gelernt haben, ist, dass er kein schwammiges Konzept oder eine beliebige Methode ist. Dialog zu führen bedeutet, bereit zu sein, wirklich in Kontakt zu treten, mit ganzem Herzen und mit allen Herausforderungen, die damit verbunden sind. Nicht nur die vielen Momente zu genießen, die inspirierend und erfüllend sind, sondern auch präsent zu bleiben, wenn Differenzen und Spannungen entstehen. Es bedeutet dranzubleiben, unsere Reaktionen in der Schwebe zu halten, bis etwas Neues zwischen uns entstehen kann. Es fordert uns auf, bereit zu sein, unsere eigenen Sichtweisen immer wieder in Frage zu stellen, uns zu öffnen für das andere und uns ständig persönlich weiterzuentwickeln.

Das ist viel mehr als nur ein mentaler Prozess. Es entsteht eine Energie zwischen uns, die neue Bewegungen ermöglicht und zur Quelle für Veränderung wird. In diesem Buch untersuchen wir, wie wir diese Energie im Dialog anzapfen und ins Fließen bringen können.

PROZESSORIENTIERUNG

Dialog ist keine neue Art des Moderierens oder ein Trick, um Konflikte zu lösen. Im Dialog lassen wir uns auf einen Prozess der Begegnung und Erkundung ein und entwickeln uns gemeinsam darin. Im und durch den Dialog lernen wir kontinuierlich unsere eigenen Annahmen und Reaktionsmuster kennen. Wir lernen sie zu reflektieren, loszulassen oder zu weiten, während wir in der Begegnung mit anderen wachsen.

Es ist ein Prozess, auf den wir uns einlassen, für den wir uns rüsten können, der aber in jedem Moment neu und anders ist und uns vor Überraschungen und unvorhergesehene Herausforderungen stellt. In diesem Prozess stoßen wir an unsere Grenzen und die von anderen, die zu Konfrontation führen. Der Dialog bietet die Chance, sich über diese vermeintlichen Grenzen hinweg zu verbinden, neue Perspektiven zu gewinnen und von- und miteinander zu lernen.

WEGWEISER

Dieses Buch beschreibt, was Dialog aus unserer Sicht bedeutet. Es zeigt Möglichkeiten auf, wie wir dialogisch leben und arbeiten können, auf welche Stolpersteine wir stoßen und wie wir mit ihnen umgehen können.

Das Buch ist in vier Abschnitte aufgeteilt. In Teil 1 beschreiben wir unsere Perspektive auf den Dialog. Kapitel 1 reflektiert anhand von konkreten Beispielen, was der Wert von Dialog in unserer Zeit sein kann. In Kapitel 2 und 3 werden die Prinzipien, Modelle und Grundlagen der Dialogarbeit besprochen.

In Teil 2 widmen wir uns den theoretischen Hintergründen des dialogischen Arbeitens und Lebens. Kapitel 4 fokussiert auf den Umgang mit Unterschieden und Diversität. In Kapitel 5 erkunden wir die natürlichen Phasen, die ein Dialogprozess durchläuft. In Kapitel 6 reflektieren wir die Ideen des Physikers und Philosophen David Bohm, der einen Rahmen für die Interpretation des reaktiven Umgangs mit Urteilen, Meinungen und Standpunkten bietet. In Kapitel 7 erörtern wir die Hintergründe der natürlichen Tendenz, den Dialog in bestimmten Situationen zu vermeiden. In Kapitel 8 betrachten wir das dialogische Paradigma, eine Weltanschauung, welche dem Dialog zugrunde liegt.

In Teil 3 geht es um den Dialog in der Praxis. In Kapitel 9 besprechen wir den Dialogkreis als archetypische und wichtige Arbeitsform. In Kapitel 10 widmen wir uns der Kunst, Dialoge zu begleiten. In Kapitel 11 betrachten wir die verschiedenen Kontexte, in denen der Dialog eingesetzt wird, und unsere Erfahrungen mit ihnen.

Es ist gut möglich, Teil 2 und Teil 3 sowie die einzelnen Kapitel in beliebiger Reihenfolge zu lesen. Sie können zunächst in die weiteren theoretischen Überlegungen von Teil 2 einsteigen und dann in Teil 3 lesen, was das in der Praxis bedeutet. Ebenso ist es möglich, sich zunächst in Teil 3 über Dialog in der Praxis zu informieren und danach in die theoretische Vertiefung in Teil 2 zu gehen.

In Teil 4 beschreiben wir, wie der Dialog ein Weg zur persönlichen und transpersönlichen Bewusstseinsentwicklung sein kann. In den Kapiteln 12, 13 und 14 erörtern wir jeweils die persönlichen, systemisch-dialogischen und transpersönlichen Kompetenzen, die diesem Weg zugrunde liegen.

Der Dialog hat das Potenzial, ein wichtiger Pfeiler für gesellschaftliche Veränderungen zu sein. Dazu eine treffende Aussage des Niederländers und ehemaligen Politikers, des Botschafters für „Niederlande im Dialog“, Hermann Wijffels:

Ich halte den Dialog für die Methode der Zukunft. Es ist eine Methode, die Verbindung herstellt und bei der das Zuhören vielleicht das wesentlichste Element ist. Viel mehr als durch Diskussionen und Debatten, bei denen das Rechtfertigen der eigenen Standpunkte im Vordergrund steht, kann der Dialog genutzt werden, um gemeinsame Perspektiven und eine Grundlage für die großen gesellschaftlichen Veränderungen zu entwickeln, die jetzt stattfinden.

Dieses Buch bietet sowohl einen theoretischen als auch einen praktischen Einblick in unsere Erfahrungen mit und unser Denken über den Dialog. Wir hoffen, dass es einen Beitrag dazu liefert, dass der Dialog als Haltung, als praktische Vorgehensweise und als persönlicher und gemeinschaftlicher Entwicklungsprozess zugänglicher wird und sich verbreiten darf, nicht nur im eigenen Beziehungsleben, sondern auch in der Arbeit in Schulen, Gemeinschaften und Organisation.

Teil 1

Dialog alsPerspektive

Kapitel 1 | Dialog in unserer Zeit

Dies ist nicht das Informationszeitalter.

Dies ist nicht das Informationszeitalter.

Vergiss die Nachrichten, und das Radiound den verschwommenen Bildschirm.

Dies ist die Zeitder Broteund Fische.

Die Menschen sind hungrig,und ein gutes Wortist Brot für Tausende.

– David Whyte1

Wir leben in einer Übergangszeit. Einer Zeit, in der wir sowohl persönlich als auch in unseren Beziehungen und in der Gesellschaft auf vielen Ebenen herausgefordert sind. Die herkömmlichen Strukturen, die wir aufgebaut haben und in denen wir als Menschen zusammenleben, zeigen ihre Risse.

Wir haben jahrhundertelang auf rationelles Denken gesetzt. Die Kraft des strategischen Planens hat uns materiellen Wohlstand und technologischen Hochstand gebracht. Wir haben effiziente systemische Strukturen aufgebaut. Organisationen sind auf Produktivität und Gewinn ausgerichtet, unsere Ökonomien auf ununterbrochenes Wachstum. Die Bildungssysteme sind weitgehend standardisiert, damit möglichst viele Menschen einen vergleichbaren, hohen Ausbildungsstand erreichen. Unsere europäische Politik basiert auf demokratischen Werten, in denen die Debatten und die Kraft der stärksten Argumente dominieren. Digitalisierung hat die Reichweite und die Geschwindigkeit unserer Kommunikation auf das höchste Niveau gebracht. Wir feiern auf vielen Ebenen die Erfolge des industriellen Zeitalters und des Informationszeitalters. Gleichzeitig sind wir konfrontiert mit großen Bedrohungen für das Leben auf dieser Erde: Klima, Hunger, Pandemien und Kriege zeigen uns die Schattenseiten und die Beschränkung unserer strategisch-rationellen Vorgangsweisen.

Es ist uns einfach etwas abhandengekommen. Inmitten von Leistungsdrang, Geschwindigkeit und Zielorientierung fehlt es an Raum und Zeit, um innezuhalten, nachzuspüren, Kontakt herzustellen und sich auszutauschen. Wir sind weitgehend gefangen in unseren eigenen Systemen und verlieren Kontakt zu dem, was uns als Menschen ausmacht: unser authentisches Gespür für das, was wichtig, richtig und sinnvoll ist, unser Gefühl von Lebendigkeit, Freiheit, Gesundheit und die Verbindung zueinander.

HOFFNUNG

Zeiten wie diese haben einen besonderen Charakter. Sie zeigen uns auf, dass wir an Grenzen stoßen und dass sich etwas Neues entwickeln will. Sie laden uns ein, zu verlangsamen, innezuhalten und zu reflektieren: Was ist uns wirklich wichtig? Wer sind wir und wer wollen wir sein, jeder für sich und als Menschen mitei­nander? Wie ist unsere Verbindung, wo ist sie verloren gegangen und wie finden wir sie wieder? Wie können wir unser Zusammenleben und unser gemeinsames Denken so gestalten, dass sich jede*r entfalten und einen guten Platz in unserem Miteinander finden kann? Wie können wir gesunde, ko-kreative Verbindungen schaffen und uns darin und dadurch gemeinsam entwickeln? Denn auch wenn wir es oft nicht mehr spüren, Verbundenheit ist unsere Natur.

Die Hoffnung des Dialogs liegt darin, dass wir Verbindung schaffen, indem wir üben und lernen, wirklich zuzuhören. Diese Zeit fordert uns auf, innezuhalten, langsamer zu werden, in die Stille zu lauschen und hinzuhören. Sie lädt dazu ein, unsere Annahmen und Bewertungen zu reflektieren, Bedürfnisse und Impulse wahrzunehmen, unsere gegenseitige Erfahrung ernst zu nehmen und sie miteinander zu teilen.

Wir brauchen einen rezeptiven, spürenden Raum, in dem jede*r gesehen, gehört und respektiert wird in seiner*ihrer Einzigartigkeit. Ein Raum, in dem wir uns selbst in unserer ganzen Menschlichkeit wahrnehmen; mit all unseren Annahmen, Gefühlen, Inspirationen und unserer Kreativität, die so viel mehr ist als nur die Summe unserer Gedanken. Ein Raum, in dem wir gleichwertig sind und gemeinsam reflektieren können.

In einem solchen Raum finden unsere Gedanken, Empfindungen und Geschichten in all ihrer Komplexität einen Platz. Dadurch werden wir sowohl unserem eigenen als auch unserem gemeinsamen Potenzial gewahr. Wir schaffen eine Verbindung, die uns hilft, gemeinsam kreativ zu werden und Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden.

Wie gelingt uns dies in unserer alltäglichen Kommunikation? Im Folgenden führen wir einige Beispiele dafür an, wie der Dialog einen Beitrag dazu liefern kann, einen rezeptiven Raum inmitten einer strategisch ausgerichteten Welt zu schaffen.

FRAGMENTIERUNG UND VERBINDUNG

Jeder von uns nimmt nur einen Teil der Realität wahr. Wenn wir glauben, dass unsere Wahrnehmung die ganze Wahrheit ist, die wir verteidigen müssen, ist unser Denken fragmentiert und wir verlieren den Blick für das Ganze. Im Dialog öffnen wir uns für den anderen und für unterschiedliche Perspektiven, indem wir einander zuhören und uns verbinden. Das folgende Beispiel zeigt, dass dies in der heutigen Zeit schwierig sein kann und gleichzeitig sehr notwendig ist:

Wir schreiben den November 2021. Die Corona-Pandemie ist in vollem Gange. Die Situation ist angespannt. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen sind weitreichend und die Emotionen kochen hoch. In der Gesellschaft hat sich eine tiefe Kluft über den Umgang mit der Pandemie aufgetan. Befürworter und Gegner der Maßnahmen, von Impfungen und Impfpflicht, stehen sich diametral gegenüber. Das Thema spaltet selbst die intimsten Beziehungen unerbittlich und ein offenes Gespräch ohne Verurteilung und gegenseitige Schuldzuweisungen ist fast unmöglich.

Trotz aller Einschränkungen kommen wir als Dialog-Trainingsgruppe zu einem Abschlussseminar zusammen, mit Mundschutz, alle negativ getestet und auf anderthalb Meter Abstand. Die Gruppe ist gemischt: Befürworter und Gegner von Impfungen und anderen Maßnahmen; Menschen, die es locker sehen, andere, die es sehr genau nehmen; die Meinungsunterschiede sind groß. Das Thema ist so allgegenwärtig, dass wir als Gruppe beschließen, ihm einen längeren Gesprächskreis zu widmen. Nicht zuletzt, weil es uns auch eine ausgezeichnete Gelegenheit bietet zu erfahren, was im Dialog möglich ist und was nicht.

Es gibt eine spürbare Angst und Besorgnis: Wie können wir über Corona sprechen, ohne dass es sofort zu einer Polarisierung kommt, wir uns gegenseitig beschuldigen, bekämpfen und das Gespräch einen gewalttätigen Charakter annimmt, wie wir es gerade überall um uns herum erleben? Wie können wir, jenseits unserer fragmentierten Realität, Verbindung schaffen?

Zwei Teilnehmerinnen stellen sich zu Verfügung, um den Raum für diesen Dialogkreis vorzubereiten und zu halten. Wir wollen uns darüber austauschen, was uns bewegt, und erkunden, ob in diesem Gespräch Verbindung spürbar werden kann oder auch nicht. Wir fangen mit der Stille an und verbinden uns mit der Frage, wie Corona und das Leben in und mit der Pandemie jeden von uns berührt. Wir sind eingeladen, unsere persönlichen Geschichten zu erzählen, sie in unsere Mitte zu legen, unsere Reaktionen zu suspendieren und vor allem in der spürenden Beobachtung zu bleiben. Der Dialog ist bewegend. Die Stille ist lang und andächtig. Die Geschichten, die nacheinander erzählt werden, handeln von Unsicherheit, von Angst und Sorge um geliebte Menschen, vom Schmerz der Polarisierung und des Verlusts von Beziehungen, von Isolation und Frustration, die die auferlegten Einschränkungen mit sich bringen. Jeder wird von der Erfahrung des anderen berührt und sieht sich in gewisser Weise darin wieder. Es ist erstaunlich, wie durch die Stille, das Zuhören und den Austausch persönlicher Erfahrungen ein Gefühl der Verbundenheit in der Gruppe entsteht. Sobald jedoch jemand eine Meinung oder einen Standpunkt zum Thema Corona, Impfung oder Verantwortung füreinander äußert, wird deutlich, wie fragil unser Dialog ist. Es entsteht sofort Unruhe, wir neigen dazu, uns in unsere inneren Schlösser zurückzuziehen, spalten uns auf und verteidigen uns gegeneinander. Es ist beeindruckend, so hautnah zu erfahren, wie nah Verbindung und Fragmentierung beieinanderliegen.

Immer wieder kehren wir zur Stille zurück, zum stillen Beobachten, zum Hören auf die persönlichen Geschichten, die uns alle berühren. Selten habe ich so kontrastreich erlebt, wie das Denken unsere Wahrnehmung fragmentiert und wie schnell das Bewusstsein für unsere Verbindung verloren geht. Und umgekehrt: wie wir durch unsere Präsenz, das Einbringen unserer persönlichen Erfahrungen und das gegenseitige Zuhören wieder in Verbindung kommen.

REAKTIVITÄT UND REFLEXION

Reaktivität bedeutet, so schnell und reflexartig aufeinander zu reagieren, dass sich unsere Kommunikation auf den gegenseitigen Austausch von Annahmen, Überzeugungen und Urteilen reduziert. Eine hohe Reaktivität führt unsere Kommunikation rasch in eine Sackgasse und legt den Grundstein für Konflikt und Gewalt. Es passiert etwas, wir haben unmittelbar ein Urteil darüber und handeln. Die darauffolgende Reaktion der anderen Person veranlasst uns zur nächsten schnellen, impulsiven Handlung. Ehe man sich versieht, ist die Beziehung gestört, die Spannung aufgebaut und der Konflikt geboren. Unbeabsichtigt haben unsere reaktiven Handlungen Konsequenzen, die schlecht sind für uns selbst, die Gemeinschaft, die Organisation, für die wir arbeiten, oder die Welt, in der wir leben.

Ich denke, ich kenne meine Partnerin gut. Wir sind seit zehn Jahren verheiratet, also weiß ich, wie sie reagiert. Auch sie scheint das ganz genau über mich zu wissen. Ein Blick genügt, um festzustellen, wie sie über etwas denkt, was ihr gefällt, ob sie glücklich ist oder nicht. Genauso automatisch, wie ich interpretiere, was sie fühlt und denkt, sind auch meine Reaktionen. Solange sie positiv sind, ist das angenehm; die Tasse Kaffee am Morgen, eine Berührung, ein liebevoller Blick, ein Lächeln und eine Bestätigung, ein Witz und ein gutes Gespräch: Sie sind der Honig in unserem Zusammensein.

Und dann die andere Seite. Die unausgesprochenen Irritationen. Die Urteile und Kritik. „Warum räumt sie das eigentlich nicht auf? Das Haus ist ein einziges Chaos, hinterlässt sie es für mich? Als ob ich nicht schon genug zu tun hätte.“ Mit einem leicht vorwurfsvollen Blick und einem etwas zu hastigen Schritt beginne ich hektisch staubzusaugen. Als ob ich sie etwas wissen lassen möchte. Aber sie reagiert nicht. Ich bin verärgert, aber ich sage es nicht. Und dann, wenn die Milch am Herd, die ich in meiner Irritation glatt vergessen habe, überkocht, lasse ich es mit unrealistischer Wut, die weit über meinen ursprünglichen Ärger hinausgeht, an ihr aus. Später, wenn ich mich wieder beruhigt habe, setzen wir uns hin und führen ein ruhiges Gespräch über den Vorfall. Wir hören einander genau zu und erkunden, was wir gegenseitig gedacht und gefühlt haben. Wir sprechen über unsere unbewussten Annahmen darüber, was im Haus und in der Familie auf welche Weise getan werden sollte und wer dafür verantwortlich ist. Es ist gut, voneinander zu hören, was gut läuft, was nicht, was man mag und was nicht, was der andere über mich denkt und umgekehrt. Es wird klar, wie wichtig es ist, dass wir anerkennen, wie viel jeder von uns zu unserem gemeinsamen Leben mit den Kindern beiträgt. Ohne bewusst etwas lösen zu wollen, löst sich etwas auf. Im Zuhören, in der Aufmerksamkeit füreinander und in der Stille zwischen uns.

In unserer heutigen Zeit ist es notwendig, dass wir lernen, mit Reaktivität anders umzugehen. Wir müssen nicht anders werden oder anders denken, aber es ist wichtig, dass wir innehalten, uns Zeit nehmen, um unsere Annahmen zu reflektieren, bevor wir sie impulsiv ausleben. Dafür braucht es die Verlangsamung und das Warten, zwei Qualitäten, die wir im Dialog aktiv praktizieren können.

DIVERSITÄT UND KOMPLEXITÄT

So wie ein einzelner Ton keine Harmonie erzeugt, so ist auch eine Wahrheit, die für sich alleine steht, unvollständig.

– Emmanuel Swedenborg

Die Mitglieder des Managementteams eines großen internationalen Beratungsunternehmens befinden sich in einem Dialog. Wenn wir genauer über ihre Wünsche, Ziele und Erwartungen für diesen Tag sprechen, zeigt sich, dass sie nichts anderes wollen als ein völlig offenes Gespräch, ohne Tagesordnungen, Flipcharts, vorgefertigten Präsentationen.

Sie wollen über das reden, was sie wirklich bewegt, und einander zuhören, weil sie in ihrer gemeinsamen Strategie nicht weiterkommen. Der Markt ist angespannt. Sie müssen sich jetzt sehr anstrengen, um die Aufträge zu bekommen, die sie früher aufgrund ihres großen Bekanntheitsgrades ganz selbstverständlich bekommen haben. Während sie sich früher als Eigentümer/Manager einig waren, treten jetzt Meinungsverschiedenheiten auf, die fast jede Sitzung lähmen.

Diese Menschen tun selbst den ganzen Tag nichts anderes, als kommunikative Räume in Organisationen zu schaffen, in denen Menschen konstruktiv miteinander denken können. Sie sind auch mit der Form des Dialogkreises sehr vertraut. Aber wenn es um einen selbst geht, ist es etwas ganz anderes, und das stellt sich heraus: Ein Dialog im Kreis, ohne Programm, mit viel Gefühl, Stille und Nachdenken, aber auch mit klaren Konfrontationen, wirkt für dieses Team an diesem Tag äußerst verbindlich, und eine neue gemeinsame Richtung beginnt langsam Gestalt anzunehmen.

Am Ende des Tages, unsicher, ob die offene Diskussion für sie zielführend und funktional genug war, frage ich die Teilnehmer, ob wir nicht eine Art Fazit ziehen und es auf dem Flipchart notieren sollten. Der Gründer sagt dann: „Wissen Sie, wie viele Tage und Wochen wir über die Strategie gesprochen haben? Wir haben darüber diskutiert, externe Moderatoren angeheuert, Interviews geführt und sie ausarbeiten lassen. Wir haben bereits mindestens fünf Modelle für die Zukunft entwickelt und Flipcharts und Protokolle voll mit Notizen. Wir haben versucht einander zu überzeugen und nach einem Konsens gesucht, aber wir konnten keine Lösungen finden. Das ist das erste Mal, dass wir einander wirklich zugehört haben, ohne ein Ziel, ohne einen Plan. Weil die Unterschiede zwischen uns so deutlich geworden sind, habe ich ein besseres Gefühl dafür, wo es gemeinsam hingehen könnte. Das ist die wichtigste Ernte. Also bitte, lassen Sie uns nicht versuchen, es jetzt in eine Zusammenfassung zu packen, das können wir später selbst tun, wenn die Zeit reif ist.“

Wir sind es gewohnt, dass unsere Sitzungen auf eine Art und Weise moderiert werden, die es uns ermöglicht, inmitten unterschiedlicher Sichtweisen und Meinungen zu einem Konsens zu finden. Es werden Mehrheitsentscheidungen getroffen und die Stimmen der Minderheit werden letztendlich nicht mehr betrachtet. Dies sind gute Lösungen, um die Unterschiede zwischen den Menschen auszugleichen. Es ist eine Möglichkeit, um Komplexität zu reduzieren, indem man der Vielfalt keine echte Chance gibt. Mit etwas Glück funktioniert das eine Zeit lang. Dann leben und arbeiten wir relativ friedlich und versuchen uns nicht gegenseitig auf die Füße zu treten.

Bis es zur Sache geht. Wenn es dringlich wird, wenn echte Innovation gefragt ist, wenn alle Mittelwege und Halblösungen uns nur tiefer in den Sumpf gebracht haben, dann brauchen wir alle Menschen und jede Stimme, um den Weg heraus zu finden. Wir dürfen es uns zumuten, das Risiko großer Komplexität einzugehen und Unterschiede willkommen zu heißen, damit sich neue Bilder und Möglichkeiten für unsere gemeinsame Richtung entfalten können. Im Dialog gehen wir bewusst diesen Weg. Wir vertrauen auf die Kraft der Komplexität und schaffen bewusst einen Raum, in den unsere ganze Vielfalt eingeladen ist.

KONKURRENZ UND KO-KREATIVITÄT

Willst du schnell gehen, geh alleine.Willst du weit gehen, geh mit anderen.

– Afrikanisches Sprichwort

Bis vor zehn Jahren habe ich überwiegend allein gearbeitet, als Organisationsberater und als Prozessbegleiter. Neben vielen bestehenden Angeboten von Kolleg*innen und anderen Organisationen war es eine Herausforderung, einen eigenen Kundenstock aufzubauen.

Der Versuch war, möglichst gut zu konkurrieren und den eigenen Platz auf dem Markt zu sichern. Einerseits war dieser Wettbewerb keine schlechte Sache. Er hielt mich auf dem Laufenden und lud mich ein, meine Fähigkeiten ständig zu verbessern. Eine gesunde Form des Wettbewerbs, die ich nach wie vor befürworte. Auf der anderen Seite erzeugte es viel Stress. Ich hatte die Sorge, es nicht zu schaffen, besser sein zu müssen als andere, aber erfuhr vor allem den Mangel an Kommunikation und Inspiration als Kehrseite des Selbstständig-Seins.

In den letzten Jahren hat sich viel gewandelt, nicht nur für mich, sondern generell in der Welt der Selbstständigen. Die Menschen suchen die Zusammenarbeit, bilden Netzwerke und Kooperativen, starten gemeinsame Projekte. Wir bündeln unsere Kräfte und arbeiten inspiriert zusammen. Wir wissen, dass wir gemeinsam stärker sind, mehr wissen und kreativer sind. Der Wettbewerb ist nicht verschwunden. Es taucht immer wieder die Frage auf: Ist der andere vielleicht besser als ich? Hat er oder sie mehr Profit als ich? Ist es gut gemeinsam, oder soll ich lieber allein weitergehen?

Dieses Spannungsverhältnis zwischen ko-kreativer Arbeit und Wettbewerb ist eine Gegebenheit, die Zeit und Aufmerksamkeit erfordert. Dennoch lohnt es sich, in sie zu investieren. In der Zusammenarbeit haben sich nicht nur viele neue Möglichkeiten ergeben, die Begegnungen und das gemeinsame Schaffen bringen eine Inspiration und Motivation, die mir allein nicht zugefallen wären.

Zusammenarbeit erfordert die Bereitschaft, die eigene Tendenz zur Konkurrenz zugunsten eines größeren gemeinsamen Potenzials loszulassen. Dazu müssen wir eine Schwelle in uns selbst sowie auch in unserer Kultur überschreiten; jene zutiefst menschliche, reflexive Tendenz, sich vergleichen und konkurrieren zu wollen. Genau darin liegt die Kraft des Dialogs; mit dem Potenzial, dass wir nebeneinander im Licht stehen und gemeinsam kreativ werden können.

VON INKOHÄRENZ ZU KOHÄRENZ

Ein Personalteam einer großen Organisation trifft sich für zwei Tage, um auf das vergangene Jahr zurückzublicken und über die Richtung für die nahe Zukunft zu sprechen. Eines der Themen ist die hohe Zahl an Krankenstandstagen innerhalb der Organisation, wofür seit einem Jahr ein spezielles Präventionsprojekt ausgerollt wurde.

Die Auswirkungen der Einführung von flexiblen Arbeitszeiten und die Effekte eines Fitnessprogramms innerhalb der Arbeitszeit wurden evaluiert und die Zahlen werden präsentiert. Die Überraschung ist groß, wenn sich herausstellt, dass in bestimmten Bereichen der Organisation die Fehlzeiten nach der Einführung des Programms zugenommen haben, während sie in anderen Bereichen mehr oder weniger gleich geblieben sind. Es gibt jedoch fast keine Hinweise auf einen Rückgang der Krankenstände. Das gleiche Bild hatte sich auch im Jahr zuvor gezeigt, worauf das Projekt nochmals neu ausgerollt wurde und ein Mindestmaß an Fitness zur Verpflichtung gemacht wurde.

Jetzt, nach dem zweiten Jahr der unbefriedigenden Ergebnisse, führt das Team einen offenen Dialog darüber. Anstatt über die Vorgehensweise nachzudenken, bringt jede*r ein, welche Auswirkungen die Maßnahmen auf sie*ihn persönlich gehabt haben, was im Hintergrund passiert und was die Menschen in der Organisation berichten. Langsam wird klarer, was sich im Hintergrund abspielt. Für eine Reihe von Menschen haben flexible Arbeitszeiten und digitales Arbeiten von zu Hause aus dazu geführt, dass sie nicht weniger, sondern mehr arbeiten. Dies scheint besonders in Führungspositionen der Fall zu sein. Andere berichten, dass das Fitnessprogramm Arbeitszeit wegnimmt, während die Arbeit einfach liegen bleibt, was zu einem Gefühl von erhöhtem Stress und Arbeit am Abend führt. Nach diesem Dialog entscheidet das Team, das Angebot wieder auf Freiwilligkeit umzustellen und eine Reihe an Dialogen für alle Mitarbeiter*innen zu organisieren, um das Thema Gesundheit, und was es dafür innerhalb der Organisation braucht, gemeinsam zu reflektieren.

Fragmentiertes Denken bedeutet, dass wir Lösungen für Probleme finden, die uns logisch erscheinen, die aber eine andere Wirkung haben, als wir beabsichtigen. Wir denken in eine bestimmte Richtung und sind schnell in einem Tunnelblick gefangen. Wir sind dadurch nicht in der Lage, die Mechanismen, die anderswo ablaufen, und die Auswirkungen, die sie haben, zu sehen. Der Zusammenhang, oder auch Kohärenz, zwischen unseren Handlungen und ihren Folgen geht daher schnell verloren. Das hindert die Entwicklung von Gemeinschaften und Organisationen, aber auch von uns selbst, und es kostet viel Zeit, Energie und oft auch Geld, dieses inkohärente Denken aufzuspüren.

In der heutigen Zeit wird diese Inkohärenz in unserem Denken sichtbarer und greifbarer, weil wir viel mehr und schneller Informationen aus aller Welt bekommen. Ein Beispiel dafür ist die Abholzung des Regenwaldes; während es früher lediglich eine Gegebenheit war, sind wir jetzt genauestens darüber informiert und kennen die Effekte, die es auf das Klima hat. Was wir also früher nicht wahrgenommen haben, können wir jetzt in einem größeren Zusammenhang betrachten. Der Ruf nach mehr Kohärenz in unserem Denken wird lauter. Der Dialog schafft dafür einen Raum. Einen Raum zum Erforschen und Nachdenken. Einen Raum, um Perspektiven nebeneinander zu stellen. Dann können wir, durch die Fragmente hindurch, ganzheitlicher wahrnehmen und in ein kohärenteres Denken hineinfinden.

AUTORITÄT UND GLEICHWERTIGKEIT

Ich bin Vater von drei Kindern. Wie anders ist die Beziehung zu ihnen, verglichen mit meiner Beziehung zu meinen Eltern, als ich ein Kind war. Meine Eltern bestimmten noch mit einer natürlichen Autorität, was gut war. Wir haben das Bedürfnis, unseren Kindern als gleichwertig zu begegnen. Wir hören einander zu, nehmen uns gegenseitig ernst. Wir versuchen, Konflikte nicht mit Autorität zu unterdrücken, sondern auf die Bedürfnisse des anderen zu hören und gemeinsam Lösungen zu finden. Das braucht Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit, aber es tut unserer Beziehung spürbar gut, wenn wir auf diese Weise miteinander sprechen.

Wir leben in einer Zeit, in der Autorität eine neue Bedeutung bekommt. Wo früher Autorität etwas war, das in den Händen von einer oder wenigen Personen lag, gibt es jetzt eine starke Tendenz zur Gleichwertigkeit und Beteiligung.

Das klingt zwar sehr schön, aber es ist nicht so einfach, wie es scheint. Wir sind sehr an Autoritäten alten Stils gewöhnt. Was bedeutet es für jede*n von uns, wenn wir uns als Gleichberechtigte und wirklich als Partner*innen behandeln? Wie machen wir das, einander zuzuhören? Wie treffen wir dann Entscheidungen? Wie gehen wir mit der großen Komplexität der Gedanken, Gefühle und Meinungen um, die jeder Mensch mitbringt? Können wir den Raum für Gleichwertigkeit wirklich halten?

Der Dialog hat uns in dieser Hinsicht viel zu bieten. Er bietet den Raum und die Möglichkeit, um ebenbürtig und gleichwertig miteinander zu leben, sich auf sinnvolle Weise miteinander zu verbinden und auf konstruktive und kreative Weise mit den Unterschieden zwischen uns umzugehen.

Vor Kurzem kam mein 14-jähriger Sohn auf mich zu. Er legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: „Hey Dad, du siehst so gestresst aus. Wäre es nicht besser, wenn du dir Zeit für dich nehmen würdest?“ Nach dem anfänglichen Schock und dem Impuls zu sagen, dass es ihn nichts angeht (so spricht man nicht mit seinem Vater …), war ich ihm dankbar. „Er hat recht“, dachte ich, beeindruckt von seiner Beobachtungsgabe. Dankbar folgte ich seinem Rat. Es hat seine Vorteile, auf Augenhöhe mit seinen Kindern zu sein.

ABSCHLIeßEND

Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen,die dem Leben seinen Wert geben.

– Wilhelm von Humboldt

Der Dialog schafft Raum für Forschung und Reflexion, für die Vielfalt der Standpunkte, für das Zuhören und das Sprechen aus dem Herzen heraus. Er verlangsamt in einer Zeit der Beschleunigung und schafft Verbindung, die einer fragmentierten und komplexen Welt hilft, sich als Ganzes zu erleben. Er stellt Beziehung und Gleichberechtigung in den Mittelpunkt und wird zu einer Oase der Menschlichkeit, des Sein-Dürfens mit allem, was ist. Er ist ein Ort, an dem unser volles Potenzial sichtbar und willkommen geheißen wird, als wichtiger Beitrag an unser gemeinsames Denken. Gerade in unserer Zeit, in der Beziehungen wackeln und Flüchtigkeit, Komplexität und Polarisierung überwältigend sein können, hat der Dialog das Potenzial, ein Anker für Gemeinschaft, Begegnung und Ko-Kreativität zu sein.

In meinem Teil der Welt gibt es etwas, das wir Ubuntu nennen. Es ist die Essenz des Menschseins. Wir sagen, ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen. Mensch sein kann ich nicht in Isolation. Du musst alles sein, was du sein kannst, damit ich ich selbst und alles, was ich sein kann, werden kann. Es heißt nicht: „Ich denke, also bin ich.“ Sondern vielmehr: „Ich bin Mensch, weil ich dazu gehöre. Ich nehme teil. Ich teile.“– Desmond Tutu

1 David Whyte, Loaves and Fishes, The House of Belonging, ©1996 Many Rivers Press Übersetzt und abgedruckt mit Erlaubnis von Many Rivers Press, www.davidwhyte.com

Kapitel 2 | Dialog als Kommunikationsform

Dieses Kapitel beschreibt, was der Dialog als Kommunikationsform ist und was nicht. Die historischen Hintergründe des Dialogs werden dargestellt und die Frage, was das Wesen der dialogischen Kommunikation ist, wird erörtert. Anschließend wird der Dialog als ein dynamischer Prozess statt einer festen Methode vorgestellt.

WAS IST EIN DIALoG?

Der Dialog bringt Gedanken hervor, die bereits in der Seele verankert sind, die wir aber normalerweise nicht erreichen können.

– Platon

Der Dialog ist eine Form des Gesprächs, in der die Beiträge aller Teilnehmenden als unverzichtbar für die weitere Entwicklung der Teilnehmenden, der Gruppe oder der Organisation betrachtet werden. Der Dialog beruht auf gegenseitigem Respekt, Gleichwertigkeit, Zuhören und authentischem Sprechen. In einem Dialog ist es wichtig, dass die Teilnehmenden bereit sind, sich persönlich weiterzuentwickeln, indem sie ihre eigenen Annahmen und Vermutungen überprüfen. Das persönliche Wachstum der Gruppenmitglieder und die kollektive Entwicklung der Gruppe oder Organisation verstärken sich dadurch gegenseitig. Ein Dialog erfordert die Bereitschaft der Teilnehmenden, sich im Laufe des Prozesses zu wandeln, sodass neue Perspektiven entstehen können.

EINIGE WURZELN DES DIALOGS

Der Dialog als Kommunikationsform hat seine Wurzeln in verschiedenen Kulturen, etwa in der altgriechischen Kultur, in den Kulturen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas und in der afrikanischen Ubuntu-Philosophie. Sokrates praktizierte Philosophie, indem er stets mit Menschen den Dialog aufnahm. Er strebte danach, in einem solchen Gespräch zum Wesentlichen und zur Wahrheit zu gelangen. Er tat dies, indem er alle Formen von Vorstellungen und Annahmen auf ihre Haltbarkeit untersuchte. Er selbst hat nichts schriftlich festgehalten. Einige seiner Dialoge wurden später jedoch von Platon beschrieben. Es gibt wenige historische Quellen über den Gebrauch des Dialogs in der Philosophie oder in der Kultur zwischen Platons Zeit und dem 20. Jahrhundert.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nutzte der deutsche Philosoph Leonard Nelson die Prinzipien von Sokrates, um sie in eine praktische Methode für die Arbeit mit Gruppen umzuwandeln, die sich sowohl für die Philosophie als auch für die Bildung eignete. In den Jahren des aufkommenden Faschismus benutzte er diese Methode, um Menschen zu lehren, kritischer zu denken.

Im letzten Jahrhundert gaben zwei weitere Philosophen einen wichtigen Impuls für das erneute Interesse am Dialog: Martin Buber und David Bohm. Buber betonte die Bedeutung von Begegnung und Dialog für die psycho-­spirituelle Entwicklung des Menschen. Der Physiker und Philosoph Bohm zeigte die Fragmentierung des menschlichen Denkens auf sowie die Notwendigkeit, diese mit Hilfe des Dialogs zu überwinden. Durch den Dialog wird sichtbar, dass alle Fragmente Teil eines größeren, zusammenhängenden Ganzen sind.

Eine weitere dialogische Tradition finden wir in den Redekreisen der indigenen Völker Nordamerikas. Diese Gesprächsrunden wurden einberufen, wenn der Stamm über bestimmte Themen nachdenken und wichtige Entscheidungen gemeinsam treffen wollte. In diesen Kreisen wurde oft ein Talking Stick (Redestab) oder ein anderes symbolisches Objekt verwendet, um das Gespräch zu verlangsamen, die Aufmerksamkeit auf den individuellen Beitrag jeder einzelnen Person zu lenken und dadurch das gegenseitige Zuhören zu unterstützen. Daraus entstand das Council, das von Joan Halifox initiiert und von Jack Zimmerman und Gigi Coyle1 weitergetragen wurde. Council ist eine verbreitete dialogische Kommunikationsform und wird vor allem in Amerika in Institutionen und Organisationen, wie Schulen und großen Unternehmen, praktiziert.

Der Dialog hat sich in den frühen Neunzigerjahren als ein wichtiges Konzept in der Theorie der Entwicklung lernender Organisationen herauskristallisiert. Peter Senge,2 der dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston angeschlossen und ein bekannter Forscher auf dem Gebiet des systemischen Denkens in Organisationen ist, stellte fest, dass viel Wissen in Organisationen implizit (d. h. unausgesprochen) bleibt und daher oft verloren geht oder zu Kommunikationsproblemen führt. Seiner Meinung nach ist der Dialog ein wichtiger Grundpfeiler für die Entwicklung der Organisation. Ein Kollege von Senge, Otto Scharmer, gab dem Dialog einen Platz in seiner Theorie U.3 Er sieht den Dialog vor allem als eine geeignete Methode zu forschen, gemeinsam zu denken und einen tieferen Raum zu eröffnen, in dem kreative Lösungen entstehen können.

Schließlich sehen wir die Wurzeln des Dialogs in der Ubuntu-Tradition des südlichen Afrikas. Ubuntu ist eine gelebte Lebensphilosophie, die auf Menschlichkeit, Respekt und Gemeinsinn basiert. Erzbischof Desmond Tutu beschreibt Ubuntu folgendermaßen:

Jemand mit Ubuntu ist offen und zugänglich für andere, er widmet sich anderen, fühlt sich nicht durch die Fähigkeiten anderer bedroht, weil er oder sie genug Selbstvertrauen aus dem Wissen schöpft, dass er oder sie Teil eines größeren Ganzen ist, und er oder sie schaudert, wenn andere gedemütigt oder wenn andere gefoltert oder unterdrückt werden.

Es sind diese Prinzipien von Offenheit, Gleichwertigkeit, Respekt und Vertrauen, die im Dialog von zentraler Bedeutung sind. Die Verbindung zwischen Menschen steht an erster Stelle und ist die Grundlage für alles, was folgt.

In den letzten Jahren ist das Interesse am Dialog in vielen Bereichen der Gesellschaft gestiegen, zum Beispiel in der Bildung, im Gesundheitswesen, in Vereinen, Gemeinschaften, Unternehmen und anderen Profit- und Non-Profit-Organisationen. Dort wird der Dialog als Instrument zur Verbesserung der Verständigungsgrundlage, als Mittel zur kreativen Entscheidungsfindung und zum sinnvollen Umgang mit Konflikten eingesetzt. Der Dialog erweist sich zudem als wertvoller Weg zu persönlicher Entwicklung und als innere Haltung, die beispielsweise in Familien, Erziehungsfragen, in der (Unternehmens-)Beratungsarbeit sowie in Therapiesituationen hilfreich sein kann.

DIALOG IST KEINE METHODE, SONDERN EIN DYNAMISCHER PROZESS

Wenn wir uns auf einen Dialog einlassen, entscheiden wir uns bewusst für eine reflektierende, langsame und offene Art der Kommunikation. Für lebendige Kommunikation zwischen den Menschen braucht es jedoch beide Qualitäten; nicht nur die gemeinschaftsbildende, langsame, verbindende Kommunikation, sondern auch den schnellen, aktiven und strategischen Austausch. Ein Dialogprozess als Ganzes enthält all diese verschiedenen Arten der Kommunikation. Er umfasst den gesamten Tanz zwischen langsam und schnell, zwischen wir und ich, zwischen Zuhören und Argumentieren, zwischen Offenheit und Zielstrebigkeit. Im folgenden Modell ist dieser Tanz schematisch dargestellt:

MERKMALE DES DIALOGS

Dialog schafft Raum für unterschiedliche Meinungen, Ansichten, Wahrnehmungen und Handlungsperspektiven. Jeder Beitrag ist willkommen und notwendig, damit das, was in den Menschen und in der Gruppe lebendig ist, sichtbar werden kann.

Im Dialog werden keine voreiligen Entscheidungen getroffen. Der Dialog sucht nicht nach Kompromissen, denen sich alle anpassen müssen, er beruht auf einem anderen Ansatz: Das Untersuchen der verschiedenen Standpunkte und das Einbeziehen der persönlichen Wahrnehmungen schafft eine Synthese, die von höherer Qualität ist, da sie mehreren Aspekten der Realität gerecht wird. Sie führt dazu, dass die endgültigen Entscheidungen von der gesamten Gruppe getragen werden.

Dies macht den Dialog zu einem Ansatz, der sich hervorragend für sehr komplexe Themen eignet, bei denen es große Unterschiede zwischen den Teilnehmenden gibt. Aus dem Dialog heraus entsteht ein Impuls zur Ko-Kreativität in der Gruppe und eine Basis für nachhaltige, zufriedenstellende Zusammenarbeit.

Der Dialog findet oft in einer kreisförmigen Anordnung statt, in der alle Teilnehmenden einander sehen können und ein Zentrum die Mitte der Gruppe symbolisiert. In der Mitte kann zum Beispiel eine Kerze oder ein Blumenstrauß stehen. In Organisationen ist es manchmal das Logo oder das Mission Statement. Manchmal stellen alle Dialogteilnehmenden persönliche, bedeutungsvolle Symbole in die Mitte. Ein Sprechsymbol, wie zum Beispiel ein Talking Stick oder ein Stein, kann verwendet werden, um die notwendige Verlangsamung, das gegenseitige Zuhören und freie Sprechen zu unterstützen. Viele Dialogkreise verwenden zudem eine Klangschale oder ein anderes Instrument, mit dem jede*r das Gespräch bei Bedarf pausieren oder verlangsamen kann. Dies kann notwendig sein, wenn es mehr Zeit braucht, um bestimmte Annahmen, die dem gemeinsamen Denken zugrunde liegen, gemeinsam zu überprüfen. Oder wenn das Gespräch unmerklich in einen höheren Gang geschaltet und dadurch sehr mental geworden ist.